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Rudolf Steiner Grundfragen der Dreigliederung Herausgegeben und eingeleitet von Sylvain Coiplet Stand: 20. November 2018

Rudolf Steiner, Grundfragen der Dreigliederung · Inhaltsverzeichnis Vorwort 12 Abgrenzung der drei Glieder 15 – Ratschlag – – Gesetz – – Vertrag –16 Wirklicher Vertrag

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Rudolf Steiner

Grundfragen der Dreigliederung

Herausgegeben und eingeleitetvon

Sylvain Coiplet

Stand: 20. November 2018

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1. Auflage

Institut für soziale dreigliederung, Berlin 2018

Layout: Sylvain CoipletDruck und Bindung: WIRmachenDRUCK

ISBN: 978-3-945523-21-6www.dreigliederung.de

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort 12

Abgrenzung der drei Glieder 15

– Ratschlag –– Gesetz –– Vertrag – 16

Wirklicher Vertrag setzt Verrechtlichung der Arbeitszeit voraus 16Vertrag als Prinzip des Wirtschaftslebens 17Erkenntnis, Gesetz und Vertrag 21Emanzipation des Gesetzes und der Arbeitsteilung vom Gebot 26Veränderbare geistige Autorität statt starres Gesetz 36

– Individuelles Urteil –– Demokratisches Urteil –– Kollektivurteil – 38

Individuelles Urteil, demokratisches Urteil und Kollektivurteil 39Kollektivurteil zwischen Wirtschaftserkenntnis und Wirtschaftspsychologie 47Die Polarität zwischen individuellem Urteil und Kollektivurteil 50Die Entwicklung zum individuellen Urteil und heutigen Kollektivurteil 53Wirtschaftliches Urteil lässt sich nicht aus Individualität heraus bilden 62

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Inhaltsverzeichnis

– Kapital –– Arbeit –– Ware – 66

Physische und geistige Güter 66

– Vorgeburtliches –– Irdisches –– Nachtodliches – 68

Vorgeburtliches und Nachtodliches in Geschichte und Gegenwart 68Vorgeburtliches und Nachtodliches vom seelischen Gesichtspunkt 89Naiv gesunde Empfindung und geisteswissenschaftliche Betrachtung 95

– Geist –– Seele –– Leib – 110

– Fähigkeit –– Mündigkeit –– Bedürftigkeit – 112

Fähigkeiten, Gefühle und Bedürfnisse 113Jedem nach seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen als allgemeines Ideal 113Jedem nach Fähigkeiten und Bedürfnissen als sozialistische Unmöglichkeit 113Jedem nach seinen Fähigkeiten, Gefühlen und Bedürfnissen 114

Fähigkeiten und Geistesleben 116Geistesleben als geistige und körperliche Fähigkeiten 116Geistesleben von individuellen Fähigkeiten abhängig 117

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Inhaltsverzeichnis

Geistesleben als Anwendung von individuellen Fähigkeiten 118Kapital und individuelle Fähigkeiten 119Unternehmertätigkeit als Gebrauch individueller Fähigkeiten 121Eigentum befristet da individuelle Fähigkeiten aus Vergangenheit 122Kein demokratischer Gesamtwille bei individuellen Fähigkeiten 123

Bedürfnisse und Wirtschaftsleben 124Produktion soll sich den Bedürfnissen anpassen 124Wirtschaft befriedigt menschliche Bedürfnisse 125Menschliche Bedürfnisse sind international 125Wirtschaftsleben befriedigt menschliche Bedürfnisse nach Waren 127Warenpreis soll Kosten sämtlicher Bedürfnisse der Produzenten decken 127Je differenzierter die Bedürfnisse, je schwieriger die Preisbildung 128Marktprinzip läßt menschliche Bedürfnisse verkümmern 129Wirtschaftsleben soll alle Bedürfnisse befriedigen 130Den rechtmäßigen Bedürfnissen Rechnung tragen 130Menschliche Bedürfnisse bisher durch Recht und Konkurrenz geregelt 132Keine Beurteilung der Berechtigung von Bedürfnissen 133Produktion soll sich auch ungerechtfertigten Bedürfnissen anpassen 134Nationalismus wie menschliche Bedürfnisse eine Form des Egoismus 135Menschliche Bedürfnisse sollen eingeschätzt statt tyrannisiert werden 139Lebendige Bedürfnisse studieren, mögliche Bedürfnisse befriedigen 140Wirtschaftsleben muß zukünftige Bedürfnisse befriedigen 142

Wirtschaftsleben als Befriedigung geistiger Bedürfnisse 144Leibliches und geistiges Bedürfnis nach physischen und geistigen Gütern 144Leibliche und geistige Bedürfnisse als Wertmaßstab 145Leibliche und seelische Bedürfnisse 146Eigene leibliche und seelische Bedürfnisse als Wertmaßstab 146Ausgaben für Vergnügen oder für leibliche und geistige Bedürfnisse 148

Entstehung der Bedürfnisse aus dem Geistesleben 148Geistig-seelische Forderung nach Befriedigung materieller Bedürfnisse 148

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Inhaltsverzeichnis

Wirtschaftsleben soll Bedürfnisse befriedigen statt sie zu schaffen 150

Befriedigung der Bedürfnisse aus dem Geistesleben 151Geistige Fähigkeiten und Bedürfnisse Maßstab für Wert der Geistesarbeit 151Die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse ist eine Gedankenfrage 154Kindliche Nachahmung Vorbereitung für wirtschaftliche Anpassung anBedürfnisse 155

Geistesleben als Bedürfnis 156Freies Geistesleben kann Bedürfnisse der Menschheit befriedigen 156Weltanschauung befriedigt seelische Bedürfnisse 157Mensch sucht im Geistesleben Befriedigung seelischer Bedürfnisse 157Geistesleben soll Bedürfnisse der Seele befriedigen 158Denkart sollte Bedürfnisse des menschlichen Bewußtseins befriedigen 159Geistesleben soll praktischste und geistigste Bedürfnisse befriedigen 160

Bedürfnisse im Sinne von Interessen 161Staatliche und wirtschaftliche Bedürfnisse im Sinne von Interessen 161Staatliche Bedürfnisse sind einseitig 162Geistesleben entwickelt sich nicht aus eigenen Bedürfnissen heraus 162Geistesleben mußte sich nach staatlichen Bedürfnissen richten 163Bedürfnisse des Rechtslebens tyrannisieren das Geistesleben 163Bedürfnisse des Wirtschaftslebens sind einseitig 165Keine Rechte aus wirtschaftlichen Bedürfnissen heraus 165Bedürfnisse des Geisteslebens sind einseitig 166

Abgrenzung der Dreigliederung 167

Dreigliederung oder drei Parlamente 168

Dreigliederung heisst nicht drei Parlamente 168

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Inhaltsverzeichnis

Dreigliederung oder Dreiteilung 170

Dreigliederung statt Dreiteilung von Montesquieu 170Richtiges Zusammenwirken durch Dreigliederung statt Dreiteilung 172Dreiteilung als falsche Übersetzung für Dreigliederung 173In Deutschland Entflechtung, in England Verbindung der Glieder betonen 175Notwendigkeit der Dreigliederung durch Fremdheit der Glieder verdeckt 180

Dreigliederung oder Ständeordnung 194

Historischer Ursprung der Ständeordnung 194Ständeordnung als Rest aus dem Griechentum 194Ständeordnung als Verwirklichung des platonischen Staates 196Ständeordnung als Rest aus den indischen Kasten 197Ständeordnung seit der dritten Kulturepoche als Veräußerlichung desMenschen 200

Heutige Dekadenz der Ständeordnung 203Vorteile der Ständeordnung kehren sich in Gegenteil um 203Ständeordnung als Unwissenheit, Gewalt und Ungerechtigkeit 207

Überwindung der Ständeordnung 208Überwindung der Ständeordnung durch Dreigliederung statt Sozialisten 208Bolschewistische Ausrotter des Bürgertums denken selber bürgerlich 209Befreiung von der Ständeordnung durch Proletariat 212Statt Ständeordnung wirkliche Demokratie durch Dreigliederung 212

Das Individuum bringt die Einheit 214Dreigliederung nach Gesichtspunkten statt nach Ständen 214Jeder Mensch ist ein Vermittler der drei Glieder 215Abgeordneter dürfen auch im Wirtschaftsleben tätig sein 216Landwirte dürfen auch ins Parlament 217

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Inhaltsverzeichnis

Man kann sowohl ins Parlament als ins Wirtschafts- und Geistesleben 219Schule gehört zum Geistesleben, Eltern verbinden dagegen alle Glieder 219Mündiger darf unabhängig davon wirtschaftlichen Kredit genießen 220

Einheitsschule statt Ständeschulen 221Ständeschulen Ergebnis der Verquickung von Geistes- und Rechtsleben 221Zur Einheitsschule braucht es keinen Staatszwang 222

Dreigliederung oder Marxismus 224

Marxismus als Dreigliederungsersatz 224

Dreigliederung oder heutige Ordnung 230

Dreigliederung ist keine Utopie 230

Größenordnung der Dreigliederung 231

Welt, Land, Einrichtung 232

Christengemeinschaft als praktische Dreigliederungsarbeit 232Im kleinen Maßstab läßt sich nichts erreichen 239Es geht nicht um die Verbesserung kleiner Einrichtungen 241Propaganda durch Initiativen statt durch große Zahl 242Dreigliederung braucht zur Praxis möglichst viele Köpfe 243

Dreigliederung der Größenordnung 244

Im Parlament Machtmißbrauch verhindern 244

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Inhaltsverzeichnis

Geltungsdauer der Dreigliederung 246

Jahrzehnte für die Dreigliederung 247

Dreigliederung will sich in den nächsten Jahren verwirklichen 247Entwicklungskräfte streben in den nächsten Jahren nach Dreigliederung 249Kapital wird Sozialisierung aufschieben 250

Jahrhunderte für die Dreigliederung 251

Michael-Zeit ist Dreigliederungszeit 252Michael-Zeit ist kosmopolitisch 255Nationalisten als schärfste Gegner der Dreigliederung 257Dreigliederung für einige Jahrhunderte richtig 258

Jahrtausende für die Dreigliederung 260

Umsetzung der sozialen Dreigliederung braucht drei Zeiträume 260

Kernpunkte der Dreigliederung 270

Prinzip oder Illustration 270

Wirklichkeitsgemäße Ideen lassen die Art ihrer Ausführung offen 271Besondere Angaben nur Beispiele, fest ist bei Dreigliederung nur die Richtung 273Schwerpunkt auf Wege (Prinzip) statt auf Ziele (Illustration) gelegt worden 274Heutige denkfaule Menschen verlangen Illustration der Dreigliederung 278Illustration wird leicht zum Programm gemacht 284Detailfragen anders nach Emanzipation von Wirtschafts- und Geistesleben 286

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Inhaltsverzeichnis

Kapitalzirkulation als Illustration zum Prinzip „Befreiung des Geisteslebens“ 289Zum Prinzip „Kapital gehört zum Geistes-, Arbeit zum Rechtsleben“ 290Zum Prinzip „Ausgleich von Kollektivismus und Individualismus“ 296Zum Prinzip „Selbstausgleichende Dreigliederung statt Einheitsstaat“ 303Zum Prinzip „Spezialisierte Einrichtung erstrebt von selbst eigenes Ideal“ 311

Reihenfolge oder Gleichzeitigkeit 319

Zweigliederung ist das Gegenteil der Dreigliederung 319Zweigliederung noch schlimmer als Einheitsstaat 319Nach Dreigliederungsbewegung Priorität auf Befreiung des Geisteslebens 321Deutsches Geistesleben anders als Politik und Wirtschaft noch zu retten 325Geistige Arbeit trotz wirtschaftlichem Scheitern weiter möglich 327

Literaturlisten 330

Rudolf Steiner Gesamtausgabe 330

Sonstige Quellen 334

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Vorwort

In dieser Zitatensammlung „Grundfragen der sozialen Dreigliederung“geht es um übergreifende und grundsätzliche Themen, die bis heutekontrovers diskutiert werden.

Im ersten Teil geht es um die verschiedenen Methoden, die RudolfSteiner anwendet, um die drei Glieder – Geistesleben, Rechtslebenund Wirtschaftsleben – auseinanderzuhalten. Wir haben bewußt mitMethoden angefangen, die in der späteren Literatur vernachlässigtworden sind, weil gerade diese Methoden sich besonders dazu eignen,den Mißverständnissen vorzubeugen, die sich inzwischen breit gemachthaben.

Im zweiten Teil grenzen wir die soziale Dreigliederung von anderenAnsätzen ab, die mit der sozialen Dreigliederung nur das gemeinsamhaben, daß bei ihnen – mehr oder weniger offensichtlich – die Zahl Dreieine Rolle spielt. Weit davon entfernt auf eine soziale Dreigliederunghinzuarbeiten, erhalten diese Ansätze gerade durch ihren Rückgriff aufdiese Zahl eine zerstörerische Schlagkraft.

Folgende Texte stammen aus der Gesamtausgabe von Rudolf Steiner(GA). Einzelheiten zu den einzelnen Bänden finden Sie in der Litera-turliste. Die kursiv gesetzten Einleitungen, Zusammenfassungen undZwischenbemerkungen stammen vom Herausgeber.

Sylvain Coiplet

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Liste der Textsammlungen

Bd. 1 - Grundfragen der sozialen DreigliederungBd. 2 - Sozialer und natürlicher OrganismusBd. 3 - Freiheit und GeisteslebenBd. 4 - Assoziation und WirtschaftslebenBd. 5 - Demokratie und RechtslebenBd. 7 - Freiheit - Gleichheit - BrüderlichkeitBd. 8 - Der anthroposophische SozialimpulsBd. 9 - Nationalismus und VolksseelenBd. 10 - Anarchismus und Anarchisten

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Abgrenzung der drei Glieder

Eine erste Frage ist, wie sich die verschiedenen Lebensbereiche vonein-ander abgrenzen lassen. Gibt es ein Prinzip, wonach sich Geistesleben,Rechtsleben und Wirtschaftsleben im Sinne von Steiner sicher unter-scheiden lassen? Was gehört eigentlich zum Geistesleben, was zumRechtsleben, und was zu Wirtschaftsleben?

Zu dieser Frage kommt man schon allein deswegen, weil Steiner beiseinen konkreten Zuordnungen ziemlich unkonventionell vorgeht. Ka-pital und Arbeitszeit rechnet er zum Beispiel nicht wie erwartet zumWirtschaftsleben, sondern zum Geistesleben bzw. Rechtsleben. Verwen-det man trotzdem diese Bezeichnungen im Sinne der sozialen Drei-gliederung, läuft man dadurch die Gefahr, mißverstanden zu werden.

Aber vielleicht gibt es andere Bezeichnungen, die besser nachvollzieh-bar machen, was Steiner gemeint hat? Danach wird hier gesucht.

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Abgrenzung der drei Glieder

– Ratschlag –– Gesetz –– Vertrag –

Die vielleicht griffigste und plastischste Art zwischen den drei ver-schiedenen Lebensbereichen zu unterscheiden ist Rudolf Steiner aneinigen wenigen Stellen gelungen, wo er vom Unterschied zwischendem Ratschlag, dem Gesetz und dem Vertrag spricht. Dies wird imzweiten Zitat „Vertrag als Prinzip des Wirtschaftslebens“ auf Seite 17besonders deutlich. Ausführlicher ist zwar das vierte hier angeführteZitat aus dem sogenannten „Nationalökonomischen Kurs“ mit demTitel „Emanzipation des Gesetzes und der Arbeitsteilung vom Gebot“auf Seite 26. Dort führt Steiner den Vergleich aber nicht zu Ende aus,sondern konzentriert sich auf den Unterschied zwischen Gebot undGesetz, wobei Gebot für das alte, nicht mehr zeitgemäße Geistesle-ben steht. Der freilassende Ratschlag ist eben eine Errungenschaft desneueren Geisteslebens. Beim neueren Wirtschaftsleben wird in diesemZitat aus dem „Nationalökonomischen Kurs“ nicht direkt von Vertraggesprochen, sondern von der Arbeitsteilung, welche aber einen neuenWarenverteilungsvertrag zwischen Arbeitsleiter und Arbeitsleister not-wendig macht. Dies wurde nicht nur – wie hier erwähnt – durch daszurückgebliebene Geistesleben, sondern auch – wie in den „Kernpunk-ten der sozialen Frage“ ausführlich beschrieben – durch das römischgebliebene Eigentumsrecht verhindert.

Wirklicher Vertrag setzt Verrechtlichung der Arbeitszeitvoraus

Quelle [24]: GA 331, S. 026, 1/1989, 08.05.1919, Stuttgart

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– Ratschlag – Gesetz – Vertrag –

Das Arbeitsrecht sehe ich immer dann gefährdet, wenn es innerhalbdes Kreislaufes des Wirtschaftslebens selbst geregelt werden soll.Jene Schäden, die vor allen Dingen im heutigen Wirtschaftskörperauftreten, werden gewöhnlich falsch beurteilt. Ich habe mir vielMühe gemacht, mir nicht aus dem, was über die Dinge geschriebenworden ist – denn daraus ist in Wahrheit sehr wenig zu entnehmen-, sondern gerade aus dem Leben heraus ein entsprechendes Bild zumachen. Ich möchte diese Dinge heute nur kurz referieren, damitwir zu konkreten Fragen kommen können. Ich habe es in meinemBuch ja ausführlich begründet: Solange der Glaube herrscht, daßman das, was Arbeitszeit, was Maß und Art der Arbeit sein muß, in-nerhalb des Wirtschaftskörpers selbst regeln will, so lange kann derArbeiter nicht zu seinem Recht kommen. Der Arbeiter muß bereitssein Arbeitsrecht voll geregelt haben, wenn er dem Arbeitsleiter nurirgendwie gegenübertritt. Nur dann ist er in der Lage, einen wirkli-chen Vertrag zu setzen an die Stelle der heutigen Scheinverträge, desLohnvertrages, oder wie man es nennen will, der kein freier Vertragist, weil der Arbeiter nicht das Arbeitsrecht hinter sich hat, das ihnerst in die Lage versetzt, einen wirklich freien Vertrag zu schließen.In dieser Wirtschaftsordnung kann der Arbeiter nicht zu seinemRecht kommen, sondern nur durch die Abgliederung der gesamtenRechtsverhältnisse vom Wirtschaftsleben und ihrer Überführung indas, was an die Stelle des Staates zu treten hat.

Vertrag als Prinzip des Wirtschaftslebens

Quelle [24]: GA 331, S. 165-168, 1/1989, 24.06.1919, Stuttgart

Sehen Sie, Sie können am leichtesten die Notwendigkeit der Gliede-rung des bisher verfehlten Einheitsstaates in die drei Glieder einse-hen, wenn Sie erkennen, wie sich alles im Wirtschaftsleben unter-scheidet vom eigentlich staatlichen und geistigen Leben. Im Wirt-

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Abgrenzung der drei Glieder

schaftsleben ist alles einerseits den Naturbedingungen unterworfen.Diese sind mal so, mal so und unterliegen Veränderungen. Auchspielt die Bevölkerungszahl eine Rolle. Dann hängt imWirtschaftsle-ben alles davon ab, daß sich die Menschen in gewisse Berufszweige,Berufsstände gliedern. Ferner ist im Wirtschaftsleben ein indivi-dueller, ein persönlicher Faktor enthalten, das ist die Summe dermenschlichen Bedürfnisse. Nicht wahr, es ist ja leicht einzusehen,daß die Summe der menschlichen Bedürfnisse die Menschen zu einerArt Maschine des gesellschaftlichen Lebens machen würde, wennman irgendwie regeln wollte die Bedürfnisse des einzelnen. Daherfinden Sie ja auch in der sozialistischen Anschauung und schonbei Marx deutlich ausgesprochen, daß im wirklichen sozialistischenGemeinwesen eine Normierung, eine Regelung der Bedürfnisse deseinzelnen nicht stattfinden soll. Der eine hat die Bedürfnisse, einanderer jene, und es kann nicht darum gehen, daß man von irgendei-ner Zentralstelle aus den Menschen vorschreibt, welche Bedürfnissesie haben sollen, sondern darum, daß man aus dem Leben heraus dieBedürfnisse ergründet und durch die Produktion dafür sorgt, daßdie Bedürfnisse wirklich befriedigt werden können.

Wenn man so das ganze Wirtschaftsleben überblickt, dann wirdman schon darauf kommen, daß im Wirtschaftsleben alles beruhenmuß auf dem Vertragsprinzip. Alles das, was das Wirtschaftslebenausmacht, beruht ja, oder soll innerhalb eines sozialen Gemeinwe-sens beruhen, auf Leistung und Gegenleistung. Diese Tatsache liegtja heute auch den Forderungen der Proletarier zugrunde, da manfestgestellt hat, daß dieser Tatsache heute noch keineswegs Rech-nung getragen wird, nämlich daß der Leistung eine Gegenleistungentsprechen muß. Heute herrscht immer noch das Prinzip vor, daßman aus der Menschenarbeit dasjenige herausholt, was man für sichbraucht oder zu brauchen glaubt, ohne daß man dafür eine Gegen-leistung zu liefern braucht. Daher kommt heute in den Forderungender proletarischen Massen zum Ausdruck, daß es in Zukunft nicht

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– Ratschlag – Gesetz – Vertrag –

mehr die Möglichkeit geben soll, daß man seine Bedürfnisse ausden Leistungen der arbeitenden Bevölkerung befriedigt, ohne daßdiese eine Gegenleistung erhält. Man muß sich darüber im klarensein, daß es im Wirtschaftsleben immer auf die konkreten Verhält-nisse ankommt, also auf die Naturbedingungen, die Art der Berufe,die Arbeit, die Leistung. Man kann nur wirtschaften, wenn manZusammenhänge herstellt zwischen den verschiedenen Arten vonLeistungen. Es kann nicht immer alles in gleicher Weise verwertetwerden, was heute geleistet wird. Es müssen auch Leistungen, dieerst in der Zukunft erbracht werden, vorausgesehen werden. Ja, manmüßte da noch vieles sagen, wenn man das Wirtschaftsleben indieser Weise vollständig charakterisieren wollte.

Weil also alles im Wirtschaftsleben auf Leistung und Gegenleis-tung beruhen muß und weil diese beiden von verschiedenen Dingenabhängig sind, muß im Wirtschaftsleben alles beruhen auf demVertragsprinzip. Wir müssen in Zukunft Genossenschaften, Asso-ziationen im Wirtschaftsleben haben, welche ihre gegenseitigenLeistungen und Gegenleistungen gründen auf das Vertragsprinzip,auf die Verträge, die sie miteinander schließen. Dieses Vertragsprin-zip muß das ganze Leben und insbesondere das Leben innerhalb derKonsumgenossenschaften, Produktionsgenossenschaften und Be-rufsgenossenschaften beherrschen. Ein Vertrag ist immer irgendwiebefristet. Wenn keine Leistungen mehr erbracht werden, dann hater keinen Sinn mehr, dann verliert er seinen Wert. Darauf beruhtdas ganze Wirtschaftsleben.

Auf etwas fundamental anderem beruht das Rechtsleben. Es beruhtdarauf, daß in demokratischer Weise alle diejenigen Maßnahmengetroffen werden, durch die jeder Mensch mit Bezug auf die Men-schenrechte jedem anderen gleich ist. Zu den Menschenrechtengehört auch das Arbeitsrecht. Dafür kann jeder mündig gewordeneMensch eintreten. Jeder Mensch, der mündig geworden ist, kann

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Abgrenzung der drei Glieder

teilnehmen – entweder direkt auf dem Wege eines Referendumszum Beispiel oder indirekt durch Wahl beziehungsweise durch eineVolksvertretung – an der Festsetzung derjenigen Rechte, die untergleichen Menschen zu herrschen haben. Daher herrscht auf demRechts- oder Staats- oder politischen Boden nicht der Vertrag, son-dern das Gesetz. Gesetze werden in der Zukunft zum Beispiel auchdie Arbeitsverhältnisse regeln. So werden durch Gesetze festgelegtsein Zeit, Maß und Art der Arbeit, während das, was darin innerhalbder gesetzlich festgelegten Arbeitszeit zu leisten ist, durch Verträgeinnerhalb des Wirtschaftskörpers geregelt wird.

Von ganz anderer Art ist wiederum das Geistesleben. Das Geistes-leben beruht darauf, daß in ihm die Menschheit ihre Fähigkeitenentwickeln kann für das Staats- und Wirtschaftsleben. Das ist abernur möglich, wenn man im Geistesleben die Grundlage dafür schafft,daß man die sich entwickelnden menschlichen Fähigkeiten, die jadem Menschen nicht mit der Geburt einfach gegeben sind, sondernerst entfaltet werden müssen, sachgemäß zur Entwicklung, zur Ent-faltung bringt. Es würde ein großer Irrtum sein, wenn man glaubt,daß die geistigen und auch die physischen Fähigkeiten – letzteresind ja im Grunde genommen gleichwertig den geistigen – auf diesel-be Weise erkannt und gepflegt werden könnten wie die staatlichenund wirtschaftlichen Dinge. Das, was sich zum Beispiel auf Erzie-hung und Unterricht bezieht, das kann weder beruhen auf Verträgennoch auf Gesetzen oder Verordnungen, sondern es muß beruhen aufRatschlägen, die gegeben werden zur Entwicklung der Fähigkeiten.

Ja, diese drei Lebensgebiete, das Geistesleben, das Rechtsleben unddas Wirtschaftsleben sind doch sehr verschieden, so daß ihre Ver-mischung nicht nur eine völlige Unmöglichkeit ist, sondern für diemenschliche Entwicklung ein großes Unheil bedeutet. Unsere ge-genwärtige Verwirrung, die sozialen Übelstände sind eben durchdiese Vermischung entstanden.

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– Ratschlag – Gesetz – Vertrag –

Erkenntnis, Gesetz und Vertrag

Quelle [28]: GA 337a, S. 202-207, 1/1999, 16.06.1920, Stuttgart

Die Menschen fühlen, sie müssen sich an etwas Geistigem haltenund das Geistige muß auch da sein, um ins soziale Leben einzugrei-fen, um die soziale Struktur des ja vom Menschen belebten sozialenOrganismus zu bilden. Was hat denn im Grunde genommen bis inunsere Tage herein die Struktur unseres sozialen Organismus ge-macht? Der Geist? Nein, ich denke, es ist nicht der Geist. Wenn ichzum Beispiel ein großes Landgut von meinem Vater erbe, da ist esetwas anderes als der Geist; da ist es ein natürlicher Zusammen-hang, da ist es das Blut. Und das Blut ist dasjenige, das zusammenmit allen möglichen anderen Verhältnissen, die sich daran geknüpfthaben, einen Menschen heute noch in eine bestimmte Position hin-einbringen kann. Von dieser Position hängt dann wiederum ab, wieer im geistigen Leben steht. Er kann gewisse Erziehungsinhalte reindadurch aufnehmen, daß er aus alten Verhältnissen heraus, die zumgroßen Teil von Blutsbanden herrühren, in eine bestimmte sozialePosition hineingestellt ist. Das fühlt die Menschheit im Grunde ge-nommen gegenüber dem geistigen Leben zunächst als etwas, wasnicht mehr ertragen werden kann. Instinktiv fühlt die Menschheit:Statt daß, wie von altersher, alles durch das Blut bestimmt wird,muß in sozialen Einrichtungen in der Zukunft der Geist mitspre-chen. Nicht wahr, die Kirche hat ja, um Genosse desjenigen zu sein,was sich [auf diese Weise in der Vergangenheit] entwickelt hat undwas so heute nicht mehr ertragen werden kann, sich wohl gefügtjenem Konzilbeschluß, der auf dem achten ökumenischen Konzilim Jahre 869 in Konstantinopel gefaßt wurde, wo gewissermaßender Geist abgeschafft worden ist, wo bestimmt worden ist, daß diemenschliche Seele zwar einzelne geistige Eigenschaften habe, daßder Mensch aber nur aus Leib und Seele bestehe, nicht aus Leib,Seele und Geist. Unter dem, was da als Weltanschauung uber die

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Abgrenzung der drei Glieder

zivilisierte Welt sich ausbreitete, konnte sich eben – weil zurückge-halten wurden die Forderungen des Geistes – in dem ganzen Betriebdes geistigen Lebens dasjenige entwickeln, was nicht vom Geistebestimmt ist.

Und heute will der Mensch aus seinem tiefsten Innern heraus, daßder Geist mitspreche bei der Bestimmung der sozialen Struktur. Daskann aber nur geschehen, wenn das Geistesleben nicht mehr ein An-hängsel des aus alten Blutseroberungen hervorgegangenen Staatesbleibt, sondern wenn das Geistesleben auf sich selbst gestellt wird,wenn das Geistesleben nur nach den Impulsen, die in ihm selbstliegen, wirkt. Dann kann man bei den führenden Menschen in die-sem Geistesleben voraussetzen, daß sie das, was ihnen obliegt – wirwerden gleich von einigem weiteren sprechen, was ihnen obliegt; inden „Kernpunkten“ ist ja vieles angeführt -, nämlich die Menschenin die soziale Struktur hineinzuführen nach Erkenntnissen der Bega-bungen, des Fleißes und so weiter, daß sie das wirklich ohne Gesetze,rein durch die Erkenntnisse naturgemäßer Verhältnisse tun. Undman wird sagen müssen: Auf dem Gebiete des Geisteslebens, dasfür sich dastehen und aus seinen eigenen Impulsen wirken wird, dawerden die Erkenntnisse des Tatsächlichen dasjenige sein, was be-stimmend wirkt. Sagen wir also kurz: Das Geistesleben, der geistigeTeil des sozialen Organismus, fordert als sein Recht Erkenntnisse[der tatsächlichen Kräfte], die aber Tatkraft-Erkenntnisse sind.

Sehen wir jetzt nach dem zweiten Gliede des sozialen Organismus,nach dem Rechts- oder Staatsgliede. Da kommen wir schon in etwashinein, was gewissermaßen nicht so unterliegt dem Außerweltli-chen wie das Geistesleben. Meine sehr verehrten Anwesenden, bisin die tatsächlichsten Verhältnisse hinein ist ja unser ganzer sozialerOrganismus, insofern das Geistige in ihm wirkt, gebunden an das,was mit jeder neuen Generation erscheint, ja, was mit jedem neuenMenschen aus unbestimmten Tiefen in den sozialen Organismus

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– Ratschlag – Gesetz – Vertrag –

neue Kräfte hineinführt. Nehmen Sie den jetzigen Zeitpunkt. DürfenSie irgendwie aus den Verhältnissen der jetzigen Zeit heraus, wennSie es ehrlich mit der Menschheit meinen, irgendeine Organisationeinrichten, welche in einer ganz bestimmten Weise das Zusammen-leben der Menschen bestimmt? Nein, das dürfen Sie nicht! Denn mitjedem einzelnen Menschen werden neue Kräfte aus unbekanntenTiefen heraus geboren; die haben wir zu erziehen, und wir habenzu warten, was sie hineintragen in das Leben. Wir haben nicht das-jenige, was da durch die geistigen Anlagen in das Leben getragenwird, zu tyrannisieren durch etwa schon bestehende Gesetze odereine schon bestehende Organisation; wir müssen dasjenige, was unshineingetragen wird aus geistigen Welten, unbefangen empfangen,wir dürfen es nicht tyrannisieren und dogmatisieren durch dasjenige,was schon da ist. Daher brauchen wir ein solches Glied des sozia-len Organismus, das ganz aus der Freiheit heraus, aus der Freiheitder immer neu in die Menschheit hereingeborenen menschlichenAnlagen heraus wirkt.

Das zweite Glied des sozialen Organismus, das staatlich-rechtlicheLeben, das ist schon etwas weniger abhängig von dem, was da her-einkommt aus geistigen Welten. Denn es betätigen sich, wie wirwissen, auf dem Gebiet des Rechtslebens, des Staatslebens die mün-dig gewordenen Menschen. Und, meine sehr verehrten Anwesenden,wenn wir mündig geworden sind, hat uns eigentlich schon ergriffenein großes Maß von Durchschnittlichkeit. Da hat gewissermaßendas Nivellement des Philisteriums uns ins Genick geschlagen. Undinsofern wir als mündig gewordene Menschen alle gleich sind, sindwir schon – das soll gar nicht in schlimmem Sinne gesagt werden –in einem gewissen Sinne ein bißchen in den Scheuledern der Phi-listrosität drinnen. Wir sind in dem drinnen, was man regeln kanndurch Gesetze.

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Abgrenzung der drei Glieder

Sie werden aber sagen: Ja, wir können doch nicht alles geistigeLeben von den Kindern abhängig machen; da muß doch auch diegeistige Anlage, die geistige Fähigkeit und der geistige Fleiß überdas Mündigkeitsalter hinausgehen. – Im Grunde genommen nicht,so paradox das klingt. Denn unsere über das Durchschnittsmaßhinausgehenden Fähigkeiten, wenn wir über die zwanziger Jahrehinausgekommen sind, die beruhen gerade darauf, daß wir uns – daszeigt uns die ernste geisteswissenschaftliche Forschung auf Schrittund Tritt -, daß wir uns bewahrt haben, was wir in der Kindheitals Anlage und so weiter gehabt haben. Und das größte Genie istderjenige Mensch, der sich am meisten in die dreißiger, vierziger,fünfziger Jahre hineinträgt die Kräfte der Kindlichkeit. Man übt dannnur diese Kräfte der Kindlichkeit mit dem reifen Organismus, derreifen Seele und der reifen Geistigkeit aus, aber es sind die Kräfte derKindlichkeit. Unsere Kultur hat ja nun leider die Eigentümlichkeit,daß sie diese Kräfte der Kindlichkeit schon durch die Erziehungmöglichst totschlägt, so daß bei einer möglichst geringen Anzahl vonMenschen die kindlichen Eigentümlichkeiten bis in das philiströseAlter hinein bleiben und dieMenschen entphilistern. Denn eigentlichberuht alles Nicht-Philister-Sein darauf, daß einen die bewahrtenKindheitskräfte eben gerade entphilistern, daß sie durchschlagendurch das spätere Philistertum.

Weil da aber nun etwas auftritt, was nicht gegenüber den gegenwärti-gen Bewußtseinsbedürfnissen der Menschheit fortwährend erneuertwerden muß, können in der neueren Zeit die Verhältnisse des Rechts-und Staatslebens ja nur auf demokratischem Boden durch Gesetzegeregelt werden. Gesetze sind nicht Erkenntnisse.

Bei Erkenntnissen müssen wir immer uns der Wirklichkeit gegen-überstellen, und aus der Wirklichkeit heraus müssen wir durchErkenntnisse den Impuls zu dem bekommen, was wir tun sollen. Soist es bei der Erziehung und auch bei allem anderen, von dem ich

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gezeigt habe in den „Kernpunkten“, daß es von dem geistigen Gliededes sozialen Organismus ausgehen muß. Bei Gesetzen, wie ist esdenn da? Gesetze werden gegeben, damit das staatlich-politischeLeben, das Rechtsleben, bestehen kann. Aber man muß warten, biseiner nötig hat, im Sinne eines Gesetzes zu handeln, erst dann mußer sich um dieses Gesetz kümmern. Oder man muß warten mit derAnwendung des Gesetzes, bis einer es übertritt. Kurz, es ist immeretwas da, das Gesetz, aber erst für den Fall, der eventuell eintretenkann. Immer ist das Wesen der Eventualität vorhanden, der casuseventualis. Das ist etwas, was immer dem Gesetz zugrundeliegenmuß. Man muß warten, bis man mit den Gesetz etwas machen kann.Das Gesetz kann da sein; wenn es nicht einschlägt in meine Sphä-re, dann interessiert mich das Gesetz nicht. Es gibt ja heute vieleMenschen, die glauben, daß sie sich für das Gesetz im allgemeineninteressieren, aber es ist doch so, wie ich es jetzt angedeutet habe –wenn einer ehrlich ist, muß er das zugeben. Also: das Gesetz ist et-was, was da ist, was aber auf die Eventualität hin arbeiten muß. Dasist dasjenige, was nun zugrundezuliegen hat dem rechtlichen, demstaatlichen, dem politischen Teil des dreigegliederten Organismus.

Beim wirtschaftlichen Gliede kommt man mit dem Gesetz nicht aus,denn es reicht nicht aus, Gesetze bloß zu geben etwa darauf, obeinem aus diesen oder jenen Verhältnissen das oder jenes in einerbestimmten Weise geliefert werden soll. Da kann man nicht aufEventualitäten hin arbeiten. Da tritt ein drittes neben der Erkenntnisund neben dem Gesetz auf, das ist der Vertrag, der bestimmte Ver-trag, der geschlossen wird zwischen denen, die wirtschaften – denKorporationen und den Assoziationen -, der nicht wie das Gesetzauf das Eventuelle hin arbeitet, sondern der auf das ganz bestimmteErfülltwerden hin arbeitet. Ebenso wie die Erkenntnis im geistigenLeben und wie das Gesetz im staatlich-politisch-rechtlichen Lebenherrschen muß, so muß herrschen der Vertrag, das Vertragswesen inall seinen Verzweigungen im Wirtschaftsleben. Das Vertragswesen,

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das nicht auf Eventualität, sondern auf Verbindlichkeit hin vorhan-den ist, das ist dasjenige, was bewirken muß alles das, was Sie in den„Kernpunkten“ geschildert finden als das dritte Glied des sozialenOrganismus.

Wir können also sagen, wir haben da drei anschauliche Gesichts-punkte, aus denen heraus wir verstehen können, wie dem Wesennach diese drei Glieder sein müssen. Alles, was im Leben unterliegtden Erkenntnissen, das muß verwaltet werden auf dem freien Bodendes geistigen Gliedes. Alles, was im Leben in Gesetze eingespanntwerden kann, gehört dem Staate an. All das, was dem verbindlichenVertrag unterliegt, muß dem Wirtschaftsleben eingefügt werden.

Emanzipation des Gesetzes und der Arbeitsteilung vomGebot

Quelle [32]: GA 340, S. 040-049, 5/1979, 21.07.1922, Dornach

Volkswirtschaftswissenschaft ist beides, eine theoretische Wissen-schaft und eine praktische Wissenschaft. – Nur wird es sich darumhandeln, wie wir das Praktische mit dem Theoretischen zusammen-bringen.

Nun, das ist zunächst die eine Seite der Form der Volkswirtschafts-wissenschaft. Die andere Seite ist die, auf die ich schon vor vielenJahren aufmerksam gemacht habe, ohne daß eigentlich die Sacheverstanden worden ist, nämlich in einem Aufsatz, den ich schon imAnfang des Jahrhunderts geschrieben habe, der damals den Titeltrug: „Theosophie und soziale Frage“, der eigentlich nur eine Bedeu-tung gehabt hätte, wenn er aufgegriffenwordenwäre von Praktikern,und wenn man sich danach gerichtet hätte. Da er überhaupt ganzunberücksichtigt geblieben ist, habe ich ihn nicht einmal zu Endegeführt und nicht weiter erscheinen lassen. Man muß ja hoffen, daß

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diese Dinge immer mehr verstanden werden. Hoffentlich tragendiese Vorträge bei zu ihrem tieferen Verständnis. Da müssen wiraber, wenn wir verstehen wollen, eine kurze historische Betrachtunganstellen.

Wenn Sie im geschichtlichen Leben der Menschheit etwas zurück-gehen, dann werden Sie finden, daß eigentlich – ich habe schonim ersten Vortrag darauf hingewiesen – in älteren Zeiten, bis sogarins 15., 16. Jahrhundert herein, solche volkswirtschaftlichen Fragen,wie wir sie heute haben, gar nicht vorhanden waren. Das volkswirt-schaftliche Leben hat sich, sagen wir zum Beispiel im alten Orient,zum größten Teil instinktiv abgespielt, so abgespielt, daß gewissesoziale Verhältnisse unter den Menschen waren, die kastenbildend,klassenbildend waren und sich unter dem Einfluß desjenigen, wassich aus diesen Verhältnissen heraus an Beziehungen ergeben hatzwischen Mensch und Mensch, auch, ich möchte sagen, instinktbil-dend erwiesen haben für die Art undWeise, wie der einzelne Menschin das volkswirtschaftliche Leben einzugreifen hat. Da lagen ja zumgroßen Teil die Impulse des religiösen Lebens zugrunde, die in älte-ren Zeiten durchaus auch noch so waren, daß sie zu gleicher Zeitauf die Regelung, auf die Ordnung der Ökonomie abzielten. WennSie im orientalischen Leben geschichtlich nachprüfen, so werdenSie sehen, daß eigentlich nirgends eine strenge Grenze ist zwischendemjenigen, was religiös geboten wird, und demjenigen, was dannvolkswirtschaftlich ausgeführt werden soll. Die religiösen Geboteerstrecken sich vielfach hinein in das wirtschaftliche Leben, so daßauch für diese älteren Zeiten die Arbeitsfrage, die Frage des sozia-len Zirkulierens der Arbeitswerte, gar nicht in Betracht kam. DieArbeit wurde in gewissem Sinne instinktiv verrichtet; und ob dereine mehr oder weniger tat, das bildete eigentlich in der Zeit, diedem römischen Leben voranging, keine erhebliche Frage, wenigs-tens keine erhebliche öffentliche Frage. Die Ausnahmen, die dabeivorhanden sind, kommen gegenüber dem allgemeinen Gang der

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Menschheitsentwickelung gar nicht in Betracht. Wir finden nochbei Plato durchaus eine solche soziale Ansicht, daß im Grunde ge-nommen die Arbeit als etwas Selbstverständliches hingenommenwird und eigentlich nur über das Soziale nachgesonnen wird, wasaußerhalb der Arbeit an ethischen, weisheitsvollen Impulsen vonPlato erschaut wurde.

Das wurde immer mehr und mehr anders, je weniger die unmittelbarreligiösen und ethischen Impulse auch volkswirtschaftliche Instink-te züchteten, je mehr gewissermaßen die religiösen und ethischenImpulse bloß sich auf das moralische Leben beschränkten, bloßeVorschriften wurden für die Art und Weise, wie die Menschen für-einander fühlen sollen, wie sie sich zu außermenschlichen Mächtenverhalten sollen und so weiter. Immer mehr und mehr entstand dieAnschauung, die Empfindung unter den Menschen, daß – wennich mich bildlich ausdrücken darf – von der Kanzel herab nichts zusagen ist über die Art und Weise, wie man arbeiten soll. Und damitwurde die Arbeit, die Eingliederung der Arbeit in das soziale Lebeneigentlich erst eine Frage.

Nun ist diese Eingliederung der Arbeit in das soziale Leben historischnicht möglich ohne das Heraufkommen desjenigen, was das Rechtist. So daß wir historisch gleichzeitig entstehen sehen die Bewertungder Arbeit für den einzelnen Menschen und das Recht. Für sehr alteZeiten der Menschheit können Sie eigentlich gar nicht in dem Sinn,wie wir heute das Recht auffassen, vom Recht sprechen, sondern Siekönnen erst dann vom Recht sprechen, wenn sich das Recht sondertvon dem Gebot. In ältesten Zeiten ist das Gebot ein einheitliches. Esenthält zu gleicher Zeit alles das, was rechtens ist. Dann wird dasGebot immer mehr und mehr zurückgezogen auf das bloß seelischeLeben, und das Recht macht sich geltend mit Bezug auf das äußereLeben. Das verläuft wiederum innerhalb eines gewissen geschichtli-chen Zeitraums. Innerhalb dieses geschichtlichen Zeitraums haben

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sich ganz bestimmte soziale Verhältnisse herausgebildet. Es würdehier zu weit führen, das genauer zu beschreiben; aber es ist ein inter-essantes Studium, gerade für die ersten Jahrhunderte des Mittelalterszu studieren, wie sich auf der einen Seite die Rechtsverhältnisse, aufder anderen Seite die Arbeitsverhältnisse heraussondern aus denreligiösen Organisationen, in denen sie früher mehr oder wenigerdurchaus drinnen waren – religiöse Organisationen natürlich imweiteren Sinne.

Nun hat das eine ganz bestimmte Folge. Solange die religiösen Im-pulse für das gesamte soziale Leben der Menschheit maßgebend sind,solange schadet der Egoismus nichts. Das ist eine außerordentlichwichtige Sache für das Verständnis auch der sozialen, volkswirt-schaftlichen Prozesse. Der Mensch mag noch so egoistisch sein:wenn die religiöse Organisation, wie sie zum Beispiel in bestimmtenGebieten des alten Orients ganz strenge war, wenn die religiöse Or-ganisation so ist, daß der Mensch trotz seines Egoismus sich eben infruchtbarer Weise hineingliedert in das soziale Leben, dann schadetder Egoismus nichts; aber er fängt an, im Völkerleben eine Rolle zuspielen in dem Augenblick, wo das Recht und die Arbeit sich heraus-sondern aus den anderen sozialen Impulsen, sozialen Strömungen.Daher strebt, ich möchte sagen, unbewußt der Menschheitsgeistin der Zeit – während Arbeit und Recht sich eben emanzipieren –danach, fertigzuwerden mit dem menschlichen Egoismus, der sichnun regt und der in einer gewissen Weise hineingegliedert werdenmuß in das soziale Leben. Dieses Streben gipfelt dann einfach in dermodernen Demokratie, in dem Sinn für Gleichheit der Menschen,dafür, daß jeder seinen Einfluß hat darauf, das Recht festzustellenund auch seine Arbeit festzustellen.

Aber gleichzeitig mit diesem Gipfeln des emanzipierten Rechtesund der emanzipierten Arbeit kommt noch etwas anderes herauf,was zwar früher während der älteren Perioden der Menschheits-

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entwickelung auch vorhanden war, was aber wegen der religiös-sozialen Impulse eine ganz andere Bedeutung hatte, was geradefür unsere europäische Zivilisation während des Mittelalters nur ineingeschränktem Maße vorhanden war, was sich zur höchsten Kul-mination entwickelte von der Zeit an, in der eben Recht und Arbeitam meisten emanzipiert waren – und das ist die Arbeitsteilung.

In den älteren Zeiten der Menschheitsentwickelung hatte die Ar-beitsteilung deshalb keine besondere Bedeutung, weil ja eben auchsie in die religiösen Impulse hineingestellt war und gewissermaßenjeder an seinen Platz gestellt wurde, so daß sie also keine solcheBedeutung hatte. Da aber, wo sich der Hang nach Demokratie ver-band mit dem Streben nach Arbeitsteilung, da fing an – das ist erstheraufgekommen in den letzten Jahrhunderten und aufs höchstegestiegen im 19. Jahrhundert -, da fing an die Arbeitsteilung eineganz besondere Bedeutung zu gewinnen; denn die Arbeitsteilunghat eine volkswirtschaftliche Konsequenz.

Diese Arbeitsteilung, deren Ursachen und Gang wir ja noch kennen-lernen werden, führt zuletzt dazu, wenn wir sie zunächst einfachabstrakt zu Ende denken, so müssen wir sagen, sie führt zuletztdazu, daß niemand dasjenige, was er erzeugt, für sich selbst ver-wendet. Volkswirtschaftlich gesprochen aber! Also, daß niemanddasjenige, was er erzeugt – volkswirtschaftlich gesprochen -, fürsich selbst verwendet! Was heißt das? Nun, ich will es durch einBeispiel erläutern.

Nehmen Sie an, ein Schneider verfertigt Kleider. Er muß selbstver-ständlich bei der Arbeitsteilung für andere Leute Kleider erzeugen.Er könnte aber auch so sagen: Ich erzeuge für die anderen LeuteKleider, und meine eigenen Kleider erzeuge ich mir selber. Da würdeer also einen gewissen Teil seiner Arbeit darauf verwenden, seineeigenen Kleider zu erzeugen, und die andere, weitaus größere Ar-beit, die dann übrigbleibt, die würde er dazu verwenden, für die

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anderen Menschen Kleider zu erzeugen. Nun, einfach, ich möchtesagen, banal angesehen, könnte man sagen: Ja, es ist ja das Allerna-türlichste auch in der Arbeitsteilung, daß der Schneider sich seineKleider selber erzeugt und für die anderen Menschen dann ebenals Schneider arbeitet. Wie ist die Sache aber volkswirtschaftlichgesprochen? Volkswirtschaftlich angeschaut, ist die Sache so: Da-durch, daß die Arbeitsteilung gekommen ist, daß also nicht ein jederMensch für alle seine einzelnen Sachen Selbsterzeuger ist, dadurch,daß Arbeitsteilung gekommen ist, daß immer einer für den anderenarbeitet, dadurch stellt sich ja für die Produkte ein gewisser Wert einund infolge des Wertes auch ein Preis. Und jetzt entsteht die Frage:Wenn zum Beispiel durch die Arbeitsteilung, die sich ja fortsetzt inder Zirkulation, im Umlauf der Produkte, wenn also durch diese inden Umlauf der Produkte hineingelaufene Arbeitsteilung die Schnei-derprodukte einen gewissen Wert haben, haben dann die Produkte,die er erzeugt für sich selbst, einen gleichen volkswirtschaftlichenWert, oder sind sie vielleicht billiger oder teurer? Das ist die bedeut-samste Frage. Wenn er selbst sich seine Kleider erzeugt, dann bleibtja das weg, daß sie in die Zirkulation der Produkte hineingehen.Dasjenige, was er für sich selbst erzeugt, nimmt nicht Anteil an derVerbilligung, die durch die Arbeitsteilung hervorgerufen wird, istalso teurer. Wenn er auch nichts dafür bezahlt, ist es teurer. Es isteinfach aus dem Grunde teurer, weil er in die Unmöglichkeit ver-setzt ist, bei dem, was er für sich selbst braucht, nur so viel Arbeitaufzuwenden, wie er für das braucht, was dann in die Zirkulationübergeht, dem Wert gegenüber.

Nun, vielleicht ist notwendig, sich das etwas genauer zu überlegen;aber die Sache ist schon so. Es ist so, daß alles dasjenige, was derSelbsterzeugung dient, weil es nicht in die Zirkulation, der die Ar-beitsteilung zugrunde liegt, eingeht, teurer ist als dasjenige, was indie Arbeitsteilung hineingeht. So daß also, wenn die Arbeitsteilungin ihrem Extrem gedacht wird, man sagen müßte: Müßte der Schnei-

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der nur für andere Menschen arbeiten, dann würde er die Preiseerzielen für die Produkte seiner Arbeit, die eigentlich erzielt werdensollen. Und er müßte sich seinerseits seine Kleider kaufen bei einemanderen Schneider, beziehungsweise er müßte sie sich verschaffenin der Art, wie man sie sich sonst verschafft, er müßte sie sich dortkaufen, wo Kleider verkauft werden.

Aber sehen Sie auf alles das hin, so werden Sie sich sagen müssen:Die Arbeitsteilung tendiert dazu, daß überhaupt niemand mehr fürsich selbst arbeitet; sondern das, was er erarbeitet, muß alles andie anderen übergehen. Das, was er braucht, muß ihm wiederumzurückkommen von der Gesellschaft. Sie könnten ja eventuell ein-wenden: Ja, es müßte ja eigentlich ein Anzug für den Schneider,wenn er ihn bei dem anderen Schneider kauft, gerade so viel kosten,als wenn er ihn selber fabriziert, weil ihn der andere nicht teurerund nicht billiger machen wird. Wenn das der Fall wäre, wäre keineArbeitsteilung da, wenigstens keine vollständige Arbeitsteilung, ausdem einfachen Grunde, weil für dieses Produkt des Kleidererzeu-gens nicht durch die Teilung der Arbeit die größte Konzentrationder Arbeitsweise würde aufgebracht werden können. Es ist ja nichtmöglich, daß, wenn Arbeitsteilung eintritt, eben nicht die Arbeits-teilung in die Zirkulation überfließt, so daß es also nicht möglichist, daß der eine Schneider beim andern kauft, sondern er muß beimHändler kaufen. Das aber bringt einen ganz anderen Wert hervor. Erwird, wenn er seinen eigenen Rock macht, den Rock bei sich kaufen;wenn er ihn kauft, so wird er ihn beim Händler kaufen. Das machtden Unterschied. Und wenn Arbeitsteilung im Zusammenhange mitZirkulation verbilligt, so kommt ihn sein Rock beim Händler billiger,als er ihn bei sich selber machen kann.

Wollen wir das zunächst als etwas, was uns führt zu der Form derVolkswirtschaftslehre, ansehen; die Tatsachen müssen wir ja allenoch einmal betrachten.

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Das ist nun aber durchaus so, daß wir unmittelbar einsehen: Je wei-ter die Arbeitsteilung vorrückt, desto mehr muß das kommen, daßimmer einer für die anderen arbeitet, für die unbestimmte Sozie-tät arbeitet, niemals für sich. Das heißt aber mit anderen Worten:Indem die moderne Arbeitsteilung heraufgekommen ist, ist die Volks-wirtschaft in bezug auf das Wirtschaften darauf angewiesen, denEgoismus mit Stumpf und Stiel auszurotten. Bitte, verstehen Sie dasnicht ethisch, sondern rein wirtschaftlich! Wirtschaftlich ist der Ego-ismus unmöglich. Man kann nichts für sich mehr tun, je mehr dieArbeitsteilung vorschreitet, sondern man muß alles für die anderentun.

Im Grunde genommen ist durch die äußeren Verhältnisse der Altruis-mus als Forderung schneller auf wirtschaftlichemGebiet aufgetreten,als er auf religiös-ethischem Gebiet begriffen worden ist. Dafür gibtes eine leicht erhaschbare historische Tatsache.

Das Wort Egoismus, das werden Sie als ein ziemlich altes finden,wenn auch vielleicht nicht in der heutigen schroffen Bedeutung, aberSie werden es als ein ziemlich altes finden. Das Gegenteil davon, dasWort Altruismus, das Denken an den anderen, ist eigentlich kaumhundert Jahre alt, ist erst sehr spät als Wort erfunden worden, undwir können daher sagen – wir wollen uns nicht auf diese Äußer-lichkeit zu stark stützen, aber eine historische Betrachtung würdedas zeigen -: Die ethische Betrachtung war noch lange nicht zu ei-ner vollen Würdigung des Altruismus gekommen, da war schon dievolkswirtschaftlicheWürdigung des Altruismus durch die Arbeitstei-lung da. – Und betrachten wir jetzt diese Forderung des Altruismusals volkswirtschaftliche, dann haben wir das, ich möchte sagen, wasweiter daraus folgt, unmittelbar: Wir müssen den Weg finden indas moderne Volkswirtschaften, wie kein Mensch für sich selber zusorgen hat, sondern nur für die anderen, und wie auf diese Weiseauch am besten für jeden einzelnen gesorgt ist. Das könnte als ein

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Idealismus genommen werden; aber ich mache Sie noch einmal dar-auf aufmerksam: ich spreche in diesem Vortrag weder idealistischnoch ethisch, sondern volkswirtschaftlich. Und das, was ich jetztgesagt habe, ist einfach volkswirtschaftlich gemeint. Nicht ein Gott,nicht ein sittliches Gesetz, nicht ein Instinkt fordert im modernenwirtschaftlichen Leben den Altruismus im Arbeiten, im Erzeugender Güter, sondern einfach die moderne Arbeitsteilung. Also eineganz volkswirtschaftliche Kategorie fordert das.

Das ist ungefähr, was ich dazumal in jenem Aufsatz habe darstellenwollen: daß unsere Volkswirtschaft mehr fordert von uns, als wir inder neuesten Zeit ethisch-religiös leisten können. Darauf beruhenviele Kämpfe. Studieren Sie einmal die Soziologie der Gegenwart.Sie werden finden, daß die sozialen Kämpfe zum großen Teil daraufzurückzuführen sind, daß beim Erweitern der Wirtschaft in die Welt-wirtschaft die Notwendigkeit immer mehr und mehr aufgetreten ist,altruistisch zu sein, altruistisch die verschiedenen sozialen Beständeeinzurichten, während die Menschen in ihrem Denken eigentlichnoch gar nicht verstanden hatten, über den Egoismus hinauszukom-men, und daher immer hineinpfuschten in egoistischer Weise indasjenige, was eigentlich als eine Forderung da war.

Wir kommen nun erst zu der ganzen Bedeutung desjenigen, was ichjetzt gesagt habe, wenn wir nicht bloß studieren die, ich möchte sa-gen, platt daliegende Tatsache, sondern die kaschierte, die maskierteTatsache. Diese kaschierte, maskierte Tatsache ist diese, daß wegender Diskrepanz der Menschheitsgesinnung der modernen Zeit zwi-schen der Forderung der Volkswirtschaft und dem religiös-ethischenKönnen in einem großen Teil der Volkswirtschaft praktisch darinnenist dieses, daß die Menschen sich selber versorgen, daß also unsereVolkswirtschaft selber widerspricht demjenigen, was eigentlich ihreeigene Forderung ist durch die Arbeitsteilung. Auf die paar Selbstver-sorger nach dem Muster dieses Schneiders, den ich angeführt habe,

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kommt es nicht an. Einen Schneider, der sich selber seine Anzügefabriziert, den werden wir erkennen als einen, der hineinmischt indie Arbeitsteilung, was nicht hineingehört. Aber dieses ist offenbar.Und maskiert ist innerhalb der modernen Volkswirtschaft also das,wo der Mensch zwar durchaus nicht für sich seine Produkte erzeugt,aber im Grunde genommen mit demWert oder Preis dieser Produktenichts Besonderes zu tun hat, sondern, abgesehen von dem volks-wirtschaftlichen Prozeß, in dem die Produkte drinnenstehen, bloßdasjenige, was er durch seine Handarbeit leisten kann, als Wert indie Volkswirtschaft hineinzubringen hat. Im Grunde genommen istjeder Lohnempfänger im gewöhnlichen Sinn heute noch ein Selbst-versorger. Er ist derjenige, der so viel hingibt, als er erwerben will,der gar nicht kann so viel an den sozialen Organismus hingeben, alser hinzugeben in der Lage ist, weil er nur so viel hingeben will, alser erwerben will. Denn Selbstversorgen heißt, für den Erwerb arbei-ten; für die anderen arbeiten heißt, aus der sozialen Notwendigkeitheraus arbeiten.

Insoweit die Arbeitsteilung ihre Forderung schon erfüllt bekommenhat in der neueren Zeit, ist in der Tat Altruismus vorhanden: Arbeitenfür die anderen; insofern aber diese Forderung nicht erfüllt ist, ist deralte Egoismus vorhanden, der eben einfach darauf beruht, daß derMensch sich selbst versorgen muß. Volkswirtschaftlicher Egoismus!Man merkt das bei dem gewöhnlichen Lohnempfänger aus demGrunde gewöhnlich nicht, weil man gar nicht nachdenkt darüber,wofür hier eigentlich Werte ausgetauscht werden. Dasjenige, wasder gewöhnliche Lohnempfänger fabriziert, das hat ja gar nichts zutun mit der Bezahlung seiner Arbeit, hat gar nichts damit zu tun.Die Bezahlung, die Bewertung der Arbeit geht aus ganz anderenFaktoren hervor, so daß er für den Erwerb, für die Selbstversorgungarbeitet. Das ist kaschiert, maskiert, aber es ist der Fall.

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So entsteht uns eine der ersten, wichtigsten volkswirtschaftlichenFragen: Wie bringen wir aus dem volkswirtschaftlichen Prozeß her-aus die Arbeit auf Erwerb? Wie stellen wir diejenigen, die heutenoch bloß Erwerbende sind, so in den volkswirtschaftlichen Prozeßhinein, daß sie nicht Erwerbende, sondern aus der sozialen Notwen-digkeit heraus Arbeitende sind? Müssen wir das? Sicherlich! Dennwenn wir das nicht tun, bekommen wir niemals wahre Preise heraus,sondern falsche Preise. Wir müssen Preise und Werte herausbekom-men, die nicht abhängig sind von den Menschen, sondern von demvolkswirtschaftlichen Prozeß, die sich ergeben im Fluktuieren derWerte. Die Kardinalfrage ist die Preisfrage.

Veränderbare geistige Autorität statt starres Gesetz

Quelle [23]: GA 330, S. 326-327, 2/1983, 19.06.1919, Stuttgart

Nun, meine sehr verehrten Anwesenden, ich kann dann wirklichnicht eingehen auf Dinge, die erst aus meinen Worten herauskon-struiert werden, und gegen die dann polemisiert wird. Auf einesaber möchte ich doch noch eingehen: Auch für den Lehrer werdewieder eine Autorität notwendig sein. Ich habe ja nichts gesagt überdie Autorität, die für den Lehrer notwendig sein wird, sondern ichhabe davon gesprochen, daß der Lehrer eine Autorität für das Kindsein soll! Ob für den Lehrer eine Autorität notwendig wäre, ist eineweitaus andere Frage, die sich dadurch beantwortet, daß schließlichdas Leben selbst dafür sorgen wird. Beachten Sie nur das Leben, wiees ist, das beachtet man heute viel zu wenig. Beachten Sie es nurlebensgemäß und wirklichkeitsgemäß, so werden Sie sich sagen: Ja,die Menschen sind voneinander so verschieden, daß schließlich je-mand, der in der allermannigfaltigsten Art eine Autorität sein kann,doch noch immer eine Autorität über sich finden wird. Dafür wirdschon gesorgt sein, daß immer einer noch eine Autorität für sich

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finden kann. Nun, nicht wahr, dieses braucht nicht zu führen bis zueiner höchsten Spitze. Es kann einer einfach dadurch eine Autoritätsein, daß er einem in anderen Dingen überlegen ist.

Wenn ich von Klopstocks „Gelehrtenrepublik“ gesprochen habe, sobedeutet das nicht, daß jeder nun tun wird, was er will: Er wirdvielmehr gerade nicht einfach tun, was er will, sondern aus den Be-dürfnissen des Geisteslebens heraus, um dieses möglichst fruchtbarzu gestalten, wird wieder das Hinneigen zu denjenigen, die einmaleine Autorität sein sollen, ein freiwilliges sein. Eine „Verfassung“,die aber nicht beruht auf starren Gesetzen, auf knöchernen, staatli-chen Verordnungen, eine Verfassung kann schon gedacht werden imfreien Geistesleben; nur wird sie sich auf die realen, die lebendigenVerhältnisse der Menschen beziehen, die an diesem Geistesleben teil-nehmen. Das „Gesetz“ muß allerdings auf diesem Boden erst ersetztwerden durch die freien menschlichen Verhältnisse, die ja individuellsind und sich immer von Woche zu Woche ändern können, und diedurchaus nicht durch starre Gesetze gebunden und in irgendeinerstarren Form verewigt werden können. Worauf es also ankommt,das ist, daß dem Geistesleben die Möglichkeit gegeben werde, inderjenigen Form zu leben, die ihm aus seinen Kräften heraus mög-lich ist, so daß der Lehrer der Schule nicht in irgendeiner Weiseabhängig ist von einem Staatsbeamten, sondern daß er abhängigist in menschlicher Weise, in sachlicher, sachgemäßer Weise – wiees aus dem Geistesleben heraus folgt – von einem andern, der nunauch im Geistesleben unmittelbar drinnen steht, und der mit ihmin dem gleichen Geistesleben drinnen wirkt. Darauf kommt es an.Man merkt es ja, wie heute noch eine gewisse Furcht vorhanden istvor der Selbständigkeit des Geisteslebens, wie sich viele wohl fühlenin dem staatlichen Schutz. Aber das ist es ja eben, daß sich so vielewohl fühlen in diesem staatlichen Schutz.

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– Individuelles Urteil –– Demokratisches Urteil –– Kollektivurteil –

Eine weitere Art, die drei Lebensbereiche auseinanderzuhalten, findetsich in den Vorträgen, wo Rudolf Steiner zwischen individuellem, de-mokratischem und kollektivem Urteil unterscheidet. Die Anklänge anden entsprechenden Idealen der Freiheit im Geistesleben, Gleichheit imRechtsleben und Brüderlichkeit imWirtschaftsleben sind zwar deutlich.Aber die Argumentation klingt irgendwie sachlicher, nüchterner, alswenn er von Idealen sprechen würde.

Das späteste Zitat „Individuelles Urteil, demokratisches Urteil undKollektivurteil“ auf Seite 39 wird hier vorangestellt, weil in diesemöffentlichen Vortrag die einzelnen Urteilsarten am ausführlichstencharakterisiert und gegenübergestellt werden.

Im zweiten Zitat, „Kollektivurteil zwischen Wirtschaftserkenntnis undWirtschaftspsychologie“ auf Seite 47, das aus einem öffentlichen Vortragmit dem Titel „Die Kardinalfrage des Wirtschaftslebens“ entnommenist, geht es Rudolf Steiner darum zu zeigen, dass in Wirtschaftsfra-gen das individuelle Urteil, sei er auch noch so wissenschaftlich undstatistisch begründet, niemals stimmen kann. Einige Formulierungen,die so im ersten Zitat nicht zu finden sind, können helfen zu verste-hen, warum es grundsätzlich eines Kollektivurteils bedarf, um zu denrichtigen Preisen zu kommen.

Im dritten Zitat, „Die Polarität zwischen individuellem Urteil undKollektivurteil“ auf Seite 50 legt Rudolf Steiner den Schwerpunkt aufdie Unzulänglichkeit des individuellen Urteils im Wirtschaftsleben,nachdem er kurz angedeutet hat, warum dieses individuelle Urteilim Geistesleben das einzig Maßgebende sein sollte: „Denn durch dieGeburt bringen wir aus der geistigen Welt unsere Anlagen mit.“ Hier

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– Individuelles Urteil – Demokratisches Urteil – Kollektivurteil –

klingt ein übersinnlicher Aspekt herein, der in den beiden ersten Zitatennicht auseinandergesetzt wurde – vielleicht deswegen weil sie beideaus öffentlichen Vorträgen stammen.

Im vierten Zitat, „Die Entwicklung zum individuellen Urteil und heu-tigen Kollektivurteil“ auf Seite 53, der aus einem Mitgliedervortragstammt, geht es dezidiert übersinnlich zu. Rudolf Steiner setzt hier aus-einander, wie sich diese beiden Urteilsarten aus der bisherigen Mensch-heitsentwicklung ergeben haben. Das Verhältnis der Menschen zu denGöttern hat sich nämlich verändert und dadurch auch die Art, wiesoziale Urteile gebildet werden müssen.

Auch das fünfte und letzte Zitat, „Wirtschaftliches Urteil lässt sichnicht aus Individualität heraus bilden“ auf Seite 62, stammt aus einemMitgliedervortrag. Rudolf Steiner geht hier auf die Geschichte des Kol-lektivurteils ein und betont, dass es heute nicht mehr instinktiv, sondernbewusst entstehen muss. Aber besonders hilfreich für den philosophischInteressierten ist folgende Aussage: „[Das wirtschaftliche Urteil] wirdnatürlich erkenntnistheoretisch aus der Individualität stammen, abergebildet werden wird es nicht aus der Individualität heraus.“ Wirt-schaftliches Kollektivurteil und individuelles Urteil stammen also beide„erkenntnistheoretisch“ aus der Individualität, aber nur vom individu-ellen Urteil im geistigen Leben kann man auch noch sagen, dass es ausder Individualität heraus gebildet wird.

Individuelles Urteil, demokratisches Urteil undKollektivurteil

Quelle [5]: GA 083, S. 286-294, 3/1981, 11.06.1922, Wien

[Heute]muß das soziale Leben [...] in seinen Fundamenten betrachtetwerden, nicht an den Oberflächenerscheinungen. Und da wird man

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auf die einzelnen Zweige, die in unserem sozialen Leben enthaltensind, geführt.

Einer dieser sozialen Zweige ist das geistige Leben der Menschheit.Dieses geistige Leben der Menschheit – wir können es selbstver-ständlich nicht abgesondert betrachten von dem übrigen sozialenLeben – hat seine eigenen Bedingungen. Diese sind an die menschli-chen Individualitäten gebunden. Das geistige Leben gedeiht auf demUntergrund der menschlichen Wesenheiten eines Zeitalters. Unddavon hängt dann das ganze übrige soziale Leben ab. Man denke sichnur, wie vieles sich auf manchen sozialen Gebieten einfach dadurchverändert hat, daß von dem oder jenem diese oder jene Erfindungoder Entdeckung gemacht worden ist. Dann aber, wenn man fragt:Wie ist es zu dieser Erfindung oder Entdeckung gekommen, dannmußman auf den Grund der Menschenseelen hinsehen: wie die Men-schenseelen durch einen gewissen Werdegang hindurchgegangensind, wie sie dazu gebracht worden sind, ich möchte sagen, in ihrenstillen Kämmerlein irgend etwas zu finden, was dann ganze breiteGebiete des sozialen Lebens umgestaltet hat. Man frage sich nur ein-mal so, daß das Urteil eine soziale Bedeutung gewinnt: Was hat esfür eine Bedeutung für das ganze soziale Leben, daß die Differential-und Integralrechnung von Leibniz gefunden worden ist? Man versu-che einmal, von diesem Gesichtspunkt aus den Einfluß des geistigenLebens auf das soziale Leben wirklichkeitsgemäß zu betrachten, undman wird, weil dieses geistige Leben seine eigenen Bedingungenhat, darauf kommen, daß in diesem geistigen Leben ein besondersgearteter Zweig des allgemeinen sozialen Lebens gegeben ist.

Und wenn man fragt, welches diese besondere Artung ist, so mußman sagen: Alles, was im geistigen Leben der Menschheit wirklichgedeihen kann, muß aus der menschlichen innersten produktivenKraft hervorgehen. Und man wird am günstigsten finden müssenfür das gesamte soziale Leben, was sich in diesem Geistesleben

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unbehindert aus dem entwickeln kann, was auf dem Grund dermenschlichen Seele ist.

Dann aber stehen wir unter einem anderen Impuls, der immer mehrund mehr in den letzten Jahrzehnten hervorgetreten ist: unter demImpuls, der sich dann hineinergossen hat in den Glauben an dieAllmacht des Staatslebens, daß die zivilisierte Menschheit aus denUntergründen ihres Wesens heraus immer demokratischer und de-mokratischer geworden ist. Das heißt, daß Aspirationen in den brei-ten Massen der Menschheit vorhanden sind: Jeder Mensch müssemitreden, wenn es sich darum handelt, menschliche Einrichtungenzu treffen. Dieser demokratische Zug kann einem sympathisch oderunsympathisch sein, darauf kommt es zunächst nicht an. Daraufkommt es an, daß er sich als eine reale Kraft im geschichtlichenLeben der neueren Menschheit ergeben hat. Aber gerade wenn manauf das, was sich als solcher demokratischer Zug ergeben hat, hin-schaut, dann kommt einem bei einem wirklichkeitsgemäßen Denkenganz besonders in den Sinn, wie aus dem inneren Drängen, aus demgeistigen Leben Mitteleuropas heraus bei den edelsten Geistern sichIdeen gerade über das staatliche Zusammenleben der Menschenentwickelt haben.

Ich will nicht sagen, daß man heute noch einen besonderen Wertzu legen hat auf das, was einer der edelsten deutschen Menschenals seinen „geschlossenen Handelsstaat“ hingestellt hat. Auf denInhalt wird man weniger Rücksicht nehmen müssen als auf das edleWollen Fichtes. Aber ich möchte darauf hinweisen, daß in einersehr populären Form um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundertaufgetreten ist, was man das Streben nach Ideen eines Naturrechtsnennen kann. Dazumal haben sich sehr bedeutende und edle Geisterdamit beschäftigt, die Frage zu beantworten: Wie steht Mensch zuMensch? Was ist überhaupt die innerste Wesenheit des Menschen insozialer Beziehung? Und sie glaubten, wenn sie den Menschen recht

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verstehen, auch finden zu können, was für den Menschen rechtensist. Das Vernunftrecht, das Naturrecht haben sie das genannt. Sieglaubten, aus der Vernunft heraus finden zu können, welches die bes-ten Rechtsinstitutionen sind, unter denen die Menschen am bestengedeihen können. Sie brauchen nur Rottecks Werk zu betrachten,um zu sehen, wie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch beivielen die Idee des Naturrechts regsam war.

Dem hat sich aber im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhundertsin Europa die historische Rechtsschule gegenübergestellt. Diese wardavon beseelt, daß man nicht aus der Vernunft herausspinnen könne,was rechtens ist unter den Menschen.

Aber man bemerkte in dieser historischen Rechtsschule nicht, wases ist, das alles Ausdenken eines Vernunftrechts unfruchtbar macht;man bemerkte nicht, daß unter dem Einfluß des intellektuellen Zeit-alters eine gewisse Unfruchtbarkeit in das Geistesleben der Mensch-heit gekommen war. Und so sagten sich die Gegner des Naturrechts:die Menschen seien nicht dazu berufen, aus ihrer Seele heraus et-was von dem zu finden, was rechtens ist, deshalb müsse man dasRecht historisch studieren; man müsse darauf hinschauen, wie sichdie Menschen geschichtlich entwickelt haben, wie aus ihren Ge-wohnheiten, aus ihren instinktiven gegenseitigen Verhältnissen sichRechtszustände ergeben haben.

Man muß das Recht historisch studieren! Gegen solches Studium hatsich dann der freie Geist Nietzsches gewendet in seiner Schrift „VomNutzen und Nachteil der Historie für das Leben“. Er meinte, wennman immer nur hinblicke auf das, was historisch in der Menschheitgelebt hat, dann könne man nicht zu einer Produktivität und zutragfähigen Ideen für die Gegenwart kommen; was im Menschen anelementaren Kräften lebt, müsse sich gegen den historischen Sinnaufbäumen, um aus diesen Kräften heraus zu einer Konstitutionsozialer Zusammenhänge zu kommen.

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Unter den führenden Persönlichkeiten war gerade im 19. Jahrhun-dert, in der höchsten Blüte des Intellektualismus, ein Streit überdas heraufgekommen, was eigentlich die Grundlagen des Rechtssind. Und damit war auch der Streit über die Grundlagen des Staatesgegeben. Wenigstens in der damaligen Zeit leugnete man das garnicht. Denn der Staat ist im Grunde genommen bloß die Endsum-mierung dessen, was sich an einzelnen Institutionen ergibt, in denendie Rechtskräfte leben. Und so war eigentlich mit der Tatsache, daßman den Sinn für Auffindung von Rechtsgrundlagen verloren hatte,gegeben, daß man auch über die eigentliche Wesenheit des Staatesnicht mehr mit sich ins klare kommen konnte. Daher sehen wir, nichtetwa nur in den Theorien, sondern auch im praktischen Leben, wiedas Leben des Staates im Verlaufe des 19. Jahrhunderts für unzähligeMenschen, auch der breitesten Masse, ein Problem geworden ist, dasgelöst werden sollte.

Das ging aber dochmehr, ich möchte sagen, in den oberen, bewußtenPartien der Menschheitszivilisation vor sich. In den Untergründenbohrte das, was ich als das Heraufkommen des demokratischenSinnes charakterisiert habe. Dieses Heraufkommen des demokra-tischen Sinnes führt uns, wenn es richtig verstanden wird, dahin,die Frage nach dem Wesen des Rechts viel gründlicher, viel wirk-lichkeitsgemäßer aufzufassen, als sie vielfach heute aufgefaßt wird.Es gibt heute viele Menschen, die es als eine Selbstverständlichkeitbetrachten, daß man irgendwie aus dem einzelnen Menschen her-aus auf das kommen könne, was eigentlich auf diesem oder jenemGebiete das Recht ist. Allerdings, neuere Rechtsgelehrte verlierenmit einem solchen Streben schon den Boden; und sie finden dann,daß sie, wenn sie in dieser Weise philosophieren oder auch glauben,praktisch nachzudenken über das Leben, dann für das Recht denInhalt verlieren, daß das Recht ihnen etwas Formales wird. Und dannsagen sie: Das, was bloß formal ist, muß einen Inhalt bekommen, indas muß sich das Wirtschaftliche als Inhalt hineinergießen.

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So ist auf der einen Seite ein deutliches Gefühl vorhanden, wieohnmächtig man ist, wenn man aus sich heraus zum Rechtsbegriff,zum Rechtsempfinden kommenwill; auf der anderen Seite sucht mandennoch immer wieder und wiederum aus dem Menschen herausdas Wesen des Rechts. Der demokratische Sinn aber bäumt sichgerade gegen dieses Suchen auf. Denn, was sagt er?

Er sagt: Es gibt überhaupt nicht eine allgemeine abstrakte Festset-zung des Rechts, sondern es gibt nur die Möglichkeit, daß sich Men-schen, die in irgendeiner sozialen Gemeinschaft stehen, miteinanderverständigen, daß sie sich gewissermaßen gegenseitig sagen: Daswillst du von mir, das will ich von dir – und daß sie dann überein-kommen darüber, was sich dadurch für sie für Verhältnisse ergeben.Dann ergibt sich das Recht rein aus der Wirklichkeit dessen heraus,was Menschen gegenseitig von sich wollen, so daß es eigentlichein Vernunftrecht gar nicht geben kann, daß auch alles, was als„historisches Recht“ zustande gekommen ist, noch immer zustan-de kommen kann, wenn man nur den richtigen Boden dafür sucht,und daß die Menschen auf diesem Boden in ein solches Verhältniskommen können, daß sie aus gegenseitiger Verständigung wirklich-keitsgemäß das Recht erst hervorbringen. „Ich will mitreden können,wenn das Recht entsteht!“, das ist das, was der demokratische Sinnsagt. Und derjenige, der dann etwa theoretisch über das Recht Bü-cher schreiben will, der kann sich nicht aus den Fingern saugen, wasdas Recht ist, sondern der hat einfach hinzuschauen auf das, wasunter Menschen als Recht entsteht, und hat es mehr oder wenigerzu registrieren. Wir sehen auch in der Naturwissenschaft nicht soin die Tatsachenwelt hinein, daß wir aus unserem Kopf heraus dieNaturgesetze formen, sondern wir lassen die Dinge zu uns reden undbilden danach die Naturgesetze. Wir nehmen an: das, was wir in dieNaturgesetze hineinfassen wollen, sei bereits geschaffen; das aber,was im Rechtsleben vorhanden ist, das werde unter den Menschengeschaffen. Da ist das Leben auf einem anderen Niveau. Da steht

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der Mensch im Gebiete des Schaffens, und zwar als soziales Wesen,neben den anderen Menschen, damit ein Leben, das den Entwicke-lungssinn der Menschheit in die soziale Ordnung hineingießen will,zustande komme. Das ist eben der demokratische Sinn.

Das dritte, das sich heute hinstellt vor den Menschen und nachsozialen Neugestaltungen ruft, das sind die komplizierten wirtschaft-lichen Verhältnisse, die heraufgekommen sind in der neueren Zeit,die ich nicht zu schildern brauche, weil sie sachgemäß von vielenSeiten geschildert werden. Man kann nun sagen: Diese wirtschaftli-chen Verhältnisse sind durchaus so, daß sie wiederum aus anderenBedingungen hervorgehen als die beiden anderen Gebiete des sozia-len Organismus, als das Geistesleben – da muß alles, was fruchtbarwerden kann in der sozialen Ordnung, aus der einzelnen mensch-lichen Individualität hervorgehen, nur das Schaffen des Einzelnenkann da den rechten Beitrag geben zur gesamten sozialen Ordnung– und als das Rechtsleben, auf dessen Gebiet es sich nur darumhandeln kann, daß das Recht und damit auch das staatliche Wesenhervorgeht aus der Verständigung der Menschen. Beide Bedingun-gen, die eine, wie sie für das Geistesleben, die andere, wie sie fürdas staatlich-rechtliche Leben gilt, sind nicht da im wirtschaftlichenLeben.

Imwirtschaftlichen Leben ist es nicht so, daß das Urteil über das, wasgeschehen könne, aus einem einzelnen hervorspringen kann.Wir ha-ben gerade im Laufe des 19. Jahrhunderts, wo unter der Menschheitder Intellektualismus so zur Blüte gekommen ist, sehen können, wieeinzelne sehr bedeutende Menschen – ich sage das nicht aus Ironieheraus, sondern um die Dinge wahrheitsgemäß zu charakterisieren -,die auf den verschiedenen Gebieten stehen, über das eine und andereihre Meinungen geäußert haben, Leute, die gut darinnenstanden imwirtschaftlichen Leben, denen man auch zutrauen konnte, daß sieein Urteil hatten. Wenn sie sich dann über irgend etwas, was über

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ihr Gebiet hinausging, was auf die Gesetzgebung Einfluß gewann,äußern sollten, dann konnte man oftmals sagen: Ja, das, was dieseroder jener gesagt hat, zum Beispiel über den praktischen Einflußder Goldwährung, ist bedeutend und gescheit -, man staunt sogar,wenn man verfolgt, was sich abgespielt hat in den verschiedenenwirtschaftlichen Verbänden in der Zeit, als in verschiedenen Staatender Übergang zu dieser Goldwährung gemacht worden ist, über dieSumme von Gescheitheit, die da in die Welt gebracht worden ist;wenn man aber weiterstudiert, wie sich dann die Dinge entwickelthaben, die vorausgesagt worden sind, dann sieht man: da hat dieseroder jener sehr bedeutende Mensch zum Beispiel gesagt, unter demEinfluß der Goldwährung würden die Zollschranken verschwinden.Das Gegenteil davon ist eingetreten!

Und man muß sagen: Auf dem Gebiete des wirtschaftlichen Lebensist es so, daß einem Gescheitheit, die einem sehr viel helfen kann aufdem Gebiete des Geisteslebens, eigentlich nicht immer ein sichererFührer sein kann. Man kommt allmählich darauf, sich zu sagen: Inbezug auf das Wirtschaftsleben kann überhaupt die einzelne Indivi-dualität keine maßgebenden Urteile fällen. Da können Urteile nurzustande kommen gewissermaßen als Kollektivurteile, indem siesich ergeben durch das Zusammenwirken vieler, die in den verschie-densten Gebieten des Lebens drinnenstehen. Das darf wiederumnicht bloße theoretische Weisheit sein, sondern muß lebensprakti-sche Lebensweisheit werden, daß wirklich Geltung habende Urteilenur aus dem Zusammenklang von vielen hervorgehen können.

Damit gliedert sich das gesamte soziale Leben in drei voneinanderverschiedene Gebiete. Auf dem Boden des Geisteslebens hat der Ein-zelne zu sprechen, auf dem Boden des demokratischen Rechtslebenshaben alle Menschen zu sprechen, weil es da auf das Verhältnis vonMensch zu Mensch aus der rein menschlichen Wesenheit herausankommt, darüber kann sich jeder Mensch äußern, und auf dem

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Gebiete des Wirtschaftslebens ist weder das Urteil der Individualitätnoch das Urteil, das zusammenfließt aus den unterschiedslosen Ur-teilen aller Menschen, möglich. Auf diesem Gebiete handelt es sichdarum, daß der Einzelne in eine Ganzheit Sachkenntnis und Erfah-rung auf seinem Gebiete hineinträgt, daß aber dann aus Verbändenheraus ein Kollektivurteil in der richtigen Weise entstehen kann.Das kann nur entstehen, wenn die berechtigten Urteile der einzel-nen sich abschleifen können. Darum aber müssen die Verbände sogestaltet sein, daß in ihnen zusammenfließt, was sich abschleifenkann und dann in der Lage ist, ein Gesamturteil zu geben. So zerfälltdas gesamte soziale Leben in diese drei Gebiete. Nicht irgendeineutopistische Idee sagt uns das, sondern die wirklichkeitsgemäßeBetrachtung des Lebens.

Kollektivurteil zwischen Wirtschaftserkenntnis undWirtschaftspsychologie

Quelle [3]: GA 079, S. 250-253, 2/1988, 30.11.1921, Oslo (Kristiania)

Was [sich auf dem Geistesgebiet] betätigt, das bringt der Menschdurch die Geburt in diese Welt mit hinein, das ist etwas, von derphysischen Geschicklichkeit des Handarbeiters bis zu den höchstenÄußerungen und Offenbarungen der Erfinderkraft, was durchausauf die einzelne Individualität des Menschen angewiesen ist, wennes gedeihen soll.

Etwas anderes liegt vor auf dem Gebiete des Wirtschaftslebens. Wasich darüber sagen will, möchte ich durch eine Tatsache erörtern. Siewissen ja alle, daß zu einer gewissen Zeit im 19. Jahrhundert da unddort das Ideal entstanden ist der einheitlichen Goldwährung. Werverfolgt, was von praktischen Wirtschaftern, von wirtschaftlichenTheoretikern, von Parlamentariern gesagt worden ist in der Zeit, in

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der man da oder dort nach der Goldwährung gestrebt hat – ich sagees ganz gewiß ohne Ironie -, das ist außerordentlich geistvoll.

Man ist oftmals tief durchdrungen von dem Geistvollen, das in Parla-menten, in Handelskammern, in sonstigen Gemeinschaften gespro-chen worden ist, was geschrieben worden ist über die Goldwährungund ihren Segen für das Wirtschaftsleben. Das eine, was gesagt wor-den ist und was gerade von den bedeutendsten Menschen betontworden ist, von vielen wenigstens der bedeutendsten Menschenbetont worden ist, das ist, daß die Goldwährung es dahin bringenwerde, daß überall der wirtschaftlich segensreiche Freihandel blühenwerde, daß die wirtschaftlich schädigenden politischen Grenzen ihrewirtschaftliche Bedeutung verlieren werden. Und die Gründe, dieBeweise, die vorgebracht worden sind für solche Behauptungen, diesind außerordentlich geistreich. Und was ist in der Wirklichkeit ein-getreten? In der Wirklichkeit ist nämlich das eingetreten, daß geradeauf den Gebieten, wo man erwartet hat, daß durch die Goldwährungdie wirtschaftlichen Grenzen fallen, diese doch als notwendig sichherausgestellt haben oder wenigstens von vielen als notwendig be-tont worden sind. Aus dem wirklichen Wirtschaftsleben heraus hatsich ergeben das Gegenteil von dem, was aus theoretischen Erwä-gungen heraus gerade von den gescheitesten Leuten vorausgesagtworden ist.

Es ist dies eine sehr wichtige historische Tatsache, die nicht allzuweithinter uns liegt, aus der man nur die nötigen Konsequenzen ziehensollte. Und welches sind diese nötigen Konsequenzen? Es sind diese,die sich einem immer ergeben, wenn man in die wirkliche Wirt-schaftspraxis hineinschaut: daß auf dem Gebiete des eigentlichenWirtschaftslebens, das aus Warenproduktion, Warenzirkulation, Wa-renkonsum besteht – lassen Sie mich das Paradoxon aussprechen, ichhalte es für eine Wahrheit, die sich wirklich dem unbefangenen Be-trachten ergibt -, dem einzelnen seine Gescheitheit gar nichts nützt.

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Man kann noch so gescheit sein, kann über das wirtschaftliche Lebennoch so gescheit nachdenken, die Beweise können restlos stimmen,aber sie werden sich im wirtschaftlichen Leben nicht bewahrheiten.Warum das? Weil das wirtschaftliche Leben überhaupt nicht durchdie Erwägung des einzelnen umfaßt werden kann, sondern weil daswirtschaftliche Erfahren, das wirtschaftliche Erkennen nur durchdie Verständigung von in verschiedener Weise am WirtschaftslebenInteressierten zu gültigen Urteilen kommen kann. Niemals kannder einzelne ein bündiges Urteil, auch nicht durch Statistik darübergewinnen, wie die Wirtschaft laufen soll, sondern nur durch Verstän-digung, sagen wir, von Konsumenten und Produzenten, die sich inGesellschaften vereinigen, wodurch der eine dem anderen sagt, wasfür Bedürfnisse vorliegen, der andere dem einen das sagt, was dieProduktion als Möglichkeit hat. Nur wenn ein Kollektivurteil aus derVerständigung innerhalb von Gemeinschaften des wirtschaftlichenLebens entsteht, kann ein gültiges Urteil für das Wirtschaftslebensich ergeben.

Hier berühren wir allerdings etwas, wo die äußere Wirtschaftser-kenntnis an, ich möchte sagen, Wirtschaftspsychologie stößt. Aberdas Leben ist ja ein Einheitliches, und man kann eben die Seelender Menschen nicht umgehen, wenn man vom praktischen Lebenwirklich sprechen will. Um was es sich handelt ist also, daß ein wirk-liches wirtschaftliches Urteil nur folgen kann aus der Verständigungder im Wirtschaftsleben Drinnenstehenden, aus den Erkenntnissenheraus, die sich die einzelnen als Partialerkenntnisse erwerben, unddie erst zu adäquaten Urteilen werden dadurch, daß sich die einzelneErkenntnis des einen an der Erkenntnis des anderen abschleift. Nurdie Auseinandersetzung kann im wirtschaftlichen Leben zu gültigenUrteilen führen. Damit aber haben wir zwei radikal verschiedeneGebiete des menschlichen Lebens. Und je praktischer man das Lebenanschaut, desto mehr ergibt sich, daß die beiden Gebiete verschiedensind voneinander, und daß zum Beispiel die Produktion, die ja erfor-

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dert, daß man die Kenntnisse hat, wie produziert werden soll, wieman aus den menschlichen Fähigkeiten heraus arbeitet, durchausdas menschliche Individuum auf den Plan ruft, daß aber alles dasje-nige, was mit der Ware, mit dem Gute geschieht, wenn es produziertist, dem Kollektivurteil unterliegt. Zwischen beiden Gebieten drin-nen steht ein drittes, wo nun nicht der einzelne dasteht, um seineFähigkeiten, die er sich durch die Geburt ins Leben gebracht hat, zuentfalten, wo er auch nicht mit irgendwelchen anderen sich verbin-den kann, um an ihnen sein wirtschaftliches Urteil abzuschleifenund ein Kollektivurteil zustande zu bringen, das für die Bewertungdes wirtschaftlichen Lebens in der Praxis gelten kann, sondern woer so gegenübersteht dem Menschen, daß dieses Gegenüberstehenein rein Menschliches, ein Verhältnis von Mensch zu Mensch ist.

Und dieses Gebiet umfaßt alle Verhältnisse, in denen eben der ein-zelne Mensch dem einzelnen Menschen unmittelbar gegenübersteht,nicht als Wirtschaftender, sondern als Mensch, wo er es auch nichtzu tun hat mit den Fähigkeiten, die einem angeboren oder anerzogensind, sondern wo er es zu tun hat mit dem, was er in dem sozialenOrganismus tun darf oder wozu er verpflichtet sein kann, wozuer sein Recht hat, mit dem, was er im sozialen Organismus ebenbedeutet, indem der Mensch als Mensch dem anderen Menschenrein menschlich gegenübersteht, abgesehen von seinen Fähigkeiten,abgesehen von seiner wirtschaftlichen Position. Das ist das dritteGebiet des sozialen Organismus.

Die Polarität zwischen individuellem Urteil undKollektivurteil

Quelle [18]: GA 297a, S. 034-036, 1/1998, 24.02.1921, Utrecht

So wie das freie Geistesleben nur auf Sach- und Fachtüchtigkeitgebaut sein kann, nicht auf dasjenige, was durch Majorität zum

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Vorschein kommt, ebenso kann das Wirtschaftsleben sich nur fürdie Menschheit heilsam gestalten, wenn es von allem Majoritäten-wesen abgegliedert wird, von alledem, wo die Menschen einfachaus ihrer Menschlichkeit heraus urteilen, nicht aus Sach- und Fach-kenntnis heraus. Im Wirtschaftsleben brauchen wir Assoziationen,wo sich Menschen zusammenschließen, die der Konsumtion ange-hören, Menschen, die der Produktion angehören, und Menschen, diedem Handel angehören. Ich habe in meinen Schriften gezeigt, daßdiese Assoziationen durch ihre eigene Natur eine bestimmte Größehaben werden. Solche Assoziationen können wirklich dasjenige imWirtschaftsleben liefern, was ich nennen möchte ein Kollektivurteil,wie es [auf der anderen Seite] wahr ist, daß im Geistesleben allesaus der menschlichen Persönlichkeit kommen muß. Denn durchdie Geburt bringen wir aus der geistigen Welt unsere Anlagen mit.Jedesmal, wenn ein Mensch geboren wird, kommt eine Botschaftaus der geistigen Welt in die physisch-sinnliche Welt herunter. Wirhaben sie aufzufassen, wir haben hinzuschauen auf die menschlicheIndividualität; der Lehrer auf die menschliche Individualität im Kin-de, die ganze soziale Einrichtung auf das freie Geistesleben, in demder Lehrer so steht, daß er seine Individualität voll ausleben kann.

Was in diesem freien Geistesleben zum Segen der Menschheit aus-schlagen kann, es würde zum Unheil ausschlagen im Wirtschaftsle-ben.

Daher soll man sich keinen Illusionen hingeben. So sehr wir imGeistesleben ein umfassendes harmonisches Urteil durch unsereIndividualität anstreben müssen, so wenig können wir das im Wirt-schaftsleben. Da sind wir einzig und allein imstande, mit den anderenMenschen zusammen ein Urteil zu bilden, in Assoziationen drinnenein Urteil zu bilden. Man weiß, indem man gearbeitet hat, auf ei-nem gewissen Gebiet Bescheid, aber das, was man da weiß, das isteinseitig unter allen Umständen. Ein Urteil kommt erst zustande,

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indem man nicht bloß theoretisch sich mit den anderen auseinander-setzt, sondern indem man dem anderen eine gewisse Ware liefernmuß, für den anderen gewisse Bedürfnisse befriedigen muß, Verträ-ge schließen muß. Wenn sich die realen Interessen gegenüberstehenin Verträgen, dann werden sich die realen, sachverständigen Urteilebilden.

Und auch das, was im Grunde genommen im Wirtschaftsleben dieHauptsache ist, bildet sich aus dem, was innerhalb der Assoziationenwirkt, heraus: die richtige Preislage. [...]

Seit wir im Wirtschaftsleben die Weltwirtschaft anstelle der altenNationalwirtschaften haben, seitdem ist es notwendig geworden,daß die Gliederung des Wirtschaftslebens von freien wirtschaftli-chen Gesichtspunkten aus erfolgt, daß das Wirtschaftsleben sichin Assoziationen auslebt, die lediglich mit wirtschaftlichen Angele-genheiten sich befassen, aber so, daß nirgends Majoritäten, sondernüberall Sach- und Fachtüchtigkeit ausschlaggebend sind. Da ergebensich die Gliederungen. Da wird derjenige am richtigen Platze stehen,der die Erfahrung hat, oder ein anderer durch andere Gründe. Daswird sich in den Assoziationen ganz von selbst ergeben, weil man esnicht mit abstrakten Festsetzungen, sondern mit Vertragstätigkeit zutun hat. So muß zum Beispiel gesorgt werden, wenn ein Artikel überein Territorium hin zu reichlich fabriziert wird, daß man die Men-schen in anderer Weise beschäftigt; denn wo das der Fall ist, wird derArtikel zu billig, und derjenige, der zu wenig fabriziert wird, wird zuteuer. Der Preis läßt sich nur festsetzen, wenn durch Assoziationeneine richtige Anzahl von Menschen über ein Territorium beschäftigtist. Da handelt es sich, wenn so etwas real werden soll, um ein inten-sives Interesse an dem gesamten Wirtschaftsleben der Menschheit.Da handelt es sich darum, daß nicht bloß als äußere Phrase das ent-wickelt werde, was man menschliche Brüderlichkeit nennt, sondern

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daß diese menschliche Verbrüderung in Assoziationen real in denwirtschaftlichen Verhältnissen zustande komme.

Die Entwicklung zum individuellen Urteil und heutigenKollektivurteil

Quelle [14]: GA 203, S. 100-112, 2/1989, 22.01.1921, Dornach

Man kann heute nicht über den Menschen, der geboren wird, sodenken, wie man in alten Zeiten gedacht hat. In alten Zeiten hatman gewissermaßen den Menschen so betrachtet, daß man sagte:Der Mensch steigt auf die Erde herunter und ist dazu berufen, durchdas Mysterienwissen eingeweiht zu werden in das, was er eigentlichals Mensch ist. – So liegen die Dinge heute nicht. Das [...] war fürMenschen, welche eine geringere Anzahl von Erdenleben durch-gemacht hatten als die heutigen Menschen, die in ihren früherenErdenleben viel in ihre Seele aufgenommen haben, was eben dazuführt, daß sie eine gewisse Unterweisung von seiten der göttlich-geistigen Wesenheiten in dem präexistenten Zustande durchmachenkönnen.

So etwas muß man heute voraussetzen, wenn man dem Kinde ge-genübertritt. Man hat heute nicht mehr die Aufgabe, in das Kindgewissermaßen hineinzugießen, was in alten Zeiten in es hineinge-gossen werdenmußte. Man hat heute die Aufgabe, sich zu sagen: DasKind ist belehrt, es hat nur seinen physischen Leib um die belehrteSeele herumgelegt, und es muß durch die Hülle durchgedrungenwerden, es muß das herausgeholt werden, was vorgeburtliche Göt-terbelehrung ist. So müssen wir heute pädagogisch denken. Wennwir im Sinne wirklicher anthroposophisch orientierter Geisteswis-senschaft denken, so ist uns klar, daß wir im Grunde durch allenUnterricht nichts anderes tun können, als die Hindernisse hinweg-räumen, die sich vorlagern vor dem Herauskommen dessen, was das

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Kind sich hier in die Welt aus dem vorgeburtlichen Leben mitbringt.Deshalb wird ja in unserer Waldorfschul-Pädagogik so unendlichgroßer Wert darauf gelegt, daß der Lehrer wirklich das Kind betrach-tet als etwas, was vor ihm steht wie ein Rätsel, das er zu enträtselnhat, bei dem er darauf zu kommen hat, was es in sich birgt. Er hatdurchaus nicht den Hauptwert darauf zu legen,irgend etwas, waser sich vorgenommen hat, in das Kind hineinzutrichtern, er hatniemals in irgendeiner Weise dogmatisch vorzugehen, sondern erhat das Kind selber als seinen Lehrmeister zu betrachten, nämlichzuzusehen, wie das Kind durch sein besonderes Verhalten verrät,wie die Hüllen zu durchdringen sind, damit aus dem Kinde selbstdie Götterbelehrung herauskommt. So daß diese Waldorfpädago-gik und -didaktik ja darinnen besteht, eben gerade dem Kinde dieHüllen hinwegzuschaffen, daß es zu sich selbst kommt, daß es dasin sich entdeckt, was Götterbelehrung ist. Deshalb sagen wir uns:Wir haben gar nicht nötig, irgend etwas, was wir ausgedacht ha-ben als Theorie, was noch so schön in Büchern steht, dem Kindeeinzupfropfen. Das überlassen wir denjenigen, die in alten traditio-nellen Religionsbekenntnissen fußen und die Kinder zu Katholikenoder Evangelischen oder zu Juden machen wollen. Aber so ist esnicht. Wir wollen auch nicht eine anthroposophische Pädagogik denKindern einpfropfen; wir benützen das, was wir als Anthroposophiekennen, nur dazu, uns geschickt zu machen, den lebendigen Geist,der in dem Kinde lebt aus der Präexistenz, zum Dasein zu rufen. Wirwollen eine Handhabung des Unterrichtes aus der Anthroposophiegewinnen, nicht eine Summe von Dogmen, die wir lehrhaft demKinde übermitteln. Wir wollen geschickter werden. Wir wollen einedidaktische Kunst entwickeln, um das aus dem Kinde zu machen,was es in der charakterisierten Weise werden soll. Wir sind unsklar darüber, daß alles andere Wissen, das heute von den verschie-densten Seiten her an den Menschen herangebracht wird, zwar denKopf belehrt, daß es aber nicht den Menschen zum pädagogisch-

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didaktischen Künstler macht, weil es nicht den ganzen Menschenergreift, sondern eben nur den Kopf. Anthroposophisches ergreiftden ganzen Menschen, macht ihn zu einem Handlanger derjenigen„Kunstgriffe“, möchte ich sagen, die in der eben gekennzeichnetenWeise mit der Schülerschar vorgenommen werden müssen. Daherbenutzen wir Anthroposophie, um geschickte Lehrer zu werden,nicht aber, um sie den Kindern beizubringen. Denn wir sind uns klardarüber: Der Geist ist ein Lebendiges, nicht eine Summe von Begrif-fen, von Ideen, und er erscheint aus jedem Kinde auf eine individuellbesondere Art, wenn wir in der Lage sind, das ins Bewußtsein zubringen, was es durch die Geburt hereinträgt auf diese Erde. Wirwürden diese Erde verarmen machen, wenn wir das, was in einerSumme von Begriffen besteht, dem Kinde beibringen wollten. Da-gegen machen wir die Erde reicher, wenn wir in dem Kinde das,was ihm die Götter gegeben haben, was es hier auf die Erde mitherunterbringt, hegen und pflegen. Da erscheint, was lebendigerGeist ist, in so und so viel Menschenindividuen, nicht das, was dieeine Anthroposophie an diese Menschenindividuen heranbringt, umsie angeblich zu uniformieren. Also den lebendigen Geist zum Lebenzu bringen, das ist es, um was es sich dabei handelt. Daher habenwir gar kein Interesse, irgendeine anthroposophische Dogmatik andie Kinder heranzubringen.

Das ist die eine praktische Einrichtung, welche hervorgegangen istaus anthroposophischer Geisteswissenschaft. Diese besondere Di-daktik, die didaktische Kunst ist durchaus verschieden von alledem,wovon die Menschen sich bisher Vorstellungen gemacht haben, weilsie sich gar nichts anderes denken können als: Ich glaube an einebestimmte Dogmatik, also ist es das beste, den Kindern auch dieseDogmatik beizubringen. – Das interessiert uns gar nicht, den Kin-dern eine Dogmatik beizubringen, weil wir wissen, daß das Kind eineBotschaft mitbringt, wenn es durch die Geburt ins Dasein tritt, unddaß man diese Botschaft verderben würde, wenn man ihm eine Dog-

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matik entgegentrüge. Der Geist braucht nicht in abstrakter Weisekultiviert zu werden. Wenn man imstande ist, ihn durch Anthroposo-phie zu lösen, ihn zum Dasein zu bringen, dann ist er als lebendigerGeist da, nicht als eine Summe von Lehrmeinungen. Diese Lehrmei-nungen sind eben nur als ein Mittel da, um den lebendigen Geist inder Menschheit zu wecken und in fortdauernder Entwickelung zuhalten. [...]

Ökonomische, wirtschaftliche Einrichtungenwerden ja heute überallnoch aus einem gewissen Trägheitsprinzip in den Menschen heraus-geboren. Sie wurden früher aus einem kleinen Kreise herausgeborenin kleine Territorien hinein; sie werden jetzt dadurch, daß die Staatenökonomische Unternehmungen geworden sind, daß an die Stelle dereinzelnen Unternehmungen die Unternehmerimperien getreten sind,ins Riesenhafte ausgedehnt, und werden zu diesen heute nur mehraus der Trägheit entspringenden Unternehmungen. Man redet heutevon „Volkswirtschaft“, man schmiedet also zwei Dinge zusammen.Jener eigentümliche Gruppengeist, der ein Volk zusammenhält, erist ja äußerlich, ich möchte sagen, verleiblicht in dem Blute. Nunsind die Weltenverhältnisse längst solche geworden, daß mit jenerArt von Gruppenzusammengehörigkeit, die sich im Blute ausdrückt,das heutige Wirtschaften auch nicht das allergeringste mehr zu tunhaben kann, wenn gesunde Verhältnisse walten. Es ist heute etwas,was im eminentesten Sinne krankhafte wirtschaftliche Verhältnisseausdrückt, wenn, sagen wir, um die Rheingrenze gestritten wird,weil man jenseits des Rheines eine andere Wirtschaftsgemeinschafthaben will als diesseits des Rheines, und zwar aus volkhaften Vor-aussetzungen heraus. Diese volkhaften Voraussetzungen waren ausganz anderen Kräften heraus entstanden, sie haben nichts mehr zutun mit dem, was heute Weltwirtschaft ist. Diese Dinge sind eigent-lich erst im Laufe des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts in einebesondere Krise eingetreten. Da wurde erst so recht bemerklich, wel-

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cher Wendepunkt in der Entwickelung der Menschheit da eigentlichzugrunde liegt.

Der Mensch ist, das haben wir ja gerade auseinandergesetzt, in altenZeiten gewissermaßen unbelehrt von den Göttern in das physischeDasein eingetreten, mußte durch die Mysterien belehrt werden. Heu-te tritt er belehrt ein, und es muß nur das, was in seiner Seele ist,ihm zum Bewußtsein gebracht werden. In alten Zeiten war in bezugauf das soziale, das wirtschaftliche Zusammenleben eben einfachdie Menschheit so eingerichtet, daß der Mensch in den sozialenZusammenhang, in die Gruppe hineingeboren worden ist. Er warin die Gruppe hineingeboren nach den Kräften, die in ihm gewirkthaben vor der Geburt. Es war nicht allein das Prinzip der physischenVererbung, das zum Beispiel den ältesten Formen der Menschenun-gleichheit, den Kasteneinteilungen zugrunde gelegen hat. In denältesten Kasteneinteilungen war es durchaus so, daß die Leiter dersozialen Ordnung sich gerichtet haben nach der Art und Weise, wieder Mensch vor seiner Geburt oder vor seiner Empfängnis vorbe-stimmt wurde für eine bestimmte Gruppe unter den Menschen. DerMensch war wirklich in den Zeiten, in denen noch weniger Erdenin-karnationen in seinem vorhergehenden Dasein lagen, durch diesewenigen Inkarnationen in einer ganz bestimmten Weise in Grup-pen hineingeboren, und innerhalb dieser Gruppen nur konnte ersich sozial entfalten. Wer im alten Indien einer bestimmten Kasteangehörte, würde, wenn er in einer anderen Kaste hätte leben sollen,wegen seiner früheren Inkarnation und dessentwegen, was er vorseiner Geburt in der geistigen Welt durchgemacht hatte, zugrundegegangen sein. Diesen Kasten lag eben nicht nur Blutsvererbungzugrunde, sondern etwas, was auch geistige Prädetermination war.Darüber ist der Mensch hinausgewachsen. Zwischen unserer Zeitund jener Zeit liegt nun wiederum auch in dieser Beziehung einWendepunkt. Die Menschen tragen heute eigentlich nur noch alsScheingebilde die Merkmale der Gruppenhaftigkeit an sich. Die Men-

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schen werden in Nationen hineingeboren, sie werden auch noch ineine gewisse Klassenschichtung hineingeboren; aber in dem Maße,in dem sie dann heranwachsen in einem bestimmten Zeitalter, zeigtes sich schon verhältnismäßig früh in der Kindheit, daß eine solcheDetermination vom vorgeburtlichen Dasein nicht mehr vorhandenist. Belehrt werden die Menschen heute von den Göttern im vorge-burtlichen Dasein. Der Stempel einer bestimmten Gruppe wird ihnennicht mehr aufgedrückt. Das ist etwas, was als ein letzter Rest nochin der physischen Vererbung zurückbleibt. Heute einer Nationalitätanzugehören mit seinem Bewußtsein, ist gewissermaßen ein StückErbsünde, ist etwas, was nicht mehr in das Seelische des Menschenhineinspielen sollte.

Dagegen spielt in unserer heutigen Zeit eine bestimmte Rolle, daßder Mensch, indem er heranwächst, zugleich herauswächst aus al-len Gruppenbildungen. Aber innerhalb des wirtschaftlichen Lebenskann er nun nicht ohne Gruppenbildung bleiben, denn in bezug aufdas wirtschaftliche Leben ist niemals der einzelne maßgebend. Wasgeistiges Leben ist, steigt aus dem tiefsten Inneren des Menschenherauf, worinnen er eine gewisse Harmonisierung seiner Fähigkei-ten nicht nur erlangen kann, sondern durch eine gewisse Schuleergänzen, sogar erhalten sollte. Was aber wirtschaftliches Urteilist, kann heute niemals von einem einzelnen Menschen ausgehen.Ich habe Ihnen Beispiele dafür angeführt, wie das wirtschaftlicheUrteil irren muß, wenn es von einem einzelnen Menschen ausge-hen soll. Ich mache noch einmal auf ein Beispiel aus der zweitenHälfte des 19. Jahrhunderts aufmerksam. [...] Aus großem Scharf-sinn heraus ist darauf hingewiesen worden, die Goldwährung werdeden Freihandel auf die Beine bringen und alles Schutzzollwesenhinwegraffen. – Und wenn man heute noch die Dinge, die dazumalüber die Wirkungen der Goldwährung auf den Freihandel gesagtworden sind, liest, hat man seine helle Freude darüber, wie gescheitdie Menschen dazumal waren. Aber das gerade Gegenteil ist einge-

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treten von dem, was die allergescheitesten Leute gesagt haben: Essind als Folge der Goldwährung überall die Schutzzollbestrebungenaufgekommen. Die Gescheitheit im wirtschaftlichen Leben, die ausden einzelnen Persönlichkeiten hervorging, hat den Menschen garnichts geholfen. Das könnte man auf den verschiedensten Gebie-ten nachweisen, denn es ist einmal so, daß der Mensch zwar überdas, was eine Erkenntnissache ist in bezug auf die Natur oder sonsteine Erkenntnissache des Menschen, kompetent ist als einzelnesIndividuum; in bezug auf wirtschaftliche Dinge ist aber der Menschniemals kompetent als einzelnes Individuum. Man kann nicht einUrteil haben über wirtschaftliche Dinge im Konkreten als einzelnesIndividuum. Ein wirtschaftliches Urteil kann nur entstehen, wennsich Menschen zusammenschließen, sich assoziieren, und der eineden anderen stützt, wennGegenseitigkeit in der Assoziation herrscht.Es ist nicht möglich, daß der einzelne Mensch zu einem solchen wirt-schaftlichen Urteil kommt, das dann in die wirtschaftliche Tätigkeitübergehen kann. Es ist das Gegenteil von dem der Fall, was derMensch bei irgendeinem Wissensurteil hat. Bei einem Wissensurteilsoll er aus dem ganzen Menschen heraus ein umfassendes Urteilabgeben; im konkreten wirtschaftlichen Urteil und Handeln handeltes sich darum, daß der einzelne etwas Partielles weiß, der zweitewieder etwas, der dritte wieder etwas; der Produzent auf einem Ge-biete weiß etwas, der Konsument auf diesem selben Gebiete weißetwas. Das muß zusammenfließen; es muß ein Gruppenurteil, einKollektivurteil entstehen. Mit anderen Worten: die alten Gruppenbil-dungen sind abgetan; aus dem wirtschaftlichen Leben müssen durchdie Menschen selbst Gruppenbildungen entstehen. Das müssen dieAssoziationen des wirtschaftlichen Lebens sein.

Es geht aus dem Begriff einer notwendigen Entwickelungskraft her-vor, daß das assoziative Leben die Menschen ergreifen muß; diesesassoziative Leben muß die alten Gruppenzusammenhänge ablösen,

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die sich heute nur noch wie eine Erbsünde durch die Menschheithindurch fortpflanzen.

Wenn wir das bedenken, so werden wir uns ja auch sagen: In bezugauf das Wissen sind in alten Zeiten die Menschen unbelehrt auf dieErde herabgestiegen; in den Mysterien haben sie dasWissen empfan-gen. Sie steigen heute belehrt herab, und wir haben unsere Didaktikso einzurichten, daß wir das, was die Menschen von den Götterngelernt haben, aus ihnen herausholen. In bezug auf wirtschaftlicheEinrichtungen waren die Menschen früher determiniert; es war ih-nen gewissermaßen von den Göttern der Stempel aufgedrückt. Siewurden in irgendeine Kaste, in irgendeine Gruppe hineingeboren.Das ist vorbei. Die Menschen werden ohne Stempel geboren, dieMenschen werden gewissermaßen als einzelne Individualitäten hin-eingestellt in die Menschheit. Die Gruppenbildungen müssen sieselber vollziehen aus ihrer Geistigkeit heraus.

Es handelt sich ja wirklich nicht darum, solche Menschen zusam-menzufassen, welche sich zur Anthroposophie bekennen; ob sie sichzur Anthroposophie bekennen oder nicht, das wird davon abhän-gen, was sie die Götter gelehrt haben vor ihrer Geburt, ob sie durchihre früheren Inkarnationen reif waren zu dieser Götterbelehrungund jetzt so herunterkommen, daß wir aus ihnen Anthroposophiehervorholen können. Sie ist in viel mehr Menschen drinnen, alsman heute glaubt, und eine große Anzahl ist nur zu faul, um das,was in ihr ist, aus sich herauszuholen, oder aber auch, es ist derSchulunterricht nicht so eingerichtet, daß die Hüllen gelöst werdenund die Menschen wirklich zu ihrem Bewußtsein kommen. Auf dempraktischen, namentlich auf dem wirtschaftlichen Gebiete wäre esgeradezu sinnlos, die Menschen zusammenzufassen deshalb, weil sieAnthroposophen sind; sondern man faßt das, was Anthroposophieist, wiederum in dem Sinne auf, um Einsichten zu bekommen in dieArt und Weise, wie die Menschen aus ihrem Bewußtsein heraus die

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Gruppierungen suchen, suchen müssen nach ihren früheren Inkarna-tionen. Es handelt sich darum, den Menschen Gelegenheit zu geben,die Gruppenbildungen vorzunehmen, also dasjenige auszuführen,was ganz in der Entwickelungsgeschichte der Menschheit veranlagtist. Also auch da kommt nicht in Frage, Menschen, die unter einerbestimmten Dogmatik leben, zusammenzugruppieren, sondern Men-schen, die durch ihre vorhergehenden Erdenleben dazu berufen sind,die Möglichkeit zu geben, in Gruppen sich zusammenzufinden. [...]

Ich wollte Ihnen heute das sagen, was Ihnen, ich möchte sagen, dieSeele begeistern kann [...]. Und dieses „die Seele in Begeisterungversetzen“ kann kommen, wenn wir wissen, was es bedeutet hat inalten Zeiten, daß der Mensch unbelehrt durch die Götter auf die Erdeherabstieg, daß er jetzt vor der Geburt im präexistenten Zustandebelehrt wird und danach das ganze Leben eingerichtet werden muß,und andererseits, was es bedeutet, daß der Mensch in früheren Zei-ten determiniert gemäß demWillen der Götter in Kasten, in Klassen,in Völker, in Stämme und so weiter hineingeboren worden ist, daßdas aber nach dem Wendepunkt, der hinter uns liegt, verschwundenist, daß der Mensch aber aufgefordert wird, aus den wirtschaftlichenNotwendigkeiten heraus selber Gruppen zu bilden im Erdenleben.Das geschieht in den wirtschaftlichen Assoziationen. Gerade dierichtige Erkenntnis der Erdenentwickelung und der geistigen Entwi-ckelung des Menschen und des Zusammenhanges beider zeigt, wiedas, was wir „Dreigliederung“ nennen, durchaus nicht etwa bloßein politisches Programm ist, sondern das Ergebnis dessen, was auseiner wirklichen Erkenntnis der menschlichen Entwickelung fließt,was aus einer wirklichen Erkenntnis als eine Notwendigkeit sich inder Gegenwart und für die nächste Zukunft ergibt.

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Wirtschaftliches Urteil lässt sich nicht aus Individualitätheraus bilden

Quelle [13]: GA 199, S. 091-094, 2/1985, 15.08.1920, Dornach

Ein gesundes soziales Urteil wird aber nur zustande kommen aufder Grundlage dieser Initiationswissenschaft. Denn sehen Sie, neh-men wir das eine Gebiet des dreigliedrigen sozialen Organismus,nehmen wir das Materiellste und Prosaischeste, wie manche sagen,das Wirtschaftsleben. Wir wissen, dieses Wirtschaftsleben wird sichin einer gesunden Weise nur entwickeln, wenn es sich unter demAssoziationsprinzip entwickelt. Was heißt das? Das heißt, daß in derZukunft die Menschen ein wirtschaftliches Urteil sich überhauptnicht aus der einzelnen Individualität heraus entwickeln werden. Eswird natürlich erkenntnistheoretisch aus der Individualität stammen,aber gebildet werden wird es nicht aus der Individualität heraus. Einwirtschaftliches Urteil bloß aus der Individualität heraus zu bilden,wird den Menschen der Zukunft, wenn sie sich richtig entwickeln,so vorkommen, wie der berühmte Jean Paulsche Schläfer, der mittenin der Nacht im finstern Zimmer aufwacht, nichts sieht, nichts hört,und nachdenkt, wieviel Uhr es ist, und es durch Nachdenken heraus-kriegen will. Man muß im Einklange mit seiner Umgebung stehen,wenn man sich mitten in der Nacht ein Urteil bilden will, wieviel Uhres ist. Und man wird in der Zukunft, wenn man sich ein wirtschaft-liches Urteil bilden will, sagen wir, ein Preisurteil oder ein Urteil,wieviel Arbeiter in einer bestimmten Branche arbeiten dürften, manwird um sich haben müssen Assoziationen, solche Assoziationen,welche in dieser Branche produzieren, solche Assoziationen, welchein dieser Branche konsumieren. Und aus dem Zusammenfluß dessen,was von diesen Assoziationen ausgeht, wird man sich ein Urteil bil-den. So wie man das heute will, von der Individualität aus, das würdeeben dem Schläfer gleichkommen, der aus sich selbst herauskriegenwill, wieviel Uhr es ist. Das hat sich ja eben gerade gezeigt, wie weit

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man mit einem solchen Urteil kommt, welches nicht auf assoziativeErfahrung gestellt ist.

Ich habe ja auch schon vor einer Anzahl von Ihnen ein anderesBeispiel angeführt. Wir haben im 19. Jahrhundert gebildete Dis-kussionen gehabt über die Nützlichkeit der Goldwährung, und Siekönnen von Leuten aller Parlamente Europas und in allen möglichenpraktischen Gebieten Europas so in der Mitte des 19. Jahrhundertsund weiter bis in das letzte Drittel hinein immerzu die schönsten undgeistreichsten Gründe dafür finden, warum Goldwährung kommensoll anstelle des Bimetallismus. Was haben sich die Leute davonversprochen? Sie haben gesagt, die Goldwährung werde den Frei-handel bringen. Und was ist in Wirklichkeit eingetreten? Überall dieSchutzzölle, das Gegenteil von dem, was die gescheiten Nationalöko-nomen und die gescheiten Parlamentarier gesagt haben! Ich meinedas jetzt nicht humoristisch, wenn ich sage „die gescheiten Leute“.Geirrt haben sich alle, aber ich nenne sie deshalb nicht dumm odertöricht; sie waren wirklich gescheit. Aber sie haben keine Erfahrunggehabt, keine wirtschaftliche Erfahrung; denn diese Erfahrung kannman eben nicht aus den Fingern saugen oder durch Nachdenkenentwickeln, sondern nur dann gewinnen, wenn man im assoziativenZusammenhang seine Fäden zu dem oder jenem zieht. Und wirklichso, wie man von den Uhren die Zeit abliest, so wird man aus denAssoziationen die Grundlagen ablesen für ein wirtschaftliches Urteil,das zu Taten führen kann.

Was bedeutet denn das alles? Sie werden sich erinnern, daß ich oft-mals gesagt habe, wie an einem gewissen Ausgangspunkte unsererMenschheitsentwickelung eine Art Gruppenurteil, eine Gruppen-seele vorhanden war. Da haben die Menschen aus Instinkt herausin ganzen Gruppen gleich geurteilt, gleich empfunden. Es wärenja niemals Sprachen entwickelt worden, wenn die Menschen nichtin solchen Gruppen geurteilt hätten. Es gab sogar, wie ich das in

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einigen Zyklen ausgeführt habe, ein Gruppengedächtnis. Also manist ausgegangen von Gruppen, von instinktivem Gruppenurteil.

Man kommt dann zu einem gewissen tiefsten Punkt, und man steigtwiederum hinauf durch die Assoziationen, aber jetzt bewußt, indemman im wirtschaftlichen Leben die Menschen wiederum in Gruppenvereinigt, zu Assoziationen, die sich halten und tragen durch ihrwirtschaftliches Urteil. Man steigt wiederum hinauf zu dem assozia-tiven Urteil. Nur wird das so werden, daß diese Gruppen bewußtgebildet werden, daß jetzt mit vollem Bewußtsein geschieht, wasfrüher atavistisch instinktiv geschah. Da haben Sie wiederum einevon denjenigen Begründungen, die aus der Geisteswissenschaft her-aus gegeben werden können für die Notwendigkeit einer solchensozialen Entwickelung, wie sie durch die „Kernpunkte der sozia-len Frage“ hingestellt werden. Diese Dinge sind eben so, daß siesich mit absolut mathematischer Gewißheit ergeben, wenn manauf die Quellen eines wirklichen Erkennens eingeht. Diese Dingesind nicht leichtsinnig in die Welt hineingesprochen, sondern ausden Fundamenten des Menschenlebens herausgeholt. Das aber hatunsere Zeit notwendig, daß aus Menschenerkenntnis heraus eineWelt sozial aufgebaut werde. Ohne das kommen wir nicht vorwärts,ohne das bleibt alles Reden von Links- und Rechtspolitik, von al-lem dogmatischen Diktieren, daß die Menschen an einen Gott zu

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glauben haben, von der philiströsen bis zur liberalsten Auffassungder Frauenfrage, vom reaktionärsten Flügel bis zum bolschewisti-schen Flügel, ohne das bleibt das alles ein Herumreden, das keineWirklichkeit begründen, sondern nur in die Zerstörung führen wird.Nur aus dem geistigen Erleben heraus wird die Wirklichkeit erfaßtwerden können. Dann aber muß man auf eine wirkliche Mensche-nerkenntnis eingehen können, dann muß man sehen, wie so etwas,was als assoziatives Glied im Wirtschaftsleben in voller Bewußtheitgefordert wird, wie das eben im Aufstieg dasjenige ergibt, was imAbstiege verloren worden ist an atavistisch instinktivem Urteil. Mitwirklicher, echter, ganz durchschaubarer Wissenschaft hat man eszu tun; mit einer Wissenschaft, die so durchschaubar ist, wie derpythagoreische Lehrsatz, wenn auch gerade die Wissenschafter vonheute auf diese Durchschaubarkeit nicht eingehen. Aber es muß einegenügend große Anzahl von Menschen geben, welche diese innereKristallklarheit desjenigen Urteils durchschaut, das einzig und alleinaus dem Niedergang zum Aufgang führen kann aus den Quellen derGeisteswissenschaft heraus.

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– Kapital –– Arbeit –– Ware –

Sowohl in seinem Werk „Kernpunkte der sozialen Frage“ als in seinenpädagogischen Vorträgen deutet Steiner darauf, daß die Unterschei-dung zwischen Geistesleben, Rechtsleben und Wirtschaftsleben zu dengrundlegenden Fertigkeiten gehört, die jeder sich schon in der Schuleaneignen sollte, wie das Rechnen, Lesen und Fremdsprechen. In diesempädagogischen Zusammenhang spricht er auch vom Unterschied zwi-schen Kapital, Arbeit und Ware. Denkt man ein wenig darüber nach,so merkt man in der Tat, daß sich diese drei nicht unterscheiden lassen,ohne die Grundzüge der sozialen Dreigliederung darzustellen. Ohnesoziale Dreigliederung sind Kapital und Arbeit nämlich eine Ware.Nicht umsonst spricht man von einem Kapital- und Arbeitsmarkt.

Physische und geistige Güter

Quelle [25]: GA 332a, S. 025, 2/1977, 24.10.1919, Zürich

Was liefert dieses Wirtschaftsleben für den Menschen? Dieses Wirt-schaftsleben liefert für den Menschen Güter, die er für seinen Kon-sum braucht. Wir brauchen heute noch gar nicht zu unterscheidenzwischen geistigen und physischen Gütern, denn auch geistige Güterkönnen wirtschaftlich so aufgefaßt werden, daß sie eben für denmenschlichen Konsum verbraucht werden. Dieses Wirtschaftslebenliefert also Güter, und diese Güter sind Werte, weil der Mensch ihrerbedarf, weil das menschliche Begehren darauf geht. Der Menschmuß den Gütern einen bestimmten Wert beimessen. Dadurch habensie innerhalb des sozialen Lebens auch ihren objektiven Wert, der

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– Kapital – Arbeit – Ware –

innig zusammenhängt mit dem subjektiven Beurteilungswert, dender Mensch ihnen beilegt.

Aber wie drückt sich in der neueren Zeit volkswirtschaftlich derWert der Güter aus? Der Wert der Güter, der im wesentlichen dasausmacht, was diese Güter bedeuten im sozialen, im wirtschaft-lichen Zusammenleben, wie drückt sich dieser Wert aus? DieserWert drückt sich in den Preisen aus. Über Wert und Preis werdenwir zu sprechen haben in diesen Tagen; ich will heute nur daraufhindeuten, daß im wirtschaftlichen Verkehrsleben, im sozialen Ver-kehrsleben überhaupt – sofern dieses Verkehrsleben abhängig istvon dem Wirtschaften, von den Gütern sich für den Menschen derWert der Güter in dem Preis ausdrückt. Es ist auch ein großer Irrtum,wenn man den Wert der Güter mit den Geldpreisen verwechselt.Und nicht eigentlich durch theoretische Erwägungen, sondern durchdie Lebenspraxis wird die Menschheit immer mehr und mehr daraufkommen, daß etwas anderes ist der Wert der Güter, die wirtschaft-lich erzeugt werden, und der abhängt von menschlicher subjektiverBeurteilung, von gewissen sozialen Rechts- und Kulturverhältnissen,und dasjenige, was sich ausdrückt in den Preisverhältnissen, diedurch das Geld zum Vorschein kommen. Aber der Wert der Güterwird zugedeckt in der neueren Zeit durch die Preisverhältnisse, diein der sozialen Zirkulation herrschen.

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– Vorgeburtliches –– Irdisches –– Nachtodliches –

Vorgeburtliches und Nachtodliches in Geschichte undGegenwart

Quelle [11]: GA 193, S. 023-044, 4/1989, 08.02.1919, BernVortrag vor Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft

[Wir dürfen] niemals außer acht lassen, daß wir, indem wir Men-schen dieser Erde sind, hereinbringen in dieses unser Erdendaseindie Wirkung, das Ergebnis desjenigen, was wir durchmachen inder Zeit, die zwischen dem Tode und einer neuen Geburt verfließt.Wir bringen jeweilig in unser irdisches Leben herein die Ergebnisseunseres letzten geistigen Lebens, unseres letzten Aufenthaltes inder rein übersinnlichen Welt. Und wir betrachten unser irdischesLeben nicht vollständig, wenn wir nicht ins Auge fassen, wie das-jenige, was wir tun, dasjenige, was in der Welt für uns vorgeht indem Zusammenleben mit Menschen, zugleich etwas an sich trägtvon dem, was als Wirkungen unseres Lebens in der geistigen Weltsich ergibt, aus der wir durch die Geburt herausgetreten sind, derenSpuren, deren Kräfte wir aber in diese Welt mit hereinnehmen.

Das ist auf der einen Seite dasjenige, was für uns Menschen herein-ragt aus der geistigen Welt in die physische Welt. Wir dürfen aufder anderen Seite aber auch nicht außer acht lassen, daß sich in demLeben, das wir hier auf der Erde durchmachen, Dinge abspielen, diezunächst gar nicht ganz voll in unser Bewußtsein treten, die mit uns,um uns vorgehen, ohne daß wir Veranlassung nehmen, sie deutlichin unserem Bewußtsein aufzufassen, und daß wir gerade von diesenErlebnissen, die gewissermaßen im Unterbewußten bleiben währendunseres irdischen Lebens zwischen Geburt und Tod, Wichtigstes

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durch des Todes Pforte wieder hinaustragen in die übersinnlicheWelt, die wir wiederummiterleben, wennwir durch den Tod eben ausder irdischen Welt heraustreten. Es spielt sich in unserem irdischenLeben manches mit uns ab, was eben nicht seine Bedeutung hat fürdieses irdische Leben, sondern als Vorbereitung für das nachtodli-che Leben – wenn ich diesen Ausdruck „nachtodliches Leben“ imGegensatz zu dem „vorgeburtlichen Leben“ gebrauchen darf. [...]

Ich möchte das soziale Problem heute betrachten als ein Problem derGesamtmenschheit. Für uns aber ist die Gesamtmenschheit nichtnur die Summe der Seelen, die gerade in einem bestimmten Zeit-punkt sozial zusammen auf der Erde leben; sondern auch jene, diein dieser bestimmten Zeit in der übersinnlichen Welt sind, sie sinddurch geistige Bande mit den Menschen verbunden, gehören zu dem,was wir die Gesamtheit der Menschen nennen können. Betrachtenwir zunächst einmal dasjenige, was man im irdischen Sinne dasmenschliche Geistesleben nennt.

Im irdischen Sinne ist das menschliche Geistesleben nicht das Lebender geistigen Wesenheiten, sondern dasjenige, was die Menschenin ihrem sozialen Zusammensein als geistiges Leben durchmachen.Zu diesem Geistesleben gehört vor allen Dingen alles das, was Wis-senschaft, Kunst, Religion umfaßt. Es gehört aber zu dem geistigenLeben auch alles das, was Schule, Erziehung betrifft. Was die Men-schen im sozialen Zusammensein erleben als geistiges Kulturleben,das wollen wir einmal als erstes ins Auge fassen. Sie wissen [...],daß dieses geistige Leben – alles Schulwesen, alles Erziehungswe-sen, alles wissenschaftliche, künstlerische, literarische Leben und soweiter – eine abgesonderte soziale Gestaltung für sich bilden muß.Für die äußere Welt kann man das nur aus den Gründen herausklarmachen, die diese äußere Welt heute einmal zugibt. Es kannvollständig klarwerden: Der gesunde Menschenverstand muß voll-ständig hinreichen, diese Dinge voll zu verstehen. Aber sie konkret

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anzuschauen, das wird noch ganz besonders möglich demjenigen,der sich auf die anthroposophisch orientierte Betrachtung der Welteinläßt. Einem solchen erscheint nämlich das, was man so irdischesGeistesleben nennt, noch in einem ganz besonderen Lichte.

Durch die neuzeitliche Entwickelung ist doch dieses geistige Leben,das sich unter dem Einfluß des Bürgertums, der Intellektuellen desBürgertums zu einer bloßen Ideologie abgelähmt hat, das daher dieProletarier in ihrer Weltanschauung wie eine bloße Ideologie über-nommen haben, und das die Zweige umfaßt, die ich besprochenhabe, ein solches, das uns bloß aufsteigt aus dem wirtschaftlichenLeben. So stellt es sich ja ungefähr heute die proletarische Weltan-schauung vor: Alles das, was religiöse Überzeugung und religiöseGedanken sind, alles das, was künstlerische Leistungen sind, alles,was Rechts- und sittliche Anschauungen sind, das ist, wie die prole-tarische Weltanschauung sagt, ein Überbau, gewissermaßen etwas,was als geistige Rauchwolken aufsteigt aus der einzig wahren Wirk-lichkeit, der wirtschaftlichen Wirklichkeit. Zur Ideologie, zu dem,was bloß erdacht wird, wird dieses irdische Geistesleben. Für den,der die Grundlagen kennt, aus denen anthroposophisch orientierteGeisteswissenschaft kommt, ist aber das, was da als geistiges Kultur-leben denMenschen umspannt, eine Gabe der geistigenWesenheitenselbst. Für den dampft es nicht von unten herauf aus den wirtschaftli-chen Untergründen, sondern für den strömt es herab aus dem Lebender geistigen Hierarchien. Das ist der radikale Unterschied zwischendem, was sich aus der bürgerlichenWeltbetrachtung und ihrem Erbein der proletarischen Weltanschauung ausdrückt – daß im Grundegenommen für dasjenige, was sich seit dem 15., 16. Jahrhundert inder Menschheit entwickelt hat, die geistige Welt ideologisch ist, einbloßer Dunst, der aufsteigt aus den wirtschaftlichen Harmonien undDisharmonien – und derjenigen Weltanschauung, die da kommenmuß, die allein das Heil bringen kann, welches herausführt aus demgegenwärtigen Chaos, für die das, was herunterströmt, aus demwirk-

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lichen Geistleben der Welt strömend ist, der wir als der spirituellenWelt ebenso angehören, wie wir durch unsere Sinne, durch unserenVerstand der physisch-irdischen Welt angehören. Aber jetzt, wo wirin der fünften nachatlantischen Periode angelangt sind, finden wiruns als soziales Wesen in den sozialen menschlichen Organismusmit diesem Geistesleben nur dadurch hinein, daß wir für dieses ir-dische Geistesleben vorbereitet werden durch jene Beziehungen,die wir vor der Geburt, wo wir noch nicht heruntergestiegen sindzum irdischen Dasein, eingehen mit anderen geistigen Wesenheitender Hierarchien, wie wir sie öfter angeführt haben. Das ist das, wassich der geistigen Forschung als eine wichtige Tatsache des Lebensergibt.

Wir treten, indem wir durch die Geburt ins Dasein kommen, in einerzweifachen Weise mit Menschen in Beziehung. Unterscheiden Siediese zweifache Beziehung genau, in die wir mit Menschen kommen.Das eine Verhältnis, das wir mit Menschen eingehen, mit Menscheneingehen müssen, das ist das Schicksalsmäßige. Wir kommen zudem einen oder zu dem anderen Menschen, zu einer größeren odergeringeren Anzahl von Menschen in einen schicksalsmäßigen Zu-sammenhang. Wir treten, indem wir durch die Geburt ins irdischeDasein kommen, in eine bestimmte Familie ein. Zu Vater und Mutter,zu den Geschwistern, zu der weiteren Familie kommen wir in einenschicksalsmäßigen Zusammenhang.

Wir kommen mit anderen Menschen, als einzelner Mensch dem ein-zelnen Menschen gegenüber, in schicksalsmäßige Zusammenhänge.Wir leben als einzelner Mensch dem anderen Menschen gegenüberunser Karma aus. Wie kommt dieses Karma zustande? Wie kommendiese schicksalsmäßigen Zusammenhänge zustande? Sie kommendadurch zustande, daß sie sich vorbereitet haben durch diese oderjene Lebenstatsache der vorhergehenden Erdenleben. Also fassenSie das wohl auf: Sie kommen, indem Sie durch die Geburt ins Da-

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sein eintreten, mit anderen Menschen, als einzelner Mensch demeinzelnen Menschen gegenüber, in schicksalsmäßigen Zusammen-hang, gemäß dem, was Sie mit diesem Menschen gelebt haben inverflossenen Erdenleben. Das ist die eine Art, wie Sie Verhältnisseeingehen mit anderen Menschen: schicksalsmäßig.

Sie gehen aber noch andere Verhältnisse mit den Menschen ein. Siegehören als Glied eines Volkes eben einer Gruppe von Menschen an,mit denen Sie nicht in solcher Art, wie es eben geschildert wordenist, schicksalsmäßig zusammenhängen. Sie werden in ein Volk hin-eingeboren, wie in ein bestimmtes Territorium. Das hängt gewiß aufder einen Seite mit Ihrem Karma zusammen, aber dadurch werdenSie gewissermaßen zusammengeschmiedet im sozialen Organismusmit vielen Menschen, mit denen Sie nicht schicksalsmäßig zusam-mengehören. In einer Religionsgemeinschaft haben Sie eventuell diegleichen religiösen Empfindungen mit einer Anzahl von anderenMenschen, mit denen Sie durchaus nicht schicksalsmäßig zusam-mengeschmiedet sind. Das geistige, das irdisch-geistige Leben bringtja die mannigfaltigsten gesellschaftlichen, sozialen Zusammenhängeunter die Menschen, die durchaus nicht alle schicksalsmäßig be-gründet sind. Diese Zusammenhänge werden nun nicht etwa alle invorhergehenden Erdenleben vorbereitet, sondern in der Zeit, die Siedurchleben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. Namentlichwenn es so gegen die zweite Hälfte dieses Lebens geht zwischen demTod und einer neuen Geburt, dann treten Sie zu den Wesenheiten,vor allem der höheren Hierarchien, in ein Verhältnis, durch welchesSie von den Kräften dieser Hierarchien so beeinflußt werden, daß Siegeistig zusammengeschweißt werden mit verschiedenen Menschen-gruppen. Das, was Sie da als geistiges Leben erleben in Religion, inKunst, im Volkszusammenhang, in der bloßen Sprachgemeinschaftzum Beispiel, was Sie erleben durch eine ganz bestimmt gerichteteErziehung und so weiter, das alles bereitet sich schon vor außerhalbder reinen karmischen Strömungen im vorgeburtlichen Leben. Sie

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– Vorgeburtliches – Irdisches – Nachtodliches –

tragen herein in das physisch-irdische Dasein das, was Sie schonerlebt haben in dem vorgeburtlichen Leben. Und es spiegelt sichdasjenige, was Sie, allerdings auf eine ganz andere Weise, im vor-geburtlichen Leben erleben, ab in dem, was Geistesleben, geistigesKulturleben im Irdischen ist.

Nun entsteht für den, der eine solche Tatsache der geistigen Welt invollem Sinne ernst zu nehmen vermag, eine ganz bestimmte Frage,die Frage: Wie wird man nun eigentlich gerecht, im höheren Sinnegerecht diesem irdischen Geistesleben, wenn man weiß, daß diesesirdische Geistesleben der Abglanz ist dessen, was man schon erlebthat im wahren, konkreten Geistesleben vor der Geburt? Man wirddiesem irdischen Geistesleben nur gerecht, wenn man es eben nichtals Ideologie anschaut, sondern wenn man weiß, darinnen lebt diegeistigeWelt. Und wir stellen uns nur in der rechtenWeise zu diesemirdischen Geistesleben, wenn uns bewußt wird: darinnen sind über-all die Wirkenskräfte der geistigen Welt selber zu finden. Stellen Siesich einmal hypothetisch vor: Dasjenige, was die Wesen – seien esdie Wesen der höheren Hierarchien, die niemals einen irdischen Leibannehmen, oder seien es auch die noch nicht geborenen Menschen,Menschen, die noch nicht durch die Pforte der Geburt ins irdischeLeben eingetreten sind –, was diese der übersinnlichen Welt ange-hörenden Wesen denken, was sie als ihr Seelenleben durchmachen,das lebt; das lebt in einer Art von traumhaftem Abbild in der irdisch-geistigen Kulturwelt. So daß wir berechtigterweise immer die Fragestellen können, wenn irgendeine künstlerische, irgendeine religiöse,irgendeine Tatsache des Erziehungslebens an uns herantritt: Waslebt darinnen? – Nicht bloß, was die Menschen hier auf der Erdegemacht haben, sondern was einfließt aus den Kräften, aus den Ge-danken, aus den Impulsen, aus dem ganzen Seelenleben der höherenHierarchien, das lebt darinnen. Wir sehen die Welt niemals vollstän-dig an, wenn wir verleugnen diese sich durch unsere geistig-irdischeKultur gewissermaßen spiegelnden Gedanken der geistigen Wesen,

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die nicht auf dieser Erde verkörpert sind, entweder überhaupt nichtverkörpert sind, oder gerade jetzt nicht verkörpert sind. Können wiruns empfindungsgemäß aneignen, ich möchte sagen, dieses heiligeAnschauen der geistigen Welt um uns herum, daß wir diese geistigeWelt halten können für dasjenige, was uns die geistigenWesen selberschenken, womit uns die geistigen Wesen umgeben, dann werdenwir in der richtigen Weise für dieses Geschenk der übersinnlichenWelt, das wir als irdisch-geistige Kulturwelt erleben, dankbar seinkönnen. Dadurch stellt sich diese geistige Kulturwelt notwendig alsetwas Selbständiges herein in die ganze soziale Struktur der Mensch-heit, daß sie die Fortwirkung desjenigen ist, was wir vor der Geburtmitmachen in der geistigen Welt. Beleuchtet man das soziale Lebenmit dem Lichte der spirituellen Erkenntnis, dann wird es zu einerSelbstverständlichkeit, in diesem geistigen Leben eine abgesonderte,selbständige Wirklichkeit anzunehmen.

Das zweite Gebiet der sozialen Struktur ist das, was man nennenkönnte den äußeren Rechtsstaat, das politische Leben im engerenSinne, dasjenige, was sich bezieht auf die Ordnung der Rechtsverhält-nisse von Mensch zu Mensch, dasjenige, worinnen alle Menschengleich sein sollen vor dem Gesetz. Es ist dies das eigentliche Staats-leben. Und das eigentliche Staatsleben sollte im Grunde genommennichts anderes sein als dieses. Gewiß, man kann wieder aus Gründendes reinen, gesunden Menschenverstandes die Notwendigkeit ein-sehen, daß dieses Staatsleben, dieses Leben des öffentlichen Rechts,dieses Leben, das sich auf die Gleichheit aller Menschen vor demGesetz bezieht, überhaupt auf die Gleichheit von Mensch zu Mensch,daß dieses Glied des sozialen Organismus für sich selbständig daste-hen muß. Beleuchtet man die Sache aber wiederum mit dem Blicke,der geschärft ist an anthroposophisch orientierter Geisteswissen-schaft, so zeigt sich noch etwas ganz anderes.

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Dieses Leben, das eigentliche Staatsleben ist innerhalb der sozialenOrgane das, was allein nichts zu tun hat mit Vorgeburtlichkeit, nichtszu tun hat mit Nachtodlichem. Das ist dasjenige, was seine Ordnung,seine Orientierung rein nur findet in der Welt, die der Mensch durch-lebt zwischen der Geburt und dem Tode. Der Staat ist nur dann einin sich abgeschlossenes Ganzes mit seiner Urwesenheit, wenn ersich auf nichts erstreckt, was in die übersinnliche Welt hineinragt,sei es nach der Seite der Geburt, sei es nach der Seite des Todes.„Gebet dem Cäsar, was des Cäsars ist, und Gott, was Gottes ist.“ –Gebet aber nicht – so muß man ergänzen – dem Cäsar, was Gottesist, und Gott, was des Cäsars ist. – Der wird es zurückweisen!

Die Dinge müssen reinlich gesondert werden, wie die einzelnen Sys-temgliederungen im menschlichen natürlichen Organismus. Allesdas, was das Staatsleben umfassen kann, was man staatlich diskutie-ren, staatlich abmachen kann, hat nur Beziehung auf das Zusammen-leben zwischen Mensch und Mensch. Das ist das Wesentliche. Dashaben die tieferen religiösen Naturen in allen Zeiten empfunden. –Die anderen Menschen, die nicht tief religiöse Naturen waren, diehaben es sogar nicht einmal gestattet, daß man frei, ehrlich undaufrichtig über diese Dinge redet. – Denn eine Vorstellung hat sichgerade in den tieferen religiösen Naturen über diese Dinge festge-setzt. Diese tieferen religiösen Naturen sagten sich: Staat, er umfaßtdas Leben, das, insofern die Menschheit in Betracht kommt, nurmit alledem zu tun hat, was zwischen Geburt und Tod liegt, wassich auf das bloße Irdische bezieht. Schlimm ist es, wenn dasjenige,was sich bloß auf das Irdische bezieht, seine Herrschaft ausdehnenwill auf das Überirdische, auf das Übersinnliche, auf dasjenige, wasüber Geburt und Tod hinaus liegt. Über Geburt und Tod hinaus liegtaber das irdische Geistesleben, denn es enthält die Schatten der see-lischen Erlebnisse der übersinnlichen Wesenheiten. Bemächtigt sichdasjenige, was im bloßen Staatsleben pulst, des Lebens der irdischen

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Geistigkeit, so nannten tiefere religiöse Naturen dies: Die Macht,welche ausübt der widerrechtliche Fürst dieser Welt.

Hinter dem Ausdruck „der widerrechtliche Fürst dieser Welt“ ver-birgt sich dasjenige, was ich eben angedeutet habe. Das ist auch derGrund, warum in denjenigen Kreisen, die ein Interesse daran haben,zu konfundieren die drei Glieder des sozialen Organismus, von die-sem widerrechtlichen Fürsten dieser Welt nicht gern gesprochenwird, es sogar verpönt ist, davon zu sprechen.

Etwas anders verhält sich die Sache wiederum mit dem, was an Den-ken, an Empfinden, an Seelenimpulsen im Menschen sich dadurchentwickelt, daß er dem wirtschaftlichen Gliede des sozialen Orga-nismus angehört. Das ist etwas höchst Eigentümliches. Allein Siewerden sich schon daran gewöhnt haben, daß Sie in Ihren Anschau-ungen durch anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft inmanches zunächst paradox Erscheinende hineinkommen müssen.Wenn wir heute von dem wirtschaftlichen Gliede des sozialen Or-ganismus sprechen, so müssen wir uns allerdings darüber klar sein,daß so, wie wir jetzt sprechen, dies eben eine Eigentümlichkeit desfünften nachatlantischen Zeitraums ist. In früheren Epochen derMenschheitsenwickelung waren diese Dinge anders. Daher gilt das,was ich zu sagen habe in dieser Richtung, insbesondere mit Bezugauf unsere Gegenwart und auf die Zukunft. Aber mit Bezug aufunsere Gegenwart und Zukunft muß gesagt werden: In früherenZeiten lebte sich der Mensch instinktiv in das Wirtschaftsleben hin-ein. Jetzt muß das Hineinleben in die Wirtschaft immer bewußterund bewußter werden. So wie der Mensch – ich sagte es schon –schulmäßig das Einmaleins lernt, wie er andere Dinge schulmäßiglernt, so muß er schulmäßig in der Zukunft die Dinge lernen, die sichauf das Leben in dem sozialen Organismus, auf das wirtschaftlicheLeben beziehen. Der Mensch muß sich fühlen können als ein Glieddes Wirtschaftsorganismus. Es wird freilich für manche Menschen

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eine Unbequemlichkeit sein, weil schon einmal andere Denk- undEmpfindungsgewohnheiten eingerissen sind, welche durchgreifendeÄnderungen erfahren müssen. Nicht wahr, wenn heute einer nichtwissen würde, wieviel drei mal neun ist, so würde er für einen unge-bildeten Menschen gehalten werden. In manchen Kreisen wird einerschon für einen ungebildeten Menschen gehalten, wenn er nichtweiß, wer Raffael oder Leonardo war. Aber man wird im allgemeinenin gewissen Kreisen heute nicht für einen ungebildeten Menschengehalten, wenn man keinen rechten Aufschluß zu geben vermagüber das, was Kapital ist, was Produktion, was Konsumtion in ihrenVerhältnissen sind, was Kreditwesen ist und so weiter, gar nicht zureden davon, daß die wenigsten Menschen eine klare Vorstellungvon dem haben, was ein Lombardgeschäft ist und dergleichen. [...]

Diese Dinge sind so, daß allerdings heute auch die Autoritäten aufdemGebiet der Nationalökonomie recht wenigwirklichen Aufschlußgeben können in diesen Sachen. Man kann es also dem allgemeinenPublikum gar nicht so übelnehmen, wenn es einen solchen Auf-schluß nicht sucht. Aber er wird gesucht werden müssen, er wirdeintreten müssen. Der Mensch wird die Brücke schlagen müssen vonsich zu der, namentlich wirtschaftlichen, Struktur des sozialen Orga-nismus. Er wird in bewußter Weise sich als Subjekt in die Wirtschafteinfügen müssen, in den sozialen Organismus. Da wird er denkenlernen, wie er zu den anderen Menschen in Beziehung steht, einfachdadurch, daß er mit ihnen gemeinschaftlich auf einem bestimmtenTerritorium über die verschiedensten Gegenstände Wirtschaft führt.Dieses Denken, das man da entwickelt, und in das einfließt das ganzeVerhältnis der Naturordnung zum Menschen, ist ein ganz anderesDenken als dasjenige, das sich zum Beispiel in der Welt der geis-tigen Kultur entwickelt. In der Welt der geistigen Kultur erlebenSie mit dasjenige, was Wesenheiten der höheren Hierarchien den-ken, was Sie selbst erlebt haben in ihrem vorgeburtlichen Leben. Indem Denken, das Sie entwickeln als Angehöriger des sozialen Wirt-

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schaftskampfes, da denkt immer – so paradox Ihnen das erscheinenmuß – ein anderer Mensch in Ihnen mit, ein tieferer Mensch in Ih-nen. Gerade dann, wenn Sie sich als Glied eines Wirtschaftskörpersfühlen, denkt ein tieferer Mensch in Ihnen mit. Sie sind angewie-sen, mit Ihrem Denken äußere Lebensfaktoren zusammenzufügen.Sie müssen denken: Wie wird der Preis von dem oder jenem? Wieerlange ich die eine Ware, wie die andere Ware und so weiter? Dahuschen Sie gewissermaßen mit Ihren Gedanken über die äußerenTatsachen hin; da lebt nicht Geistiges, da lebt Äußeres, Materiellesin Ihrem Denken. Gerade weil Äußeres, Materielles in Ihrem Den-ken lebt, weil Sie denkend miterleben müssen, nicht bloß instinktivmiterleben wie das Tier, dasjenige, was im Wirtschaftsleben vorsich geht, deshalb denkt in Ihnen fortwährend noch ein anderer,tieferer Mensch über diese Dinge nach; der setzt die Gedanken erstfort, er macht die Gedanken erst so, daß sie ein Ende, einen Zu-sammenhang haben. Und das ist gerade der Mensch, der wesentlichmitwirkt bei alledem, was Sie durch den Tod in die übersinnlicheWelt hineintragen. So paradox es manchem erscheint, gerade dasNachdenken über die materiellen Dinge hier in der Welt, zu demder Mensch gezwungen ist, das erregt in ihm, weil es nie fertig ist,weil es nie etwas Abgeschlossenes ist, ein anderes inneres geisti-ges Leben, das er hineinträgt durch den Tod in die übersinnlicheWelt. So stehen die Empfindungen, die Impulse, die wir gerade imWirtschaftsleben entwickeln, mit unserem nachtodlichen Leben ineinem engeren Zusammenhange, als die Menschen glauben. Dasmag heute manchem sonderbar und paradox erscheinen; allein esist, nur ins Bewußtsein umgesetzt, dasjenige, was sich in atavisti-schen Zeiten der Menschheitsentwickelung, dadurch, daß dazumaldie spirituelle Welt in die Instinkte des Menschen eingezogen ist,bei den Menschen gerade damals ausgebildet hat. Ich will Sie auffolgendes aufmerksam machen.

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Bei einzelnen sogenannten Naturvölkern finden sich frappierendeEinrichtungen. Nun müssen wir uns durchaus nicht die unsinnigeund törichte Vorstellung machen von den Naturvölkern, welche sichdie heutige Völkerkunde, die heutige Anthropologie macht. Die heu-tige Anthropologie denkt: Es gibt solche Naturvölker, zum Beispieldie eingeborenen Australier, die stehen auf der ursprünglichstenStufe der Menschheit, und die heutigen kultivierten Völker warenauch früher einmal so wie heute diese Naturvölker.

Das ist Unsinn! Die Sache ist vielmehr so, daß das, was man heuteUrvölker nennt, in die Dekadenz Gekommenes ist; das ist Herun-tergesunkenes von einer anderen Stufe. Nur haben die heutigenUrvölker in sich die früheren Zeiten bewahrt, was sich bei den so-genannten zivilisierten Völkern maskiert hat. Deshalb kann manbei sogenannten Urvölkern noch manches studieren, was in eineranderen Form vorhanden war in den Zeiten des alten atavistischenHellsehens. Und da gab es denn zumBeispiel folgende Einrichtungen:Da gab es die Einrichtung, daß in einem Stamme die Angehörigendieses Stammes in kleinere Gruppen zerfielen; jede dieser kleinerenGruppen hatte einen bestimmten Namen, der entlehnt war einerPflanze oder einem Tier, wie sie innerhalb des Gebietes vorkamen,auf dem diese Gruppe lebte. Mit dieser Benennung kleinerer Grup-pen innerhalb größerer Zusammenhänge war folgendes verbunden:zum Beispiel eine Gruppe – nun gebrauchen wir moderne Namen,nur um uns zu verständigen –, eine Gruppe, welche den Namen trug„Roggen“, die hatten dafür zu sorgen, daß der Roggenbau auf diesemTerrain ordentlich getrieben wurde, daß die anderen Leute, die nichtden Namen „Roggen“ hatten, mit Roggen versorgt werden konnten.Zu wachen über den Roggenbau, über die Verbreitung des Roggenshatten als Aufgabe diese Leute, die den Namen „Roggen“ trugen. Unddie anderen, die wieder andere Namen hatten, die setzten voraus,daß sie versorgt würden mit dem Roggen von dieser einen Gruppeaus. Eine andere Gruppe hatte zum Beispiel den Namen „Rind“: sie

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hatte die Aufgabe, die Rinderkultur zu betreiben und die anderen zuversorgen mit Rindern, mit alldem, was dazugehört. Diese Gruppenhatten nicht nur die Aufgabe, die anderen zu versorgen, sondernzugleich war es den anderen verboten, die betreffende Pflanze oderdas Tier zu kultivieren, was ein Recht des einen Totems, wie mansagte, war. Das ist der wirtschaftliche Sinn des Totems, der in demGebiete, wo dieses Totem herrschte, Mysterienkultur zugleich war.Mysterienkultur, die nicht, wie sich der heutige Mensch träumt, bloßin höheren Regionen ist, sondern die gerade aus den Ratschlüssender Götter heraus, welche für die Angehörigen der Mysterien er-forschbar waren, bis ins einzelnste desMenschenlebens hinein diesesMenschenleben ordneten. Sie ordneten den Stamm nach Totemgebil-den, nach Totemgruppen und bewirkten dadurch eine entsprechendewirtschaftliche Organisation neben dem, daß sie in einer bestimm-ten Art den Menschen offenbarten, wie die geistige Welt beschaffenist, wie die geistige Welt hereinragt in das irdische Geistesleben, sowie es dazumal eben richtig war für die betreffenden Zeiten. Wiesie für das Rechtsleben, das bloß irdischen Charakter trägt, in ihrerArt sorgten, so bereiteten sie die Menschen hier auf der Erde durchdie Ordnung des Wirtschaftslebens so vor, daß die Menschen danndurch den Tod wiederum in eine andere Welt eintreten konnten, inder sie Zusammenhänge entfalten mußten, die sie hier auf Erden nurdurch den Umgang mit den außermenschlichen Wesen der übrigenNaturreiche vorbereiten konnten. Da haben diese Leute aus altenZeiten unter der Führung ihrer Eingeweihten gelernt, ein richtigeswirtschaftliches Glied in ihr Weltenleben hineinzustellen.

Später hat sich das mehr oder weniger konfundiert, obwohl es sogarnicht allzuschwierig ist, bis in die griechische Kultur, ja sogar bisin die Kultur des Mittelalters hinein die instinktive Dreigliederungdes sozialen Organismus darzulegen, darzulegen gerade von diesemGesichtspunkte aus, den ich jetzt angegeben habe, wie die Rudimen-te wenigstens bis ins 18. Jahrhundert herein sich noch vorfinden.

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Ach, dieser moderne Mensch ist ja so bequem mit seinem Denken,möchte alles, alles so oberflächlich wie möglich vor seinem Denkendargelegt haben! Würde man wirklich das Leben der früheren abge-lebten Zeiten studieren, nicht nach dem, was man heute Geschichtenennt und was vielfach eine Fable convenue ist, sondern nach dem,wie es wirklich war, dann würde man sehen: Es war eine instinktiveDreigliederung da; nur ging in dem einen Glied, in dem geistigen Le-ben, alles von dem geistigen Zentrum aus und sonderte sich dadurchheraus aus dem bloßen Staatsleben.

Als die katholische Kirche auf ihrer Höhe war, bildete sie schonein selbständiges Glied, und organisierte wiederum das andere ir-dische Geistesleben als ein selbständiges Glied, gründete Schulen,ordnete das Erziehungswesen, gründete auch die ersten Universi-täten, machte das irdische Geistesleben selbständig, sorgte dafür,daß das Staatsleben nun ja nicht durchsetzt werde von dem wider-rechtlichen Fürsten dieser Welt. Und im Wirtschaftsleben, selbst inspäteren Zeiten, hatte man wenigstens das Gefühl, wenn man imWirtschaftsleben Brüderlichkeit unter den Menschen entfaltet, daßsich dadrinnen etwas vorbereitet, was eine Fortsetzung findet imLeben nach dem Tode. Daß die Brüderlichkeit unter den Menschenbelohnt wird nach dem Tode, ist zwar eine egoistische Umdeutungder höheren Vorstellungen, die im Totemismus gelebt haben, aberes ist wenigstens noch ein Bewußtsein von dem vorhanden, daß dasbrüderliche Leben im menschlichen Wirtschaften eine Fortsetzungfinde nach dem Geistigen hin im nachtodlichen Leben. Selbst dieAusschreitungen auf diesem Gebiete müssen von diesem Gesichts-punkte aus beurteilt werden. Daß Ausschreitungen vorkommen,das liegt in der menschlichen Natur. Der Ablaßhandel ist allerdingseine der wüstesten Ausschreitungen auf diesem Gebiete. Aber erentsprang doch, wenn auch nur als eine Ausschreitung, aus demBewußtsein, daß dasjenige, was der Mensch hier im physischen Le-ben an wirtschaftlichen Opfern bringt, eine Bedeutung hat für sein

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nachtodliches Leben. Wenn es auch eine Karikatur dessen ist, waswirklich ist, es entsprang als eine Karikatur der richtigen Anschau-ung von der Bedeutung desjenigen, was wir hier erleben, indem wirmit den Wesenheiten der anderen Reiche der Erde, der Mineralien,der Pflanzen, der Tiere, in Beziehung treten. Dadurch, daß wir zuden anderen Wesen in Beziehung treten, erwerben wir etwas, waserst zur vollen Entwickelung kommt im nachtodlichen Leben. Nichtwahr, mit Bezug auf das, was wir nach dem Tode sind, sind wirhier als Menschen noch verwandt mit dem Niedrigeren, mit Tieren,Pflanzen und Mineralien; aber gerade mit diesem Erleben des Au-ßermenschlichen bereiten wir etwas vor, was erst nach dem Todeins Menschliche heraufwachsen soll. Wenn Sie den Gedanken sowenden, werden Sie ihn leichter verstehen, werden Sie leichter dar-auf kommen, wie es ganz selbstverständlich ist, daß dasjenige, waswir mit Tieren, Pflanzen, Mineralien erleben, in etwas sich auslebtauf der Erde, was die Menschen zusammenfaßt, was sie umgibt wieeine geistige Luft, eine geistige Atmosphäre im Irdischen. Was dieMenschen unter sich erleben, begründet nur ein reines Ätherischeszwischen Geburt und Tod.

Was die Menschen im Untermenschlichen erleben, im Wirtschafts-leben, das wird erst Mensch, wird erst heraufgehoben ins Erden-menschliche, wenn wir durch den Tod hindurchgeschritten sind.

Das müßte gerade für den anthroposophisch orientierten Geist, fürden, der eine Vertiefung des Lebens durch anthroposophisch orien-tierte Geisteswissenschaft sucht, von dem allerhöchsten Interesseund von allergrößter Bedeutung sein: anzuerkennen, daß diese Drei-gliederung des sozialen Organismus konkret begründet ist einfachin dem Umstande, daß der Mensch auch nach dieser Richtung eindreigliedriges Wesen ist, dadurch, daß er, wenn er als Kind herein-wächst in die physische Welt, noch etwas an sich trägt von dem,was er vorgeburtlich erlebt hat, dadurch, daß er etwas an sich trägt,

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was nur Bedeutung hat zwischen Geburt und Tod, und dadurch,daß er gewissermaßen unter dem Schleier des gewöhnlichen phy-sischen Lebens schon hier dasjenige vorbereitet, was wiederumübersinnlich-nachtodliche Bedeutung hat. Was hier als das niedersteLeben erscheint, das Leben in der physischen Wirtschaft, hier fürdie Erde ist es scheinbar niedriger als das Rechtsleben, aber diesesDurchleben des Niedrigeren entschädigt uns zugleich damit, daßwir für unseren tiefer gelegenen Menschen, während wir in derniedrigeren Wirtschaft drinnenstehen, die Zeit gewinnen, uns vor-zubereiten für das nachtodliehe Leben. Indem wir mit unserer Seeleangehören dem Kunstleben, dem religiösen Leben, dem Erziehungs-leben, dem sonstigen Geistesleben, zehren wir von der Erbschaft, diewir hereintragen durch die Geburt in das physisch-irdische Dasein.Aber indem wir durch das Wirtschaftsleben uns gewissermaßen indas Untermenschliche erniedrigen, in dasjenige Denken, das nichtso hoch hinaufragt, werden wir entschädigt, indem wir im tiefstenInneren dasjenige vorbereiten, was dann nach dem Tode erst insMenschliche heraufragt. Paradox mag das für den heutigen Men-schen noch klingen, weil er gern die Dinge einseitig ansieht undeigentlich keine Ahnung davon haben will, daß eben jegliches Dingnach zwei Seiten hin sein Wesen im Leben entfaltet. Was nach dereinen Seite hoch ist, ist nach der anderen Seite niedrig, was nachder einen Seite niedrig ist, ist nach der anderen Seite hoch. Immerhat ein jegliches Ding im wirklichen Leben – ich könnte auch sagenin der Lebenswirklichkeit – seine andere Seite.

Der Mensch würde überhaupt über sich und die Welt einen besserenAufschluß erringen, wenn er sich bewußt wäre, wie ein jeglichesDing immer seine andere Seite hat. Manchmal ist es unangenehm,sich dies zum vollen Bewußtsein zu bringen, es legt uns das man-cherlei Lebenspflichten auf. So zum Beispiel: Mit Bezug auf gewisseDinge müssen wir gescheit werden, aber wir können das Maß dieserGescheitheit in bezug auf gewisse Dinge nicht entwickeln, ohne ein

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gleiches Maß von Dummheit nach einer anderen Seite zu entwickeln.Immer bedingt das eine das andere. Und wir dürften eigentlich nie-mals einen Menschen für vollständig dumm halten, wenn er auchim äußeren Leben uns als dumm entgegentritt, ohne daß wir unsdessen bewußt wären: in seinem Unterbewußten liegt vielleicht einetiefe Weisheit, die uns nur verhüllt ist. Die Wirklichkeit enthüllt sicherst, wenn man dieser Zweiseitigkeit alles Wirklichen gerecht wird.Und so ist es auch: es erscheint uns das Leben der geistigen Kulturauf der einen Seite als das Höchste; es ist zu gleicher Zeit dasjenige,wo wir eigentlich immer Raubbau treiben, wo wir immer an demzehren, was wir hereinbringen durch unsere Geburt ins physischeDasein. Das wirtschaftliche Leben erscheint uns als das niedrigsteGlied: es ist dies nur aus dem Grunde, weil es den niedrigsten Aspektuns zeigt zwischen Geburt und Tod. Es läßt uns Zeit, unbewußt das-jenige zu entwickeln, was die geistige Seite des Wirtschaftslebensist und was wir durch den Tod in die übersinnliche Welt hineintra-gen. Dieses Zusammengehörigkeitsgefühl in Brüderlichkeit mit denanderen Menschen, das ist es, was ich da unter dem geistigen Teildes Wirtschaftslebens hauptsächlich zu verstehen habe.

Nun, Verständnis für diese Dinge ist der Menschheit dringend von-nöten, wenn sie aus gewissen Kalamitäten herauskommen will, diesich gerade dadurch ergeben haben, daß man diese Dinge eben nichtberücksichtigt hat. Innerhalb der intellektuellen führenden Persön-lichkeiten der herrschenden Klassen hat sich etwas herausgebildet –ich sprach vorgestern davon –, was nicht Stoßkraft hat, in die Alltäg-lichkeit hineinzustrahlen. In diesem Punkte das richtige Verständnissich anzueignen, ist ganz besonders wichtig für den Menschen derGegenwart. Sehen Sie, die führenden intellektuellen Kreise der herr-schenden Klassen, sie haben eine gewisse sittliche Weltanschauung,eine gewisse religiöse Anschauung entwickelt. Aber diese sittliche,diese religiöse Weltanschauung will man am liebsten immer ein-seitig ganz idealistisch halten. Sie soll nicht die Stoßkraft haben,

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zugleich in das alltägliche Leben einzudringen. Praktisch tritt Ihnendas dadurch zutage, daß Sie Sonntag für Sonntag und sogar öfter diebekannten Kirchen besuchen können: es werden Ihnen Predigtengehalten werden, Predigten, die aber fortwährend versäumen dieintensivsten Pflichten der Zeit. Es wird Ihnen von allem möglichengeredet werden, was Sie tun sollen aus religiöser Weltanschauungheraus, was aber keine Stoßkraft hat. Denn gehen Sie aus der Kircheheraus, treten Sie ins äußere alltägliche Leben hinein, so könnenSie nicht anwenden alles, was da gepredigt wird über Liebe vonMensch zu Mensch, was man tun soll, was der eben erleben willund jener eben gepredigt hat. Wo haben Sie eine Verständigung,eine Verbindung zwischen dem, was der Prediger, der Sittenlehrerzu seinen Studenten sagt, und zwischen dem, was im alltäglichenLeben nun einmal herrscht?

Das war zum Beispiel in den Zeiten, auf die der Totemkultus zurück-weist, anders: da richteten die Eingeweihten das alltägliche Lebennach dem Ratschluß der Götter ein. Es ist ein ungesunder Zustand,daß heute von den Kanzeln her nichts gehört wird über die notwen-dige Einrichtung des Wirtschaftslebens. Dasjenige, was da gepredigtwird, das gleicht – ich habe öfter diesen Vergleich gebraucht – wirk-lich dem, wenn man einem Ofen gegenübersteht und sagt: Du Ofen,du stehst hier im Zimmer. So wie du angeordnet bist im Verhältniszu den übrigen Gegenständen im Zimmer, ist es deine heilige Pflicht,das Zimmer warm zu machen. Also erfülle deine heilige Pflicht undmache das Zimmer warm. – Sie können lange so dem Ofen predigen,er wird nicht das Zimmer warm machen! Aber Sie brauchen garnicht zu predigen, sondern Holz oder Kohlen hineinzulegen und sieanzuzünden, so werden Sie das Zimmer warm machen. So könnenSie alle Sittenlehren unterlassen, die bloß reden von dem, was derMensch, um der ewigen Seligkeit willen, oder um anderer Dingewillen, die dem bloßen Glauben angehören, tun soll. Sie können alsounterlassen die Predigten, die heute zumeist den Inhalt der Kanzelre-

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den bilden, aber Sie können nicht dasjenige unterlassen, was heutereales Wissen vom sozialen Organismus ist. Das wäre die Pflichtderjenigen, die Volkserzieher sein wollen, auch im Praktischen dieBrücke zu bauen von dem, was als Geistiges die Welt durchlebt unddurchwebt, zu dem, was im alltäglichsten Leben geschieht. Dennder Gott, das Göttliche, lebt nicht nur in dem, was der Mensch inWolkenhöhen erträumt, sondern in dem geringsten Alltäglichsten.Wenn Sie das Salzfaß auf dem Tisch ergreifen, wenn Sie den LöffelSuppe zum Munde führen, wenn Sie um fünf Pfennige etwas von Ih-rem Mitmenschen erkaufen, in allen Dingen lebt das Göttliche. Undwenn man sich dem Glauben hingibt: da ist auf der einen Seite dasderb Materielle, Konkrete, dasjenige, was niederer Natur ist, und aufder anderen Seite das Göttlich-Geistige, das man ja recht fernhaltensoll von diesem derb Materiellen, Konkreten, weil das eine heiligist und das andere profan, weil das eine hoch ist und das andereniedrig, dann widerspricht man gerade dem innersten Sinn einerwirklichkeitsgemäßen Weltauffassung: der Stoßkraft vom Höchsten,Heiligen, herunter bis in die alltäglichsten Erlebnisse der Menschen.

Damit ist zugleich das charakterisiert, was die religiöse Entwickelungbis in unsere Zeit herein versäumt hat, die nur immer dem Ofenpredigt, er solle warm sein, und die verpönt, auf wirkliche, konkreteGeist-Erkenntnis einzugehen. Würde man sich nur überall diesesfrei sagen, was versäumt worden ist, von denjenigen versäumt, diesich berufen fühlen, das geistige Leben zu führen, dann würde dasschon eine wesentliche Hinlenkung sein auf das, was zu geschehenhat. [...]

Das ist die große Sünde der neueren Zeit, daß das geistige Lebenzur Ideologie abgelähmt ist. Und ideologisch ist schon heute dieTheologie, Ideologie ist nicht bloß die proletarische, sozialistischeWeltanschauung. Aber von dieser Ideologie müssen die Menschengesunden. Die geistige Welt muß ihnen ein Reales werden. Und wis-

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sen müssen sie, daß die geistige Welt als Reales lebt in dem einenGliede des sozialen Organismus wie die Erbschaft vom vorgeburtli-chen Leben, von der sogenannten Geistwelt; und daß sich vorbereitetein Geistiges, während wir scheinbar unter die Menschen herunterin das wirtschaftliche Leben untertauchen. Es bereitet sich gerade da,als Ausgleich für dieses Untertauchen, dasjenige vor, was uns durchdas Leben, das wir betreten, indem wir durch den Tod in die geistigeWelt wiederum eintreten, wiederum hineinführen soll, wenn wir esrichtig durchleben, in menschlichere brüderliche Wissenschaft hierauf der Erde. [...]

Mit diesen Dingen gibt man dasjenige an, was notwendig ist für dieMenschheit, aber auch das, was versäumtworden ist von derMensch-heit. Nur durch das furchtlose und mutige Sich-Hineinversetzen indasjenige, was versäumt worden ist, und in das, was notwendig ist,kann irgend etwas Heilsames für die Gegenwart und die nächsteZukunft gebracht werden. Deshalb suchte ich Ihnen wiederum hier,wo wir unter uns sind, zu dem, was man heute über das sozialeProblem öffentlich sagen kann, dasjenige hinzuzufügen, was man sa-gen kann gerade vom Gesichtspunkte anthroposophisch orientierterGeisteswissenschaft; wo man einbeziehen kann dasjenige, was vondem unsterblichen, von dem übersinnlichen Leben des entkörpertenMenschen hereinragt in dieses irdische Leben.

Von dem sozialen Organismus ist nur ein Glied, nur dasjenige Glied,was sich auf die äußerliche staatliche Organisation bezieht, reinirdisch. Die beiden anderen Glieder sind nach zwei verschiedenenSeiten hin mit dem Überirdischen verquickt. Auf der einen Seite wirduns ein Geistesleben als ein irdisches geistiges Leben zuteil, das –weil es gewissermaßen herausgepreßt wird aus dem vorgeburtlichen,überirdischen Geistesleben – von uns durchlebt werden kann, ichmöchte sagen, wie ein Überfluß. Und auf der anderen Seite müssenwir als leibliche Menschen – wodurch wir verbunden sind mit der

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Tierheit der Erde – untertauchen in das bloße Wirtschaftsleben. Al-lein, weil wir nicht bloß leibliche Menschen sind, sondern weil sichvorbereitet in diesem Leib die Seele für die folgenden Erdenlebenund für die folgenden übersinnlichen Leben, bereitet sich auch durchdas Wirtschaftsleben dasjenige vor, was jenen Teil von uns in dieMenschlichkeit hinaufführt, der hier noch nicht ganz menschlich ist:den Menschen, der im Wirtschaftsleben drinnenstehen muß. Wirhaben gleichsam etwas in uns von einem Übermenschen, insofernwir in einen sozialen Zusammenhang hineinrücken können, derdas irdische Geistesleben durchwebt. Wir haben etwas vom bloßenMenschen an uns, indem wir Staatsbürger werden. Wir haben etwasin uns, was uns zwingt, unter beides hinunterzusteigen, aber wirwerden zu gleicher Zeit von der übersinnlichen Welt entschädigtdadurch, daß in dem, was als niedrigstes Glied erscheint im sozia-len Erleben, sich schon dasjenige vorbereitet, was uns wiederumhinaufführt, uns wiederum eingliedert in das Übersinnliche.

Die Wirklichkeit ist allerdings nicht so oberflächlich, nicht so be-quem zu erfassen, wie man das manchmal haben möchte. Allein,sie zeigt auf der anderen Seite, wie das Menschenleben die ver-schiedensten Phasen durchmacht, jede Phase aber neue Momente,neue Ingredienzien, neue Impulse, die nur auf diesen bestimmtenGebieten gegeben werden können, wo sie gegeben werden, in dasMenschenleben hineinträgt. So sehen wir, wie sich ineinanderschlin-gen die Fäden des Lebens, welches wir hier zwischen Geburt undTod verleben, mit jenen Fäden, die wir ziehen, indem wir das Lebenzwischen dem Tod und einer neuen Geburt durchleben. Und allesfügt sich im höchsten Maße sinnvoll ineinander in diesem gesamtenMenschenleben. Dasjenige, was sich wiederum anspinnt hier imirdischen Leben von menschlichem Individuum zu menschlichemIndividuum, was wir hier einem Menschen tun, indem wir ihm eineFreude machen, indem wir ihm ein Leid zufügen, indem wir seineGedanken bereichern, oder seine Gedanken verarmen, indem wir

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dieses oder jenes ihm beibringen, – das bereitet unser karmisches,unser schicksalsmäßiges Leben vor für das nächste Erdendasein.

Aber unterscheiden müssen wir davon dasjenige, was wir nötig ha-ben zu unserer Vorbereitung für das Leben, welches wir unmittelbarnach dem Tode als ein übersinnliches entfalten. Wir werden hierzusammengeführt in gewisse soziale Gemeinschaften. Wir müssenwieder herausgeführt werden. Wir werden es dadurch, daß aus un-serem bloßen Wirtschaftsleben, aus der bloßen Ökonomie, etwasauftaucht, das uns durch die Pforte des Todes hinübergeleitet in diegeistige Welt, damit wir nicht in der sozialen Gemeinschaft verblei-ben, in der wir uns hier eingelebt haben, sondern in einem nächstenLeben in eine andere aufgenommen werden können. So sinnvollverschlingen sich die karmischen Fäden mit denjenigen Fäden, dieuns in das allgemeine Weltenleben hineinstellen.

Vorgeburtliches und Nachtodliches vom seelischenGesichtspunkt

Quelle [11]: GA 193, S. 071-075, 4/1989, 09.03.1919, ZürichVortrag vor Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft

Denken Sie sich, es würde ein Wesen von einem Planeten kommen,auf dem die Verhältnisse nicht so lägen wie auf unserer Erde, sodaß das Wesen niemals den Unterschied bemerkt hätte zwischeneiner Rose, die auf einem Rosenstock wächst, und einem Kristall,so könnte ein solches Wesen, wenn man ihm nebeneinandergelegtnun einen Kristall und eine Rose darböte, glauben, die beiden wärenvon gleicher Wirklichkeit. Und es könnte dann nur überrascht sein,daß die Rose so schnell verwelkt, während der Kristall bestehenbleibt. Der Mensch auf der Erde weiß sich nur gegenüber dieserWirklichkeit zurechtzufinden, weil er eben die Dinge durch längereZeiten verfolgt hat. Aber nicht alles kann man so verfolgen, daß man

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schon in der äußeren Wirklichkeit sieht, was wahre Wirklichkeit istoder nicht, wie bei der Rose, sondern es liegen uns im Leben Dingevor, welche notwendig machen, daß wir uns erst eine Grundlageschaffen, um die wahre Wirklichkeit überhaupt ins Auge fassen zukönnen. Welches kann eine solche Grundlage sein, namentlich fürdas soziale Zusammenleben der Menschen?

Nun, ich habe Ihnen einzelnes über diese Grundlage im letzten undim vorletzten Zweigvortrage hier auseinandergesetzt. Heute willich noch einiges hinzufügen. Sie kennen aus meinen Schriften dieSchilderungen, die ich über die geistigeWelt gegeben habe, über jeneWelt, die der Mensch durchlebt zwischen dem Tode und einer neuenGeburt. Sie wissen, wenn man auf dieses Leben in der übersinnli-chen, in der geistigen Welt hinweist, hat man nötig, die Beziehungenfestzustellen, die da herrschen von Seele zu Seele. Da ist der Menschleibfrei, da ist der Mensch nicht den physischen Gesetzen dieserunserer Welt unterworfen, die wir zwischen der Geburt und demTode durchleben. Da redet man daher von dem, was als Kraft oder alsKräfte spielt von Seele zu Seele. Lesen Sie nach in meiner „Theoso-phie“, wie da in bezug auf das Leben zwischen Tod und neuer Geburtgesprochen werden muß von den Sympathie- und Antipathiekräf-ten, die von Seele zu Seele in der Seelenwelt spielen. Da spielen dieKräfte ganz innerlich von Seele zu Seele. Antipathie bringt eine Seeleder anderen entgegen, durch Sympathien werden sie gemildert. Esentstehen Harmonien und Disharmonien zwischen Innerlichstem,was die Seelen erleben. Und dieses Erleben des Innerlichsten einerSeele im Verhältnis zu dem Erleben des Innerlichsten einer anderenSeele ist dasjenige, was das wahre Verhältnis der übersinnlichenWelt ausmacht. Und nur ein Abglanz von diesem Übersinnlichenist dasjenige, was, gewissermaßen wie die Reste davon, durch dasphysische Leben hindurch hier in der physischen Welt eine Seelemit der anderen erleben kann.

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Aber dieser Abglanz wiederum muß im rechten Lichte beurteilt wer-den. Man kann die Frage aufwerfen: Wie stellt sich, sozial betrachtet,dasjenige, was wir hier durchleben zwischen Geburt und Tod, zu demübersinnlichen Leben? – Da werden wir jetzt, wo wir die notwendigeDreigliederung des sozialen Organismus schon öfter ins Auge gefaßthaben, zunächst auf das mittlere Glied gelenkt, das öfter beschriebenworden ist, auf den eigentlichen politischen Staat. Die Menschen,die in unserer Gegenwart über den politischen Staat nachgedachthaben, haben immer versucht zu erkennen, was eigentlich der poli-tische Staat ist. Aber sehen Sie, die Menschen der Gegenwart mitihren materialistischen Vorstellungen haben wirklich keine rechteUnterlage, so etwas zu betrachten. Außerdem ist nach den Interes-sen der verschiedenen Menschenklassen in der neueren Zeit allesmögliche zusammengeschmolzen worden mit dem modernen Staate,so daß man gar nicht ohne weiteres voraussetzen kann, dieser Staatsei eine Wirklichkeit und nicht eine Lebenslüge. Es ist ein weiterAbstand von der Anschauung des deutschen Philosophen Hegel zuder anderen Anschauung, die Fritz Mauthner, der philosophischeWörterbuchschreiber, in der neueren Zeit dargetan hat. Hegel siehtden Staat mehr oder weniger wie den verwirklichten Gott auf der Er-de an. Fritz Mauthner sagt, der Staat sei ein notwendiges Übel. Alsoer sieht ihn als ein Übel an, allerdings als ein solches, das man nichtentbehren kann, das notwendig ist zum menschlichen Zusammen-leben. Das sind so entgegengesetzte Empfindungen zweier neuererGeister.

Die mannigfaltigsten Menschen haben sich, da jetzt vieles, was frü-her instinktiv sich gestaltet hat, in das menschliche Bewußtsein her-eingestellt wird, Vorstellungen darüber zu bilden versucht, wie derStaat beschaffen sein soll, wie der Staat werden soll. Wiederum sinddie mannigfaltigsten Abstufungen in diesen Menschenvorstellungenzutagegetreten. Da haben wir auf der einen Seite die lammfrommenSchilderer des Staates, die nicht recht eindringen wollen in das, was

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er eigentlich ist, aber ihn doch so gestalten wollen, daß die Men-schen, welche viel darüber zu klagen haben, möglichst nicht vieldarüber zu reden haben. Und da sind die anderen, die den Staat radi-kal umändern wollen, damit sich aus ihm heraus ein die Menschenbefriedigendes Dasein entwickeln könne. Es fragt sich: Wie kannman aber überhaupt eine Anschauung gewinnen über dasjenige,was der Staat eigentlich ist?

Wenn man unbefangen ins Auge faßt, was sich nun spinnen kannvon Mensch zu Mensch im Staatsverhältnis, und dies mit dem ver-gleicht, was sich spinnt, wie ich eben charakterisiert habe, von Seelezu Seele im übersinnlichen Leben, dann erst bekommt man eineAnschauung über die Wirklichkeit des Staates, über die möglicheWirklichkeit des Staates. Denn so, wie jenes Verhältnis, das auf dieGrundkräfte der menschlichen Seele von Sympathien und Antipa-thien im übersinnlichen Leben aufgebaut ist, ein Innerlichstes ist inder menschlichen Seele, so ist dasjenige, was sich von Mensch zuMensch im bloßen Leben des politischen Staates begründen kann, einÄußerlichstes, auf das Recht Basiertes, auf dasjenige, wo der Menschin der äußerlichsten Weise dem anderen Menschen gegenübersteht.Wenn Sie diesen Gedanken durchdenken, dann kommen Sie dazu,einzusehen, daß der Staat das genaue Gegenteil des übersinnlichenLebens ist. Und er ist um so vollkommener in seinem Wesen, dieserStaat, je mehr er das volle Gegenteil des übersinnlichen Lebens ist, jeweniger er sich irgendwie anmaßt, irgend etwas von übersinnlichemLeben in seine Struktur hineinzubringen, je mehr er nur dasjenigeins Auge faßt, was das äußerlichste Rechtsverhältnis des Verhaltensvon Mensch zu Mensch betrifft, worinnen alle Menschen gleich sind,gleich vor dem äußeren Rechtsgesetze. Immer tiefer und tiefer wirdman von der Wahrheit durchdrungen, daß die Vollkommenheit desStaates gerade darinnen besteht, daß in ihm nichts gesucht werdeals dasjenige, was angehört unserem Leben zwischen Geburt undTod, was unserem alleräußerlichsten Verhältnis angehört.

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Dann aber muß man fragen: Wenn der Staat nur ein Abglanz desübersinnlichen Lebens ist dadurch, daß er das Gegenteil dieses über-sinnlichen Lebens darstellt, wie ragt denn in unser übriges sinnlichesLeben das übersinnliche herein? – Von einem anderen Gesichtspunk-te aus habe ich es Ihnen letzthin dargestellt. Heute aber will ich Ihnennoch mitteilen, daß von den Antipathien, die sich in der übersinnli-chen Welt zwischen dem Tode und der Geburt entwickeln, gewisseReste zurückbleiben, Rest-Antipathien, mit denen wir durch die Ge-burt ins physische Dasein schreiten. Denen wird im physischenLeben entgegengewirkt durch alles das, was sich im sogenanntengeistigen Leben, in der geistigen Kultur auslebt. Da werden dieMenschen in religiösen Gemeinschaften, da werden sie in anderengemeinsamen Geistesgütern zusammengebracht; da sollen sie denAusgleich für gewisse Antipathien schaffen, die als Rest aus demvorgeburtlichen Leben geblieben sind. All unsere geistige Kultur solleine Einrichtung für sich hier sein, weil sie ein Abglanz ist unseresvorgeburtlichen Lebens, weil sie gewissermaßen den Menschen hierin die Sinneswelt herausstellt, damit begabt, eine Art Heilmittel fürdie restlichen Antipathien zu bilden, die aus der übersinnlichen Weltgeblieben sind. Daher ist es so schauderhaft, wenn die Menschenim geistigen Leben Spaltungen hervorrufen, statt sich gerade imgeistigen Leben recht zu vereinen. Die restlichen Antipathien, dieuns aus dem geistigen Leben vor der Geburt bleiben, sind wühlendin den Untergründen der menschlichen Seele und lassen nicht dasje-nige, was eigentlich angestrebt werden sollte, zur Wahrheit werden:wirkliche geistige Harmonie, wirkliches geistiges Zusammenwir-ken. Wo solches sein sollte, entwickeln sich gleich Sekten. DieseSektenbildungen und Sektenspaltungen sind noch das hier auf derErde befindliche Abglanzzeichen für die Antipathien, aus denen allesgeistige Leben hervorgeht, und für die es eigentlich als ein Heilmit-tel sich entwickeln soll. Wir haben das geistige Leben als etwasaufzufassen, was in inniger Beziehung steht zu unserem vorgeburt-

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lichen Leben, was in gewisser Beziehung schon verwandt ist mitdem übersinnlichen Leben. Wir sollen daher nicht in die Versuchungkommen, dieses geistige Kulturleben anders aufzurichten als einfreies Leben außerhalb des Staates, der nicht ein Abglanz in diesemSinne, sondern ein Gegenbild sein soll für das übersinnliche Leben.Und wir bekommen nur eine Vorstellung über das, was wirklich istam Staate und wirklich ist an dem geistigen Kulturleben, wenn wirzu unserem sinnlichen Leben das übersinnliche Leben hinzufügen.Beides zusammen macht erst die wahre Wirklichkeit aus, währenddas bloße sinnliche Leben eben durchaus ein Traum ist.

Das wirtschaftliche Leben ist wiederum ganz anders geartet. Im wirt-schaftlichen Leben arbeitet der eine Mensch für den anderen. Dereine Mensch arbeitet in der Regel für den anderen, weil er ebensowie der andere seine Vorteile dabei findet. Das wirtschaftliche Lebengeht aus den Bedürfnissen hervor und besteht in der Befriedigungder Bedürfnisse, in dem Herausarbeiten alles dessen auf dem phy-sischen Plane, was die dumpfen Naturbedürfnisse des Menschenbefriedigen kann oder auch wohl die feineren, aber doch mehr in-stinktiven Seelenbedürfnisse. Da entwickelt sich innerhalb dieseswirtschaftlichen Lebens unbewußt dasjenige, was nun wiederumhinauswirkt bis jenseits des Todes. Dasjenige, was die Menschenaus den egoistischen Bedürfnissen des Wirtschaftslebens für ein-ander arbeiten, entwickelt in seinen Untergründen die Keime fürgewisse Sympathien, die sich im nachtodlichen Leben in unsererSeele ausbilden müssen. So wie das geistige Kulturleben eine ArtHeilmittel ist gegen den Rest der Antipathien, die wir mitbringenaus unserem vorgeburtlichen Leben in dieses nachgeburtliche, soist dasjenige, was in den Untergründen des Wirtschaftslebens spielt,von Keimen durchsetzt für die Sympathien, die sich nach dem Todeentwickeln sollen. Das ist wiederum ein anderer Gesichtspunkt fürdie Art, wie wir aus der übersinnlichen Welt heraus die notwendigeDreigliederung des sozialen Organismus erkennen können. Solch

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einen Gesichtspunkt kann allerdings derjenige nicht erringen, dersich nicht bestrebt, die geisteswissenschaftlichen Grundlagen derWelterkenntnis sich anzueignen. Aber für denjenigen, der sich diesegeisteswissenschaftliche Grundlage aneignet, wird immer mehr undmehr zur Selbstverständlichkeit die Forderung, daß der gesundesoziale Organismus in diese drei Glieder geteilt sein muß, weil diesedrei Glieder in untereinander ganz verschiedener Art ihre Beziehun-gen zur übersinnlichen Wirklichkeit haben, die, wie gesagt, erst mitder sinnlichen zusammen die wahre Wirklichkeit ausmacht.

Naiv gesunde Empfindung und geisteswissenschaftlicheBetrachtung

Quelle [10]: GA 192, S. 036-047, 2/1991, 23.04.1919, Stuttgart

Heute möchte ich gewissermaßen episodisch etwas einfügen, waszu tun hat mit der das letztemal auch vor Ihnen hier erwähntenDreigliederung des sozialen Organismus. Ich möchte es als Episodeeinfügen gewissermaßen zu einer tieferen geisteswissenschaftlichenBetrachtung der Sache. Natürlich, manches von dem, was auch un-sere heutigen Ausführungen begründen wird, müssen Sie aus derGesamtheit der geisteswissenschaftlichenWeltanschauung nach undnach zusammennehmen. Man kann nicht in jedem einzelnen Vor-trage weitläufig die Begründungen geben. Aber dasjenige, was unsäußerlich als die Notwendigkeit einer Dreigliederung des sozialenOrganismus entgegentritt, das wollen wir heute einmal gewisserma-ßen von innen, von seiner Innenseite her betrachten, und es dadurchetwas vertiefen. Es ist eigentlich nicht schwierig für den, der sichetwas eingelebt hat in geisteswissenschaftliche Vorstellungen, beisich eine Empfindung hervorzurufen von der großen Verschieden-heit der drei Lebensgebiete, in die der soziale Organismus nachunseren Intentionen gegliedert werden soll. Ist man nur einmal

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aufmerksam darauf, daß eine solche Dreigliederung etwas Ernsthaft-zu-Nehmendes ist, dann ergibt sich zunächst empfindungsgemäßeine mögliche Unterscheidung zwischen diesen drei Gebieten, diejedes einzelne stark unterschieden von den anderen wahrnehmenläßt.

Diese drei Gebiete, sie sind Ihnen ja jetzt schon hinlänglich bekannt:das Gebiet dessen, was wir das geistige Leben nennen, insofern die-ses geistige Leben sich ausgestaltet, sich offenbart in dem, was wirdie physische Welt nennen, also der ganze Umfang des sogenannten– wenn ich das paradoxe Wort brauchen soll – physischen Geistesle-bens. Wir wissen ja, was wir darunter zu verstehen haben. Dazu wirdalles das gehören, was zusammenhängt mit den individuellen Fähig-keiten und Begabungen des Menschen. Für uns ist, im Gegensatz zuden materialistisch gesinnten Menschen, das Geistesleben nämlichetwas weit Ausgedehnteres, wie wir gleich nachher sehen werden,als für den materialistisch gesinnten Menschen. Wir sind nämlichgenötigt, das Geistesleben viel materieller zu denken als die mate-rialistischen Menschen, sofern wir vom physischen Geisteslebensprechen. Das hat ja schon manchen meiner Vorträge durchdrungen,daß das Geistesleben nur erfaßt werden kann, wenn man davonausgeht, daß alles materielle Leben vom Geistigen wirklich konkretdurchtränkt ist, so daß es für uns ein bloß Materielles gar nicht gibt,sondern immer dasjenige, was durch das Mittel des Materiellen sichoffenbart, seinem innerenWesen nach auch, ich sage auch, ein Geisti-ges ist. Kunst, Wissenschaft, Rechtsanschauungen, sittliche Impulseder Menschheit, alles das würde zunächst, grob gesprochen, den Um-fang dieses Geisteslebens ausmachen. Vor allen Dingen aber würdein den Umfang dieses Geisteslebens fallen alles das, was zur Pflegeder individuellen Begabungen gehört, also das gesamte Erziehungs-,Unterrichts- und Schulwesen.

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Dann ist deutlich von diesem Leben eines wiederum zu unterschei-den, das in einer gewissen Weise zusammenhängt mit dem physi-schen Geistesleben, das aber doch sich prinzipiell von ihm unter-scheidet. Das ist alles das, was man bezeichnen kann als Rechtsle-ben, als politisches Leben, als Staatsleben. Natürlich muß man seinWahrnehmungsvermögen etwas einstellen auf deutliche Unterschei-dungen auf diesem Gebiet, wenn man nicht in den Fehler verfallenwill, sich zu sagen: das Rechtsleben ist ja im Grunde genommendas, was Rechtlichkeit ist. Aber wir, die wir gewohnt sind, genauund deutlich zu unterscheiden, wir werden unterscheiden müssenzwischen dem Erfassen von Rechtsideen, zwischen dem – wennich mich so ausdrücken darf – Inspiriertsein von Rechtsideen unddem Ausleben des Rechtes in der äußeren Welt. Wir werden von alldiesen Dingen gleich genauer sprechen.

Das dritte ist dann, das werden Sie leicht unterscheiden können vonden beiden anderen, das Wirtschaftsleben. Nun steht der Menschzu den drei Gebieten des Lebens, die wir eben verzeichnet haben, ineinem ganz anderen Verhältnis. Wenn Sie versuchen, durch eine reingesunde Empfindung aufzufassen dasjenige, was physisches Geistes-leben ist, so werden Sie verspüren – versuchen Sie nur einmal, dieWahrnehmungsfähigkeiten der Seele in die Richtung zu lenken, vonder ich jetzt gesprochen habe –, daß alles das, was irgendwie wurzeltin der individuellen Begabung, den individuellen Fähigkeiten desMenschen, gewissermaßen am allerinnerlichsten für die mensch-liche Natur verläuft, am allerinnerlichsten von der menschlichenNatur erzeugt wird. Geht man nun ganz wissenschaftlich an dieArbeit des Wahrnehmens heran, so findet

man, daß alles, was sich auslebt in Kunst und Wissenschaft, inden Impulsen der Erziehung, empfunden werden kann als Geistig-Seelisches, das in uns lebt, wenn wir uns seiner Betätigung hingeben;so in uns lebt, daß wir es nur in der richtigen Weise innerlich er-

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fahren können, wenn wir uns etwas zurückziehen aus der äußerenWelt. Gewiß, wir müssen es offenbaren in der äußeren Welt – dasist dann etwas anderes, als es innerlich zunächst erleben –, aber wirkönnen als Menschen das, was sich in Kunst und Wissenschaft, inErziehungsimpulsen auslebt, nicht konzipieren, nicht innerlich er-fassen, wenn wir uns nicht etwas vom Leben zurückziehen können.Natürlich braucht das nicht ein Zurückziehen in eine Eremitenklau-se zu sein, man kann spazierengehen meinetwillen, aber man mußsich etwas zurückziehen, muß seelisch werden, muß in sich leben.Das ist etwas, was sich für eine ganz naive Empfindung, wenn sienur ausgebildet werden will in der Menschenseele, für das physischeGeistesleben ergibt, und was die Geisteswissenschaft so ausdrückenmuß, daß sie sagt: Dieses physische Geistesleben wird von unsererMenschenseele so erlebt, daß wir ohne völlige Inanspruchnahmedes Leibes dieses physische Geistesleben ausleben. Da muß Geistes-wissenschaft, und das können Sie aus allem entnehmen, was Geistes-wissenschaft Ihnen bisher gebracht hat, in der allerentschiedenstenWeise gegen die materialistische Ausdeutung des Menschenwesenssich wenden, welche in dem Aberglauben lebt, daß sich, wenn maninnerlich ausgestaltet, was dem physischen Geistesleben angehört,diese Ausgestaltung ganz restlos durch das Instrument des Gehirns,des Nervensystems und so weiter vollzieht. Nein, wir wissen, dasist nicht wahr. Wir wissen, daß ein selbständiges Innenleben imMenschen vorhanden sein muß, wenn Offenbarungen dieses physi-schen Geisteslebens zustande kommen sollen. Es geht etwas vor imMenschen bei diesem physischen Geistesleben, das nicht seine Par-allelerscheinungen im physischen Leibe hat; es geht etwas vor, wasnur abläuft innerhalb des geistig-seelischen Wesens im Menschen.

Anders ist das, wenn wir diejenigen Impulse des Lebens ausbilden,die wir in unserer Dreigliederung auf eine demokratische Grund-lage stellen wollen, wenn wir ausbilden, was gewissermaßen alleMenschen vor allen Menschen gleich erscheinen läßt. Das kann sich

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nur ausbilden, wenn wir uns bedienen der Werkzeuge unserer Leib-lichkeit, die Mensch mit Mensch verbinden. Nicht innerliche Rechts-ideen, aber Rechtsimpulse des Lebens, nicht innerlich sittliche Ideen,aber sittliche Impulse des Lebens, die also zwischen den Menschentätig sind, die bilden sich aus, indem Mensch zu Mensch herantritt,Mensch gegen Mensch wirkt, Mensch und Mensch austauschen, wassie aneinander gegenseitig erleben. Diese Dinge bilden sich nur aus,wenn Menschen miteinander verkehren, wenn Menschen ihre leibli-che Außenseite einander zukehren, wenn sie miteinander sprechen,wenn sie sich sehen, wenn sie durch Mitempfindung miteinanderleben, kurz, nur im menschlichenWechselverkehr kann das ausgebil-det werden. Mit Bezug auf alles das, was sich auf Grundlage unsererindividuellen Fähigkeiten ausbildet, also mit Bezug auf das, was indem eben genannten Sinn unabhängig von unserer Leiblichkeit ist;sind wir als Menschen individuell gestaltet, jeder ein Eigener, jederein Individuum. Mit Ausnahme der viel geringeren Differenzierung,welche durch Rassenunterschiede, Volksunterschiede und derglei-chen hervortreten, die aber eben als Differenzierung eine Kleinigkeitsind – wenn man nur ein Organ dafür hat, muß man das wissen –gegenüber der Differenzierung durch individuelle Begabungen undFähigkeiten, mit Ausnahme davon sind wir mit Bezug auf unsereäußere physische Menschlichkeit, durch die wir als Mensch denMenschen gegenübertreten, durch die wir Rechtsimpulse, Sittenim-pulse ausbilden, als Menschen gleich. Wir sind als Menschen gleich,hier in der physischen Welt, gerade durch die Gleichheit unserermenschlichen Gestalt, einfach durch die Tatsache, daß wir alle Men-schenantlitz tragen. Dieses, daß wir alle Menschenantlitz tragen, daßwir uns als äußere physische Menschen begegnen, die miteinanderauf dem demokratischen Boden die Rechtsimpulse, die Sittenimpul-se ausbilden, dieses macht uns auf diesem Boden gleich. Wir sindverschieden voneinander durch unsere individuellen Begabungen,die aber unserer Innerlichkeit angehören.

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Das dritte, das wirtschaftliche Gebiet: Man braucht wahrhaftig nichteiner falschen Askese zuzuneigen, denn diese falsche Askese istganz gewiß gegen die Grundtendenz unserer gegenwärtigen Zeit,namentlich des Abendlandes – darüber haben wir oftmals gespro-chen hier –, aber man kann wahrnehmen, wie das Wirtschaftslebenden Menschen gewissermaßen untertauchen läßt hier in der phy-sischen Welt in einen Lebensstrom, in ein Lebensmeer, in dem ersich bis zu einem gewissen Grade als Mensch verliert. Haben Sienicht die Empfindung, dem Wirtschaftsleben gegenüber, daß Sieuntertauchen in etwas, was Sie nicht so Mensch sein läßt, wie dasRechts- oder Staatsleben? Noch mehr ist das der Fall gegenüber demLeben, das aus Ihren individuellen Fähigkeiten, überhaupt aus denindividuellen Fähigkeiten des Menschen fließt. Wir fühlen es, wiegesagt, ohne in falsche asketische Neigung zu verfallen, wir fühlen:dem Wirtschaftsleben gegenüber ist es so, daß wir aufhören, indemwir wirtschaften müssen, Vollmenschen zu sein. Wir müssen einenTribut zahlen an das in uns, was untermenschlich ist, indem wirwirtschaften.

Wir haben sozusagen dasjenige, was dem Wirtschaftsleben ange-hört als Warenproduktion, Warenzirkulation, Warenkonsum, auchwenn es sich hinaufsteigert zu geistigen Leistungen, die aber ebendeshalb mit demselben Charakter wie Warenzirkulation des Wirt-schaftslebens entstehen, weil wir Menschen sind und nicht Engel,wir wissen, daß auch das, was geistige Produktion ist, insofern dasWirtschaftliche dafür in Betracht kommt, den Charakter annimmtdesWirtschaftlichen, das in den materiellen Gütern verläuft. Und diemateriellen Güter, die zur Befriedigung unseres Leiblichen notwen-dig sind, und geistige Leistungen, wie zahnärztliche und dergleichen,im Wirtschaftsleben müssen sie auch zuletzt durch den Warenaus-tausch dazu führen, daß der Zahnarzt durch das Wirtschaftslebenphysisch leben kann. Irgendwie hängt das Wirtschaftsleben immermit dem physischen Leben zusammen. Das ist aber etwas, was uns

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in eine gewisse, wenn auch ins Menschliche hinaufgehobene Bezie-hung zum Tierischen bringt. Es läßt uns untertauchen in dasjenige,was instinktiv mit dem Tier zusammen erlebt wird. Da haben Siezunächst einer naiven, aber gesunden Empfindung gegenüber dasje-nige, was die drei Gebiete für den einzelnen individuellen Menschenunterscheidet.

Gehen wir jetzt tiefer geisteswissenschaftlich in die Sache ein. DerGeisteswissenschafter muß da besonders beobachten die Gliederungdes menschlichen Lebens in der Zeit, die Entwickelung des mensch-lichen Lebens zunächst von der Geburt oder Empfängnis bis zumTode. Derjenige, der sich ein Wahrnehmungsvermögen aneignet fürden Verlauf des Menschenlebens, der wird stark beeindruckt seindavon, wie sich alles das, was individuelle Fähigkeiten des Menschensind, in der allerersten Kindheit bedeutsam ankündigt. Für den, dersich dafür ein geistiges Auge und Lebenserfahrung angeeignet hat,für den ist stark vorhanden die Wahrnehmung der besonderen Aus-gestaltung der Kindesseele. In dem was heranwächst in den dreiersten Lebensstufen vom ersten bis zum siebten, vom siebten biszum vierzehnten, vom vierzehnten bis zum einundzwanzigsten Jahr,in dem kündigt sich dasjenige wie aus einer inneren elementarenKraft heraus an, was individuelle Fähigkeiten des Menschen sind.Und nicht nur das, was wir gewöhnlich geneigt sind, als individu-elle Fähigkeiten des Menschen zu betrachten, kündigt sich da an,sondern damit hängt dann zusammen, ob wir physisch stark oderschwach sind, ob wir mehr oder weniger Muskelarbeit leisten kön-nen. Da ist es, wo wir das Geistige mehr in Materielles ausdehnenmüssen als die materialistisch Denkenden. Geistig angeschaut sehenwir einen guten Zusammenhang zwischen der Ausgestaltung desMuskelsystems und der individuellen Veranlagung des Menschen.Alles das hängt für den, der das Menschenwesen beobachten kann,mit der Entwickelung des menschlichen Hauptes zusammen. Auchsogar in den äußeren Formen, ob einer starke Beine hat oder schwa-

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che, ob einer viel laufen kann, das sieht der, der sich einen geistigenBlick erworben hat, schon dem Kopfe an, gerade dem Kopfe. Obeiner geschickt oder ungeschickt ist, sieht man dem Kopfe des Men-schen an. Diese sogenannten physischen Fähigkeiten des Menschen,die eng zusammenhängen mit seiner Eignung für äußere materiel-le, manuelle Arbeit, sie hängen mit der Ausgestaltung des Kopfeszusammen. Nun wissen Sie, was ich Ihnen über die Ausgestaltungdes Kopfes wiederholt gesagt und aus den verschiedensten Unter-gründen heraus begründet habe. Ich habe Ihnen gesagt: Alles das,was im menschlichen Haupte zur Ausgestaltung kommt, was demmenschlichen Haupte seine Konfiguration, seine Formung gibt, dasweist hin auf das Vorgeburtliche, das weist hin auf dasjenige, was derMensch aus den geistigen Welten, sei es aus der geistigen Welt selbstoder sei es aus vorhergehenden Erdeninkarnationen, sich durch dieGeburt mit herein ins physische Leben bringt. Indem nun ein Zusam-menhang geschaut wird zwischen allen individuellen Fähigkeitendes Menschen, seien sie nun geistige oder manuelle Fähigkeiten,gerade mit der Ausbildung des menschlichen Hauptes, wird mandann weitergeleitet in seinem Schauen, so daß man alles, was ausder individuellen Fähigkeit des Menschen hervorgeht, zurückleitetauf das vorgeburtliche Leben.

Sehen Sie, das ist es, was den Geisteswissenschafter zu einer fürihn so bedeutungsvollen Beleuchtung dessen führt, was physischesGeistesleben ist. Physisches Geistesleben ist deshalb hier in der phy-sischen Welt, weil wir als Menschen uns etwas durch die Geburt mithereinbringen. Alles physische Geistesleben, in dem Umfang, wieich heute davon zu Ihnen gesprochen habe, entsteht nicht bloß ausdieser physischen Welt heraus, es entsteht aus denjenigen Impulsenheraus, die wir hereintragen durch unsere Geburt aus der geistigenWelt in das physische Dasein. Indem wir Menschen sind, die herein-bringen in das physische Dasein Nachklänge eines übersinnlichenDaseins, gestalten wir in der menschlichen Gesellschaft hier in der

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physischen Welt dasjenige aus, was dieses physische Geisteslebenist. Es gäbe keine Kunst, es gäbe keine Wissenschaft, höchstens eineExperimentalbeschreibung, eine Beschreibung von Experimenten,es gäbe keine Erziehungsimpulse, wir könnten die Kinder nicht er-ziehen, wir könnten keine Schulbildung erteilen, wenn wir nichtdurch die Geburt Impulse aus dem vorgeburtlichen Leben in dasphysische Leben hineinbrächten. Das ist das eine.

Nun bitte, nehmen Sie alles das, was Sie an Beschreibung der über-sinnlichen Welt in meiner „Theosophie“ oder in der „Geheimwissen-schaft“ finden. Nehmen Sie insbesondere das, was in diesen Bücherngesagt ist aus der übersinnlichen Welt heraus über die Beziehungen,die da herrschen zwischenMenschenseele undMenschenseele, wenndiese Seelen entkörpert sind, wenn diese Seelen leben zwischen demTod und einer neuen Geburt. Sie wissen, wir müssen da von ganzanderen Beziehungen von Seele zu Seele sprechen, als diejenigen,von denen wir hier in der physischen Welt sprechen können. Sieerinnern sich, wie ich zusammengesetzt habe das, was von Seelezu Seele erlebt wird, aus Grundklängen, die hier in schattenhaftenBildern vorhanden sind. Sie erinnern sich der Beschreibung in der„Theosophie“ des Lebens in der Seelenwelt, wie ich von gewissenWechselwirkungen, von in der physischen Welt nicht vorhandenenSeelen- und Astralkräften sprechen mußte, indem ich das entkörper-te Leben in der übersinnlichen Welt zwischen dem Tod und einerneuen Geburt schildern wollte. Da steht Seele zu Seele in einer in-neren Beziehung. Da ist ein Verhältnis von Seele zu Seele, welchesdurch die innere Kraft der Seele selbst hervorgerufen wird. Durch-dringt man sich nun ganz fest mit dem, was so als Verhältnis vonSeele zu Seele existiert in der übersinnlichen Welt, faßt man das insAuge und macht man sich so recht gegenständlich, was so existiert,dann bekommt man, wenn man in der richtigen Weise vergleicht,eine merkwürdige Anschauung heraus. Sie wissen, es beruht aufsolch inneren Tendenzleistungen sehr vieles, was zur Erkenntnis

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in der übersinnlichen Welt, oder auch zur Erkenntnis der Zusam-menhänge der übersinnlichen mit der sinnlichen Welt führt. Manwird da direkt auf das Rechts-, Staats- oder politische Leben geleitet,und zwar so, daß es keinen größeren Gegensatz gibt gegen die be-sondere Ausgestaltung des übersinnlichen Lebens als das politische,das Rechtsleben hier auf dem physischen Plan. Das sind die beidengroßen Gegensätze, und man empfindet diese Gegensätze, wennman in sachgemäßer Weise das übersinnliche Leben kennenlernt.Das übersinnliche Leben hat gar nichts von dem, was durch Rechts-satzungen oder äußere Sittenimpulse geregelt werden kann, dennda wird alles durch innere Seelenimpulse geregelt. Hier, im physi-schen Leben, wird der volle Gegensatz aufgestellt, indem man dasStaatsleben mit seiner Grundnuance aufstellt, weil uns durch die Ge-burt dasjenige verlorengeht, was in der Seele lebt als Grundimpulse,die von Seele zu Seele das Verhältnis herstellen; weil das verloren-geht, weil wir uns das Gegenteil hier aneignen zwischen Geburtund Tod. Dieses Gegenteil sind die Rechtssatzungen, die existieren;die stellen her, was hergestellt werden muß, das Rechtsverhältnis,weil der Mensch das, was in der übersinnlichen Welt das Verhältnisvon Seele zu Seele angeht, verloren hat. Das sind die beiden Pole:übersinnliches Verhältnis von Seele zu Seele – Staatsverhältnis hierauf dem physischen Plan.

Von Mensch zu Mensch tragen wir in die physische Geisteskultur-welt etwas herein, was uns durch die Geburt als Nachklang bleibt ausder übersinnlichenWelt. Wir breiten gleichsam einen Glanz über dasLeben aus dadurch, daß wir hereinleuchten lassen das, was wir indie Welt hineintragen, indem wir es zu offenbaren suchen in Kunst,Wissenschaft und Erziehung der anderen Menschen. Das ist mit demRechtsleben etwas anderes. Das müssen wir hier begründen auf derphysischen Erde als einen Ersatz für das, was wir in übersinnlicherBeziehung verlieren, indem wir durch die Geburt in das physischeDasein hereinkommen.

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– Vorgeburtliches – Irdisches – Nachtodliches –

Das gibt Ihnen zu gleicher Zeit einen Begriff davon, was gewissereligiöse Urkunden meinen – und Sie wissen, inwiefern religiöseUrkunden immer etwas durchdrungen sind von diesen oder jenenokkulten Wahrheiten –, wenn sie sprechen von dem berechtigten„Fürsten dieserWelt“. Sie meinen, wenn sie davon sprechen: der Staatsoll sich nur ja nicht darauf einlassen, dasjenige verwalten zu wollen,was der Mensch sich durch die Geburt aus der übersinnlichen Weltals deren Abglanz hereinbringt in die physische Welt. Er soll sichdarauf beschränken, den rechtlichen Fürsten auszubilden, der dasgerade Gegenteil hier im Staatsleben ausgestaltet: das Leben, daswir brauchen, weil uns die Impulse der geistigen Welt, indem wirdurch die Geburt gegangen sind, verlorengingen. Das Staatslebenhat die Aufgabe, das auszubilden, was notwendig ist für den Men-schenverkehr in der physischen Welt; es hat nur eine Bedeutung fürdas Leben zwischen Geburt und Tod.

Sehen wir uns das dritte an, das Wirtschaftsleben. Da wird etwas ge-sagt werden müssen, was ganz besonders paradox ist: Wir tauchen,kraß ausgedrückt, gewissermaßen unter in ein Untermenschliches,indem wir uns in das Wirtschaftsleben einlassen. Dadurch aber ziehtimmer etwas vor unsere Seele, indem wir uns in das Untermenschli-che einlassen. Und das können Sie ja spüren. Denken Sie einmal, wiesehr Sie sich anstrengen müssen in sich, aktiv, wenn Sie sich der geis-tigen Kultur hingeben, und wie gedankenlos manche Menschen seinkönnen im bloßen Wirtschaftsleben. Man überläßt sich oftmals denTrieben und Instinkten. Das Wirtschaften geht eben überhaupt ohneviel unmittelbar innerlich aktives Denken vor sich. Aber jedenfalls:wir tauchen unter in ein Untermenschliches. Da bewahrt sich dieSeele innerlich etwas zurück. Geisteswissenschaftlich gesprochenist der Körper mehr angestrengt, wenn wir bei einer materiellenTätigkeit sind, als man sogar gewöhnlich glaubt. Wir müssen, wennwir vom Wirtschaftsleben sprechen, auch von dem Endgliede desWirtschaftsprozesses sprechen, von Essen und Trinken. Wir müssen

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Abgrenzung der drei Glieder

uns klar sein, daß da nicht ein voller Parallelismus ist zwischenleiblicher und geistiger Tätigkeit, daß da der Körper überwiegt inbezug auf die Tätigkeit gegenüber dem Geistig-Seelischen. Aberdieses Geistig-Seelische, das entwickelt dann eine stark unbewußteTätigkeit. Und in dieser unbewußten Tätigkeit liegt ein Keim. DiesenKeim, den tragen wir durch die Pforte des Todes. Die Seele kann ge-wissermaßen ruhen, wenn wir wirtschaften. Das aber, was äußerlichdem Bewußtsein als Ruhe erscheint, das entwickelt einen Keim, derdurch die Pforte des Todes getragen wird. Und entwickeln wir garmoralisch die Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben, wie ich es jetztimmer schildere, dann tragen wir einen guten Keim durch die Pfortedes Todes, gerade durch das, was wir als Mensch dem Menschengegenüber im Wirtschaftsleben entwickeln. Mag es Ihnen materia-listisch erscheinen, wenn ich sage: Gerade in der Brüderlichkeit desWirtschaftslebens legt sich derMensch in die Seele die Keime für seinLeben nach dem Tode, während er in dem, was Geisteskultur ist, vonder Erbschaft desjenigen zehrt, was er hereinbringt aus vorgeburtli-chem Leben, – mag Ihnen das materialistisch erscheinen, es ist wahr,einfach wahr gegenüber der geisteswissenschaftlichen Forschung.Mag es Ihnen materiell erscheinen, daß ich Ihnen sage: Wenn Sieuntertauchen in die Tierheit, sorgt Ihre Menschheit dafür, daß Siedas Übersinnliche für die Zeit nach dem Tode entwickeln – es ist so.Der Mensch ist ein dreigliedriges Wesen. Er hat in seinemWesen einErbgut aus vorgeburtlicher Zeit, er entwickelt etwas, was zwischender Geburt und dem Tode allein Gültigkeit hat, er entwickelt hier inder physischenWelt etwas, durch das er anknüpft das Zukunftslebennach dem Tode an das physische Leben hier. Dasjenige, was hierausgestaltet wird, was hier geoffenbart wird als Lebensglanz undLebenszukunft und Lebensinteresse in der physischen Geisteskultur,das ist ein Erbgut der geistigen Welt, das wir uns hereinbringen indie physische Welt. Indem wir dieses Geistesgut erleben, es rechterleben, erweisen wir uns als Angehörige der geistigenWelt, bringen

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– Vorgeburtliches – Irdisches – Nachtodliches –

in die physische Welt einen Abglanz der übersinnlichen Welt, diewir durchlaufen haben vor unserer Geburt und Empfängnis.

Die abstrakte Wissenschaft, auch die abstrakte Philosophie, redet janatürlich immer im Abstrakten herum. Die redet davon, man müssedie Ewigkeit der Substanz, also das, was von der menschlichen Sub-stanz bei der Geburt vorhanden ist, dann bleibt, und dann wiederumdurch den Tod geht, beweisen. Solche Beweise können nie aus dembloßen Denken gelingen. Die Philosophen haben sie auch immergesucht, aber es hat der Beweis niemals standgehalten gegenüberdem inneren logischen Gewissen, weil die Sache einfach nicht so ist.Mit der Unsterblichkeit verhält es sich nämlich viel geistiger. Nichtsirgendwie Materielles, geschweige denn Substantielles ist in einersolchen Weise vorhanden. Was vorhanden ist, ist das Bewußtsein,das Bewußtsein nach dem Tode, das zurückschaut in diese Welt. Dasist das, was wir betrachten müssen, wenn wir die Unsterblichkeitbetrachten. Wir müssen viel immaterieller werden, als selbst die ab-strakten Philosophen, wenn wir von diesen höheren Dingen reden.Aber die Sache ist so, daß wir das, was ich eben charakterisiert habe,als einen Abglanz der übersinnlichen Welt, den wir offenbaren alsden Schmuck, den Glanz des Lebens hier, daß wir den verbrauchenund neu anknüpfen hier im physischen Leben, daß wir ein neuesKettenglied unseres ewigen Daseins hier anknüpfen müssen, das wirdurch den Tod tragen. Wenn jemand nur an das denkt, was sich fort-setzt in dieses Leben hinein: wenn er konsequent forscht, muß derFaden abreißen; nur wenn er weiß, daß er ein neues Kettenglied an-setzt, das hinausgeht über den Tod, kommt er an die Unsterblichkeitheran.

So ist der Mensch dieses dreigliedrige Wesen. Er entwickelt in sichFähigkeiten, die diesen Abglanz der übersinnlichen Welt in diesesLeben hereintragen. Ein Leben entwickelt er, das die Brücke bildetzwischen dem vorgeburtlichen und dem nachtodlichen Leben, und

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Abgrenzung der drei Glieder

das sich auslebt in all dem, was nur seine Wurzel hat in dem Lebenzwischen Geburt und Tod, was sich äußerlich darstellt in dem äu-ßerlichen Rechts-, Staatsorganismus und so weiter. Und indem eruntertaucht in das Wirtschaftsleben, und indem er in der Lage ist,in diesem Wirtschaftsleben ein Moralisches zu pflanzen, das Brüder-liche, entwickelt er die Keime für das nachtodliche Leben. Das istder dreifache Mensch.

Und denken Sie sich diesen dreifachen Menschen nun seit dem fünf-zehnten Jahrhundert in einer solchen Entwickelungsphase, daß eralles das, was früher instinktiv war, bewußt ausbilden muß. Da-durch ist er heute in die Notwendigkeit versetzt, daß sein äußeressoziales Leben ihm Anhaltspunkte bietet, daß er drinnen stehe mitseiner dreifachen Menschlichkeit in einem dreifachen Organismus.Wir können nur, weil wir drei ganz verschiedene Wesensglieder,das Vorgeburtliche, das Irdischlebendige, das Nachtodliche in unsvereinigen, in dem sozialen Organismus richtig drinnen stehen indrei Gliedern. Sonst kommen wir als bewußte Menschen in einenMißklang mit der übrigen Welt. Und wir werden immer mehr undmehr dahin kommen, wenn wir nicht danach trachten würden, dieseumliegende Welt als dreigliedrigen sozialen Organismus zu gestal-ten.

Sehen Sie, da haben Sie die Sache verinnerlicht. Ich versuche zuzeigen, wie sich der geisteswissenschaftlichen Forschung der Fingerbietet, um den dreigliedrigen sozialen Organismus zu finden; wie ergefunden werden muß aus der menschlichen Natur selber heraus.

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Abgrenzung der drei Glieder

– Geist –– Seele –– Leib –

Wir kommen jetzt zu zwei weiteren Versuchen, die drei Glieder dersozialen Dreigliederung auseinanderzuhalten, die immer wieder Ver-wirrungen gestiftet haben. Aus diesem Grund haben wir sie zunächstzurückgestellt und andere Kriterien vorgezogen, die geeignet sind, ersteinmal die notwendige Klarheit zu schaffen.

Der erste problematische Versuch ist die naheliegende Gleichsetzungvon Geist mit Geistesleben, Seele mit Rechtsleben und Leib mit Wirt-schaftsleben. Sie baut auf die Unterscheidung zwischen Geist, Seeleund Leib auf, wie sie Rudolf Steiner 1904 in seinem Buch „Theosophie“vornimmt, führt aber sehr leicht zu einer Verwechslung zwischen dersozialen Dreigliederung und der alten Ständeordnung. Um diese Ver-wechslung besser zu vermeiden, empfehlen wir daher, zunächst dasKapitel „Abgrenzung der Dreigliederung – Dreigliederung oder Stände-ordnung“ in dieser Zitatensammlung durchzuarbeiten. Weiter hilfreichin diesem Zusammenhang ist die Zitatensammlung „Rudolf Steiner –Natürlicher und sozialer Organismus“, weil dort klar gemacht wird,daß Rudolf Steiner es ausdrücklich ablehnt, das Geistesleben mit demKopf zu vergleichen. Dies hat leider weder Gegner noch Vertreter dersozialen Dreigliederung davon abgehalten, Rudolf Steiner einen solchenVergleich zu unterstellen, während Rudolf Steiner das Geistesleben mitden Gliedmassen vergleicht und damit zeigt, dass es ihm nicht um eineHierarchie der Glieder mit dem Geistesleben als Oberglied geht. Diesoziale Dreigliederung ist eben keine verkappte Theokratie.

Da Rudolf Steiner vor der deutschen Revolution im November 1918auch noch die sozialen Ideale etwas anders zuordnet, als man es vonihm später gewöhnt ist, haben wir uns entschieden, die entsprechendenStellen in die Zitatensammlung „Rudolf Steiner – Freiheit – Gleichheit

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– Geist – Seele – Leib –

– Brüderlichkeit“ aufzunehmen. Nur im Zusammenhang mit anderenAussagen aus der Zeit kann man verstehen, warum Rudolf Steinerdamals den Geist mit der Gleichheit und die Seele mit der Religions-und Gedankenfreit in Verbindung setzt.

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Abgrenzung der drei Glieder

– Fähigkeit –– Mündigkeit –– Bedürftigkeit –

Genauso problematisch, aber besonders beliebt unter Vertretern der so-zialen Dreigliederung ist seit den siebziger Jahren die Unterscheidungzwischen Fähigkeit als Angelpunkt des Geisteslebens, Mündigkeit alsAusgangspunkt des Rechtslebens und der Bedürftigkeit als Begründungdes Wirtschaftslebens. Steiner benutzt zum Teil selber diese Unter-scheidung, um sich von der Diktatur des Proletariats abzusetzen, diezwar Fähigkeiten und Bedürnisse berücksichtigen will, dafür aber dasDemokratische verneint oder verdreht.

Diese Methode der Unterscheidung zwischen Geistesleben, Rechtslebenund Wirtschaftsleben bringt aber ganz neue Fragen mit sich. Kannman von geistigen, seelischen und leiblichen Bedürfnissen immer sa-gen, daß sie durch das Wirtschaftsleben befriedigt werden müssen?Oder werden seelische Bedürfnisse durch das Rechtsleben und geistigeBedürfnisse durch das Geistesleben gedeckt? Haben Bedürfnisse erstdann mit Wirtschaftsleben zu tun, wenn sie durch Waren befriedigtwerden müssen?

Was passiert, wenn man mit den Begriffen Fähigkeit, Mündigkeit undBedürftigkeit hantiert, ohne erst einmal diese Fragen geklärt zu haben,zeigt sich besonders deutlich am Beispiel von Christof Lindenau. Seinesoziale Dreigliederung verkommt zu einer rein geistigen Gliederung,undwirkt gerade deswegen verführerisch aufmanche anthroposophischInteressierten, denen die ursprüngliche soziale Dreigliederung zu äußer-lich vorkommt. Durch die Einbeziehung der Unterscheidung zwischenRatschlag, Gesetz und Vertrag liesse sich eine solche Vereinseitigungleicht vermeiden.

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– Fähigkeit – Mündigkeit – Bedürftigkeit –

Fähigkeiten, Gefühle und Bedürfnisse

Jedem nach seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen alsallgemeines Ideal

Quelle [22]: GA 329, S. 044-045, 1/1985, 11.03.1919, Bern

Nun, die verschiedenen Schattenseiten dieses sozialistischen Staates,die müssen hervortreten. Darüber gibt sich zumBeispiel Lenin keinerTäuschung hin. Das ist auch besser, als wenn man sich, wie so vieleLeute, eben Illusionen hingibt. Aber er arbeitet darauf hin, einensolchen Staat zu gestalten, der Todeskeime in sich trägt, der sichauflöst. Dann kommt erst das wirklich neue Stadium, wo nicht dieArbeit gleich bezahlt wird, sondern wo die Devise gilt: jeder nachseinen Fähigkeiten, jedemnach seinen Bedürfnissen. – Und in diesemAugenblicke, wo das auftritt: jeder nach seinen Fähigkeiten, jedemnach seinen Bedürfnissen –was nicht nur ein sozialistisches, sondernein ganz allgemeines Ideal sein muß -, in dem Augenblick, da machtLenin, ähnlich wie schon Marx, eine sonderbare Bemerkung, dieviel tiefer blicken läßt, als man gewöhnlich blickt. Er macht dieBemerkung: Diese soziale Ordnung, welche nur eintreten kann so,daß jeder nach seinen Bedürfnissen und seinen Fähigkeiten in diegesellschaftliche Ordnung hineingestellt wird, die kann natürlichnicht mit heutigen Menschen erreicht werden; dazu ist ein ganzneuer Menschenschlag notwendig, der erst entstehen muß.

Jedem nach seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen alssozialistische Unmöglichkeit

Quelle [25]: GA 332a, S. 065-066, 2/1977, 25.10.1919, Zürich

Lesen Sie so etwas wie „Staat und Revolution“ von Lenin. Da findenSie aus Vorkriegszeiten heraus – das Buch ist ja schon vorher ge-

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Abgrenzung der drei Glieder

schrieben gewesen – die Intentionen Lenins. Man darf sagen: Leninhat in einem gewissen Sinne sogar Recht, wenn er abkanzelt alle diehalben oder Viertels- oder Dreiviertelsmarxisten und sich schließlichfür den einzig wirklichen, wirklich konsequenten Marxisten hält: Esmüßten die Menschen in der Zukunft in der sozialen Ordnung sogestellt sein, daß jeder darinnen leben kann „nach seinen Fähigkei-ten und seinen Bedürfnissen“. Das müßte erst ein weiterer Zustandwerden, der sich aus dem ungerechten, unmöglichen Zustand er-geben könnte. Nun findet sich bei Lenin eine höchst interessanteAuseinandersetzung, die darauf hinausläuft, daß er sagt: Aber daskann man mit den heutigen Menschen nicht machen, daß sie nachihren Fähigkeiten und Bedürfnissen in der sozialen Ordnung leben,sondern das kann man erst machen, wenn andere Menschen dasein werden, eine ganz andere Menschenrasse. Diese ganz andereMenschenrasse muß erst geschaffen werden. Ja, sehen Sie, da habenSie das Hineinsegeln in die alleräußerste Unwirklichkeit und dasRechnen mit etwas, das ja gar nicht zu erhoffen ist. Denn durch dieZustände, die von Lenin herbeigeführt werden, wird ganz gewißdiese neue Menschensorte nicht gezüchtet, die dann die gerechtensozialen Zustände herbeiführt. Auf so brüchigem Grunde stehen dieIntentionen zu dem, was vorgeht.

Jedem nach seinen Fähigkeiten, Gefühlen und Bedürfnissen

Quelle [25]: GA 332a, S. 081-083, 2/1977, 26.10.1919, Zürich

Es ist wie ein roter Faden, der sich durch alles, was neuere sozialis-tisch Denkende von sich geben, hindurchzieht, daß eine gesellschaft-liche Struktur herbeigeführt werdenmüsse, in welcher die Menschenleben können nach ihren Fähigkeiten und nach ihren Bedürfnissen.Ob das mehr oder weniger grotesk radikal ausgestaltet wird odermehr nach konservativer Gesinnung, darauf kommt es nicht an; wir

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– Fähigkeit – Mündigkeit – Bedürftigkeit –

hören überall: Die Schäden der gegenwärtigen sozialen Ordnungberuhten zum großen Teile darauf, daß der Mensch nicht in der Lagesei, innerhalb der gegenwärtigen gesellschaftlichen Ordnung seineFähigkeiten wirklich voll anzuwenden; auf der anderen Seite, daßdiese gesellschaftliche Ordnung eine solche sei, daß er seine Bedürf-nisse nicht befriedigen könne, namentlich daß nicht eine gewisseGleichmäßigkeit in der Befriedigung der Bedürfnisse herrsche. Mangeht, indem man dieses ausspricht, auf zwei Grundelemente desmenschlichen Lebens zurück. Fähigkeiten, das ist etwas, das sichmehr bezieht auf das menschliche Vorstellen. Denn alle Fähigkeitenentspringen zuletzt beim Menschen, da er bewußt handeln muß, ausseiner Vorstellung, aus seinem Denkwillen. Gewiß, das Gefühl mußfortwährend die Fähigkeiten des Vorstellens anfeuern, sie begeis-tern; aber das Gefühl als solches kann nichts machen, wenn nicht diegrundlegende Vorstellung da ist. Also wenn man von den Fähigkei-ten spricht, auch wenn man von den praktischen Geschicklichkeitenspricht, kommt man zuletzt auf das Vorstellungsleben. Das ging alsoeiner Anzahl von Menschen auf, daß da gesorgt werden müsse dafür,daß der Mensch in der sozialen Struktur sein Vorstellungsleben zurGeltung bringen könne. Das andere, was dann geltend gemacht wird,geht mehr auf das Lebenselement des Wollens im Menschen. DasWollen, das mit dem Begehren, mit der Bedürftigkeit nach diesenoder jenen Erzeugnissen zusammenhängt, ist eine Grundkraft desmenschlichen Wesens. Und wenn man sagt, der Mensch solle lebenkönnen in einer sozialen Struktur nach seinen Bedürfnissen, so siehtman auf das Wollen. Ohne daß sie es wissen, reden also selbst dieMarxisten vom Menschen, indem sie ihre soziale Frage aufwerfenund eigentlich glauben machen möchten, daß sie nur von Einrich-tungen sprechen. Sie sprechen wohl von Einrichtungen, aber dieseEinrichtungen wollen sie so gestalten, daß das Vorstellungsleben,die menschlichen Fähigkeiten, zur Geltung kommen können, unddaß die menschlichen Bedürfnisse gleichmäßig befriedigt werden

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Abgrenzung der drei Glieder

können, so wie sie vorhanden sind. Nun gibt es etwas sehr Eigentüm-liches in dieser Anschauung. In dieser Anschauung kommt nämlichein Lebenselement des Menschen gar nicht zur Geltung, und das istdas Gefühlsleben. Sehen Sie, wenn man sagen würde: Man bezwecke,man wolle erzielen eine soziale Struktur, in der die Menschen lebenkönnen nach ihren Fähigkeiten, nach ihren Gefühlen, nach ihrenBedürfnissen -, so würde man den ganzen Menschen treffen. Aberkurioserweise läßt man, indem man in umfänglicher Weise charak-terisieren will, welches das soziale Ziel für den Menschen ist, dasGefühlsleben des Menschen aus. Und wer das Gefühlsleben in seinerMenschheitsbetrachtung ausläßt, der läßt eigentlich jede Betrach-tung über die wirklichen Rechtsverhältnisse im sozialen Organismusaus. Denn die Rechtsverhältnisse können sich nur so entwickeln imZusammenleben der Menschen, wie sich in diesem Zusammenlebender Menschen Gefühl an Gefühl abstreift, abschleift. So wie die Men-schen gegenseitig zueinander fühlen, so ergibt sich, was öffentlichesRecht ist. Und daher mußte, weil man in der Grundfrage der sozialenBewegung das Lebenselement des Gefühls wegließ, die Rechtsfrageeigentlich, wie ich sagte, in ein Loch fallen, verschwinden. Und eshandelt sich darum, daß man gerade diese Rechtsfrage in das richtigeLicht rückt. Gewiß, man weiß, daß ein Recht vorhanden ist, aberman möchte das Recht bloß als ein Anhängsel der wirtschaftlichenVerhältnisse hinstellen.

Fähigkeiten und Geistesleben

Geistesleben als geistige und körperliche Fähigkeiten

Quelle [1]: GA 023, S. 080-081, 6/1976, 28.04.1919, Stuttgart

In alles, was durch das Wirtschaftsleben und das Rechtsbewußtseinin der Organisation des sozialen Lebens hervorgebracht wird, wirkt

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– Fähigkeit – Mündigkeit – Bedürftigkeit –

hinein, was aus einer dritten Quelle stammt: aus den individuellenFähigkeiten des einzelnen Menschen. Dieses Gebiet umfaßt alles vonden höchsten geistigen Leistungen bis zu dem, was in Menschen-werke einfließt durch die bessere oder weniger gute körperlicheEignung des Menschen für Leistungen, die dem sozialen Organismusdienen. Was aus dieser Quelle stammt, muß in den gesunden sozia-len 0rganismus auf ganz andere Art einfließen, als dasjenige, was imWarenaustausch lebt, und was aus dem Staatsleben fließen kann. Esgibt keine andere Möglichkeit, diese Aufnahme in gesunder Art zubewirken, als sie von der freien Empfänglichkeit der Menschen undvon den Impulsen, die aus den individuellen Fähigkeiten selbst kom-men, abhängig sein zu lassen. Werden die durch solche Fähigkeitenerstehenden Menschenleistungen vom Wirtschaftsleben oder vonder Staatsorganisation künstlich beeinflußt, so wird ihnen die wahreGrundlage ihres eigenen Lebens zum größten Teile entzogen. DieseGrundlage kann nur in der Kraft bestehen, welche die Menschenleis-tungen aus sich selbst entwickeln müssen. Wird die Entgegennahmesolcher Leistungen vom Wirtschaftsleben unmittelbar bedingt, odervom Staate organisiert, so wird die freie Empfänglichkeit für siegelähmt. Sie ist aber allein geeignet, sie in gesunder Form in densozialen Organismus einfließen zu lassen. Für das Geistesleben, mitdem auch die Entwickelung der anderen individuellen FähigkeitenimMenschenleben durch unübersehbar viele Fäden zusammenhängt,ergibt sich nur eine gesunde Entwickelungsmöglichkeit, wenn esin der Hervorbringung auf seine eigenen Impulse gestellt ist, undwenn es in verständnisvollem Zusammenhange mit den Menschensteht, die seine Leistungen empfangen.

Geistesleben von individuellen Fähigkeiten abhängig

Quelle [12]: GA 196, S. 125, 1/1966, 31.01.1920, Dornach

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Abgrenzung der drei Glieder

Das Geistesleben hat aus denselben Prinzipien heraus sich zu verwal-ten, aus denen es fortwährend geschöpft wird. Diejenigen Menschen,die dies oder jenes zu lehren haben, haben auch zu verwalten dieArt und Weise, wie Lehrer angestellt, wie Schulen verwaltet werden.Das Geistesleben soll völlig frei auf sich selbst gestellt werden. Da-durch werden die individuellen menschlichen Fähigkeiten geradeauf dem Gebiet des Geisteslebens fortwährend aufgerufen. Dadurchwird fortwährend dasjenige, was auf dem Gebiet des Geisteslebensentschieden werden soll, abhängig gemacht von den Fähigkeitender Menschen, von den Fähigkeiten derjenigen Menschen, die gera-de in irgendeinem Zeitalter da sind. So soll es aber sein. Es sollennicht diejenigen, die individuell zu diesem oder jenem fähig sindin irgendeinem Zeitalter, durch irgendwelche Staats- oder Parla-mentsinstrumente verhindert werden können, ihre Fähigkeiten zurGeltung zu bringen. Dadurch wird das Geistesleben ganz und garabhängig gemacht von dem Menschen.

Geistesleben als Anwendung von individuellen Fähigkeiten

Quelle [22]: GA 329, S. 025-026, 1/1985, 11.03.1919, Bern

Wie ist Recht und wie ist Aufwendung individueller menschlicherFähigkeiten, die immerzu aufs neue produktiv sein müssen, die ausihrem Urquell imMenschen immer wieder aufs neue hervorkommenmüssen, wie ist Verwertung individueller Fähigkeiten im sozialenOrganismus begründet?

Wer sich einen unbefangenen Blick auf das menschliche Leben be-wahrt hat, der wird allmählich dann zur Einsicht kommen, daß ineinem sozialen Organismus drei ganz verschiedene, ursprünglicheQuellen des menschlichen Lebens zu unterscheiden sind. Diese dreiursprünglichen Quellen des menschlichen Lebens, sie fließen ganznatürlich im sozialen Organismus zusammen, sie wirken zusammen.

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Aber die Art und Weise, wie sie zusammen wirken, wird man nurergründen können, wenn man vermag, auf die Wirklichkeit des Men-schen als solchen hinzuschauen, der eine Einheit, ein einheitlichesWesen innerhalb der sozialen Dreiheit sein muß.

Im sozialen Organismus sind zunächst einmal diese individuellenmenschlichen Fähigkeiten vorhanden. Und wir können ihr Gebietverfolgen von den höchsten geistigen Leistungen des Menschen inder Kunst, in der Wissenschaft, im religiösen Leben bis herab zujener Form der Anwendung individueller menschlicher Fähigkei-ten, wie sie mehr oder weniger im Seelischen oder im Körperlichenbegründet sind, bis zu jener Anwendung individuell-menschlicherFähigkeiten, die im gewöhnlichsten, im materialistischen Prozesseverwendet werden müssen, der auf kapitalistischer Grundlage be-ruht, bis in den Wirtschaftsprozeß hinein, den man gewöhnlich miteinem absprechenden Worte den materiellen Bereich nennt. Bis dahinein läßt sich eine einheitliche Strömung von den sonstigen Geis-tesleistungen herunter verfolgen. Innerhalb dieses Gebietes beruhtdann alles auf der entsprechenden, auf der fruchtbaren Anwendungdessen, was immer von neuem aus den Urquellen der menschlichenNatur herausgehoben werden muß, wenn es in der richtigen Weisehineinfließen soll in den gesunden sozialen Organismus.

Kapital und individuelle Fähigkeiten

Quelle [22]: GA 329, S. 020-021, 1/1985, 11.03.1919, Bern

Das Kapital, die kapitalistische Verwaltung des Wirtschaftslebens,muß man, will man sie ganz klar durchschauen, ganz entschiedentrennen von dem, womit sie heute verbunden ist. Zwei Dinge sindheute mit dem verbunden, was man Kapitalismus nennt: das eineweist auf etwas hin, was von dem Kapitalismus gar nicht ablösbar ist;das andere ist etwas, das von ihm Abstand nehmen muß. Man mengt

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heute in eines zusammen wirtschaftliche Betriebe auf Grundlage desKapitals, und privaten Besitz von Kapital. Die Frage muß aber ge-stellt werden: Sind diese beiden Dinge voneinander lösbar? Denn dieprivate Verwaltung der wirtschaftlichen Betriebe, die aufgebaut istauf die größere oder geringere Intensität individueller menschlicherFähigkeiten, diese private Verwaltung, die zu ihrer Betätigung einesHilfsmittels, des Kapitals, bedarf, die kann nicht aufgehoben werden.Wer irgendwie sich unbefangen bemüht zu fragen, unter welchenVerhältnissen der soziale Organismus lebensfähig ist, wird immerdarauf kommen, sich sagen zu müssen: Dieser soziale Organismus istnicht lebensfähig, wenn ihm seine wichtigste Quelle entzogen wird,nämlich dasjenige, was in ihn hineinfließt durch die individuellenFähigkeiten, die sich in verschiedenen Maßstäben der eine oder derandere Mensch aneignen kann. Was in der Richtung des Kapitalsarbeitet, das muß auch in der Richtung der individuellen mensch-lichen Fähigkeiten arbeiten. Das weist darauf hin, daß in keinerleiArt im Zukunftsstaat trennbar sein kann die notwendige Beigabezum sozialen Leben, die von Seiten der individuellen menschlichenFähigkeiten kommt, von seinem Mittel, dem Kapital.

Etwas anderes aber ist der private Besitz an Kapital, ist das Eigentuman Privatkapital. Dieses Eigentum an Privatkapital, das hat eine an-dere gesellschaftliche Funktion als die Verwaltung der Betriebe, zudenen Kapital notwendig ist, durch die individuellen menschlichenFähigkeiten. Dadurch, daß jemand, wodurch auch immer, Privatkapi-tal erwirbt oder erworben hat, dadurch kommt er zu einer gewissenMacht über andere Menschen. Diese Macht, die zumeist eine wirt-schaftliche Macht sein wird, kann auf keine andere Weise geregeltwerden als dadurch, daß sie in Zusammenhang gebracht wird mitden Rechtsverhältnissen des sozialen Organismus. Dasjenige, wasdem sozialen Organismus wirklich fruchtbare Kräfte zuführt, dasist die Arbeit, die die individuellen Fähigkeiten durch das Kapitalleisten. Dasjenige aber, was den sozialen Organismus schädigt, das

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– Fähigkeit – Mündigkeit – Bedürftigkeit –

ist, wenn Menschen, die selber durch ihre individuellen Fähigkeiteneine solche Arbeit nicht leisten können, dennoch durch irgendwel-che Verhältnisse in dauerndem Besitze von Kapital sind. Denn solchehaben wirtschaftliche Macht. Was heißt es denn: Kapital haben? –Kapital haben heißt: eine Anzahl von Menschen nach seinen Inten-tionen arbeiten zu lassen, Macht haben über die Arbeit einer Anzahlvon Menschen.

Die Gesundung kann nur dadurch herbeigeführt werden, daß alles,was mit dem Mittel des Kapitals erarbeitet werden muß im sozialenOrganismus, nicht abgetrennt wird von der menschlichen Persön-lichkeit mit ihren individuellen Fähigkeiten, die dahinter stehen.Gerade aber durch den Besitz des Kapitals auf seiten solcher Perso-nen, welche nicht ihre individuellen Fähigkeiten in die Verwendungdes Kapitals hineinlegen, gerade dadurch wird immer wieder undwiederum im sozialen Organismus losgelöst das Fruchtbare der Kapi-talwirkung von demjenigen, was Kapital im allgemeinen ist, und wasauch sehr, sehr schädliche Folgen für das soziale Zusammenlebender Menschen haben kann. Das heißt, wir stehen im gegenwärtigen,geschichtlichen Augenblicke der Menschheit vor der Notwendig-keit, daß abgetrennt werden muß der Besitz des Kapitals von derVerwaltung des Kapitals.

Unternehmertätigkeit als Gebrauch individuellerFähigkeiten

Quelle [1]: GA 023, S. 094-095, 6/1976, 28.04.1919, Stuttgart

Man muß in dem sozialen Verhältnis, das in dem Zusammenwirkenvon Kapital und menschlicher Arbeitskraft entsteht, drei Gliederunterscheiden: die Unternehmertätigkeit, die auf der Grundlage derindividuellen Fähigkeiten einer Person oder einer Gruppe von Per-sonen beruhen muß; das Verhältnis des Unternehmers zum Arbeiter,

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Abgrenzung der drei Glieder

das ein Rechtsverhältnis sein muß; das Hervorbringen einer Sache,die im Kreislauf des Wirtschaftslebens einen Warenwert erhält. DieUnternehmertätigkeit kann in gesunder Art nur dann in den sozialenOrganismus eingreifen, wenn in dessen Leben Kräfte wirken, welchedie individuellen Fähigkeiten der Menschen in der möglichst bestenArt in die Erscheinung treten lassen. Das kann nur geschehen, wennein Gebiet des sozialen Organismus vorhanden ist, das dem Fähigendie freie Initiative gibt, von seinen Fähigkeiten Gebrauch zu ma-chen, und das die Beurteilung des Wertes dieser Fähigkeiten durchfreies Verständnis für dieselben bei andern Menschen ermöglicht.Man sieht: die soziale Betätigung eines Menschen durch Kapitalgehört in dasjenige Gebiet des sozialen Organismus, in welchem dasGeistesleben Gesetzgebung und Verwaltung besorgt.

Eigentum befristet da individuelle Fähigkeiten ausVergangenheit

Quelle [23]: GA 330, S. 097, 2/1983, 25.04.1919, Stuttgart

In unserer heutigen Wirtschaftsordnung haben wir nur auf einemGebiete ein bißchen gesundes Denken mit Bezug auf das Eigentum.Das ist auf demjenigen Gebiet, das der modernen bürgerlichen Phra-seologie, der modernen bürgerlichen Unwahrhaftigkeit innerlichdoch nach und nach das unbedeutendste Eigentum geworden ist, esist nämlich das geistige Eigentum. In bezug auf dieses geistige Eigen-tum, sehen Sie, denken die Leute doch noch ein bißchen gesund. Siesagen sich da: Mag einer ein noch so gescheiter Kerl sein, er bringtsich mit der Geburt seine Fähigkeiten mit, aber das hat keine sozialeBedeutung, im Gegenteil, das ist er verpflichtet der menschlichenGesellschaft darzubringen, mit diesen Fähigkeiten wäre es nichts,wenn der Mensch nicht drinnenstehen würde in der menschlichenGesellschaft. Der Mensch verdankt, was er aus seinen Fähigkeiten

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schaffen kann, der menschlichen Sozietät, der menschlichen sozialenOrdnung. Es gehört einem in Wahrheit nicht. Warum verwaltet mansein sogenanntes geistiges Eigentum? Bloß deshalb, weil man eshervorbringt; dadurch, daß man es hervorbringt, zeigt man, daßman die Fähigkeiten dazu besser hat als andere. So lange man dieseFähigkeiten besser hat als andere, so lange wird man im Dienste desGanzen am besten dieses geistige Eigentum verwalten. Nun sind dieMenschen wenigstens darauf gekommen, daß sich nicht endlos fort-erbt dieses geistige Eigentum; dreißig Jahre nach dem Tode gehörtdas geistige Eigentum der gesamten Menschheit. Jeder kann dreißigJahre nach meinem Tode drucken, was ich hervorgebracht habe; mankann es in beliebiger Weise verwenden, und das ist recht. Ich wäresogar einverstanden, wenn noch mehr Rechte wären auf diesemGebiet. Es gibt keine andere Rechtfertigung dafür, daß man geistigesEigentum zu verwalten hat, als daß man, weil man es hervorbringenkann, auch die besseren Fähigkeiten hat. Fragen Sie heute den Ka-pitalisten, ob er einverstanden ist, für das ihm wertvolle materielleEigentum einzugehen auf das, was er für das geistige Eigentum fürdas Richtige hält! Fragen Sie ihn! Und doch ist das das Gesunde.

Kein demokratischer Gesamtwille bei individuellenFähigkeiten

Quelle [2]: GA 024, S. 206-207, 2/1982, 07.1919

Die sozialen Verhältnisse, über die jeder mündig gewordene Menschurteilsfähig ist, sind die Rechtsbeziehungen von Mensch zu Mensch.Es sind dies zugleich diejenigen Lebensverhältnisse, die ihren sozia-len Charakter nur dadurch erhalten können, daß sie in demokrati-schen Einrichtungen sich als ein Gesamtwille aus dem wirklichenZusammenwirken der gleichen menschlichen Einzelwillen ergeben.Bei allem, was auf dem Boden der individuellen menschlichen Fä-

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Abgrenzung der drei Glieder

higkeiten erwachsen soll, kann nicht ein Gesamtwille in den Ein-richtungen zum Ausdruckkommen; sondern diese Einrichtungenmüssen solche sein, in denen die Einzelwillen sich voll zur Geltungbringen können. Der einzelne Mensch muß gewissermaßen wie eineNaturgrundlage sich verhalten können. Man kann nicht über eineLandfläche hin aus Bedürfnissen heraus, die abgesehen von deneinzelnen Teilen dieser Landfläche gefaßt sind, diese bewirtschaften;man muß aus dem Wesen der einzelnen Teile kennenlernen, was siebesonders hervorbringenkönnen. So muß auf geistigem Gebiete dieauf den individuellen Fähigkeiten beruhende Einzelinitiative sichsozial auswirken können; sie darf nicht bestimmt werden durch denInhalt eines Gesamtwillens. Dieser Gesamtwille muß unsozial wir-ken, denn er entzieht der Gemeinschaft die Früchte der individuellenmenschlichen Fähigkeiten.

Bedürfnisse und Wirtschaftsleben

Produktion soll sich den Bedürfnissen anpassen

Quelle [1]: GA 023, S. 131, 6/1976, 28.04.1919, Stuttgart

Der rein wirtschaftliche Wert einer Ware (oder eines Geleisteten),insofern er sich ausdrückt in dem Gelde, das seinen Gegenwertdarstellt, wird von der Zweckmäßigkeit abhängen, mit der sich in-nerhalb des Wirtschaftsorganismus die Verwaltung der Wirtschaftausgestaltet. Von den Maßnahmen dieser Verwaltung wird es abhän-gen, inwiefern auf der geistigen und rechtlichen Grundlage, welchevon den andern Gliedern des sozialen Organismus geschaffen wird,die wirtschaftliche Fruchtbarkeit sich entwickeln kann. Der Geld-wert einer Ware wird dann der Ausdruck dafür sein, daß diese Warein der den Bedürfnissen entsprechenden Menge durch die Einrich-tungen des Wirtschaftsorganismus erzeugt wird. Würden die in

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dieser Schrift dargelegten Voraussetzungen verwirklicht, so wirdim Wirtschaftsorganismus nicht der Impuls ausschlaggebend sein,welcher durch die bloße Menge der Produktion Reichtum ansam-meln will, sondern es wird durch die entstehenden und sich in dermannigfaltigsten Art verbindenden Genossenschaften die Güterer-zeugung sich den Bedürfnissen anpassen. Dadurch wird das diesenBedürfnissen entsprechende Verhältnis zwischen dem Geldwert undden Produktionseinrichtungen im sozialen Organismus hergestellt.

Wirtschaft befriedigt menschliche Bedürfnisse

Quelle [1]: GA 023, S. 015, 6/1976, 1920

Die Wirtschaft setzt sich im neueren Menschenleben zusammen ausWarenproduktion, Warenzirkulation und Warenkonsum. Durch siewerden die menschlichen Bedürfnisse befriedigt; innerhalb ihrerstehen die Menschen mit ihrer Tätigkeit. Jeder hat innerhalb ihrerseine Teilinteressen; jeder muß mit dem ihm möglichen Anteil vonTätigkeit in sie eingreifen. Was einer wirklich braucht, kann nurer wissen und empfinden; was er leisten soll, will er aus seinerEinsicht in die Lebensverhältnisse des Ganzen beurteilen. Es ist nichtimmer so gewesen, und ist heute noch nicht überall so auf der Erde;innerhalb des gegenwärtig zivilisierten Teiles der Erdbevölkerungist es im wesentlichen so.

Menschliche Bedürfnisse sind international

Quelle [25]: GA 332a, S. 200-201, 2/1977, 30.10.1919, Zürich

Nun, ebenso wie es wahr ist, daß man, wenn man nur tief genugin die menschliche Natur hinuntergeht, mit der Entwickelung desMenschen bis zu einer objektiven Höhe hinaufsteigen kann, so daß

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man als Geistanschauung findet, was jeder andere jeder anderenNation findet, so muß man sagen, daß auch die menschlichen Kon-sumbedürfnisse über die ganze Welt hin nicht berührt werden vonden einzelnen Nationalismen. Die menschlichen Bedürfnisse sind in-ternational. Nur stehen sie polarisch gegenüber demjenigen, was dasInternationale des Geistes ist. Das Internationale des Geistes mußdas Verständnis liefern, muß in Liebe durchdringen können diesesVerständnis für die andere Nationalität, muß die Liebe ausdehnenkönnen bis zur Internationalität im Sinne des vorhin Auseinanderge-setzten. Der Egoismus aber ist ebenso international. Er wird nur eineBrücke schaffen können zu der Weltproduktion, wenn diese Welt-produktion aus einem gemeinsamen geistigen Verständnis, aus einergemeinsamen geistigen Einheitsanschauung hervorgeht. Niemalswerden aus den Volksegoismen heraus Verständnisse für die gemein-same Konsumtion entstehen können, die auf dem gemeinsamenEgoismus beruht. Allein aber aus der gemeinsamen Geistanschau-ung kann sich das entwickeln, was nicht aus dem Egoismus, wasschließlich aus der Liebe kommt, wie ich auseinandergesetzt habe,und was daher die Produktion beherrschen kann.

Wodurch ist die Forderung nach Weltwirtschaft entstanden? Weildurch das Kompliziertwerden der menschlichen Lebensverhältnisseüber die ganze zivilisierte Welt hin immer mehr und mehr sich dieKonsumbedürfnisse der Menschen vereinheitlicht haben, sich immermehr und mehr zeigt, wie über die ganze zivilisierte Welt hin dieMenschen dasselbe bedürfen. Wie wird diesem einheitlichen Bedürf-nisse ein einheitliches Produktionsprinzip erwachsen können, dasüber die ganze Welt hin für die Weltwirtschaft wirksam sein wird?Dadurch, daß man aufsteigt zum geistigen Leben, so wie es hiergemeint ist, zur wirklichen Geistanschauung, die mächtig genug ist,um zur gemeinsamen Weltkonsumtion die gemeinsame Weltproduk-tion zu schaffen. Dann aber wird der Ausgleich geschaffen werdenkönnen, indem Einheit des Geistes zur Einheit der Konsumtion hin-

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wirkt, dann wird der Ausgleich geschaffen werden in der Zirkulation,in der Vermittelung zwischen Produktion und Konsumtion.

Wirtschaftsleben befriedigt menschliche Bedürfnisse nachWaren

Quelle [1]: GA 023, S. 068-069, 6/1976, 28.04.1919, Stuttgart

Tragen die Menschen diejenigen Interessen, denen sie in ihremWirt-schaftsleben dienen müssen, in die Gesetzgebung und Verwaltungdes Rechtsstaates hinein, so werden die entstehenden Rechte nur derAusdruck dieser wirtschaftlichen Interessen sein. Ist der Rechtsstaatselbst Wirtschafter, so verliert er die Fähigkeit, das Rechtsleben derMenschen zu regeln. Denn seine Maßnahmen und Einrichtungenwerden dem menschlichen Bedürfnisse nach Waren dienen müs-sen; sie werden dadurch abgedrängt von den Impulsen, die auf dasRechtsleben gerichtet sind.

Warenpreis soll Kosten sämtlicher Bedürfnisse derProduzenten decken

Quelle [1]: GA 023, S. 131-132, 6/1976, 28.04.1919, Stuttgart

Nur durch eine Verwaltung des sozialen Organismus, die in dieserArt zustande kommt im freien Zusammenwirken der drei Glieder dessozialen Organismus, wird sich als Ergebnis für dasWirtschaftslebenein gesundes Preisverhältnis der erzeugten Güter einstellen. Diesesmuß so sein, daß jeder Arbeitende für ein Erzeugnis so viel an Ge-genwert erhält, als zur Befriedigung sämtlicher Bedürfnisse bei ihmund den zu ihm gehörenden Personen nötig ist, bis er ein Erzeugnisder gleichen Arbeit wieder hervorgebracht hat. Ein solches Preis-verhältnis kann nicht durch amtliche Feststellung erfolgen, sondern

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es muß sich als Resultat ergeben aus dem lebendigen Zusammen-wirken der im sozialen Organismus tätigen Assoziationen. Aber eswird sich einstellen, wenn das Zusammenwirken auf dem gesundenZusammenwirken der drei Organisationsglieder beruht. Es muß mitderselben Sicherheit sich ergeben, wie eine haltbare Brücke sichergeben muß, wenn sie nach rechten mathematischen und mechani-schen Gesetzen erbaut ist. Man kann natürlich den naheliegendenEinwand machen, das soziale Leben folge nicht so seinen Geset-zen wie eine Brücke. Es wird aber niemand einen solchen Einwandmachen, der zu erkennen vermag, wie in der Darstellung dieses Bu-ches dem sozialen Leben eben lebendige und nicht mathematischeGesetze zugrunde liegend gedacht werden.

Je differenzierter die Bedürfnisse, je schwieriger diePreisbildung

Quelle [32]: GA 340, S. 104, 5/1979, 30.07.1922, Dornach

Innerhalb der Arbeitsteilung entstehen ja immer differenziertere unddifferenziertere Erzeugnisse. Sie brauchen sich nur zu erinnern, wieeinfach die Erzeugnisse sind, die, sagen wir, innerhalb eines Jäger-volks entstehen, das ganz von der Forstwirtschaft lebt. Da kommteigentlich noch nicht viel in Betracht von der Schwierigkeit derPreisbildung. Wenn sich zur Forstwirtschaft die Landwirtschaft hin-zugesellt, da beginnt es aber schon mit der Schwierigkeit. In derDifferenzierung liegt nämlich die Schwierigkeit. Und je weiter undweiter sich die Arbeitsteilung ausbreitet und damit neue Bedürfnisseerzeugt werden, in demselben Maße nimmt die Differenzierung derProdukte zu und in demselbenMaße häufen sich die Schwierigkeitender Preisbildung; denn je verschiedener die Produkte, die Erzeug-nisse voneinander sind, desto schwerer wird es, die gegenseitigeBewertung – und sie kann nur eine gegenseitige sein – zu bewirken.

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Marktprinzip läßt menschliche Bedürfnisse verkümmern

Quelle [2]: GA 024, S. 265, 2/1982, 01.1920

Es ist durchaus begreiflich, daß manche Menschen zu solchen Aus-führungen sagen: wozu das alles, da doch schließlich dermenschlicheBedarf der Herr aller Produktion ist und zum Beispiel niemand zurKreditgewährung oder Kreditentgegennahme kommen kann, wennnicht aus irgendeiner Ecke heraus ein Bedarf die Sache rechtfertigt.Man könnte sogar sagen: schließlich ist doch alles, was da übersoziale Einrichtungen erdacht wird, nichts weiter als ein bewuß-tes Gestalten dessen, was sicher auch automatisch „Angebot undNachfrage“ regeln. Wer aber genauer zusieht, dem wird durchsich-tig werden, daß es bei den Auseinandersetzungen über die sozialeFrage, die von der Idee der Dreigliederung des sozialen Organismusausgehen, nicht darauf ankommt, an die Stelle des freien Verkehrsim Zeichen von Angebot und Nachfrage eine Zwangswirtschaft zusetzen, sondern darauf, die gegenseitigen Werte der Lebensgüterso zu gestalten, daß im wesentlichen der Wert eines Menschener-zeugnisses dem Werte der anderen Güter entspricht, für welche derErzeuger in der Zeit Bedarf hat, die er auf die Erzeugung verwen-det. Ob man bei kapitalistischer Orientierung ein Gut erzeugen will,darüber mag die Nachfrage entscheiden; ob ein Gut erzeugt werdenkann zu einem Preise, der seinem Werte im gekennzeichneten Sinneentspricht, darüber kann nicht die Nachfrage allein entscheiden.Diese Entscheidung kann nur durch Einrichtungen bewirkt werden,durch die aus dem ganzen sozialen Organismus heraus die Bewer-tung der einzelnen Lebensgüter zustande kommt. Wer bezweifelnwill, daß solche Einrichtungen erstrebenswert seien, der hat keinAuge dafür, daß bei dem bloßen Walten von Angebot und Nachfra-ge menschliche Bedürfnisse verkümmern, deren Befriedigung dieZivilisation eines sozialen Organismus erhöht; und ihm fehlt derSinn für ein Streben, das die Befriedigung solcher Bedürfnisse in

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die Antriebe des sozialen Organismus einfügen will. In dem Schaf-fen des Ausgleichs zwischen den menschlichen Bedürfnissen unddem Werte der menschlichen Leistungen sieht das Streben nach derDreigliederung des sozialen Organismus seinen Inhalt.

Wirtschaftsleben soll alle Bedürfnisse befriedigen

Quelle [2]: GA 024, S. 473, 2/1982, 01.1921

In das Wirtschaftsleben gehört dann nur nochWarenerzeugung, Wa-renverteilung und Warenverbrauch, die auf „assoziativer Grundlage“von Sachverständigen zu verwalten sind. Ungehindert von staatli-chen und politischen Machtverhältnissen werden die Produzentenund Konsumenten der verschiedenen Länder in gemeinsamer Arbeitdie Befriedigung aller Bedürfnisse regeln.

Den rechtmäßigen Bedürfnissen Rechnung tragen

Quelle [2]: GA 024, S. 061-063, 2/1982, 09.1919

An den unfruchtbaren Diskussionen, die gegenwärtig in vielen Krei-sen über die Betriebsräte gepflogen werden, kann man deutlichwahrnehmen, wie wenig noch Verständnis vorhanden ist für dieForderungen, die der Menschheit aus ihrer geschichtlichen Entwi-ckelung heraus für Gegenwart und nächste Zukunft erwachsen sind.Von der Einsicht, daß in Demokratie und sozialer Lebensgestaltungzwei im Menschenwesen der neueren Zeit selbst liegende Antriebesich ausleben wollen, davon ahnen die meisten von denen, die insolchen Diskussionen mitreden, nichts. Beide Antriebe werden solange beunruhigend und zerstörend im öffentlichen Leben wirken,bis man es zu Einrichtungen bringt, in denen sie sich entfalten kön-nen, aber der soziale Antrieb, der imWirtschaftskreislauf wird leben

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müssen, kann sich, seinem Wesen nach, nicht demokratisch offenba-ren. Ihm kommt es darauf an, daß die Menschen im wirtschaftlichenProduzieren den rechtmäßigen Bedürfnissen ihrer MitmenschenRechnung tragen. Eine von diesem Antrieb geforderte Regelung desWirtschaftskreislaufes muß auf das gebaut sein, was die wirtschaf-tenden Personen füreinander tun. Diesem Tun aber müssen Verträgezugrunde liegen, die herauswachsen aus denwirtschaftlichen Positio-nen der wirtschaftenden Menschen. Zum Abschluß dieser Verträgeist, wenn sie sozial wirken sollen, zweierlei nötig. Erstens müssen sieentspringen können aus der freien, auf Einsicht ruhenden Initiativeder Einzelmenschen; zweitens müssen diese einzelnen Menschenin einem Wirtschaftskörper leben, in dem die Möglichkeit gegebenist, durch solche Verträge die Leistung des Einzelnen in der denkbarbesten Weise der Gesamtheit zuzuführen. Die erste Forderung kannnur erfüllt werden, wenn sich kein politisch gearteter Verwaltungs-einfluß zwischen den wirtschaftendenMenschen und sein Verhältniszu den Quellen und Interessen des Wirtschaftslebens stellt. Der zwei-ten Forderung wird Rechnung getragen, wenn Verträge nicht nachden Forderungen des ungeregelten Marktes, sondern nach den Be-dingungen geschlossen werden, die sich ergeben, indem sich denBedürfnissen gemäß Betriebszweige untereinander und mit Konsum-genossenschaften assoziieren, so daß die Warenzirkulation im Sinnedieser Assoziationen verläuft. Durch das Bestehen dieser Assoziatio-nen ist den wirtschaftenden Personen der Weg vorgezeichnet, densie in jedem einzelnen Falle zur vertraglichen Regelung ihrer Tätig-keit nehmen sollen. Für ein in dieser Art gestaltetesWirtschaftslebengibt es kein Parlamentarisieren. Es gibt nur das fachkundige undfachtüchtige Stehen in einem Betriebszweige und das Verbundenseinder eigenen Position mit andern in der sozial zweckmäßigstenWeise.Was innerhalb eines solchen Wirtschaftskörpers geschieht, das wirdnicht durch „Abstimmungen“ geregelt, sondern durch die Spracheder Bedürfnisse, die durch ihr eigenes Wesen auf das eingeht, was

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durch den fachkundigsten und fachtüchtigsten Menschen geleistetund durch föderativen Zusammenschluß an den rechten Ort seinesVerbrauches geleitet wird.

Menschliche Bedürfnisse bisher durch Recht undKonkurrenz geregelt

Quelle [23]: GA 330, S. 235, 2/1983, 31.05.1919, Stuttgart

Unter der alten aristokratischenWeltordnung, die auf der Eroberungdes Bodens beruhte, war alles dasjenige, was an Leistungen unterden Menschen ausgetauscht wurde, in die Rechtssphäre gerückt. Ab-gaben hatte man zu leisten an den Gutsherrn; zurückbehalten durfteman als Arbeiter soundsoviel. Das alles war in die Rechtssphäregerückt. Ein Recht hatte man, soundsoviel selbst zu verzehren, einePflicht hatte man, weil der andere das Recht hatte, soundsoviel vondem zu verzehren, was man hervorbrachte in seinem Dienste. Rechtregelte in der alten aristokratischen Ordnung, das heißt Vorrecht,Klassenrecht regelte, was menschliche Bedürfnisse waren. Vielesvon dem tönt im Nachklang in unsere Zeit herein und schwingt fortbis zu dem Zehnpfennigstück, das ich aus dem Portemonnaie nehme,um mir irgend etwas zu kaufen. Und in dieses Getön tönt das anderehinein, was an die Stelle dieser alten Rechtsordnung getreten ist. Estönt hinein, was Kapital, Menschenarbeit und Leistung zur Waremachte, geregelt durch Angebot und Nachfrage, sich selbst regelnddadurch nach der Rentabilität, nach der wüsten Konkurrenz, nachdem Blindesten menschlichen Egoismus, unter dessen Einfluß jederso viel erwerben will, als er aus der gesellschaftlichen Ordnung her-auspressen kann. Und so trat an die Stelle der alten Rechte das, wassich abspielte durch die wirtschaftliche Macht und den wirtschaft-lichen Zwang. An die Stelle der Bevorrechteten und der rechtlichBenachteiligten des alten patriarchalischen Herrschafts- und Die-

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nerverhältnisses trat das wirtschaftliche Verhältnis des Bürgertums,sich gründend auf den Konkurrenzkampf, auf die Rentabilität, aufdas wirtschaftliche Zwangsverhältnis zwischen Kapital und Lohn,in welches Verhältnis eingezwängt ist der Warenaustausch, einge-zwängt ist alle Preisgestaltung, die abhängig ist von dem egoistischenKapital und Lohnkampf.

Keine Beurteilung der Berechtigung von Bedürfnissen

Quelle [2]: GA 024, S. 216-217, 2/1982, 07.1919

Der sozial richtige Wert eines Gutes (einer Ware) kann sich nurim Vergleich mit anderen Gütern ergeben. Er muß gleich sein demWert aller anderen Güter, welche der Hersteller zur Befriedigungseiner Bedürfnisse braucht bis zu dem Zeitpunkte, in dem er eingleiches Gut wieder hergestellt hat, unter Berücksichtigung derje-nigen Bedürfnisse, die durch ihn bei anderen Menschen befriedigtwerden müssen. (In die letzteren Bedürfnisse sind einzurechnen zumBeispiel die seiner Kinder, der Teil, den er zur Erhaltung erwerbsun-fähiger Menschen zu leisten hat usw.) Daß ein solcher Güterwertzustande komme, muß durch die Einrichtungen eines gesundenWirt-schaftslebens vermittelt werden. Diese Einrichtungen können nurdurch ein Netz von Korporationen geschaffen werden, welche ausden Erfahrungen der Konsumtion die Produktion regeln. Es kannselbstverständlich nicht von einer Beurteilung der Berechtigungvon Bedürfnissen die Rede sein, sondern nur von einer durch diewirtschaftliche Erfahrung und die wirklichen wirtschaftlichen Ver-hältnisse gestützten Vermittelung zwischen Konsum und Produktion.Entstehende Bedürfnisse, die von der Gesamtheit eines Wirtschafts-kreises nicht getragen werden können, werden keinen Gegenwertfinden können in den Gütern, welche derjenige herstellt, der dieBedürfnisse hat.

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Produktion soll sich auch ungerechtfertigten Bedürfnissenanpassen

Quelle [23]: GA 330, S. 038, 2/1983, 22.04.1919, Stuttgart

In derselben Gesellschaft, die, wie gesagt, viele von Ihnen nicht lie-ben werden, versuchte ich auch immer das wirtschaftliche Elementder geistigen Produktion auf eine gesunde Basis zu stellen. Beden-ken Sie nur einmal, auf welcher ungesunden Basis, wirtschaftlichgedacht, die heutige geistige Produktion vielfach steht. Sie ist indieser Beziehung wahrhaftig mustergültig für das, was auch aufden breitesten Gebieten unseres Wirtschaftslebens nicht herrschensollte. Der oder jener – nun, wer ist denn heute nicht Schriftsteller?– schreibt ein Buch oder Bücher. Solch ein Buch wird in der Auflagevon tausend Exemplaren gedruckt. Nun gibt es heute wahrhaftigrecht viele Bücher, die in solcher Auflage gedruckt werden, vondenen aber etwa fünfzig verkauft werden, die anderen werden ma-kuliert. Was ist da eigentlich geschehen, wenn 950 Bücher makuliertwerden? Da haben soundso viele Setzer, soundso viele Buchbinderunproduktiv gearbeitet, es wurde Arbeit geleistet, zu der nicht dasgeringste Bedürfnis vorlag. Das geschieht auf dem geistigen Gebietin bezug auf das Wirtschaftsleben, in bezug auf das Materielle. Ichglaubte, daß das Gesunde dieses sei: daß selbstverständlich zuerstdie Bedürfnisse geschaffen werden müssen. Und innerhalb dieserGesellschaft, die mit Recht oder mit Unrecht viele von Ihnen nichtlieben, ist die Notwendigkeit eingetreten, eine solche Buchhandlungzu begründen, wo ein Buch nur dann erscheint, wenn man sicherist, daß es Abnehmer findet, wo nur so viel Exemplare produziertwerden, als Bedürfnis da ist, so daß nicht menschliche Arbeit vonSetzern und Buchbindern in das Nichts zersplittert wird, sondern wodas, was geschaffen wird, den menschlichen Bedürfnissen, die manmeinetwillen unrecht finden mag, angepaßt ist. Und das ist es, waszu geschehen hat, daß die Produktion den Bedürfnissen angepaßt

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werden muß. Das kann aber nur geschehen, wenn auf Grundlagevon Assoziationen in der geschilderten Art das Wirtschaftslebenaufgebaut wird.

Nationalismus wie menschliche Bedürfnisse eine Form desEgoismus

Quelle [25]: GA 332a, S. 187-190, 2/1977, 30.10.1919, Zürich

Über die ganze Welt hin wird das, was die Menschen in ihrem Zu-sammenleben, in ihrem Zusammenarbeiten entwickeln, von zweiImpulsen beherrscht, von zwei Impulsen, über die es vor allen Din-gen notwendig wäre, daß Wahrheit in uns Menschen herrsche, einewahre, eine ungeschminkte, eine nicht durch allerlei Schlagworteverunzierte Auffassung. Zwei Impulse leben in der menschlichenSeele, die wie Nord- und Südpol eines Magneten sich zueinanderverhalten. Diese zwei Impulse sind Egoismus und Liebe. Weitver-breitet ist allerdings die Anschauung, ethisch sei es nur, wenn derEgoismus überwunden werde durch die Liebe, und wenn die Men-schen sich so entwickeln, daß an die Stelle des Egoismus lautereLiebe trete. Als eine ethische Forderung, heute auch als eine sozialeForderung ist das bei vielen vorhanden. Verständnis, was eigentlichfür ein Kraftgegensatz besteht zwischen Egoismus und Liebe, das istdurchaus weniger heute vorhanden.

Wenn wir vom Egoismus sprechen, so müssen wir vor allen Dingenwissen, daß dieser Egoismus für den Menschen mit seinen leiblichenBedürfnissen beginnt. Was aus des Menschen leiblichen Bedürfnis-sen hervorquillt, können wir nicht anders verstehen, als wenn wir esuns in die Sphäre des Egoismus gerückt denken. Wessen der Menschbedarf, das geht aus seinem Egoismus hervor. Nun muß man sichdurchaus denken, daß dieser Egoismus auch veredelt sein könnte,und deshalb ist es nicht gut, gerade auf diesem Gebiete mit irgend-

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welchen Schlagworten seine Anschauungen zu bilden. Dadurch, daßman sagt, es solle der Egoismus durch Liebe überwunden werden,hat man noch nicht viel für das Verständnis des Egoismus getan.Denn es handelt sich zum Beispiel darum, daß derjenige, welcherseinen Mitmenschen das reine menschliche Interessenverständnisentgegenbringt, anders handelt als derjenige, der enge Interessenhat, der sich nicht kümmert um das, was in den Seelen und Herzendieser Mitmenschen lebt, der kein Interesse für seine Umgebung hat.Deshalb braucht der erstere, der wahres Verständnis für seine Mit-menschen hat, durchaus nicht schon dadurch unegoistischer zu seinim Leben, denn es kann gerade zu seinem Egoismus gehören, nunden Menschen zu dienen. Das kann ihm innerliches Wohlbehagenmachen, das kann ihm sogar innerlichesWohlgefühl, Wollust hervor-rufen, dem Dienst der Menschen sich hinzugeben. Und dann könnenfür das äußere Leben in objektiver Weise durchaus altruistische Le-bensäußerungen aus einem scheinbaren Egoismus hervorkommen,der aber im Gefühlsleben durchaus nicht anders gewertet werdenkann als ein Egoismus.

Aber die Frage des Egoismus muß noch viel weiter ausgedehntwerden. Man muß den Egoismus auch verfolgen durch das ganzeSeelen- und Geistesleben des Menschen. Man muß sich klar dar-über sein, wie aus des Menschen innerer Wesenheit heraus genauebenso entspringt das Geistige und Seelische auf manchen Gebie-ten, wie die leiblichen Bedürfnisse. So entspringt aus des MenschenWesenheit heraus zum Beispiel alles, was sein Phantasieschaffenist. Es entspringt aus des Menschen Wesenheit heraus, was er aufkünstlerischem Gebiete schafft. Wenn man unbefangen zu Werkegeht und richtiges Verständnis sucht für solche Sachen, dann wirdman sagen müssen: Was des Menschen Phantasie schafft, was ausunbestimmten Untergründen seines Wesens hervorkommt, das hatdenselben Ursprung, nur auf einer höheren Stufe, wie die leiblichenBedürfnisse. Das Phantasieleben, das entfaltet wird zum Beispiel in

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der Kunst, beruht durchaus, subjektiv angesehen, auf innerer Befrie-digung des Menschen, auf einer Befriedigung, die feiner, edler ist alszum Beispiel die Befriedigung des Hungers, die aber qualitativ fürden Menschen selbst nicht davon verschieden ist, wenn auch das,was dadurch hervorgebracht wird, für die Welt zunächst eine andereBedeutung hat. Nun aber ist aller Egoismus des Menschen daraufangewiesen, daß der Mensch mit seinen Mitmenschen sich abfindet,daß der Mensch mit seinen Mitmenschen zusammenlebt und zu-sammenarbeitet. Der Egoismus selber erfordert das Zusammenlebenund Zusammenwirken mit den anderen Menschen. Und so ist auchvieles von dem, was wir gemeinschaftlich mit anderen Menschenentwickeln, durchaus auf den Egoismus gebaut und kann sogar zuden edelsten Tugenden des Menschen gehören. Wir sehen die Mut-terliebe an: sie ist durchaus auf den Egoismus der Mutter begründet,und sie wirkt Edelstes aus im Zusammenleben der Menschheit.

So aber auch dehnt sich das, was eigentlich im Egoismus gegründetist, weil der Mensch des Menschen bedarf gerade für seinen Egois-mus, auf das Zusammenleben in der Familie, so dehnt es sich ausauf das Zusammenleben im Stamme, so dehnt es sich aus auf dasZusammenleben in der Nation, im Volke. Und die Art undWeise, wiesich der Mensch im Volke, in der Nation findet, sie ist nichts anderesals ein Spiegelbild desjenigen, was egoistisch aus ihm hervorkommt.Da wird in der Vaterlandsliebe, im Patriotismus der Egoismus gewißauf eine hohe Stufe heraufgehoben, da wird er veredelt, da wird erso, daß er als ein Ideal erscheint, mit Recht als ein Ideal erscheint.Aber dieses Ideal wurzelt doch im menschlichen Egoismus. Nunmuß dieses Ideal aus dem menschlichen Egoismus ersprießen undsich erfüllen, damit alles, was aus der Produktivität eines Volkes her-vorgehen könne, eben der Menschheit übergeben werden kann. Undso sehen wir, wie aus dem Impuls der einzelnen menschlichen Seele,aus dem Egoismus, zuletzt sich alles dasjenige entwickelt, was imNationalismus zumAusdrucke kommt. Nationalismus ist gemeinsam

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durchlebter Egoismus. Nationalismus ist ins Geistige heraufgetrage-ner Egoismus. Der Nationalismus ist zum Beispiel durchtränkt unddurchwärmt von dem Phantasieleben des Volkes, in dem sich derNationalismus zum Ausdrucke bringt. Aber dieses Phantasielebenselbst ist die geistig höhere Ausbildung dessen, was menschlicheBedürfnisse sind. Man muß bis zu dieser Wurzel zurückgehen, umdie Sache durch ihre Betrachtung richtig zu verstehen. Ganz anders-geartet ist dasjenige, was sich in der menschlichen Natur entwickeltals Internationalismus. National werden wir dadurch, daß der Natio-nalismus aus unserer eigenen persönlichen Natur aufsprießt. DerNationalismus ist eine Blüte desWachstums des einzelnenMenschen,der gemeinsamen Blutes mit seinem Stamme oder durch eine andereZusammengehörigkeit an sein Volk gebunden ist. Nationalismus, erwächst mit dem Menschen. Er hat ihn, er wächst hinein, ich möchtesagen, so wie er in eine bestimmte Leibesgröße hineinwächst.

Internationalismus hat man nicht in dieser Art. Internationalismusläßt sich eher vergleichenmit jenemGefühl, das wir gewinnen, wennwir uns der schönen Natur gegenüber sehen, wozu wir zur Liebe,zur Verehrung, zur Anerkennung getrieben werden dadurch, daßwir es anschauen, dadurch, daß es seinen Eindruck auf uns macht,dadurch, daß wir in Freiheit uns ihm hingeben. Während wir indas eigene Volk hineinwachsen, weil wir gewissermaßen ein Gliedvon ihm sind, lernen wir die anderen Völker kennen. Sie wirken,ich möchte sagen, auf dem Umwege des Erkennens, des Verstehenszu uns. Wir lernen sie nach und nach verständnisvoll lieben, undin dem Maße, in dem wir die Menschheit in ihren verschiedenenVölkern auf ihren verschiedenen Gebieten verständnisvoll liebenkönnen, in dem Maße wächst unser innerer Internationalismus.

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Menschliche Bedürfnisse sollen eingeschätzt statttyrannisiert werden

Quelle [25]: GA 332a, S. 057-058, 2/1977, 25.10.1919, Zürich

Der Wert eines erzeugten Gutes kommt heute in einer gewissenBeziehung gar nicht in Frage. Er bildet allerdings den Antrieb zurNachfrage. Aber diese Nachfrage ist ja deshalb in unserem heutigensozialen Leben eine recht problematische, weil ihr immer die Fragegegenübersteht, ob auch zur Nachfrage die entsprechenden Mittel,die entsprechenden Besitzverhältnisse vorhanden sind. Man kanngut Bedürfnisse haben: wenn man nicht die nötigen Mittel besitzt,sie zu befriedigen, so wird man sie gar nicht nachfragen können.Aber es handelt sich darum, daß ein Verbindungsglied geschaffenwerden muß zwischen den menschlichen Bedürfnissen, die den Gü-tern, den Erzeugnissen ihren Wert geben, und den Preisen. Dennwas man bedarf, hat je nach diesem Bedürfnis seinen menschlichenWert. Es werden sich Einrichtungen herausgliedern müssen aus dersozialen Ordnung, die die Brücke schaffen von diesem Wert, der denErzeugnissen aufgedrückt wird durch die menschlichen Bedürfnisse,und den Preisen, die sie haben müssen.

Heute wird der Preis bestimmt durch den Markt, danach, ob Leuteda sind, die diese Güter kaufen können, die das nötige Geld ha-ben. Eine wirkliche soziale Ordnung muß dahin orientiert sein, daßdie Menschen, die aus ihren berechtigten Bedürfnissen heraus Gü-ter haben müssen, sie auch bekommen können, das heißt, daß derPreis dem Werte der Güter wirklich angeähnelt wird, daß er ihmentspricht. An die Stelle des heutigen chaotischen Marktes mußeine Einrichtung treten, durch welche nicht etwa die Bedürfnisseder Menschen, der Konsum der Menschen tyrannisiert wird, wiedurch Arbeiter-Produktivgenossenschaften oder durch die sozialisti-sche Großgenossenschaft, sondern durch welche der Konsum der

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Abgrenzung der drei Glieder

Menschen erforscht und danach bestimmt wird, wie diesem Konsumentsprochen werden soll. Dazu ist notwendig, daß unter dem Einflußdes Assoziationsprinzipes wirklich die Möglichkeit herbeigeführtwerde, Ware so zu erzeugen, daß sie den beobachteten Bedürfnissenentspreche, das heißt, Einrichtungen müssen da sein mit Personen,die die Bedürfnisse studieren. Die Statistik kann nur einen Augen-blick aufnehmen; sie ist niemals für die Zukunft maßgebend. DieBedürfnisse, die jeweils vorhanden sind, müssen studiert werden,danach müssen die Einrichtungen für das Produzieren getroffen wer-den. Wenn ein Artikel irgendwie die Tendenz entwickelt, zu teuerzu werden, dann ist das ein Zeichen dafür, daß zu wenige Menschenfür diesen Artikel arbeiten. Es müssen Verhandlungen gepflogenwerden, durch die aus anderen Produktionszweigen zu diesem Pro-duktionszweig arbeitende Menschen übergeführt werden, so daßmehr von diesem Artikel erzeugt wird. Hat ein Artikel die Tendenz,zu billig zu werden, verdient sein Erzeuger zu wenig, dann müssenVerhandlungen eingeleitet werden, durch die weniger Menschengerade an diesem Artikel arbeiten. Das heißt: Von der Art und Wei-se, wie die Menschen an ihre Plätze gestellt werden, muß in derZukunft abhängig werden, wie die Bedürfnisse befriedigt werden.Der Preis des Produkts bedingt sich durch die Zahl der Menschen,die daran arbeiten. Aber er wird durch solche Einrichtungen demWerte ähnlich sein, gleich sein im wesentlichen dem Werte, den dasmenschliche Bedürfnis dem betreffenden erzeugten Gut beizulegenhat.

Lebendige Bedürfnisse studieren, mögliche Bedürfnissebefriedigen

Quelle [25]: GA 332a, S. 102-104, 2/1977, 26.10.1919, Zürich

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Wie kann man richtig die Bedürfnisse eines Menschen feststellen oderdie richtige Wertschätzung eines von ihm erzeugten Gegenstandesbemessen, wo doch die Warenbedürfnisse des Menschen so verschiedensind?

Gerade weil sie verschieden sind, müssen reale Einrichtungen ge-schaffen werden, welche darinnen bestehen, daß Menschen da sind,welche diese Bedürfnisse studieren, diese Bedürfnisse kennenler-nen. Solche Dinge hängen nicht in der Luft, solche Dinge könnendurchaus auf einen realen Boden gestellt werden. Ein kleines Bei-spiel könnte ich Ihnen ja anführen. Es gibt eine Gesellschaft, siesteht sogar unterschrieben auf den Plakaten: die AnthroposophischeGesellschaft. Sie hat sich neben dem, was ihr manche Menschenzuschreiben, auch mit recht praktischen Angelegenheiten schon be-schäftigt, die durchaus in der Linie liegen, wenn auch im kleinen, vondem, was ich hier über die soziale Frage auseinandergesetzt habe. Sofand sich innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft ein Mann,der Brot erzeugen konnte. Weil man gerade zur Verfügung hatte eineKorporation von Menschen, die ja natürlich auch Brotkonsumentensind, eine Korporation von Anthroposophen, konnte man gewisser-maßen eine Assoziation herbeiführen zwischen dem Mann als Brot-erzeuger und diesen Konsumenten; das heißt, er konnte sich in seinerProduktion nach den Bedürfnissen des Konsums richten, so, daßman die Bedürfnisse kennt und nach den vorhandenen Bedürfnissendie Produktion durchaus einrichten kann. Das wird nicht der Markttun, der das Ganze anarchisch zufällig gestaltet, sondern das kannnur geschehen, wenn Einrichtungen da sind, durch die Menschen,die die Bedürfnisse wirklich studieren, nach den Bedürfnissen dieProduktion lenken, sie mit den Assoziationen regeln. Diese Feststel-lung der Bedürfnisse möchten sozialistische Denker heute nach derStatistik machen. Das kann nicht nach der Statistik gemacht werden.Das lebendige Leben läßt sich nie nach der Statistik formen, sondernallein nach dem unmittelbaren Beobachtungssinn der Menschen. Es

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müssen also innerhalb des Wirtschaftsorganismus die Menschendurch die sozialen Zustände in gewisse Ämter oder dergleichen ge-bracht werden, die da sind zur Verteilung der Bedürfniserkenntnissean die Produktion. Gerade weil die Bedürfnisse verschieden sind,handelt es sich darum, nicht etwa eine Tyrannisierung der Bedürf-nisse hervorzurufen, die ganz gewiß entstehen würde auf Grundlagedes heutigen sozialdemokratischen Programms, sondern es handeltsich darum, aus den lebendigen Bedürfnissen zu erkennen, wie dieseBedürfnisse befriedigt werden sollen. Daß selbstverständlich gewis-se Bedürfnisse dann nicht befriedigt werden können, das wird auchdie Praxis als solche ergeben. Aus einem Dogma heraus, weil ir-gend jemand meint, dies oder das sei kein richtiges menschlichesBedürfnis, darf darüber nicht entschieden werden. Aber wenn eineAnzahl von Menschen Bedürfnisse haben, die nach Gütern rufen, zuderen Herstellung Menschen ausgenützt werden müßten – das wirdsich gerade im lebendigen Wirtschaftsleben ergeben, das auf seineeigenen Füße gestellt ist -, wird man diese Güter nicht herstellenkönnen, für die einzelne Bedürfnisse haben. Es wird sich gerade dar-um handeln, zu erfassen, ob die Bedürfnisse ohne Vernachlässigung,ohne Schaden für die menschlichen Kräfte wirklich berücksichtigtwerden können.

Wirtschaftsleben muß zukünftige Bedürfnisse befriedigen

Quelle [32]: GA 340, S. 082-083, 5/1979, 29.07.1922, Dornach

Ich habe also in den „Kernpunkten der sozialen Frage“ als Formel dasFolgende angegeben: Ein richtiger Preis ist dann vorhanden, wennjemand für ein Erzeugnis, das er verfertigt hat, so viel als Gegenwertbekommt, daß er seine Bedürfnisse, die Summe seiner Bedürfnisse,worin natürlich eingeschlossen sind die Bedürfnisse derjenigen, diezu ihm gehören, befriedigen kann so lange, bis er wiederum ein

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gleiches Produkt verfertigt haben wird. Diese Formel ist, so abstraktsie ist, dennoch erschöpfend. Es handelt sich ja beim Aufstellen vonFormeln eben darum, daß sie wirklich alle konkreten Einzelheitenenthalten. Und ich meine, für das Volkswirtschaftliche ist diese For-mel wirklich so erschöpfend wie, sagen wir, der PythagoräischeLehrsatz erschöpfend ist für alle rechtwinkeligen Dreiecke. Nur han-delt es sich darum: ebenso wie man in diesen hineinbringen mußdie Verschiedenheit der Seiten, so muß man unendlich viel mehr indiese Formel hineinbringen. Aber das Verständnis, wie man in dieseFormel den ganzen volkswirtschaftlichen Prozeß hineinbringt, dasist eben Volkswirtschaftswissenschaft.

Nun möchte ich heute gerade ausgehen von einem ganz Wesentli-chen in dieser Formel. Das ist das, daß ich nicht hinweise in dieserFormel auf dasjenige, was vergangen ist, sondern auf dasjenige, waseigentlich erst kommt. Ich sage ausdrücklich: Der Gegenwert mußdie Bedürfnisse in der Zukunft befriedigen, bis der Erzeuger wieder-um ein gleiches Produkt verfertigt haben wird. Das ist etwas ganzWesentliches in dieser Formel. Würde man einen Gegenwert verlan-gen für das Produkt, das er schon fertig hat, und dieser Gegenwertsollte entsprechen irgendwie den wirklichen volkswirtschaftlichenVorgängen, so könnte es durchaus passieren, daß der Betreffendeeinen Gegenwert bekommt, der seine Bedürfnisse, sagen wir, nur zufünf Sechsteln der Zeit befriedigt, bis er ein neues Produkt herge-stellt hat; denn die volkswirtschaftlichen Vorgänge ändern sich ebenvon der Vergangenheit in die Zukunft hinein. Und derjenige, der daglaubt, von der Vergangenheit her allein irgendwelche Aufstellungenmachen zu können, der muß immer im Volkswirtschaftlichen dasUnrichtige treffen; denn Wirtschaften besteht eigentlich darinnen,daß man die künftigen Prozesse mit dem, was vorangegangen ist,ins Werk setzt. Wenn man aber die vergangenen Prozesse benützt,um die künftigen ins Werk zu setzen, dann müssen sich unter Um-ständen die Werte ganz bedeutend verschieben; denn fortwährend

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verschieben sie sich. Daher handelt es sich bei dieser Formel ganzwesentlich darum, daß ich sage: Wenn jemand ein Paar Stiefel ver-kauft, so ist die Zeit, in der er sie verfertigt hat, volkswirtschaftlichdurchaus nicht maßgebend, sondern maßgebend ist die Zeit, in derer das nächste Paar Stiefel verfertigen wird. Das ist, worauf es indieser Formel ankommt, und das müssen wir nun in breiterem Sinninnerhalb des volkswirtschaftlichen Prozesses verstehen.

Wirtschaftsleben als Befriedigung geistiger Bedürfnisse

Leibliches und geistiges Bedürfnis nach physischen undgeistigen Gütern

Quelle [25]: GA 332a, S. 152-153, 2/1977, 29.10.1919, Zürich

Was bedingt den Wert eines Gutes, durch das der Mensch seineBedürfnisse befriedigen kann? – Zunächst muß der Mensch subjek-tiv irgendwelchen Bedarf für dieses Gut haben. Sehen wir aber zu,wodurch sich ein solcher Bedarf bestimmt. Das hängt zusammen, ers-tens, selbstverständlich mit der leiblichen Artung des Menschen. Dieleibliche Artung bedingt namentlich den Wert der verschiedenstenmateriellen Güter. Aber auch materielle Güter werden verschiedenbeurteilt, je nachdem der Mensch diese oder jene Erziehung durch-gemacht und diese oder jene Ansprüche hat. Und erst, wenn es sichum geistige Güter handelt, die ja oft gar nicht getrennt werden kön-nen von der Sphäre der leiblichen, physischen Güter, da werdenwir sehen, daß die ganze Verfassung des Menschen durchaus dieArt und Weise bedingt, wie einer irgendein Gut bewertet, was erfür irgendein Gut für eine Arbeit leisten möchte, was er aufbringenmöchte an eigenen Leistungen für solch ein Gut. Da sehen wir, daßdas geistige Element, das im Menschen lebt, bestimmend ist für denWert eines Gutes, für den Wert einer Ware.

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Auf der anderen Seite sehen wir, daß ja die Waren, indem sie ausge-tauscht werden zwischen Mensch und Mensch, gebunden sind anBesitzverhältnisse, das heißt auch nichts anderes als an Rechtsver-hältnisse. Indem irgendein Mensch von einem anderen ein Gut er-werben will, stößt er auf Rechte, die der andere in irgendeiner Weisean diesem Gut hat. So daß das Wirtschaftsleben, die Wirtschaftszir-kulation durchaus durchdrungen ist von lauter Rechtsverhältnissen.

Und zum dritten: Ein Gut hat auch einen objektiven Wert, nicht nurdenjenigen Wert, den wir ihm beilegen durch unsere Bedürfnisseund die subjektive Bewertung dieser Bedürfnisse, die sich dann aufdas Gut überträgt, sondern ein Gut hat einen objektivenWert, indemes haltbar oder unhaltbar, dauerhaft oder nicht dauerhaft ist, indemes durch seine Natur mehr oder weniger brauchbar ist, indem esmehr oder weniger häufig oder mehr oder weniger selten ist. Dasalles bedingt einen objektiven, einen eigentlich wirtschaftlichenWert, zu dessen Bestimmung eine objektive Sachkenntnis und zudessen Herstellung eine objektive Fachtüchtigkeit notwendig ist.

Aber diese dreiWertbestimmungen sind in demGute zu einer Einheitvereinigt. Und daher kann man mit Recht sagen: Wie soll also, wasin dem Gute sich vereinigt, in drei Verwaltungsgebiete getrenntwerden, die sich auf dieses Gut beziehen, die mit diesem Gute inseinen Zirkulationen irgend etwas zu schaffen haben?

Leibliche und geistige Bedürfnisse als Wertmaßstab

Quelle [2]: GA 024, S. 260, 2/1982, 01.1920

Ein gesundes Kreditgewähren setzt eine soziale Struktur voraus,durch welche die Lebensgüter eine Bewertung finden, die in ihrerBeziehung zur leiblichen und geistigen Bedürfnisbefriedigung derMenschen wurzelt. Ein selbständiges Geistes- und Rechtsleben führt

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die Menschen zu einem lebensvollen Erkennen und Geltendmachendieser Beziehung. Dadurch wird der Wirtschafskreislauf so gestaltet,daß er die Beurteilung der Produktion in Abhängigkeit bringt vondem, was die Menschen bedürfen, und sie nicht beherrscht sein läßtvon Mächten, bei denen die konkreten menschlichen Bedürfnisse inder abstrakten Kapital- und Lohnskala ausgelöscht erscheinen.

Leibliche und seelische Bedürfnisse

Quelle [25]: GA 332a, S. 211, 2/1977, 30.10.1919, Zürich

Sein Einkommen bekommt ja ein Mensch wahrhaftig nicht bloßdafür, daß er ißt und trinkt oder sonst irgendwelche leiblichen oderseelischen Bedürfnisse befriedigt, sondern auch dafür, daß er fürandere Menschen arbeitet.

Eigene leibliche und seelische Bedürfnisse als Wertmaßstab

Quelle [2]: GA 024, S. 252-254, 2/1982, 01.1920

Wer seine Denkungsart nach dem einseitigen Standpunkt der Kapi-talvermehrung oder, was eine notwendige Folge davon ist, nach demder Lohnerhöhung einrichtet, dem entzieht sich der unmittelbareAnblick der Wirkungen einzelner Produktionsgebiete auf den Wirt-schafskreislauf. Handelt es sich darum, Kapital zu vermehren oderLohn zu erhöhen, so wird es gleichgültig, in welchem Produktions-zweig dieses geschieht. Das naturgemäße Verhältnis der Menschenzu dem, was sie hervorbringen, wird untergraben.

Die Höhe einer Kapital- oder Lohnsumme bleibt dieselbe, wenn manstatt einer Warengattung für sie eine andere erwirbt, oder wenn manfür eine Art der Arbeit eine andere eintauscht. Dadurch aber werdendie Lebensgüter erst „Waren“, daß man sie durch die Kapitalmenge,

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in der ihre besondere Eigenart keinen Ausdruck findet, erwerbenoder verkaufen kann. Diesen Warencharakter vertragen aber nurdiejenigen Lebensgüter, die vom Menschen unmittelbar verbrauchtwerden. Denn für deren Wert hat der Mensch einen unmittelba-ren Maßstab in seinen leiblichen oder seelischen Bedürfnissen. EinsolcherMaßstab liegt weder für Grund und Boden noch für die künst-lich hergestellten Produktionsmittel vor. Deren Wertbemessung istvon vielen Faktoren abhängig, die nur anschaulich werden, wennman die ganze soziale Struktur des Menschenlebens ins Auge faßt.

Ist es aus Kulturinteressen heraus notwendig, daß ein Landgebietin einer Art behandelt wird, die das Erträgnis vom Kapitalgesichts-punkt aus geringer erscheinen läßt als dasjenige einer andern Un-ternehmung, so wird dieses geringere Erträgnis auf die Dauer derGemeinschaft nicht Schaden bringen können. Denn das geringereErträgnis des einen Produktionszweiges muß nach einiger Zeit aufandere so wirken, daß auch bei ihnen die Preise ihrer Erzeugnissesich erniedrigen. Nur dem Augenblicksstandpunkt, der nicht anderskann als den Egoismuswert in Rechnung zu stellen, entzieht sichdieser Zusammenhang. Bei dem bloßen Marktverhältnis, auf demAngebot und Nachfrage alleinherrschend sind, ist nur das Rechnenmit diesem Egoismuswert möglich. Dieses Verhältnis ist nur zu über-winden, wenn Assoziationen den Austausch und die Produktion derVerbrauchsgüter aus der vernunftgemäßen Beobachtung dermensch-lichen Bedürfnisse heraus regeln. Solche Assoziationen können anStelle des bloßen Angebotes und der bloßen Nachfrage die Ergebnis-se vertragsmäßiger Unterhandlungen zwischen Konsumenten- undProduzentenkreisen einerseits und zwischen den einzelnen Produ-zentenkreisen andererseits setzen. Wenn bei diesen Beobachtungenausgeschlossen wird, daß sich der eine Mensch zum Richter darüberaufwerfen kann, was ein anderer an Bedürfnissen haben darf, sowird in den Grundlagen solcher Unterhandlungen nur das mitspre-

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chen, was aus den Naturbedingungen der Wirtschaft und aus dermenschlichen Arbeitsmöglichkeit heraus zustande kommen kann.

Ausgaben für Vergnügen oder für leibliche und geistigeBedürfnisse

Quelle [25]: GA 332a, S. 060-061, 2/1977, 25.10.1919, Zürich

Geld wird erst zu einem Wirklichen, wenn es ausgegeben wird. Datritt es über in den Wirtschaftsprozeß, gleichgültig ob ich es fürmein Vergnügen oder für meine leiblichen und geistigen Bedürf-nisse ausgebe, oder ob ich es in einer Bank anlege, so daß es dafür den wirtschaftlichen Prozeß verwendet wird. Wenn ich es ineiner Bank anlege, so ist es eine Art von Ausgabe, die ich mache –das ist natürlich festzuhalten. Aber Geld wird in dem Augenblickezu etwas Realem im Wirtschaftsprozesse, wo es sich von meinemBesitze ablöst, in den Wirtschaftsprozeß übergeht. Die Menschenbrauchten ja auch nur eines zu bedenken: Es nützt dem Menschengar nichts, wenn er viel einnimmt. Wenn er die große Einnahme inden Strohsack legt, so mag er sie haben; das nützt ihm gar nichts imWirtschaftsprozeß. Den Menschen nützt nur die Möglichkeit, vielausgeben zu können.

Entstehung der Bedürfnisse aus dem Geistesleben

Geistig-seelische Forderung nach Befriedigung materiellerBedürfnisse

Quelle [2]: GA 024, S. 108-110, 2/1982, 12.1919

Die Zahl derjenigen Menschen nimmt stetig zu, die betonen, daß ausder sozialen Wirrnis unserer Zeit nur herauszukommen sei, wenn

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in das Denken und Empfinden ein Zug nach dem Geistigen komme.Die Enttäuschungen, welche „volkswirtschaftliche“ Ideen gebrachthaben, die ihre Grundlagen nur in der Erzeugung von materiellenGütern und deren Verteilung suchten, führen bei vielen zu einemsolchen Bekenntnis.

Man kann aber auch deutlich sehen, wie wenig fruchtbar in unsererZeit ein solches Bekenntnis zumGeiste wirkt. Soll es volkswirtschaft-liche Anschauungen hervorbringen, so versagt es. Denn mit dembloßen Hinweis auf den Geist ist es nicht getan. Er drückt zunächstbloß ein Bedürfnis aus. Er ist ratlos, wenn er über die Befriedigungdieses Bedürfnisses sprechen soll. In dieser Tatsache sollte man eineAufgabe für die Gegenwart erkennen. Man sollte sich fragen: Warumkommen selbst diejenigen, die heute eine Hinwendung zum Geistefür das soziale Leben notwendig halten, nicht darüber hinaus, dieseNotwendigkeit zu besprechen? Warum kommen sie nicht dazu, dasvolkswirtschaftliche Denken wirklich zu durchgeistigen?

Man wird dieser Frage die Antwort finden, wenn man die Entwi-ckelung des Denkens innerhalb der zivilisierten Menschheit in derneueren Zeit betrachtet. Diejenigen Persönlichkeiten, die sich ausder Zeitbildung heraus zu einer Weltanschauung durchgerungenhaben, betrachten es als ein Zeichen ihrer höheren „Geisteskultur“,von dem „Unerkennbaren“ hinter den Dingen zu reden. Es ist allmäh-lich ein weitverbreiteter Glaube geworden, daß nur ein Befangenernoch über das „Wesen der Dinge“, über „die unsichtbaren Grunde dersichtbaren Dinge“ sprechen könne. Nun läßt sich eine solche Denker-gesinnung für eine Weile gegenüber dem Naturerkennen aufrechterhalten. Die Naturerscheinungen bieten sich dar; und auch der,welcher von einem Nachforschen über ihre Grunde nichts wissenwill, kann sie beschreiben und dadurch zu einem gewissen Inhal-te seines Denkens kommen. In volkswirtschaftlichen Dingen mußaber eine solche Denkergesinnung versagen. Denn da werden die

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Erscheinungen 109 zuletzt von Menschen hervorgebracht; es gehendie Forderungen von den Menschengematern aus. In den Menschenaber lebt gerade dasjenige alsWesenheit, wofür man sich die Einsichtvermauert, wenn man sich gewöhnt, der Natur gegenüber von einemsolchen „Unerkennbaren“ zu sprechen, wie es bei vielen Bekennernneuerer Lebensanschauungen zu finden ist. So ist es gekommen, daßdie jüngste Vergangenheit Denkgewohnheiten in die Gegenwartherein entwickelt hat, die in volkswirtschaftlichen Dingen völligversagen. Man kann das Gefrieren des Wassers, die Entwickelungdes Embryos betrachten und dabei von dem „Unerkennbaren“ in derWelt „vornehm“ sprechen und die Zeitgenossen ermahnen, sich nichtin Phantasien über dieses „Unerkennbare“ zu verlieren. Aber mankann nicht mit einem Denken, das an solcher Seelenverfassung sichschult, volkswirtschaftliche Aufgaben bewältigen. Diese erfordernein Eingehen auf das volle Menschenleben. Und in diesem waltetdas Geistig-Seelische, auch wenn es nur in der Forderung nach derBefriedigung materieller Bedürfnisse sich offenbart.

Wirtschaftsleben soll Bedürfnisse befriedigen statt sie zuschaffen

Quelle [1]: GA 023, S. 066-067, 6/1976, 28.04.1919, Stuttgart

In dem Wirtschaftsleben steht der Mensch durch seine Interessendarinnen. Diese haben ihre Grundlage in seinen seelischen undgeistigen Bedürfnissen. Wie den Interessen am zweckmäßigsten ent-sprechen werden kann innerhalb eines sozialen Organismus, so daßder einzelne Mensch durch diesen Organismus in der bestmöglichenArt zur Befriedigung seines Interesses kommt, und er auch in vorteil-haftester Art sich in die Wirtschaft hineinstellen kann: diese Fragemuß praktisch in den Einrichtungen des Wirtschaftskörpers gelöstsein. Das kann nur dadurch sein, daß die Interessen sich wirklich frei

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geltend machen können und daß auch der Wille und die Möglichkeitentstehen, das Nötige zu ihrer Befriedigung zu tun. Die Entstehungder Interessen liegt außerhalb des Kreises, der das Wirtschaftslebenumgrenzt. Sie bilden sich mit der Entfaltung des seelischen undnatürlichen Menschenwesens. Daß Einrichtungen bestehen, sie zubefriedigen, ist die Aufgabe des Wirtschaftslebens.

Befriedigung der Bedürfnisse aus dem Geistesleben

Geistige Fähigkeiten und Bedürfnisse als Maßstab für Wertder geistigen Arbeit

Quelle [32]: GA 340, S. 188-190, 5/1979, 05.08.1922, Dornach

Denken Sie sich eine einfache Dorfwirtschaft, die meinetwillen ab-geschlossen in sich ist. Solche konnte man ja, wenigstens zum Teil,durchaus erleben. Eine solche wird bestehen in demjenigen, waserzeugt wird – sagen wir, wir denken uns weg selbst den Marktund die Stadt – von den Bauern, von den Bodenbearbeitern, voneinzelnen Gewerbetreibenden, die die Leute kleiden und so wei-ter, von einigen anderen Gewerbetreibenden, im wesentlichen garnicht eigentlich von besonderen Proletariern – die werden nochgar nicht da sein, aber darauf brauchen wir ja bei dieser Art vonDenkungsweise zunächst nicht unsere Aufmerksamkeit zu verwen-den, denn dasjenige, was für sie in Betracht kommt, wird uns jabei der weiteren Verfolgung auffallen können. Dann wird in dieserDorfwirtschaft da sein der Lehrer, der Pfarrer, oder ein paar Lehrer,ein paar Pfarrer; die werden, wenn wir eine reine Dorfwirtschafthaben, leben müssen aus dem, was die anderen ihnen von dem Ihri-gen abgeben. Und was sich an freiem Geistesleben entwickelt, wirdsich im wesentlichen abspielen müssen zwischen den Pfarrern undLehrern – eventuell wird noch dazukommen der Gemeindeverwalter

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–, aber da, zwischen diesen Leuten wird sich im wesentlichen dasfreie Geistesleben abspielen. Und wir werden uns fragen müssen:Wie kommen wir denn nun eigentlich zu einer Bewertung in diesemeinfachen wirtschaftlichen Kreislauf?

Viel anderes freies Geistesleben wird nicht da sein. Man kann sichnicht gut vorstellen, daß da ein Romanschriftsteller entsteht im Leh-rer oder Pfarrer; denn wenn die Dorfwirtschaft in sich geschlossenist, dann wird er kaum viel verkaufen können. Wir würden ja nurdarauf rechnen können, daß ein Romanschriftsteller irgend etwaswird verdienen können, wenn er in gleicher Zeit imstande wäre, denBauern und Schneidern und Schustern eine besondere Neugierdeauf seine Romane beizubringen. Da würde er ja in der Tat sogleicheine kleine Industrie ins Leben rufen können, nicht wahr? Das wür-de zwar außerordentlich teuer zu stehen kommen. Aber jedenfallskönnen wir uns nicht vorstellen, daß das ohne weiteres in dieserkleinen Dorfwirtschaft da sein würde. Wir sehen also, daß das freieGeistesleben erst auf gewisse Bedingungen warten muß. Aber wirkönnen uns vielleicht vorstellen, wie eigentlich nun dadurch, daßüberhaupt Pfarrer und Lehrer und ein Gemeindeverwalter da sind,die Bewertung desjenigen zustande kommt, was diese Geistesarbei-ter – denn im volkswirtschaftlichen Sinne sind sie ja Geistesarbeiter– leisten.

Was ist die Voraussetzung, daß diese Geistesarbeiter überhaupt indem Dorfe leben können? Die Voraussetzung ist, daß die Leute ihreKinder in die Schule schicken und daß sie ein religiöses Bedürfnishaben. Geistige Bedürfnisse sind die Grundvoraussetzung. Ohne die-se wären überhaupt selbst diese Geistesarbeiter nicht da. Und nunwerden wir uns zu fragen haben: Wie werden denn diese Geistesar-beiter nun ihrerseits ihre Produkte, sagen wir, die Kanzelrede – dennim volkswirtschaftlichen Sinne sind auch die volkswirtschaftlichzu begreifen – und den Schulunterricht, wie werden sie denn diese

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volkswirtschaftlich bewerten? Wie wird sich das volkswirtschaftlichbewerten in der ganzen Zirkulation? Das ist eine Fundamentalfrage.

Ja, wie sich das bewertet, darauf kommen wir nur, wenn wir unszunächst recht anschaulich machen: Was müssen denn die anderenLeute tun? Sie müssen körperliche Arbeit leisten. Dadurch rufensie volkswirtschaftliche Werte hervor, daß sie körperliche Arbeitleisten. Wenn kein Bedürfnis vorhanden wäre nach Kanzelredenund nach Schulunterricht, so würden auch die Pfarrer und die Leh-rer eben körperlich arbeiten müssen, dann würden alle körperlicharbeiten, und es würde das Geistesleben überhaupt wegfallen. Dahätten wir natürlich nicht zu sprechen von einer Bewertung dergeistigen Leistungen. Zu dieser Bewertung kommen wir, wenn wirdarauf hinschauen, daß ja eben gerade dieses körperliche Arbeitenden Pfarrern und den Lehrern erspart werden muß; denn wollen dieihre nun immerhin auch begehrte Arbeit leisten, so muß ihnen diekörperliche Arbeit abgenommen werden. So daß da wirklich etwas,was nun wenigstens wiederum im allgemeinen Sinn zu erfassen ist,in den Gedankengang eingeführt werden kann. Denn nehmen wiran, es ist nur Bedürfnis vorhanden für halbe Predigten und halbenSchulunterricht – also für eine halbe Predigt eines Pfarrers und denhalben Unterricht eines Lehrers –, was würde da eintreten müssen?Da man nicht einen halben Pfarrer und einen halben Lehrer anstel-len kann, so werden Pfarrer und Lehrer eine gewisse Zeit anwendenmüssen, um nun auch körperlich zu arbeiten. Und die Bewertung,die wird eintreten müssen für diese beiden, wird sich also danach er-geben, wieviel sie körperliche Arbeit ersparen können. Das gibt denMaßstab für die Bewertung ihrer Arbeit. Der eine gibt körperlicheArbeit hin, der andere erspart sie, und er bewertet seine geistige Leis-tung danach, wieviel er mit dieser Geistesleistung körperliche Arbeiterspart. Da haben Sie auf den zwei verschiedenen Feldern des wirt-schaftlichen Lebens, wenn wir eben volkswirtschaftlich die Sachedurchdenken, daß für uns eine Kanzelrede auch volkswirtschaftli-

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chen Wert haben muß, da haben Sie das, was uns darauf hinweist,wie die den volkswirtschaftlichen Wert bekommt. Sie bekommt ihndadurch, daß Arbeit erspart wird, während auf der anderen SeiteArbeit aufgewendet werden muß.

Die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse ist eineGedankenfrage

Quelle [2]: GA 024, S. 118-119, 2/1982, 12.1919

Man muß sich beliebte Gedankengänge der neueren Zeit vor Augenführen. Ein solch beliebter Gedankengang ist im Gebiete des Sozialenderjenige, der sich aus den Lebensgewohnheiten primitiver Völkerergibt. Man sucht zu erforschen, wie in „Urzeiten“ ein gewisser Kom-munismus und dergleichen geherrscht hat, und zieht daraus gewisseSchlüsse für dasjenige, was man heute machen soll. In Schriften, dievon der sozialen Frage handeln, ist ein solcher Gedankengang sehrgebräuchlich geworden. Und er hat sich von da aus breiter Kreisebemächtigt. Er lebt heute in vielem, was in der „sozialen Frage“ gera-de von den Massen gedacht wird. Man hätte diesen Gedankengangwirklich billiger haben können, als man ihn auf vielen Seiten er-rungen hat. Man hätte das soziale Leben der Menschen vergleichenkönnen mit den Lebensgewohnheiten wild lebender Tierformen. Dahätte man gefunden, wie Instinkteinrichtungen zur Befriedigung derLebensbedürfnisse führen, und wie diese Instinkteinrichtungen aufdie entsprechende Aneignung desjenigen gehen, was die Natur denLebensbedürfnissen entgegenbringt. Das Wesentliche ist, daß derMensch die Instinkteinrichtung durch das bewußte, zielgetrageneDenken ersetzen muß. Auf die Naturgrundlage muß er bauen, wiejedes Wesen, das zu seinem Leben essen muß. In der Brotfrage steckteine Frage der Naturgrundlage. Aber die ist für jedes nahrungsbe-dürftige Wesen vorhanden. In bezug auf sie kann von „sozialem

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Denken“ gar nicht gesprochen werden. Dieses beginnt erst bei denVerrichtungen, denen der Mensch die Naturgrundlage durch seinDenken unterwirft. Durch sein Denken bemeistert er die Naturkräf-te, durch sein Denken bringt er sich mit andern Menschen in einenArbeitszusammenhang, der das der Natur abgerungene „Brot“ indas soziale Leben hineinwebt. Für dieses Leben ist die Brotfrageeine Gedankenfrage. Es kann sich nur darum handeln, zu antwortenauf die Frage: Welches sind die fruchtbaren Gedanken, die, zur Ver-wirklichung gebracht, aus der Menschenarbeit die Befriedigung dermenschlichen Bedürfnisse hervorgehen lassen?

Kindliche Nachahmung Vorbereitung für wirtschaftlicheAnpassung an Bedürfnisse

Quelle [23]: GA 330, S. 279, 2/1983, 18.06.1919, Stuttgart

Die neuere Zeit fordert eine Umgestaltung dieses Wirtschaftsle-bens in dem Sinne, daß nicht mehr der Profit, daß nicht mehr derKapitalerwerb und der Lohnerwerb das Ausschlaggebende sind, son-dern daß der Konsum, die Berücksichtigung der menschlichen Be-dürfnisse eingerichtet wird auf der Grundlage freier Assoziationen,Genossenschaften, Körperschaften, die von den Bedürfnissen desmenschlichen Wirtschaftslebens werden ausgehen müssen, von denBedürfnissen, die lebendig immer vorhanden sind und nach denender Verkehr, die Produktion erst eingerichtet werden muß. Was heu-te auf blindes Angebot und blinde Nachfrage des Marktes gestellt ist,das wird auf Einsicht in die Menschenzusammenhänge, auf Einsichtin die menschlichen Konsumbedürfnisse gestellt werdenmüssen. Diepraktische Erfahrung, die ja auf die menschlichen Bedürfnisse mußeingehen können, sie kann sich nur entwickeln, wenn die Menschenin ihrer Kindheit gemäß dem Prinzip der Nachahmung erzogen wor-den sind, wenn sie gelernt haben, unbewußt, sich den Menschen

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Abgrenzung der drei Glieder

anzupassen. Wenn sie für das öffentliche Rechtsleben des Staates dieAchtung des Menschenlebens entwickelt haben, dann können sieauf dem Gebiete des Wirtschaftslebens Verständnis entwickeln fürdie menschlichen Bedürfnisse. Es muß heute gefordert werden, daßauf dem Gebiete des Wirtschaftslebens Koalitionen, sagen wir zumBeispiel Genossenschaften, von Betriebsräten eingerichtet werden.Diese Betriebsräte werden einen schwierigen Stand haben, wenn siekünftig nach der Einsicht in Produktion und Konsumtion dasjeni-ge werden zu besorgen haben, was heute dem Zufall von Angebotund Nachfrage überantwortet ist. Aber keine Betriebsräte, keineirgendwie gearteten Räte auf dem Gebiete des Wirtschaftslebenswerden jemals segenbringend sein, wenn nicht die Erziehung desMenschen so eingerichtet wird, daß die Talente für diese Räte, dasheißt für die Menschenanpassung, denn die drückt sich auch aus imVerständnis der menschlichen Bedürfnisse, daß die Entwickelungdieser Räte nicht vorbereitet wird durch die richtige Erziehung imzarten Kindesalter nach dem Prinzip der Nachahmung.

Geistesleben als Bedürfnis

Freies Geistesleben kann Bedürfnisse der Menschheitbefriedigen

Quelle [2]: GA 024, S. 184, 2/1982, 11.1920

Im europäischen Osten wollen Fanatiker einen Staat in der Formzimmern, die ihnen als Wirtschaftsgemeinschaft vorschwebt. Zwarversichern sie, daß ihr entferntes Ziel die Hinwegräumung jeglichenStaatsgebildes sei. Vorläufig aber wollen sie einen militaristisch orga-nisierten Wirtschaftsstaat gestalten. Er trägt die Keime des Verfallsin sich. Denn in der Menschheit wirkt gegenwärtig ein politisch-demokratischer Trieb, der sich in einem militarisierten Wirtschafts-

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staat nicht zur Geltung bringen kann. Die „Diktatur“ des Proletariatskönnte für kurze Zeit diesen Trieb lähmen; austilgen kann sie ihnnicht. Ebensowenig kann der bloß wirtschaftlich orientierte Staatein Geistesleben schaffen, das für die Bedürfnisse der MenschheitBefriedigung bringen könnte.

Weltanschauung befriedigt seelische Bedürfnisse

Quelle [1]: GA 023, S. 024-025, 6/1976, 28.04.1919, Stuttgart

Auch diejenigen, welche in den verschiedensten Formen nur immerdie Phrasen hervorbringen, die Menschheit müsse aus der Hingabean rein materielle Interessen herauskommen und sich „zum Geis-te“, „zum Idealismus“ wenden, werden an dem, was der Verfasser indieser Schrift sagt, kein rechtes Gefallen finden. Denn er hält nichtviel von dem bloßen Hinweis auf „den Geist“, von dem Reden übereine nebelhafte Geisteswelt. Er kann nur die Geistigkeit anerkennen,die der eigene Lebensinhalt des Menschen wird. Dieser erweist sichin der Bewältigung der praktischen Lebensaufgaben ebenso wirk-sam wie in der Bildung einer Welt- und Lebensanschauung, welchedie seelischen Bedürfnisse befriedigt. Es kommt nicht darauf an,daß man von einer Geistigkeit weiß oder zu wissen glaubt, sonderndarauf, daß dies eine Geistigkeit ist, die auch beim Erfassen der prak-tischen Lebenswirklichkeit zutage tritt. Eine solche begleitet dieseLebenswirklichkeit nicht als eine bloß für das innere Seelenwesenreservierte Nebenströmung.

Mensch sucht im Geistesleben Befriedigung seelischerBedürfnisse

Quelle [2]: GA 024, S. 244-245, 2/1982, 09.1919

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Abgrenzung der drei Glieder

Alles im sozialen Zusammenleben der Menschen an Einrichtun-gen Zustandegekommene ist ursprünglich das Ergebnis des vonden Absichten getragenen Willens. Das Geistesleben hat in diesemZustandekommen gewirkt. Nur wenn das Leben kompliziert sich ge-staltet, wie es unter dem Einfluß der technischen Produktionsweiseder neuen Zeit geschehen ist, verliert der gedankengetragene Willeseinen Zusammenhang mit den sozialen Tatsachen. Diese gehendann ihren eigenen mechanischen Gang. Und der Mensch suchtsich im abgezogenen Geisteswinkel den Inhalt, durch den er seineseelischen Bedürfnisse befriedigt.

Geistesleben soll Bedürfnisse der Seele befriedigen

Quelle [1]: GA 023, S. 048-049, 6/1976, 28.04.1919, Stuttgart

Das neuere Geistesleben ist von den führenden Klassen der Mensch-heit an die proletarische Bevölkerung in einer Form übergegangen,die seine Kraft für das Bewußtsein dieser Bevölkerung ausschaltet.Wenn an die Kräfte gedacht wird, welche der sozialen Frage dieLösung bringen können, so muß dies vor allem andern verstandenwerden. Bliebe diese Tatsache weiter wirksam, so müßte sich dasGeistesleben der Menschheit zur Ohnmacht verurteilt sehen gegen-über den sozialen Forderungen der Gegenwart und Zukunft. Vondem Glauben an diese Ohnmacht ist in der Tat ein großer Teil desmodernen Proletariats überzeugt; und diese Überzeugung wird ausmarxistischen oder ähnlichen Bekenntnissen heraus zum Ausdruckgebracht. Man sagt, das moderne Wirtschaftsleben hat aus seinenältern Formen heraus die kapitalistische der Gegenwart entwickelt.Diese Entwickelung hat das Proletariat in eine ihm unerträglicheLage gegenüber dem Kapitale gebracht. Die Entwickelung werdeweitergehen; sie werde den Kapitalismus durch die in ihm selbstwirkenden Kräfte ertöten, und aus dem Tode des Kapitalismus wer-

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de die Befreiung des Proletariats erstehen. Diese Überzeugung istvon neueren sozialistischen Denkern des fatalistischen Charaktersentkleidet worden, den sie für einen gewissen Kreis von Marxistenangenommen hat. Aber das Wesentliche ist auch da geblieben. Diesdrückt sich darinnen aus, daß es dem, der gegenwärtig echt sozia-listisch denken will, nicht beifallen wird, zu sagen: Wenn irgendwoein aus den Impulsen der Zeit herausgeholtes, in einer geistigenWirklichkeit wurzelndes, die Menschen tragendes Seelenleben sichzeigt, so wird von diesem die Kraft ausstrahlen können, die auch dersozialen Bewegung den rechten Antrieb gibt. Daß der zur proleta-rischen Lebensführung gezwungene eine solche Erwartung nichthegen kann, das gibt seiner Seele die Grundstimmung. Er bedarfeines Geisteslebens, von dem die Kraft ausgeht, die seiner Seele dieEmpfindung von seiner Menschenwürde verleiht. Denn als er in diekapitalistische Wirtschaftsordnung der neueren Zeit hineingespanntworden ist, wurde er mit den tiefsten Bedürfnissen seiner Seele aufein solches Geistesleben hingewiesen. Dasjenige Geistesleben aber,das ihm die führenden Klassen als Ideologie überlieferten, höhlteseine Seele aus. Daß in den Forderungen des modernen Proletariatsdie Sehnsucht nach einem andern Zusammenhang mit dem Geistes-leben wirkt, als ihm die gegenwärtige Gesellschaftsordnung gebenkann: dies gibt der gegenwärtigen sozialen Bewegung die richtendeKraft. Aber diese Tatsache wird weder von dem nicht proletarischenTeile der Menschheit richtig erfaßt, noch von dem proletarischen.

Denkart sollte Bedürfnisse des menschlichen Bewußtseinsbefriedigen

Quelle [1]: GA 023, S. 036, 6/1976, 28.04.1919, Stuttgart

An der Maschine und innerhalb der kapitalistischen Lebensordnungwar der Mensch auf sich selbst, auf sein Inneres angewiesen, wenn

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er nach einer Grundlage suchte, auf der sich eine das Bewußtseintragende Ansicht von dem errichten läßt, was man als „Mensch“ist. Von der Technik, von dem Kapitalismus strömte für eine sol-che Ansicht nichts aus. So ist es gekommen, daß das proletarischeBewußtsein die Richtung nach dem wissenschaftlich gearteten Ge-danken einschlug. Es hatte den menschlichen Zusammenhang mitdem unmittelbaren Leben verloren. Das aber geschah in der Zeit, inder die führenden Klassen der Menschheit einer wissenschaftlichenDenkungsart zustrebten, die selbst nicht mehr die geistige Stoßkrafthatte, um das menschliche Bewußtsein nach dessen Bedürfnissenallseitig zu einem befriedigenden Inhalte zu führen.

Geistesleben soll praktischste und geistigste Bedürfnissebefriedigen

Quelle [23]: GA 330, S. 156, 2/1983, 03.05.1919, Stuttgart

Unsere dem Leben fremden Gymnasien werden wir in einer zu-künftigen sozialen Ordnung allerdings nicht mehr brauchen können.Ähnliches auch nicht. Dasjenige aber, was leben wird, das wird etwassein, was geistige Stoßkraft hat, was die menschliche Seele zu tragenvermag in all ihren geistigsten Bedürfnissen für das Leben. Geradewenn man das ausbildet, was heute noch so viele Menschen als einfernliegendes Geistesleben ansehen, dann kommt man dazu, jenenWeg zu finden, der nicht gefunden werden kann von unserer an denStaat geschmiedeten Erziehung, jenen Weg, der den Menschen alsganzen Menschen ausbildet, der den Menschen so ausbildet, daß ir-gendeine Geisteskultur nicht mehr möglich sein wird, ohne zugleicheine Geschicklichkeit für praktische Dinge zu sein, eine Möglich-keit, in praktische Dinge hineinzuschauen. Der Materialismus derneueren Zeit hat die Menschen unpraktisch gemacht. Ein wahresGeistesleben, das nicht Staatsknechtsleben auf dem Gebiete des Geis-

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tes sein wird, das wird die Menschen wieder praktisch machen, daswird nicht auf dem Gebiete der höchsten Kultur Menschen erzeugen,die glauben, Weltanschauungen zu haben, aber die nicht wissen, waseine Bank, was Kredit, was Hypotheken und so weiter sind, und wiediese im wirtschaftlichen Leben wirken.

Bedürfnisse im Sinne von Interessen

Den Ausdruck „Bedürfnisse“ benutzt Steiner nicht immer im Sinne vonetwas, was möglichst befriedigt werden sollte. Er kann auch einfachim Sinne von Interessen gemeint sein, sei es wirtschaftliche, staatli-che oder geistige Interessen. Mit solchen „Bedürfnissen“ geht Steinerhart zu Gericht, sobald bei ihrer Befriedigung keine Rücksicht auf dieNotwendigkeit einer sozialen Dreigliederung genommen wird.

Staatliche und wirtschaftliche Bedürfnisse im Sinne vonInteressen

Quelle [25]: GA 332a, S. 156, 2/1977, 29.10.1919, Zürich

Während das Geistesleben sich gewissermaßen, insoferne es einfreies ist, emanzipiert hat, hat das Rechtsleben sich im Laufe derletzten Jahrhunderte vollständig verschmelzen lassen mit den wirt-schaftlichen Machtverhältnissen. Man hat es gar nicht bemerkt, aberbeide sind völlig eins geworden. Was wirtschaftliche Interessen undBedürfnisse waren, das wurde in öffentlichen Rechten ausgedrückt.Diese öffentlichen Rechte hält man oftmals für Menschheitsrech-te. Genau besehen sind sie nur in den Rechtscharakter umgesetztewirtschaftliche und staatliche Interessen und Bedürfnisse.

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Staatliche Bedürfnisse sind einseitig

Quelle [25]: GA 332a, S. 095, 2/1977, 26.10.1919, Zürich

Es wird sich darum handeln, daß nicht aus staatlichen Bedürfnissenheraus die Richter bestellt werden, sondern daß die Gründe, ausdenen heraus man einen Richter bestellt, ähnliche sind wie die, dieman im freien Geistesleben geltend macht dafür, daß man den bestenErzieher an irgendeinen Platz hinbringt. Das Richterwerden wirdetwas ähnliches sein wie das Lehrer- und Erzieherwerden.

Geistesleben entwickelt sich nicht aus eigenenBedürfnissen heraus

Quelle [25]: GA 332a, S. 023, 2/1977, 24.10.1919, Zürich

Diejenigen, die die wirtschaftlich Mächtigen sind – das wurde nurzu klar immer weiter und weiter eingesehen -, die sind zu gleicherZeit durch ihre wirtschaftliche Übermacht im Besitz des Bildungs-monopols. Die wirtschaftlich Schwachen bleiben die Ungebildeten.Ein gewisser Zusammenhang hat sich herausgestellt zwischen demWirtschafts- und dem Geistesleben, ein Zusammenhang zwischendem Geistesleben und dem Staatsleben. Das Geistesleben ist immermehr und mehr zu etwas geworden, was sich nicht aus seinen ei-genen Bedürfnissen heraus entwickelt, was nicht seinen eigenenImpulsen folgt, sondern was – insbesondere da, wo es öffentlichverwaltet wird, im Erziehungs- und Schulwesen – so gestaltet wird,wie es gebraucht wird von den Staatsmächten. Der Mensch kanngar nicht mehr auf das hin angesehen werden, wie und wozu erbefähigt ist. Er kann nicht so entwickelt werden, wie es die in ihmvorhandenen Anlagen erfordern. Sondern die Frage ist: Was brauchtder Staat, was braucht das Wirtschaftsleben für Kräfte, was brauchtes für Menschen mit einer gewissen Bildung?

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Geistesleben mußte sich nach staatlichen Bedürfnissenrichten

Quelle [2]: GA 024, S. 237, 2/1982, 09.1919

Unter den Verhältnissen, die sich im Laufe der letzten Jahrhunderteergeben haben, konnte die Pflege des Geisteslebens aus sich selbstihre Wirkung auf das politisch-rechtliche und das wirtschaftliche Le-ben nur in einem sehr beschränkten Maße ausüben. Aus den Interes-sen der staatlichen Rechtsmacht gestaltete sich einer der wichtigstenZweige der Geistespflege: das Erziehungs- und Unterrichtswesen.Wie es den staatlichen Bedürfnissen entsprach, so wurde der Menscherzogen und unterrichtet.

Bedürfnisse des Rechtslebens tyrannisieren dasGeistesleben

Quelle [1]: GA 023, S. 081-083, 6/1976, 28.04.1919, Stuttgart

Man spricht ja wohl von „Freiheit derWissenschaft und des Lehrens“.Aber man betrachtet es als selbstverständlich, daß der politischeStaat die „freie Wissenschaft“ und das „freie Lehren“ verwaltet. Manentwickelt keine Empfindung dafür, wie dieser Staat dadurch dasGeistesleben von seinen staatlichen Bedürfnissen abhängig macht.Man denkt, der Staat schafft die Stellen, an denen gelehrt wird; dannkönnen diejenigen, welche diese Stellen einnehmen, das Geistesle-ben „frei“ entfalten. Man beachtet, indem man sich an eine solcheMeinung gewöhnt, nicht, wie eng verbunden der Inhalt des geisti-gen Lebens ist mit dem innersten Wesen des Menschen, in dem ersich entfaltet. Wie diese Entfaltung nur dann eine freie sein kann,wenn sie durch keine andern Impulse in den sozialen Organismushineingestellt ist als allein durch solche, die aus dem Geisteslebenselbst kommen. Durch die Verschmelzung mit dem Staatsleben hat

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eben nicht nur die Verwaltung der Wissenschaft und des Teiles desGeisteslebens, der mit ihr zusammenhängt, in den letzten Jahrhun-derten das Gepräge erhalten, sondern auch der Inhalt selbst. Gewiß,was in Mathematik oder Physik produziert wird, kann nicht un-mittelbar vom Staate beeinflußt werden. Aber man denke an dieGeschichte, an die andern Kulturwissenschaften. Sind sie nicht einSpiegelbild dessen geworden, was sich aus dem Zusammenhangihrer Träger mit dem Staatsleben ergeben hat, aus den Bedürfnis-sen dieses Lebens heraus? Gerade durch diesen ihnen aufgeprägtenCharakter haben die gegenwärtigen wissenschaftlich orientierten,das Geistesleben beherrschenden Vorstellungen auf das Proletariatals Ideologie gewirkt. Dieses bemerkte, wie ein gewisser Charak-ter den Menschengedanken aufgeprägt wird durch die Bedürfnissedes Staatslebens, in welchem den Interessen der leitenden Klassenentsprochen wird. Ein Spiegelbild der materiellen Interessen undInteressenkämpfe sah der proletarisch Denkende. Das erzeugte inihm die Empfindung, alles Geistesleben sei Ideologie, sei Spiegelungder ökonomischen Organisation.

Eine solche, das geistige Leben des Menschen verödende Anschau-ung waltet eine über das materielle Außenleben hinausgehendeWirklichkeit, die ihren Inhalt in sich selber trägt. Es ist unmöglich,daß eine solche Empfindung ersteht, wenn das Geistesleben nichtaus seinen eigenen Impulsen heraus sich innerhalb des sozialenOrganismus frei entfaltet und verwaltet. Nur solche Träger des Geis-teslebens, die innerhalb einer derartigen Entfaltung und Verwaltungstehen, haben die Kraft, diesem Leben das ihm gebührende Gewichtim sozialenOrganismus zu verschaffen. Kunst,Wissenschaft,Weltan-schauung und alles, was damit zusammenhängt, bedarf einer solchenselbständigen Stellung in der menschlichen Gesellschaft. Denn imgeistigen Leben hängt alles zusammen. Die Freiheit des einen kannnicht ohne die Freiheit des andern gedeihen. Wenn auch Mathematikund Physik in ihrem Inhalt nicht von den Bedürfnissen des Staates

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unmittelbar zu beeinflussen sind:Wasman von ihnen entwickelt, wiedie Menschen über ihren Wert denken, welche Wirkung ihre Pflegeauf das ganze übrige Geistesleben haben kann, und vieles anderewird durch diese Bedürfnisse bedingt, wenn der Staat Zweige desGeisteslebens verwaltet. Es ist ein anderes, wenn der die niedersteSchulstufe versorgende Lehrer den Impulsen des Staatslebens folgt;ein anderes, wenn er diese Impulse erhält aus einem Geisteslebenheraus, das auf sich selbst gestellt ist.

Bedürfnisse des Wirtschaftslebens sind einseitig

Quelle [2]: GA 024, S. 234, 2/1982, 09.1919

Man kann nicht sagen, die Verwalter des Wirtschaftslebens könnensich doch, trotz ihrer Inanspruchnahme durch die wirtschaftlichenInteressen, ein gesundes Urteil über die Rechtsverhältnisse wahren;und da sie aus ihren Erfahrungen und ihrer Arbeit die Bedürfnissedes Wirtschaftslebens gut kennen, so werden sie auch das Rechtsle-ben, das sich innerhalb des Wirtschaftskreislaufes entfalten soll, ambesten ordnen können. Wer eine solche Meinung hat, der beachtetnicht, daß der Mensch aus einem gewissen Lebensgebiete herausnur die Interessen dieses Gebietes entwickeln kann.

Keine Rechte aus wirtschaftlichen Bedürfnissen heraus

Quelle [1]: GA 023, S. 141, 6/1976, 28.04.1919, Stuttgart

Wer dagegen einwendet, daß die Rechts- und Wirtschaftsverhältnis-se doch in Wirklichkeit ein Ganzes bilden und nicht voneinandergetrennt werden können, der beachtet nicht, worauf es bei der hiergemeinten Gliederung ankommt. Im gesamten Verkehrsprozeß wir-ken die beiderlei Verhältnisse selbstverständlich als Ganzes. Aber

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Abgrenzung der drei Glieder

es ist etwas anderes, ob man Rechte aus den wirtschaftlichen Be-dürfnissen heraus gestaltet; oder ob man sie aus den elementarenRechtsempfindungen heraus gestaltet und, was daraus entsteht, mitdem Wirtschaftsverkehr zusammenwirken läßt.

Bedürfnisse des Geisteslebens sind einseitig

Quelle [25]: GA 332a, S. 088, 2/1977, 26.10.1919, Zürich

Man kann immer, wenn Interessenvertretungen wirtschaftlicher Artin den Parlamenten sitzen, Majoritäten zusammenbringen, die ausden wirtschaftlichen Interessen heraus Beschlüsse fassen, dadurchRechte schaffen, die aber gar nichts zu tun haben mit dem, was ausdem Gefühl heraus von Mensch zu Mensch als Rechtsbewußtseinwaltet. Oder nehmen Sie die Tatsache, daß zum Beispiel in dem altendeutschen Reichstag eine große Partei saß, die sich Zentrum nannte,und die rein geistige Interessen, nämlich katholisch-geistige Interes-sen vertrat. Diese Partei konnte sich zusammenschließen mit jederanderen, um eine Majorität zu ergeben, und so wurden rein geisti-ge Bedürfnisse in irgendwelche öffentlichen Rechte umgewandelt.Unzählige Male ist dies geschehen.

Was da lebt in den demokratisch werden wollenden modernen Parla-menten, hat man oftmals bemerkt. Aber man ist nicht darauf gekom-men, einzusehen, was zu geschehen hat: Eine reinliche Abscheidungdesjenigen, was das Rechtsleben ist, von dem, was die Vertretung,die Verwaltung wirtschaftlicher Interessen ist.

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Abgrenzung der Dreigliederung

Die soziale Dreigliederung muß immer wieder von anderen politi-schen Ansätzen abgegrenzt werden. Hier soll es um Ansätze gehen, diedeswegen leicht mit der Dreigliederung zu verwechseln sind, weil sieauch von einer Dreifachheit ausgehen. Damit enden aber meistens dieGemeinsamkeiten.

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Abgrenzung der Dreigliederung

Dreigliederung oder drei Parlamente

Dreigliederung heisst nicht drei Parlamente

Quelle [25]: GA 332a, S. 039-040, 2/1977, 25.10.1919, Zürich

Gegenwärtig umfaßt eine einzige Verwaltung in unseren Staatendiese drei Elemente des Lebens, und wenn man von einer Drei-gliederung spricht, wird man heute sogleich mißverstanden. Manwird so verstanden, daß gesagt wird: Nun ja, da will irgend jemandeine selbständige Verwaltung für das Geistesleben, eine selbständigeVerwaltung für das Rechts- oder Staats- oder politische Leben, eineselbständige Verwaltung für das Wirtschaftsleben; also fordert erdrei Parlamente, ein Kulturparlament, ein demokratisch-politischesParlament und ein Wirtschaftsparlament. – Wenn man dies fordernwürde, so würde man von der Idee der Dreigliederung des sozialenOrganismus eben gar nichts verstehen, denn diese Idee der Drei-gliederung des sozialen Organismus will eben einfach vollständigernst nehmen die Forderungen, die sich geschichtlich im Laufe derneueren Entwickelung der Menschheit ergeben haben. Und diesedrei Forderungen kann man aussprechen mit den drei Worten, dieallerdings schon zu Schlagworten geworden sind; geht man aber ausden Schlagworten heraus, um die Wirklichkeit zu treffen, so findetman, daß berechtigte geschichtliche Impulse in diesen drei Wortenenthalten sind. Diese drei Worte sind der Impuls nach der Freiheitdes menschlichen Lebens, der Impuls nach Demokratie, und der Im-puls nach einer sozialen Gestaltung des Gemeinschaftswesens. Aberwenn man diese drei Forderungen ernst nimmt, so kann man sienicht zusammenknäueln in eine einzige Verwaltung, denn das einemuß dann immer das andere stören. Wer zum Beispiel den Ruf nachDemokratie ernst nimmt, der muß sich sagen: Diese Demokratiekann sich nur ausleben in einer Volksvertretung oder durch ein Re-

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Dreigliederung oder drei Parlamente

ferendum, wenn jeder einzelne mündig gewordene Mensch, indemer gleichgestellt ist jedem anderen mündig gewordenen Menschengegenüber, entscheiden kann durch sein Urteil, was eben auf de-mokratischem Boden durch die Urteilsfähigkeit eines jeden mündiggewordenen Menschen entschieden werden kann.

Nun gibt es – so sagt die Idee von der Dreigliederung des sozialenOrganismus – ein ganzes Lebensgebiet, das ist eben das Gebiet desRechtslebens, das Gebiet des Staatslebens, das Gebiet der politischenVerhältnisse, in dem jeder mündig gewordene Mensch berufen ist,aus seinem demokratischen Bewußtsein heraus mitzureden. Abernimmermehr kann dann, wenn so mit der Demokratie ernst gemachtund das Staatsleben ganz demokratisiert werden soll, das geistige Ge-biet auf der einen Seite einbezogen werden in diese Demokratie, undnimmermehr kann der Kreislauf des Wirtschaftslebens einbezogenwerden in diese demokratische Verwaltung.

In dieser demokratischen Verwaltung ist ein Parlament durchausam Platze. Aber in einem solchen demokratischen Parlament kannniemals entschieden werden über das, was sich auf dem Boden desGeisteslebens, auch auf dem Boden des Erziehungs- und Unterrichts-wesens, zu vollziehen habe.

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Abgrenzung der Dreigliederung

Dreigliederung oder Dreiteilung

Steiner lehnt es ab, wenn seine soziale Dreigliederung mit einer sozialerDreiteilung verwechselt wird. Glieder sind zwar eigenständig, wirkenaber aufeinander, was bei Teilen nicht unbedingt der Fall ist.

Dreigliederung statt Dreiteilung von Montesquieu

Quelle [5]: GA 083, S. 306-307, 3/1981, 11.06.1922, Wien

Ich habe nur darauf hindeuten wollen, daß wir durch die Beobach-tung darauf hingewiesen werden, wie das gesamte soziale Leben indrei Gebiete zerfällt, die aus ganz besonderen, verschiedenen Bedin-gungen hervorgehen: das Geistesleben, das Rechts- und Staatslebenund das Wirtschaftsleben. Diese arbeiten sich gewissermaßen in-nerhalb der modernen Zivilisationsentwickelung zu einer gewissenSelbständigkeit heraus. Diese Selbständigkeit zu verstehen und je-dem Gebiet das Seine allmählich zuzuteilen, damit sie gerade in derrichtigen Weise zusammenarbeiten können, das ist es, worauf esheute ankommt.

Man hat in der verschiedensten Weise in der Menschheit über dieseDreigliederung des sozialen Organismus nachgedacht. Und man hatauch, als da und dort die „Kernpunkte der sozialen Frage“ von mirbekannt wurden, auf das eine und andere, was aus Früherem schonanklingt, hingewiesen. Nun, ich will nicht irgendeine Prioritätsfrageaufwerfen. Es kommt nicht darauf an, ob der einzelne dies oder dasgefunden hat, sondern wie es sich ins Leben einführt. Man könntesich nur freuen, wenn recht viele Menschen darauf kämen. Aberdas muß doch bemerkt werden: Wenn von Montesquieu in Frank-reich eine Art Dreiteilung des sozialen Organismus definiert wird,so ist das einfach eine Dreiteilung. Da wird darauf hingewiesen,

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Dreigliederung oder Dreiteilung

daß diese drei Gebiete eben durchaus verschiedene Bedingungenhaben; darum solle man sie voneinander abtrennen. Das ist nichtdie Tendenz meines Buches. – Da handelt es sich nicht darum, so zuunterscheiden: Geistesleben, Rechtsleben und Wirtschaftsleben, wieman am Menschen unterscheiden würde das Nerven-Sinnessystem,Herz-Lungensystem und Stoffwechselsystem, indem man dabei sa-gen würde, das seien drei voneinander geschiedene Systeme. Mitsolcher Einteilung ist nichts getan, sondern erst, wenn man sieht,wie diese verschiedenen Gebiete zusammenwirken, wie sie am bes-ten eine Einheit werden dadurch, daß jedes aus seinen Bedingungenheraus arbeitet. So ist es auch im sozialen Organismus. Wenn wirwissen, wie wir das Geistesleben, das rechtlich-staatliche Leben unddas Wirtschaftsleben jedes auf seine ureigenen Bedingungen stel-len, aus seinen ureigenen Kräften heraus arbeiten lassen, dann wirdsich auch die Einheit des sozialen Organismus ergeben. Und dannwird man sehen, daß aus jedem einzelnen dieser Gebiete gewisseNiedergangskräfte hervorgetrieben werden, die aber durch das Zu-sammenwirken mit den anderen Gebieten wiederum geheilt werden.Damit ist hingewiesen, nicht wie bei Montesquieu auf eine Dreitei-lung des sozialen Organismus, sondern auf eine Dreigliederung dessozialen Organismus, die sich aber dadurch in der Einheit des ge-samten sozialen Organismus zusammenfindet, daß ja jeder Menschallen drei Gebieten angehört. Die menschliche Individualität, auf diedoch alles ankommt, steht in diesem dreigegliederten sozialen Orga-nismus so drinnen, daß sie die drei Glieder miteinander verbindet.

So können wir sagen, daß – gerade wenn man sich anregen läßt vondem, was hier gesagt worden ist – nicht etwa eine Teilung des sozia-len Organismus, sondern die Gliederung desselben angestrebt wird,gerade damit die Einheit in der richtigen Weise zustande komme.

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Abgrenzung der Dreigliederung

Richtiges Zusammenwirken durch Dreigliederung stattDreiteilung

Quelle [33]: GA 341, S. 086-088, 3/1986, 05.08.1922, Dornach

Einwände werden genannt, die gegen die Dreigliederung erhobenwerden: Es sei unmöglich, die Trennung der drei Glieder durchzu-führen. Aufgabe der Dreigliederung könnte es nicht so sehr sein,aufzubauen, als vielmehr negativ dort, wo schädliche Einwirkungender drei Gebiete aufeinander bestehen, diese voneinander zu tren-nen und darin die Arbeit bewendet sein zu lassen. Besonders unterden Grenzen der drei Gebiete könnte man sich gar nichts vorstellen.Das Wirtschaftsleben würde dadurch beschränkt auf das, was manTechnik nennt.

Rudolf Steiner: „Das Denken der Menschen, die diesen Einwandmachen, ist nicht genügend durchgebildet. Wie das überhaupt derHauptschaden ist, daß unsere heutigen Lehranstalten das Denkenviel zu wenig durchbilden. Die Menschen können sich nur Begrif-fe bilden, die sie hübsch nebeneinander lagern. Aber schon beimmenschlichen dreigegliederten Organismus hat man dieselbe Sa-che. Wenn Sie den Augennerv nehmen, so gehört er in das Nerven-Sinnessystem; aber der könnte natürlich nicht bestehen, wenn ernicht, namentlich im Schlaf, vom Ernährungssystem aus, vom Stoff-wechselsystem aus ernährt würde, wenn also nicht in ihm Ernäh-rungsprozesse vor sich gehen würden und wenn nicht auch fort-während durch den Rückenmarkskanal die eingeatmete Luft in denSehnerv ginge und da auch ein Zirkulationsprozeß stattfände. So daßalso im menschlichen Organismus irgend etwas eben bloß haupt-sächlich dem Sinnes-Nervensystem angehört oder dem Ernährungs-oder dem rhythmischen System.

So auch im sozialen Organismus. Es ist notwendig, daß imwirtschaft-lichen Organismus die anderen zwei Systeme hineinspielen. Aber

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Dreigliederung oder Dreiteilung

bei alldem bleibt es doch richtig, daß im wesentlichen das Sinnes-Nervensystem nach dem Kopf zu liegt, und daß die Kopfernährungund Kopfatmung von einer anderen Instanz bewirkt werden. Geradedadurch wird im richtigen Sinn dieses Zusammenwirken bestehen,daß diese drei Instanzen geschaffen werden. Ich habe mich immergesträubt, daß man von einer Dreiteilung spricht. Es handelt sichum die Frage: Wie haben sich die drei Glieder, die ohnedies vorhan-den sind, in naturgemäßer Weise zueinander zu stellen, damit sieentsprechend aufeinander wirken können? Der geistige Organis-mus wird im wesentlichen auf die Freiheit gestellt sein. Aber in dengeistigen Organismus wird natürlich auch das Wirtschaftsleben hin-einwirken müssen, sonst hätten die Professoren nichts zu essen. Daswird aber gerade richtig hineinwirken, wenn es von einer anderenInstanz aus geschieht, so daß man es nötig hat, nach einer gewis-sen Richtung hin auszubauen einen Wirtschaftsorganismus, nacheiner anderen Richtung auszubauen einen geistigen Organismus unddann den staatlich-juristischen „Organismus“. Nur die machen hierEinwendungen, die sich diese Dreigliederung als Teilung vorstellen.Daß dieses reichlich geschehen ist, ist bekannt. Ich habe bei einemInterpreten gefunden, daß er Vorträge gehalten hat über die dreiParlamente im sozialen Organismus. Wer sich die Sache so vorstellt,der stellt sich eine Unmöglichkeit vor, denn ein Parlament kann esnur im Staate geben, nicht im freien Geistesleben. Da kann es nurdie einzelne Individualität geben, die ein Netz von selbstverständ-licher Autorität schafft. Auf wirtschaftlichem Gebiet kann es nurAssoziationen geben. Im Parlament werden schon alle Funktionenzusammenrinnen, und es werden die richtigen Maßregeln geschehenzwischen den einzelnen Gliedern des sozialen Organismus.

Dreiteilung als falsche Übersetzung für Dreigliederung

Quelle [30]: GA 338, S. 169-170, 4/1986, 16.02.1921, Stuttgart

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Abgrenzung der Dreigliederung

Sehen Sie, in den Assoziationen des Wirtschaftslebens werden Ver-treter aller drei Glieder des sozialen Organismus sein; nur werdendie Assoziationen selber eben nur dem wirtschaftlichen Gliede ange-hören und nur mit wirtschaftlichen Angelegenheiten zu tun haben:mit Warenkonsum, Warenzirkulation und Warenproduktion undder daraus hervorgehenden Preisbestimmung. Darum handelt essich beim dreigliedrigen sozialen Organismus, daß Korporationenda sind, die bloße Kompetenz haben innerhalb des einen betreffen-den Gliedes. In den wirtschaftlichen Assoziationen wird über nichtsals über Wirtschaftsfragen verhandelt; aber in den Assoziationensitzen natürlich die Leute, die ihre Fähigkeiten und Kompetenzen zuden Verhandlungen aus dem freien Geistesleben und dem Rechtlich-Staatlichen heraus haben. Es handelt sich also gar nicht darum, daßman äußerlich schematisch nebeneinanderstellt die drei Glieder dessozialen Organismus, sondern daß Verwaltungen, Korporationenmit der Kompetenz in den einzelnen Dingen da sind. Das ist es, umwas es sich handelt.

Im einzelnen geht Ihnen das klar aus den „Kernpunkten“ hervor.Zunächst handelt es sich darum, daß immer appelliert wird in bezugauf das Kapital an das Geistesleben, indem man sagt: Derjenige, derProduktionsmittel zusammengebracht hat durch seine Fähigkeiten,bleibt solange dabei, wie diese Fähigkeiten vorhanden sind. Das zubestimmen ist Angelegenheit des Geisteslebens. Dann schreibt esihm noch so viel Urteil zu, daß er seinen Nachfolger bestimmenkann. Das gehört auch dem freien Geistesleben an. Und wenn erdas nicht selber kann oder will, so entscheidet die freie Korpora-tion des freien Geisteslebens. Sie sehen, alles, was Funktion desabstrakten Kapitalismus ist, geht über in das Wirken des freien Geis-teslebens innerhalb des Wirtschaftslebens. Das ist geradeso wie immenschlichen Organismus. Das Blut hängt zusammen mit dem Zir-kulationssystem, aber es geht in den Kopf über und durchpulst denKopf. Genau ebenso ist es beim wirklichen sozialen Organismus.

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Dreigliederung oder Dreiteilung

Daher ist es schon in gewissem Sinn fatal, daß, namentlich im Aus-land, besonders in nordischen Ländern, so stark die Tendenz Platzgegriffen hat, zu sagen „Dreiteilung“ des sozialen Organismus, statt„Dreigliederung“. Dieser „dreigeteilte“ soziale Organismus ruft na-türlich furchtbare Mißverständnisse hervor. Es handelt sich um eineGliederung, die nicht eine Teilung ist. Die einzelnen Glieder müs-sen durchaus ineinanderwirken. Dafür müssen wir ein deutlichesVerständnis hervorrufen.

Anmerkung: Der Gerechtigkeit halber muß allerdings gesagt werden,daß nicht nur die Übersetzer daneben getroffen haben. Neben den dreibereits erwähnten Stellen, wo Steiner ausdrücklich auf den Unterschiedzwischen Dreigliederung und Dreiteilung aufmerksam macht, hat ersich selber – oder diejenigen, die seine Vorträge aufgeschrieben haben– über zwanzig Ausrutscher erlaubt. Es wäre müssig alle diese Stellenhier zu zitieren. Wer doch wissen möchte, wo sich diese befinden, derkann auf das „Register zur sozialen Dreigliederung“ zurückgreifen, wosie unter dem Stichwort „Dreiteilung“ aufgeführt werden.

Wichtiger als diese vielen Versprecher ist eine Stelle, wo Steiner erklärt,daß seine „Kernpunkte der sozialen Frage“ nicht bloß übersetzt, sondernfür die einzelnen Länder umgeschrieben werden sollten. Der entschei-dende Grund dazu liegt gerade in der Frage, was bei der Dreigliederungbetont werden soll. Soll der Schwerpunkt auf die Entflechtung, alsoauf das Moment der Teilung, oder auf das zweite Moment der Verbin-dung, der eigentlichen Gliederung gelegt werden? Darauf gibt es keineallgemeine, sondern nur länderspezifische Antworten.

In Deutschland Entflechtung, in England Verbindung derGlieder betonen

Quelle [20]: GA 305, S. 202-205, 2/1979, 28.08.1922, Oxford

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Es ist von mir nun der Versuch gemacht worden, in einem sehr wich-tigen Momente, in dem Momente zwischen dem Kriegsabschlusseund dem Versailler Friedensversuch in einigen Linien darzustellen,wie man sich denken könnte die Gliederung als eine organischeim gegenwärtigen sozialen Organismus nach den drei Teilen dessozialen Lebens, die ich mir erlaubte, im letzten Vortrag zu charak-terisieren.

Ich habe im letzten Vortrage darauf aufmerksam gemacht, wie imLaufe der geschichtlichen Entwickelung der Menschheit drei starkvoneinander geschiedene Strömungen aus einer ursprünglichen Strö-mung, aus der theokratischen Strömung heraus, entstanden sind,wie gegenwärtig nebeneinanderliegen im sozialen Organismus dasgeistige Leben, das juristisch-staatliche Leben und das wirtschaft-liche Leben. Ich hatte ausdrücklich bemerkt, daß ich nicht etwadie Meinung habe, man brauche theoretisch erst den sozialen Or-ganismus in diese drei Glieder zu teilen. Das käme mir in meinerwirklichkeitsgemäßen, nicht theoretischen Ansicht so vor, als wennjemand nachdenken wollte, wie er den Menschen in Kopf, Brust undGliedmaßen erst teilen sollte. Die Teilung im sozialen Organismusist eine geschichtlich gewordene und ist einfach heute da, und eshandelt sich heute nicht darum, nachzudenken darüber, wie manden sozialen Organismus in drei Glieder trennen soll, sondern wieman die Verbindungsglieder finden soll zwischen den drei Gliedern,die da sind.

Wenn man über diese Frage als die soziale Grundfrage in unsererZeit richtig denken will, dann muß man ganz wirklichkeitsgemäßdenken, nur aus den Tatsachen heraus denken. Dann aber denkt manfür einen bestimmten Zeitpunkt und für einen bestimmten Ort. Undich habe in meinem Buche: „Die Kernpunkte der sozialen Frage“, weildas Buch vom südlichen Deutschland, von Stuttgarter Freunden ausvonmir gefordert worden ist – ich habe es nicht aus eigenemAntrieb

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Dreigliederung oder Dreiteilung

geschrieben, es ist mir abgefordert worden -, ich habe dieses Buchgeschrieben für jenen Zeitpunkt Frühjahr 1919, Ort Süddeutschland,weil ich mir vorgestellt habe, daß, wenn die Menschen zum Willenkommen, der Wille in der Zeit und an dem Orte gerade so geartetsein könne, daß man Verständnis finden werde für dasjenige, wasnun nicht als Programmpunkte, sondern als Willensrichtungen indiesem Buche angedeutet ist.

Nun liegt die Sache so, daß die Frage, die in diesem Buch berührtwird, eine ganz andere ist für den Osten der zivilisierten Welt, fürRußland, Asien, eine ganz andere ist für Mitteleuropa, und eineganz andere ist für den Westen, für England und Amerika. Dasergibt sich aus einemwirklichkeitsgemäßenDenken. Denn dasjenige,was ich im letzten Vortrag charakterisiert habe, das Hervorgehender industriellen Weltordnung aus den beiden früheren, so daß sieneben ihnen als eine besondere Strömung weiterläuft, das hat sichvorzugsweise unter dem Einfluß der westlichen Länder entwickelt.Es hat sich entwickelt unter dem Einflusse desjenigen, was im 18.Jahrhundert in den westlichen Ländern Sitte, Gewohnheit, sozialeOrdnung war, hat sich da hineingepaßt. Will man es konkreter,genauer charakterisieren, so muß man sagen: England ist im Laufeder neueren geschichtlichen Entwickelung die große Handelsnationgeworden. Dasjenige, was, ich möchte sagen, jedes dritte Wort heutein der sozialen Proletarierfrage ist, das Kapital, das hat sich fürWesteuropa unter dem Einflusse der großen Handelsverhältnisseentwickelt als kommerzielles Kapital.

Ja, meine Damen und Herren, das gibt einer Sache einen ganz be-stimmten Charakter, denn das kommerzielle Wesen hat sich or-ganisch herausentwickelt in der neueren Zeit aus den westlichenLebensgewohnheiten und Lebenssitten. Es hat tatsächlich Karl Marxin England etwas anderes angeschaut, als was er in Deutschland umsich hatte. Er hat von Deutschland nur die Theorie gebracht, das

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Denken, die Dialektik. Er hat hier ein fremdes soziales Strukturge-bilde angeschaut. Und so muß man sagen: Alles dasjenige, was dannals industrielle Ordnung aufgetaucht ist, das ist in kontinuierlicherFortentwickelung als ein nächstes Glied der kommerziellen Entwi-ckelung imWesten aufgetaucht. Industrielles hat sich in organischerWeise aus dem Handel heraus entwickelt.

In Mitteleuropa und in dem repräsentativen Lande Mitteleuropas, inDeutschland, war das nicht der Fall. Deutschland war noch bis in dieMitte des 19. Jahrhunderts im wesentlichen ein Agrarland, ein Land,in dem die Landwirtschaft weitaus dominiert hat. Und dasjenige,was da war als die moderne Industrie, diese moderne industrielleStrömung, die sich als dritte neben die beiden anderen hingestellthat, das war ein staatliches Gefüge, ein Gefüge, das sich staatlichimmer mehr und mehr konsolidierte, und das daher die Tendenz ent-wickelte, den Industrialismus in das Staatsgebilde hineinzugliedern,zu absorbieren.

Vergleichen Sie nur einmal wirklichkeitsgemäß Mitteleuropa, wie esvor dem Kriege war, mit Westeuropa vor dem Kriege. In Westeuropahat sich das wirtschaftliche, das ökonomische Wesen in einer ge-wissen Emanzipation vom Staate erhalten, und das geistige Wesenerst recht. Das steht in einer gewissen Selbständigkeit den anderenbeiden Gliedern gegenüber.

In Mitteleuropa entstand eine kompakte Masse aus Geistesleben,juristischem Staats- und Verfassungsleben und Wirtschaftsleben.In Deutschland mußte man daher daran denken, wie man die dreiGlieder auseinanderbringt, um sie dann organisch zum Zusammen-wirken zu bringen, wie sie sich nebeneinander zu stellen haben,um sie nebeneinander zur Wirksamkeit zu bringen, um die Bänderzwischen ihnen zusammenzubringen.

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Dreigliederung oder Dreiteilung

Hier im Westen handelt es sich darum, daß die drei Glieder neben-einander daliegen, daß sie deutlich voneinander gesondert sind, daßman selbst räumlich das geistige Leben so zusammengefaßt findetwie hier in Oxford, wo man das Gefühl hat, als ob es draußen über-haupt keine Staats- und keine wirtschaftliche Welt mehr gäbe, alsob alles Geistige souverän und autonom dastünde. Aber man hatauch das Gefühl, dasjenige, was in diesem souveränen Geisteslebensich entwickelt, das hat nicht mehr die Kraft, hinauszuwirken in diebeiden anderen Glieder. Das ist etwas, was nur in sich selber lebt,was nicht organisch eingewebt ist in die beiden anderen Glieder.

In Deutschland hat man das Gefühl: Das geistige Leben steckt sodrinnen im staatlichen Leben, daß man ihm erst auf die Beine helfenmuß, daß es selbständig stehen kann. Hier hat man das Gefühl, dasgeistige Leben steht so selbständig da, daß es sich überhaupt nichtirgendwie kümmert um die anderen Glieder. Das gibt eine wesentlichandere Färbung, wenn man wirklichkeitsgemäß denkt gegenüberder ganzen sozialen Frage der Gegenwart und dem Grundimpuls dersozialen Frage in unseren Tagen.

Anmerkung: Hat man dieses Zitat einmal gelesen, dann läßt sich fol-gende Behauptung Michael Wolffs besser einschätzen: „Hatte nichtSteiner selbst (...) beklagt, daß er mißverstanden wurde, indem dieNebensache – die Entflechtung der Gesellschaftsbereiche der Kultur,des Rechtes und der Wirtschaft – zur Hauptsache und die Hauptsache –die Gliederung des Geisteslebens, des Rechtslebens und des Wirtschafts-lebens als lebendige Funtionen – zur Nebensache gemacht wurde?“(Info3, 12/1998, S.47). Hier wird stillschweigend eine Aussage verallge-meinert, die Steiner ausdrücklich nicht auf das damalige Deutschland,sondern auf das damalige England bezogen hat. Wie es um das heutigeDeutschland (und England) steht, müsste erst einmal unvoreingenom-men untersucht werden, bevor man sich auf diese Aussage Steinersstützen kann. Warum es im damaligen Deutschland zu einer solchen

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Verzwickung zwischen den verschiedenen Lebensbereichen gekommenist, wird von Steiner an einer anderen Stelle dargestellt.

Notwendigkeit der Dreigliederung durch Fremdheit derGlieder verdeckt

Quelle [9]: GA 190, S. 179-190, 3/1980, 13.04.1919, Dornach

Nun wollen wir ein wenig näher ins Auge fassen, warum eigent-lich diese im Grunde doch großartige Geistesbewegung, die da gehtvon Walther von der Vogelweide bis herauf zum Goetheanismus,während sie nach dem Goetheanismus einen jähen Absturz erfährt,warum denn diese Geistesbewegung so gar nicht dahin gekommenist, das soziale Leben irgendwie zu bewältigen, in dem sozialen Le-ben irgendwie Gedanken zu fassen. Man bedenke doch nur, daßselbst Goethe, der über vieles in der Welt die umfassendsten Ideenzu entwickeln verstand, eigentlich nur in gewissen Andeutungen,von denen man dreist sagen kann, daß sie ihm selber nicht ganz klarwaren, zu sprechen verstand über dasjenige, was da als eine neuesoziale Ordnung über die zivilisierte Menschheit heraufkommenmuß. Im Grunde war schon die Tendenz nach der Dreigliederungdes gesunden sozialen Organismus seit dem Ende des 18. Jahrhun-derts in dem Unterbewußtsein der Menschen vorhanden. Und dieRufe nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, die nur dann Sinnbekommen werden, wenn einmal die Dreigliederung sich verwirk-licht, sie bezeugten, daß diese unterbewußte Sehnsucht nach derDreigliederung vorhanden war. Warum eigentlich kam sie nicht ansTageslicht?

Das hängt mit der ganzen Artung des Geisteslebens Mitteleuropaszusammen. Ich habe gestern am Schlusse hingewiesen auf eine eigen-tümliche Erscheinung, ich habe gesagt: Der von mir so hochverehrteHerman Grimm, der mit seinen Ideen in so manches hineinleuch-

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ten konnte, was Künstlerisches, was Allgemein-Menschliches ist,was die Antike betrifft, er verfiel in die merkwürdige Unwahrheit,einen bloßen Wortphraseur wie Wildenbruch zu bewundern. Ichhabe öfter im Lauf der Jahre – gestatten Sie diese persönliche Be-merkung – auf etwas hingewiesen, was, wenn man es so erzählt,recht unbedeutend dem Zuhörer erscheinen könnte, was aber fürden, der das Leben symptomatologisch betrachtet, eine große, tiefgehende Bedeutung haben kann. Ich hatte unter manchen anderenGesprächen, die ich führen durfte in der Zeit, als ich mit HermanGrimm persönlichen Verkehr hatte, auch einmal ein Gespräch mitihm, im Verlauf dessen ich von meinem Gesichtspunkte aus auf man-ches hinwies, was geistig zu verstehen ist. Und wenn ich dies erzählthabe, habe ich immer darauf aufmerksam gemacht, daß HermanGrimm für eine solche Rede über das Geistige nur eine abwehrendeHandbewegung hatte; er meinte, das ist etwas, worauf er sich nichteinläßt. Es war in diesem Momente eine ungeheuer wahre Bemer-kung, die in dieser Handbewegung bestand. Inwiefern war dieseBemerkung ungeheuer wahr? Wahr war sie insofern, als HermanGrimm bei allem seinem Eingehen auf manches in der sogenanntengeistigen Entwickelung der Menschheit, in der Kunst, in der Darle-bung des Allgemein-Menschlichen, auch nicht die geringste Ahnunghatte von dem, was eigentlich Geist sein muß dem Menschen desfünften nachatlantischen Zeitalters. Herman Grimm wußte einfachnicht vom Gesichtspunkte aus eines Menschen des fünften nach-atlantischen Zeitraums, was Geist ist. Wenn man solch eine Sachebespricht, dann ist es schon nötig, daß man nicht schroff sich aufden Gesichtspunkt der Wahrheit stellt; wenigstens bis zum Geistehin war ein solcher Mensch wie Herman Grimm wahr, weil er nichtswußte von der Art, wie man über den Geist denkt, machte er eineabwehrende Bewegung. Wäre er einer gewesen von den Phraseu-ren, die heute wieder als Propheten maskiert herumgehen und dieMenschen bessern wollen, dann würde er geglaubt haben, er könne

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über den Geist mitreden, dann würde er geglaubt haben, wenn mansagt: Geist, Geist, Geist -, dann wäre damit irgend etwas gesagt, wasauch entsprechen würde einem Inhalt, den man in seiner eigenenSeele hegt.

Unter denjenigen, die auch viel vom Geiste gesprochen haben inden letzten Jahrzehnten, ohne eine Ahnung zu haben von dem, wasGeist ist, sind ja auch die Majorität der Theosophen zu verzeichnen.Denn eigentlich kann man schon sagen, daß unter allen geistlosenSchwätzereien, die in der neuesten Zeit gepflogen worden sind, dietheosophischen die betrübendsten waren, auch die schlimmstenFrüchte zum Teil getragen haben. Wenn man aber so etwas aus-spricht wie dasjenige, was ich eben in bezug auf Herman Grimmgesagt habe, den ich dabei nicht als Persönlichkeit, sondern als Re-präsentanten, als Typus unserer Zeit ins Auge fassen möchte, dannkann man doch die Frage stellen, wie es denn eigentlich möglichist, daß ein solcher, das mitteleuropäische Leben ganz und gar re-präsentierender Mensch keine Ahnung davon hat, wie man denkenmuß, wenn man über den Geist denkt. Damit ist nämlich HermanGrimm wirklich nur der Repräsentant für mitteleuropäisches Leben.Denn fassen wir eben gerade diejenige Kultur ins Auge, die ich ges-tern charakterisiert habe, die als die Kultur des Bürgertums, sagenwir im Jahre 1200 – approximativ natürlich – aufgeht und dannbis in den Goetheanismus hinein sich erstreckt, fassen wir geradediese Kultur, diese glanzvolle Kultur ins Auge, dann muß uns alsdas Charakteristische dieser Kultur, die ja deshalb nicht geringergeschätzt zu werden braucht, erscheinen, daß sie im schönsten Sinnevon demjenigen durchpulst ist, was man Seele nennt, daß ihr aberganz und gar dasjenige fehlt, was man Geist nennen kann. Das mußman nur mit all der dazu nötigen tragischen Empfindung ins Augefassen können, daß gerade dieser glanzvollen Kultur dasjenige fehlt,was man Geist nennen könnte. Nur muß man natürlich den Geist in

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dem Sinne nehmen, wie man den Geist zu nehmen lernt durch dieanthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft.

Ich komme immer wiederum auf diese repräsentative Persönlich-keit, Herman Grimm, zurück, denn so, wie er gedacht hat, so habenTausende und aber Tausende von Gebildeten Mitteleuropas gedacht.Herman Grimm hat ein ausgezeichnetes Buch über Goethe geschrie-ben, das zusammen faßt Vorlesungen, die er in den siebziger Jahrendes 19. Jahrhunderts an der Berliner Universität gehalten hat. MitBezug auf all dasjenige, was Herman Grimm über Goethe gesagt hat,ist es richtig, daß er eigentlich das Beste gesagt hat, was in umfas-sender Weise aus dieser Bildungsschichte heraus über Goethe gesagtworden ist. Und Herman Grimm hatte von seinem seelenvollenStandpunkte aus die Gabe, Menschen zu charakterisieren, aber auchdie Gabe, Menschencharakteristiken in richtiger Weise aufzufassen,in richtiger Weise zu taxieren. In dieser Beziehung war er glänzendim Auffinden der Worte, um irgend etwas zu charakterisieren. Ichmöchte nur an eines erinnern.

Herman Grimm gehörte natürlich auch zu den Menschen, von de-nen ich gestern gesprochen habe, die mit Bezug auf die Nibelun-genwildlinge in der Unwahrheit drinnen waren. Er war begeistertfür Friedrich den Großen und hatte in seiner Seele eine ganz be-stimmte Vorstellung, wie er sich Friedrich den Großen als einengermanisch-deutschen Helden vorzustellen habe. Nun hat der eng-lische Historiker und Schriftsteller Macaulay eine CharakteristikFriedrichs des Großen gegeben, die selbstverständlich vom engli-schen Gesichtspunkte aus geschrieben ist. Herman Grimm wollte ineinem Aufsatz über Macaulay klarmachen, wie eigentlich nur einrichtig empfindender Deutscher Friedrich den Großen verstehenund die Linien ziehen kann, durch die dieser Charakter gezeichnetwird, und die Macaulaysche Zeichnung von Friedrich dem Großencharakterisierte er sehr treffend, indem er sagte: Macaulay macht

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aus Friedrich dem Großen ein verzwicktes englisches Lordsgesichtmit Schnupftabak auf der Nase.

Nun, solch eine Charakteristik zu finden, das ist etwas, das bedeutetetwas, nämlich, daß man runden kann seine Ideen, seine Vorstel-lungen, daß diese Vorstellungen plastisch werden können. SolcheBeispiele, aus denen anschaulich wird, wie solch ein Geist wie Her-man Grimm treffend charakterisieren kann, könnte man viele geben,aber auch von anderen ähnlichen Geistern aus der ganzen KulturzeitMitteleuropas, die ich gestern charakterisiert habe. Aber sieht mangerade mit diesem gutenWillen, der aus einer solchen AnerkennungHerman Grimms hervorgeht, seine Goethe-Monographie an, dieweitaus die beste ist von denen, die geschrieben worden sind, washat man dann für eine Empfindung? Man hat die Empfindung: Dasist etwas sehr Schönes, etwas außerordentlich Gutes – aber Goetheist es nicht! Von Goethe ist eigentlich im Grunde genommen nur einSchattenbild da, wie wenn man von einem Gebilde, das drei Dimen-sionen hat, nur ein Schattenbild, das auf die Wand geworfen wirdund zwei Dimensionen hätte, macht. Ich möchte sagen: Kapitel fürKapitel wandelt Goethe wie ein Gespenst vom Jahre 1749 bis 1832.Ein gespenstiger Goethe wird geschildert, nicht dasjenige, was Goe-the war, was Goethe dachte, was Goethe fühlte, was Goethe wollte,sondern dasjenige, was wie ein Gespenst durch die Jahrzehnte, aufdie ich eben gedeutet habe, hinwanderte und wandelte.

Goethe selber hat nicht alles von dem, was in seiner Seele lebte, wasin seiner Seele namentlich geistig lebte, auch geistig sich zum Be-wußtsein gebracht. Das ist gerade heute das große Problem Goethe,dasjenige, was in Goethe geistig lebte, wirklich auf geistige Art insBewußtsein heraufzuholen, was Goethe noch nicht konnte, dennes war dazumal nicht möglich, etwas anderes als eine seelenvolle,nicht eine geistige Kultur zu haben. So hat auch Herman Grimm, derganz in der Goethe-Tradition drinnen fußt, wenn er von dem Geist

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Goethes reden sollte, nur einen Schatten, ein Gespenst, ein Schema.Und es ist schon eine charakteristische Erscheinung, daß dasjenige,was man aus der heutigen Kultur hervorgehend als das Beste überGoethe und den Goetheanismus bezeichnen muß, nur ein Gespenstvon Goethe gibt. Das ist schon eine bezeichnende Erscheinung.

Ja, woher rührt es denn aber, daß durch diese ganze glanzvolle Kul-turentwickelung hindurch der Begriff, das Erleben, das Erfühlen deseigentlichen Geistes fehlt? Tastend haben Leute wie Troxler, wieauch manchmal Schelling, hingewiesen auf den Geist. Aber reinobjektiv gesehen, muß man sagen: In dieser ganzen Kultur fehltder Geist. Und weil der Geist fehlte, kannte man auch nicht dieBedürfnisse des Geistes, kannte man nicht die Lebensbedingungendes Geistes. Das ist wiederum etwas, was als tragische Empfindunghervorquellen kann aus der Wahrnehmung dieser Kulturströmung,daß man innerhalb ihrer die Lebensbedingungen des Geistes, auchdie sozialen Lebensbedingungen des Geistes nicht wahrzunehmen,nicht zu empfinden vermochte. Daran liegt es aber, daß sich dasmitteleuropäische soziale Leben durch die Jahrhunderte herauf ent-wickeln konnte und, weil es kein eigentliches Erlebnis vom Geistehatte, auch nicht das Bedürfnis bekam, die Grundbedingungen die-ses Geisteslebens dadurch zu erfüllen. daß man das Geisteslebenemanzipiert, auf sich selber stellt und von dem Staatsleben abson-dert. Weil man den Geist nicht kannte, kannte man auch nicht dieinnersten Lebensbedingungen des Geistes, empfand daher nicht dieNotwendigkeit – ich rede immer nur von diesen Gebieten, bei denanderen Gebieten der gegenwärtigen zivilisierten Welt empfandman es auch nicht, aber aus anderen Gründen -, den Geist auf sichselbst zu stellen, sondern ließ ihn verschmelzen mit dem, worin-nen er sich nur in Fesseln entwickeln konnte: mit dem Staatswesen.1200, sagte ich, ist der Zeitpunkt, in dem auch die Tätigkeit Walthersvon der Vogelweide verzeichnet werden kann, der Zeitpunkt, indem das geistige Leben Mitteleuropas in mächtigen Imaginationen

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dahinpulste, von denen die konventionelle Geschichte wenig ver-zeichnet. Dann gleitet dieses Geistesleben durch die Jahrhunderteweiter, nimmt aber eigentlich schon vom 15., 16. Jahrhundert andie Keime des Niedergangs in sich auf, und es stellt sich hinein indieses Geistesleben Mitteleuropas die Begründung der UniversitätenPrag, Ingolstadt, Freiburg, Heidelberg, Rostock, Würzburg und soweiter. Die Begründung dieser Universitäten, die sich so aussäenüber das mitteleuropäische Leben, fällt fast ganz in ein Jahrhunderthinein. Mit diesem Denken, mit diesem Leben, das von den Universi-täten ausstrahlte, wurde die Tendenz gebracht nach dem Abstrakten,nach demjenigen, das dann als das rein naturwissenschaftliche Den-ken vergöttert und verehrt wurde – vergöttert kann man natürlichnur vergleichsweise sagen – und das heute so verheerend in dieDenkgewohnheiten der Menschen eingreift.

Und mit diesem Leben wurde im Grunde genommen der ganzengebildeten Bürgerwelt die Nuance gegeben. Wie war denn diese Nu-ance der ganzen gebildeten Bürgerwelt? Natürlich spricht da vielesmit, was nicht in jedem einzelnen, ich möchte sagen, quellenhaftwirkte, aber dessen Wirkung auf jeden einzelnen überging. Es wirk-te das mit, daß ja in dieser Zeit immer mehr und mehr heraufkamdie Empfänglichkeit für ein ganz fremdes Seelenleben, das gebildetwurde durch Träger der Bildung in diesem Bürgertum, das dannin Goethe und Herder und Schiller kulminierte, das entwickelte jaaußerdem, was in der eigenen Seele lag, im wesentlichen entwickeltedas fremde Elemente, fremde Impulse.

Damit weise ich auf eine ungeheuer charakteristische Erscheinunghin. Die Seelen dieser Leute, die Träger des Bürgertums waren, siesuchten ja nach dem Geiste, dessen Begriff sie nicht einmal hatten.Aber wo suchten sie nach dem Geiste? In der griechischen Bildung.Sie lernten in ihren Mittelschulen griechisch, und was als Geistes-inhalt in die Seelen floß, war griechischer Inhalt. Wenn man vom

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13. Jahrhundert bis ins 20. Jahrhundert in Mitteleuropa vom Geistsprach, hätte man immer sagen müssen: Dasjenige, was einem dieeingeimpfte griechische Bildung über den Geist beibrachte. Es ent-stand da kein eigenes Leben über den Geist. Griechische Bildungaber über den Geist war noch nicht die Bildung desjenigen Zeit-raumes in der Menschheitsentwickelung, den wir den Zeitraum derBewußtseinsentwickelung nennen. Der beginnt erst mit der Mittedes 15. Jahrhunderts. So trug dieses Bürgertum in sich veralteteBildung, griechische Bildung, und die gab ihm allein dasjenige, waser vom Geiste eigentlich fühlte und empfand.

Dasjenige aber, was der Grieche vom Geiste empfand, das war durch-aus bloß die Seelenseite des Geistes. Darin liegt ja die Tiefe des Grie-chentums, daß der Grieche gewissermaßen gerade hinaufgelangtebis zur Empfindung des höchsten Seelischen. Das nannte er Geist.Gewiß, der Geist erglänzt herunter aus den Höhen. So wie ich ihnhier zeichne, erglänzt er aus den Höhen herunter, durchpulst dasSeelische. Aber wenn man den Blick hinaufrichtet, so hat man dasSeelische des Geistes.

Aber es wurde die Aufgabe des fünften nachatlantischen Zeitraums,sich zu erheben in den Geist selbst. Das konnte diese Kulturentwi-ckelung noch nicht. Das ist viel wichtiger, als man gewöhnlich denkt.Denn das klärt auf über die ganzeArt, wie neuzeitlich-mittelalterlicheBildung von dem Geist Besitz ergreifen konnte.

Was war denn notwendig, um zu einem Begriff des Geistes, zu eineminneren Erleben des Geistes im neuzeitlichen Sinne zu kommen?Gerade an einer solchen repräsentativen Erscheinung wie HermanGrimm ist es möglich, zu studieren, was notwendig war, um in derneueren Zeit sich durchzuarbeiten zum inneren Erleben des Geistes.Dazu ist nämlich notwendig gewesen, wovon gerade ein so klas-sisch gebildeter Mensch wie Herman Grimm keine Ahnung hatte:naturwissenschaftliches Streben, naturwissenschaftliche Denkwei-

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se. Warum? Die naturwissenschaftliche Denkweise ist geistlos. Dienaturwissenschaftliche Denkweise enthält gerade, wenn sie groß ist,nicht ein Stückchen Geist, gar nichts Geistiges. Alle naturwissen-schaftlichen Begriffe, alle Begriffe von Naturgesetzen sind geistlos,weil sie nur Schattenbilder vom Geiste sind, weil im Bewußtsein,wenn man etwas weiß von Naturgesetzen, nichts vom Geist an-wesend ist. Man kann dann zwei Wege gehen. Man kann sich derNaturwissenschaft hingeben, wie viele sich ihr heute hingeben, kannstehenbleiben bei dem, was die Naturwissenschaft gibt; dann wirdman geistlos. Man kann gerade dadurch ein großer Naturforschersein, aber man muß geistlos sein. Das ist der eine Weg.

Der andere Weg ist der, daß man die Geistlosigkeit der Naturwis-senschaft gerade da, wo sie in ihrer Größe aufgetreten ist, innerlichtragisch erlebt, daß man mit seiner Seele untertaucht in das Natur-wissen. Wenn man mit seiner Seele untertaucht in dasjenige, was anabstrakten Naturgesetzen, die sehr interessant sind und in mancheshineinleuchten, gefunden wurde, die aber geistlos sind, wenn manuntertaucht in die Naturgesetze der Chemie, der Physik, der Biologie,die am Seziertisch gewonnen werden und schon dadurch andeuten,wie sie von dem Lebendigen nur das Tote geben, wenn man versucht,mit dem nicht nur in menschlichem Hochmut als einer Erkenntniszu leben, sondern wenn man versucht zu fragen: Was gibt das dermenschlichen Seele? dann ist es erlebt! Das gibt nichts von Geistlo-sigkeit. Das ist ja auch das tragische Problem Nietzsche, der geradean dem Empfinden der Geistlosigkeit der modernen naturwissen-schaftlichen Bildung in seinem Seelenleben zerklüftet und zerrissenwird.

Und dann kann die Reaktion eintreten im Inneren der Seele, Dannkann man erleben, wie im Anschauen der Natur der Geist ganzstumm, ganz schweigsam bleibt, nichts sagt. Die Seele bäumt sichauf, nimmt ihre Kraft zusammen, sucht dann aus dem Inneren heraus

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den Geist zu gebären. Das kann nur in dem Zeitalter geschehen, indem die unmittelbare Naturanlage bei solchen Menschen wie denender mitteleuropäischen bürgerlichen Bildung nicht vorhanden sind,und an die herantritt naturwissenschaftliche Kultur. Dann, wennsie nicht innerlich tot sind, wenn sie innerlich lebendig sind, dannrafft sich in ihrem Inneren der Impuls des Geistes selbst auf. An demToten muß seit der Mitte des 15. Jahrhunderts der Geist geborenwerden, wenn der Geist in das menschliche Seelenleben überhaupthereintreten soll. Daher werden diejenigen, die nur mit der klassi-schen Bildung jenen Nachduft des Griechischen ausleben, der dasSeelenhafte des Geistes durch des Menschen eigene Seele durchpul-sieren läßt, noch befriedigt sein können in dem inneren Erleben,das ihnen gibt die Empfindung dieses griechischen Seelen-Geistes,dieser griechischen Geistes-Seele. Diejenigen aber, die genötigt sind,mit der Naturwissenschaft innerlich lebendig Ernst zu machen undihren Tod, ihr Leichnamhaftes zu empfinden, die werden dann denGeist in ihrer Seele erstehen lassen.

Manmuß schon, um in der neueren Zeit ein wirkliches unmittelbaresErlebnis vom Geist zu haben, nicht nur in Laboratorien gewesen seinund dort Zyansäure oder Ammoniak gerochen oder im Seziersaalgewesen sein und die frischen Präparate der Leichen angeschauthaben, man muß aus der ganzen naturwissenschaftlichen Richtungheraus den Leichenduft verspürt haben, um aus dieser Empfindungheraus zu dem Licht des Geistes zu kommen. Das ist ein Impuls,der in neuerer Zeit aufleben muß. Das ist eine der Prüfungen, diedie Menschen durchmachen müssen in der neueren Zeit. Die Na-turwissenschaft ist viel mehr dazu da, die Menschen zu erziehen,als Wahrheiten über die Natur zu vermitteln. Nur der naive Menschkann glauben, daß in irgendeinem Naturgesetz, das die gelehrtenNaturwissenschafter verzeichnen, eine innerlicheWahrheit ist. Nein,die ist nicht drinnen; aber zur Erziehung der Menschen zum Geiste

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Abgrenzung der Dreigliederung

ist gerade die geistlose Naturwissenschaft da. Das ist eine von jenenParadoxien der weltgeschichtlichen Entwickelung der Menschheit.

So leuchtete erst in der neuesten Zeit – in der Zeit, die den Goethea-nismus ablöste, denn da kam erst die eigentliche Leichenhaftigkeit,das eigentliche Tote der Naturwissenschaft herauf – der Geist, al-lerdings nur für diejenigen Menschen, die sein Licht empfangenwollten. Und so schützten sich die Menschen bis zur Goethe-Zeitund noch Goethe selber gegen das Verheerende eines in den Staats-zwang hineingefesselten Geisteslebens dadurch, daß sie im Grundegenommen das griechische Geistesleben verarbeiten, das ja demmodernen Staate nicht angehörte, weil es überhaupt der modernenZeit nicht angehörte. Die Abtrennung des Geisteslebens von demStaatsleben wurde surrogativ dadurch besorgt, daß man ein fremdesGeistesleben, das griechische, in sich aufnahm. Dieses griechischeGeistesleben, das war es eben, welches die innere Geistleerheit derneueren europäischen Welt überhaupt zudeckt. Das war auf dereinen Seite.

Auf der anderen Seite empfand man aber auch nicht die Notwen-digkeit der Trennung des Wirtschaftslebens von dem Rechtsleben,von dem Leben des eigentlichen politischen Staates. Warum nicht?Dem Wirtschaftsleben kann sich ja der Mensch niemals entziehen.Dafür sorgt, trivial ausgedrückt, eben der Magen. Es ist nicht mög-lich, daß die Menschen solche Kataklysmen auf dem Gebiete desWirtschaftslebens unbemerkt erleben, wie sie unbemerkt erlebt wer-den auf dem Gebiete des Rechtslebens und des Geisteslebens. DasWirtschaften war also da, und dieses Wirtschaften entwickelte sichauch in einer sehr geraden Linie. Das, was ich gestern angedeutethabe, die Verwandlung der alten, undurchdringlichen Wälder inWiesen und Kornfelder mit alldem, was als wirtschaftliche Konse-quenz davon dasteht, das entwickelte sich in sehr gerader, regulärerLinie. Das war eine sehr gerade Strömung. Aber es fiel in das Er-

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leben dieses Wirtschaftlichen hinein Wiederum ein Fremdes, daseigentlich schon länger stark war in der mitteleuropäischen Seeleals das Griechische: Es fiel hinein das Lateinisch-Romanische. Undaus dem Lateinisch-Romanischen stammt alles, was sich auf Staats-und Rechtsleben, auf Politik bezieht. Und das ist ja diese merkwür-dige Inkongruenz, wiederum etwas, was von der Geschichte derZukunft scharf wird betont werden müssen, was aber übersehenwird von der parteiischen, für den Materialismus namentlich par-teiischen konventionellen Geschichtsschreibung der unmittelbarenVergangenheit – daß gewisse wirtschaftliche Vorstellungen, gewis-se wirtschaftliche Hantierungen des Lebens, ein gewisses Nehmendes Wirtschaftens im Leben sich in gerader Linie aus den sozialenVerhältnissen fortentwickelte, die Tacitus beschreibt für das ersteJahrhundert der germanischen Welt nach der Begründung des Chris-tentums. Aber diese wirtschaftlichen Denkgewohnheiten haben sichnicht ungehindert fortentwickelt. Da schlug die politische Denkartdes Romanisch-Lateinischen hinein und infizierte sie ganz und garund hielt auseinander die ursprünglichen europäischen Wirtschafts-gewohnheiten und das politische Rechtsleben. Und so waren künst-lich nebeneinander, scheinbar geteilt, so daß die Teilung eine Maskewar, Wirtschaftsleben und politisches Leben, weil das politischeLeben die Nuance des Lateinisch-Romanischen und das Wirtschafts-leben die Nuance des altgermanischen hatte. Weil zwei einanderfremde Schichtungen ineinanderlebten, empfand man, daß das nichtzusammengehörte und schmolz äußerlich ineinander, aber man warzufrieden, weil man es ja doch innerlich, seelisch, als getrennt erlebte.Manmuß nur einmal die Geschichte desMittelalters und der neuerenZeit studieren, dann wird man sehen, wie eigentlich diese Geschich-te in Wahrheit in Mitteleuropa ein fortwährendes Aufmucken, einfortwährendes Sich-Wehren, eine fortwährende Opposition ist derwirtschaftlichen Verhältnisse, die aus den alten Zeiten heraufge-bracht worden sind, gegen das Staatswesen, gegen den juristischen

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Romanismus. Man sieht förmlich, wenn man die Dinge bildlich sieht,wie durch die Köpfe der Verwaltungsbeamten der Romanismus alsJurisprudenz eindringt in die Menschen. Da dringt auch viel vomRomanismus gerade in die verfallenden Nibelungenwildlinge hinein.„Graf“ hängt mit grapho, schreiben zusammen, das habe ich schoneinmal gesagt. Da dringt der Romanismus hinein. Wie ich sagte: mankann es förmlich im Bilde sehen, wie die Bauern, die erfüllt sind vondiesem wirtschaftsorientierten Denken, entweder die Fäuste in denTaschen ballen oder mit den Dreschflegeln sich gegen dieses Romani-sche, Juristische aufbäumen. Das geschieht natürlich nicht immer soäußerlich habhaft. Aber im ganzen moralischen Treiben, wenn mandie Geschichte wirklich betrachtet, ist es schon so. So war das, wasaus den Keimen der mitteleuropäischen Welt sich heraufentwickelte,durchsetzt – ich charakterisiere bloß, kritisiere nicht, denn alles,was da sich vollzogen hat, hat auch seinen Segen gebracht und warnotwendig, war in der historischen Entwickelung in Mitteleuropanicht zu umgehen -, es war durchsetzt, infiziert von dem juristisch-politischen Romanismus und dem griechischen Humanismus, vondem griechischen Geist-Seele-Begriff, Seelen-Geist-Begriff. Und erstals einschlug das moderne internationale wirtschaftliche Elementmit allem, was es im Gefolge hatte, da war es eigentlich nicht mehrmöglich, die alten Dinge aufrechtzuerhalten. Man konnte sehr gutklassisch gebildet sein und ein Ignorant sein in bezug auf die natur-wissenschaftliche Bildung der neueren Zeit, aber man war dann ebentrotzdem innerlich-seelisch ein Rückschrittler. Man konnte nicht mitseiner Zeit gehen, wenn man bloß klassisch gebildet war, wenn mannicht eindrang. in dasjenige, was die naturwissenschaftliche Bildungder neueren Zeit gab. Und war man naturwissenschaftlich gebildet,war man vertraut mit dem, was die Naturwissenschaft der neuerenZeit bringen wollte, so konnte man wahrhaftig nur Kulturkrankhei-ten, Kulturscharlach, Kulturmasern durchmachen, wenn man sichbekanntmachte mit dem, was innerhalb des Zeitraumes, von dem

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Dreigliederung oder Dreiteilung

ich Ihnen gesprochen habe, aus dem alten juristischen Romanismusgeworden war. Im alten Imperium Romanum war dieser juristischeRomanismus am Platze. Dann hatte sich dieses romanische Juristen-tum, die Res publica, beziehungsweise die Anschauungen darüber,vom alten Romanismus her, ebenso wie auf der anderen Seite dieNibelungenwildheit, durch die mitteleuropäische Bildung hindurchfortgepflanzt.

Anmerkung: Der hier gemeinte juristische Romanismus spricht sichauch im römischen Eigentumsbegriff aus. Und dieser Eigentumsbegriffist es gerade, der die notwendig gewordene Zirkulation des Kapitals ver-hindert. Dadurch wird das Kapital heute nicht den Fähigen verschenkt,sondern dem Zufall vererbt. Ein weiterer Grund, neben der klassischenBildung, warum das Geistesleben, das heißt hier die individuellen Fä-higkeiten, sich nicht voll auf das Wirtschaftsleben auswirken kann. Esbleibt bei der Trennung der Glieder, ohne daß eine richtige Verbindunghergestellt werden kann.

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Abgrenzung der Dreigliederung

Dreigliederung oder Ständeordnung

Hätte nicht Steiner selber die Ständeordnung eindeutig abgelehnt, sohätten sich wahrscheinlich viele Anthroposophen dafür begeistert. DerGrund ist einfach: Es wird häufig von drei Ständen gesprochen und woAnthroposophen eine Dreiheit gefunden haben, halten sie es meistensfür unnötig, weiter zu denken. Steiner hat aber ein Machtwort gegendie Ständeordnung gesprochen, also sind Anthroposophen gegen dieStändeordnung. So auch Christof Lindenau. Bei ihm tritt aber dieverjagte Ständeordnung wieder durch die Hintertür herein. Fangen wiraber beim Anfang der Ständeordnung an.

Historischer Ursprung der Ständeordnung

Über die Entstehung der Ständeordnung macht Steiner verschiedeneAngaben. Als historischen Ursprung der Ständeordnung gibt er oftGriechenland an.

Ständeordnung als Rest aus dem Griechentum

Quelle [8]: GA 186, S. 011-012, 3/1990, 29.11.1918, Dornach

Was errungen werden muß im Sinne des Bewußtseinszeitalters, indem wir leben, des fünften nachatlantischen Zeitraumes, ist, daßan die Stelle der alten Ständegliederungen der Mensch tritt. Daherwäre es ganz verhängnisvoll, wenn man verwechseln würde, wasich letzten Sonntag hier entwickelt habe, mit dem, was eben vielfachhereinragt aus überlebten Zeiten in unsere gegenwärtige sozialeGliederung. Aus dem Griechentum ragt herein in unsere sozialeGliederung dasjenige, was durch die Regeln, die im Weltgeschehensind, überwunden werden will: die Gliederung der Menschheit in

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Dreigliederung oder Ständeordnung

Nährstand, Wehrstand, Lehrstand. Das soll gerade durch das, wasich Ihnen am letzten Sonntag angegeben habe, überwunden werden;denn die Gliederung nach Ständen, die ist es, welche das Chaos inunsere gegenwärtige soziale Struktur hereinträgt. Diese Gliederungwird gerade überwunden dadurch, daß nun nicht nach derjenigenGliederung, von der ich am letzten Sonntag hier gesprochen ha-be, die Menschen eingeteilt werden irgendwie nach Ständen. DieseStände werden ganz naturgemäß verschwinden. Dahin geht die his-torische Notwendigkeit, daß die Verhältnisse gegliedert werden undder Mensch gerade als Mensch, als lebendiges Wesen, nicht als Ab-straktum, sondern als lebendiges Wesen die Verbindung zwischenden drei Gliedern hervorruft. Nicht um eine Gliederung nach Nähr-stand, Wehrstand und Lehrstand handelt es sich, wenn ich davonspreche, daß man entgegengehen muß der politischen Gerechtigkeit,der ökonomischen Organisation, der freien geistigen Produktion,sondern darum, daß die Verhältnisse in dieser Weise gegliedert wer-den, und daß der Mensch als solcher gar nicht mehr einem Standeangehören kann, wenn die Verhältnisse in dieser Weise sich wirklichgliedern. Der Mensch steht als Mensch innerhalb der sozialen Struk-tur und bildet gerade das Verbindungsglied zwischen dem, was inden Verhältnissen gegliedert ist. Nicht ein besonderer ökonomischerStand, ein besonderer Nährstand wird da sein, sondern eine Strukturökonomischer Verhältnisse wird da sein. Ebenso wird nicht ein be-sonderer Lehrstand da sein, sondern die Verhältnisse werden so sein,daß die geistige Produktion in sich frei ist. Und ebenso wird nicht einbesonderer Wehrstand da sein, sondern immer mehr und mehr wirddas, was jetzt in der Konfusion für alle drei Glieder angestrebt wird,für das erste Glied in einer liberal-demokratischen Weise angestrebtwerden müssen.

Darum handelt es sich gerade, daß der Fortgang von der alten Zeitzur neuen Zeit notwendig macht, den Menschen als Menschen inder Welt hingestellt zu sehen. Nicht anders bekommen wir die Mög-

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Abgrenzung der Dreigliederung

lichkeit eines Verständnisses dessen, was unsere Zeit fordert, alsdadurch, daß wir uns in die Lage versetzen, den Menschen wirk-lich als Menschen zu verstehen. Das kann natürlich nur geschehenvon denjenigen Empfindungen, die aus Geisteswissenschaft heraushervorgebracht werden.

Ständeordnung als Verwirklichung des platonischen Staates

Quelle [25]: GA 332a, S. 097-098, 2/1977, 26.10.1919, Zürich

Nun ist es nur notwendig, daß man berücksichtigt, wie verschiedender hier gedachte dreigliederige Organismus ist von dem, was manim platonischen Staat findet als die Gliederung der Menschen einessozialen Organismus in drei Stände: in den Nährstand, Wehrstand,Lehrstand.

Ich habe es unter den mancherlei Mißverständnissen auch treffenmüssen, daß Leute gesagt haben: Ja, diese Dreigliederung in einengeistigen Organismus, in einen Rechts- oder Staatsorganismus undin einen Wirtschaftsorganismus, das sei ja nur ein Aufwärmen desplatonischen Prinzips von Lehrstand gleich geistiger Organismus– so glaubt man, Wehrstand gleich staatlicher rechtlicher Organis-mus, Nährstand gleich wirtschaftlicher Organismus. Das ist durch-aus nicht so. Es ist das Gegenteil davon. Bei der Dreigliederungdes sozialen Organismus handelt es sich nämlich darum, daß dieVerwaltungen der betreffenden Zweige des menschlichen Lebensvoneinander getrennt werden, daß also nicht etwa die Menschengegliedert werden in Stände, sondern daß dasjenige, was vom Men-schen abgesondert ist, die Verwaltung der Einrichtungen, in dreiGlieder zerfällt, die ja zusammenzuwirken haben gerade durch denlebendigen Menschen. Der lebendige Mensch steht ja in allen dreiGebieten drinnen. Es ist nach und nach in der Menschheit das Be-wußtsein entstanden, daß es eigentlich nicht menschenwürdig ist,

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Klassenunterschiede, Standesunterschiede und so weiter zu entwi-ckeln. In der Realität werden diese nur überwunden werden, wennman den sozialen Organismus nach dem Objektiven gliedert, nachdem, was vom Menschen abgesondert ist.

Anmerkung: An anderen Stellen geht aber Steiner weiter zurück undsucht den Ursprung der Ständeordnung in Indien. Hier spricht er aller-dings nicht von drei, sondern von vier Ständen.

Ständeordnung als Rest aus den indischen Kasten

Quelle [6]: GA 174, S. 179-181, 1/1966, 15.01.1917, Dornach

Vier Kasten unterschied der Inder, vier Stände unterschied der alteGrieche, nacheinander sind sie hervorgekommen durch den zweiten,dritten, vierten nachatlandtischen Zeitraum; im fünften nachatlan-tischen Zeitraum muß der vierte Stand, das Gemeindeleben, dasAllgemein-Menschliche, hervorkommen. Nicht alle können Priestersein, aber das Priestertum kann die Macht, die Herrschaft anstre-ben. Wir sehen es im dritten nachatlantischen Zeitraum, wir sehenes wiederaufleben in der hierarchisch-theokratische-romanischenKraft. Die zweite Kaste, das Königstum im Griechisch-Römischen,wir sehen es wiederum aufleben im zweiten nachatlantischen Ele-mente, wo das Diplomatisch-Politische besonders rege ist; denn dasRepublikanische ist in Frankreich nur der Widerpart, wie ja allesseinen Widerpart erzeugt. Dem eigentlichen französischen Staats-charakter entspricht nur das monarchische Prinzip, daher auch jetztnur dem Worte nach die Republik besteht; in Wirklichkeit herrschteben ein König, welcher zufällig ein Advokat ist, der früher rumäni-sche Prozesse geführt hat. Aber auf die Worte kommt es nicht an,auf die Sache kommt es an. Und gerade darin besteht das Schlimmein unserer heutigen Zeit, daß man sich durch Worte so leicht berau-schen läßt. Wenn man jemanden einen Präsidenten nennt, so ist er

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deshalb noch nicht ein Präsident, sondern es kommt darauf an, wiedie realen Verhältnisse sind.

Der dritte Stand ist bekanntlich das Element des Industriellen, desKommerziellen in Ägypten und Griechenland. Das strebt neu her-auf im Britischen Reich, muß aber noch herrschen über das vierteElement, das erst das Allgemein-Menschliche ist. Es ist interessant,dies besonders an einer einzelnen Erscheinung zu beobachten. Manmuß schon wirklich Einsichten gewinnen in die Verhältnisse, wennman die Welt verstehen will. Ganz kurios ist es, wenn man sich dieFrage stellt: Wo ist eigentlich die sozialistische Theorie am scharfsin-nigsten herausgekommen? – Unter den deutschen Sozialisten, ganzdem Prinzipe entsprechend, wie ich es charakterisiert habe; daß derDeutsche immer die Mission hat, die Begriffe rein auszuarbeiten.So haben die Deutschen selbst für den Sozialismus Begriffe reinausgearbeitet, nur paßt die deutsche sozialistische Idee auf die deut-schen Verhältnisse wie die Faust aufs Auge. Nichts in den deutschensozialen Verhältnissen paßt auf die deutsche sozialistische Theorie!Daher ist es ganz begreiflich, daß, nachdem ich eine Zeitlang in ei-ner sozialistischen Schule gelehrt hatte, ich zuletzt aus ihr verbanntwurde, weil ich sagte, es müsse doch im Sinne des Sozialismus liegen,Freiheitslehre zu entfalten. – Von seiten des Führers der Sozialdemo-kraten hat man mir damals entgegengerufen: Auf Freiheit kommtes nicht an, sondern auf vernünftigen Zwang! – Die sozialistischeTheorie paßt nicht auf die sozialen Verhältnisse, das heißt, die sozialeTheorie will herausentwickelt sein aus der Evolution der Menschheit.Daraus entwickelt sie ihre drei großen Prinzipien: erstens das Prin-zip der materialistischen Geschichtsauffassung, zweitens das Prinzipdes Mehrwertes und drittens das Prinzip des Klassenkampfes, Diedrei Theorien sind fein herausgearbeitet, aber sie passen nicht aufdeutsche, dagegen wunderbar auf britische Verhältnisse. Da sind sieauch studiert worden, da war Marx und hat die Sache zuerst ausgear-beitet, da war Engels, da war Bernstein, Daraus sind sie entsprungen,

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darauf passen sie, weil sie sich – nehmen wir das dritte Prinzip –-auf den Klassenkampf begründen. Dieser waltet aber im Grundein der britischen Seele, denken Sie an Cromwell. Und wenn manalles, was seit Cromwell in der britischen Seele waltet, seinen Impulsen nach studiert, so bekommt man Material für das dritte Prin-zip, für den Klassenkampf. Seit der Erfindung der Spinnmaschineund der Einführung jenes sozialen Lebens, das durch die Spinnma-schine gekommen ist, waltet im Britischen Reich dasjenige, waseingeflossen ist in die Theorie des Mehrwertes. Und die materialisti-sche Geschichtsauffassung ist im Grunde genommen nichts anderesals eine ins Pedantisch-Deutsche übersetzte Geschichtsauffassungvon Buckle, zum Beispiel Buckles „Geschichte der Zivilisation“. Nurdaß sie dort so ausgeführt ist, wie man in der britischen Kultur dieDinge ausführt, gemäß dein Grudsatze, niemals in die Konsequenzenzu gehen. Darwin ist ja auch nicht in die Konsequenzen gegangen,sondern hat sich begrenzt in einer gewissen Weise, währenddem dieSache straff, rücksichtslos, wenn Sie wollen, deutsch-pedantisch um-geformt ist in der materialistischen Ceschichtsiuffassung von KarlMarx. Es ist interessant, daß für jenes Allgemein-Menschliche, dasdie vierte Kaste oder Klasse darstellt, die nicht mehr eine Herrschaftanstreben kann – denn es gibt nichts mehr darunter, das zu beherr-schen wäre, man kann nur das Verhältnis begründen von Menschzu Mensch -, keine Theorie geschaffen worden ist. Die wird erstkommen, wenn man jenes Allgemein-Menschliche zugrunde legt,das eben in der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaftgegeben ist.

Anmerkung: Der Anfang der Ständeordnung läßt sich aber auch aufden dritten nachatlantischen Zeitraum setzen.

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Ständeordnung seit der dritten Kulturepoche alsVeräußerlichung des Menschen

Quelle [8]: GA 186, S. 059-062, 3/1990, 01.12.1918, Dornach

Die Menschen müssen heute in sozialer Beziehung – nicht als ein-zelne individuelle Wesen, sondern in sozialer Beziehung – da, wosie gruppenhaft auftreten, etwas ganz Bestimmtes wollen. Und daswollen sie auch instinktiv. Sie wollen heute, was im vierten nach-atlantischen Zeitraum, was bis ins fünfzehnte Jahrhundert unsererchristlichen Zeitrechnung noch nicht gewollt werden konnte, einmenschenwürdiges Dasein, das heißt, in der sozialen Ordnung wi-dergespiegelt, eine Erfüllung desjenigen, was diesem Zeitraum alsMenschheitsideal vorschwebt. Die Menschen wollen heute instink-tiv, daß sich widerspiegle das, was der Mensch ist, in der sozialenStruktur.

Das war im dritten nachatlantischen, im ägyptisch-chaldäischenZeitraum anders. Und noch anders war es vorher im zweiten. Dieserzweite Zeitraum, also der urpersische, der hatte den Menschen nochganz in seiner Innerlichkeit; da war der Mensch noch ganz innerlich.

Da forderte der Mensch instinktiv, nicht äußerlich in der Welt daswiederzuerkennen, was er innerlich als Bedürfnisse hatte; da for-derte der Mensch keine soziale Struktur, die im Äußerlichen daserkennen ließ, was er innerlich als Trieb, Instinkt, als Bedürfnissehatte. Dann kam der dritte nachatlantische Zeitraum, der ägyptisch-chaldäische. Da forderte der Mensch, daß ein Teil seines Wesensihm im Spiegel der äußeren sozialenWirklichkeit erscheine, nämlichdasjenige, was an das Haupt gebunden ist. Daher sehen wir, daß vomdritten nachatlantischen, vom ägyptisch-chaldäischen Zeitraum angesucht wird theokratische soziale Einrichtung, alles dasjenige, wassich auf theokratische, auf gewissermaßen religiös durchdrungenesoziale Einrichtungen bezieht. Das andere blieb noch instinktiv; das-

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jenige, was sich auf den zweiten Menschen, auf den Brustmenschenbezieht, auf den Atmungsmenschen, und dasjenige, was sich auf denStoffwechselmenschen bezieht, das blieb instinktiv. Da dachte derMensch noch nicht daran, das irgendwie im Spiegelbilde der äußerenOrdnung zu sehen. Im urpersischen Zeitraum gab es auch nur eineinstinktive Religion, die von den Eingeweihten des Zarathustrismusgeleitet wurde. Aber alles dasjenige, was der Mensch entwickelte,war noch innerlich instinktiv. Er hatte noch nicht das Bedürfnis, dieDinge äußerlich im Spiegelbild, in der sozialen Struktur zu sehen.Er fing an, in der Zeit, die ungefähr mit der Begründung des altenRömischen Reiches endete – 747 ist die wahre Jahreszahl vor derchristlichen Zeitrechnung -, in dem Zeitraume, der dieser Jahreszahlvoranging, zu fordern, daß in der sozialen Ordnung das wiederge-funden werde, was als Gedanke in seinem Kopfe leben kann.

Nun kam der Zeitraum, welcher im achten Jahrhundert, seit demJahr 747 in der vorchristlichen Zeit, begann undmit dem fünfzehntennachchristlichen Jahrhundert endete, der griechisch-lateinische Zeit-raum. Da forderte der Mensch, daß sich zwei Glieder seines Wesensäußerlich in der sozialen Struktur widerspiegeln: der Kopfmenschund der rhythmische oder der Atmungsmensch, der Brustmensch.Spiegeln sollte sich dasjenige, was alte theokratische Ordnung war,aber jetzt schon im Nachklang. Tatsächlich haben die eigentlich theo-kratischen Einrichtungen sehr große Ähnlichkeit mit dem drittennachatlantischen Zeitraum, selbst die Einrichtungen der katholi-schen Kirche. Das setzt sich also fort, und neu kommt dazu das,was speziell dem griechisch-lateinischen Zeitraum entstammt: dieäußeren Einrichtungen der res publica, diejenigen Einrichtungen,die sich auf die Verwaltung des äußeren Lebens beziehen, insofernRecht und Unrecht und dergleichen in Betracht kommt. Von zweiGliedern seines Wesens fordert der Mensch, daß er sie nicht nurin sich trägt, sondern daß er sie im Spiegel äußerlich betrachtenkann. Sie verstehen zum Beispiel die griechische Kultur nicht, wenn

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Sie nicht wissen, daß die Sache so ist, daß noch instinktiv, inner-lich, bleibt, ohne daß ein äußeres Spiegelbild gefordert wird, dasreine Stoffwechselleben, das sich äußerlich in der ökonomischenStruktur ausdrückt. Dafür wird noch kein äußerliches Spiegelbildverlangt. Die Tendenz, dafür ein äußeres Spiegelbild zu verlangen,tritt erst auf mit dem fünfzehnten nachchristlichen Jahrhundert. Stu-dieren Sie die Geschichte, wie sie wirklich ist, nicht wie die Legendensind, die fabriziert worden sind innerhalb unserer sogenannten Ge-schichtswissenschaft, so werden Sie das auch äußerlich bewahrheitetfinden, was ich Ihnen aus okkulten Gründen mitgeteilt habe über dasSklaventum in Griechenland, ohne dessen Dasein die griechischeKultur, die wir so bewundern, undenkbar ist. Es ist als in der sozialenStruktur befindlich nur zu denken, wenn man weiß: Diesen ganzenvierten nachatlantischen Zeitraum beherrscht das Streben, außeneine Gesetzes- und religiöse Einrichtung zu haben, aber noch keineandere als eine instinktive ökonomische Ordnung.

Und erst unser Zeitraum, die Zeit, die aber erst mit dem fünfzehntennachchristlichen Jahrhundert beginnt, fordert, den ganzen dreiglied-rigen Menschen im Bilde auch in der sozialen äußeren Struktur zusehen, in der er sich drinnen befindet.

So müssen wir heute studieren den dreigliedrigen Menschen, weiler den dreigliedrigen Instinkt entwickelt, in der äußeren Struktur,in der gesellschaftlichen Struktur das zu haben, was ich Ihnen ge-sagt habe: erstens ein geistiges Gebiet, das Selbstverwaltung, Selbst-struktur hat; zweitens ein Verwaltungsgebiet, ein Sicherheits- undOrdnungsgebiet, ein politisches Gebiet also, das wiederum in sichselbständig ist, und drittens ein ökonomisches Gebiet; und diesesökonomische Gebiet in äußerlicher Organisation fordert erstmalsunser Zeitalter. Den Menschen verwirklicht zu sehen im Bilde dersozialen Struktur, das tritt als ein Instinkt erst in unserem Zeital-ter auf. Das ist der tiefere Grund, warum nicht mehr ein bloßer

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ökonomischer Instinkt wirkt, sondern warum diejenige ökonomi-sche Klasse, die erst geschaffen worden ist, das Proletariat, dahinstrebt, so bewußt äußerlich die ökonomische Struktur einzurichten,wie der vierte nachatlantische Zeitraum die Verwaltungsstrukturdes Gesetzeswesens, und der dritte nachatlantische Zeitraum, derägyptisch-chaldäische, die theokratische Struktur eingerichtet hat.

Heutige Dekadenz der Ständeordnung

Wann die Ständeordnung auch immer entstanden sein mag, sicher ist,daß sie der Vergangenheit gehört. Die Zurechnung der Ausbildung derökonomischen Struktur zur heutigen Kulturepoche darf nicht darüberhinwegtäuschen. Zeitgemäß ist nicht die Übermacht des Ökonomischen,die über das Ziel hinausschießt, sondern die soziale Dreigliederung.Die Ständeordnung hat ihre Aufgabe schon erfüllt. Sie wirkt aberweiter. Was nicht rechtzeitig wieder abgeschafft wird, tritt aber in dieDekadenz.

Vorteile der Ständeordnung kehren sich in Gegenteil um

Quelle [7]: GA 185a, S. 111-114, 3/2004, 17.11.1918, Dornach

Aus der Urweisheit heraus, die auf atavistische Art, wie ich es Ih-nen öfter auseinandergesetzt habe, von der Menschheit erworbenworden ist, in vollbewußter Art aber wiederum errungen werdenmuß vom Zeitalter der Bewußtseinsseele, aus dieser Urweisheit her-aus hat Plato den Menschen dreigegliedert. Das sieht man heuteals etwas Kindliches an. Das ist aber aus einer sehr tiefen Weisheitheraus, aus einer Weisheit, die wahrlich tiefer ist als dasjenige, washeute über den Menschen, sei es von Naturwissenschaft, sei es vonNationalökonomie oder von anderen Wissenschaften an unserenUniversitäten gelehrt wird.

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Abgrenzung der Dreigliederung

Plato hat den Menschen dreigeteilt. Wir gliedern heute etwas an-ders, aber man hat ein Bewußtsein dieser Dreiteilung noch bis indas achtzehnte Jahrhundert hinein gehabt. Dann ist es erst ganzverlorengegangen.

Und die Menschen des neunzehnten Jahrhunderts, diese so geschei-ten, so aufgeklärten Menschen haben über diese Dreiteilung in ihrerkonkreten Form nur gelacht, lachen bis heute. Plato teilte den Men-schen, den man verstehen muß, wenn man die gesellschaftlicheStruktur verstehen will, zunächst in den Menschen, welcher dieWeisheit entfaltet, Erkenntnis, Wissen, den logischen Teil der See-le, dasjenige, was wir an den Kopf-Organismus knüpfen, als seinWissen an seinen Sinnes- und Nerven-Organismus knüpfen. Platounterschied dann den sogenannten tatkräftigen, zornmütigen Teilder Seele, den irasziblen, den mutigen, tapferen Teil der Seele, allesdasjenige, was wir an das rhythmische Leben knüpfen. Sie brau-chen nur in meinem Buch „Von Seelenrätseln“ nachzulesen. Dannunterschied er den, Begierdemenschen, den Menschen, insoferne erQuell des Begehrungsvermögens ist, alles das, was wir jetzt in vielvollkommenerer Form kennen; das konnte Plato knüpfen physischan den Stoffwechsel, spirituell an die Intuition, so wie wir sie meinenin unserer Dreigliederung des höheren Erkenntnisvermögens: Imagi-nation, Inspiration, Intuition. Man kann nicht verstehen, was in dergesellschaftlichen Struktur der Menschheit vorgeht und wie sich diegesellschaftlichen Strukturen ausleben, wenn man den Menschennicht selbst kennenlernt nach dieser seiner dreigliedrigen Beschaf-fenheit. Denn der Mensch ist ja nicht so in der Welt, in der er alsAngehöriger des physischen Planes ist, daß er diese drei Glieder auchin bezug auf ihre inneren, intimen Gestaltungen und Eigenschaftengleichmäßig ausbildet, sondern er bildet sie in verschiedener Artaus; der eine bildet den einen Teil mehr aus, der andere bildet denanderen Teil mehr aus. Und auf der verschiedenartigen Ausbildungder Teile beruht namentlich die Heranbildung der Klassen, wie sie

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Dreigliederung oder Ständeordnung

sich im Laufe der Entwickelung der europäischen Menschheit mitihrem amerikanischen Anhang ergeben hat.

Man kann sagen: Der Teil, der hauptsächlich das rhythmische Lebenins Auge faßte, der Erziehung, Zusammenleben, soziale Anschau-ung so einrichtete, daß das rhythmische Leben dabei dasjenige war,was man vorzugsweise als das Menschliche fühlte, das ist der Standoder die Klasse, die sich als der alte Adelsstand herausgebildet hat.Wenn Sie sich denken eine gesellschaftliche Struktur, entstandendadurch, daß Menschen hauptsächlich sich fühlten als Brustmen-schen, dann haben Sie dasjenige, was die Gruppe des Adels, derAdelsklasse ausmacht. Wenn Sie sich denken diejenigen Menschen,welche vorzugsweise die Kopfkräfte, den weisen Teil ausbilden –jetzt sage ich auch einmal etwas, was vielleicht versöhnen kannmit mancherlei, was ich gesagt habe -, diejenigen Menschen, diein der Klasse zusammengeschlossen waren, die vorzugsweise denweisen Teil ausbildet, den Kopf, den Sinnes- und Nerventeil, so istdas diejenige Gruppe, die sich allmählich zusammengeschlossen hatim Bürgerstande, in der Bourgeoisie. Diejenigen Menschen, die jaheute die weitaus zahllosesten bilden, die sich vorzugsweise zusam-mengeschlossen haben in alledem – Sie wissen aber, die Intuitionhängt geistig mit dem Stoffwechsel zusammen -, das seinen Quellim Wollen, im Stoffwechsel hat, das ist das Proletariat. So daß tat-sächlich die Menschen sozial so gegliedert sind, wie der Mensch imeinzelnen gegliedert ist.

Nun muß man allerdings die besondere Natur des menschlichen Zu-sammenschlusses erkennen. Und in dieser Beziehung ist geradezufür das Bewußtsein, für die Vorstellungsgewinnung der Menschennoch alles zu tun, denn in bezug auf das, was ich jetzt meine, hat ge-rade die moderne Menschheit die allerverkehrtesten Vorstellungen.Diese moderne Menschheit hat es ja sogar dahin gebracht, sich vor-zustellen, daß der Mensch als einzelnes Wesen weniger vollkommen

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ist denn als Staatstier, daß der Mensch etwas gewinne dadurch, daßer Glied eines Staatswesens wird, und es wird sehr schwer werden,in die Köpfe die Vorstellung hineinzubringen, daß der Mensch da-durch, daß er sich in einen staatlichen Organismus hineingliedert,nichts gewinne, sondern verliert. So verliert er auch, indem er sichin Stände hineingliedert, in Klassen hineingliedert. Dasjenige, wasder Mensch im einzelnen entwickelt, das wird dadurch, daß es in dersozialen Struktur in der Mehrheit lebt, nicht etwa gefördert, sondernes wird abgelähmt, es wird unterdrückt.

So unterdrücken die Traditionen, die Vorstellungen der Adelskastedie urindividuellen Kräfte des Brustmenschen. Also nicht, daß sie siefördern, sondern sie unterdrücken sie, sie lähmen sie zurück. Daraufkommt es an. Es kommt darauf an, einzusehen, daß zwar in derGruppe der adeligen Menschen diejenigen Menschen vereinigt sind,deren Seelen bei einer Verkörperung vorzugsweise hintendierennach dem Brustmenschen, daß aber die äußere Vereinigung auf demphysischen Plan ablähmt dasjenige, was aus dem Brustmenschenherauskommen würde. Es würde zu weit führen, wenn ich Ihnendas im einzelnen zeigen würde. Aber nehmen Sie nur einmal an, daßzum Beispiel das, was Ehrgefühl ist, sich auf ganz individuelle Weiseaus dem Brustmenschen heraus entwickelt; der äußere Ehrbegriffaber, der ist gerade dazu da, das Äußere zu schaffen, damit das In-nere schlafen kann. Alle Zusammenfügung ist eigentlich dazu da,auf äußerliche Weise etwas zu konstituieren, damit das Innerliche,Ursprüngliche, Elementare schlafen kann. Ich brauche nicht wieder-um an Roseggers Ausspruch, den ich ja schon oft angeführt habe, zuerinnern: Oaner is a Mensch Mehre san Leit und Vüle san Viecher.– Der Mensch ist tatsächlich dasjenige, was er ist, aus den elemen-taren Kräften heraus als Individualität. Das versuchte ich auch inwissenschaftlicher Grundlegung zu zeigen in meiner „Philosophieder Freiheit“.

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Alles dasjenige nun, wonach das moderne Proletariat strebt, das istnicht geeignet, das, was in ihm gerade elementar wirkt, zur Vollen-dung zu bringen, sondern es geradezu zu unterdrücken, es in denHintergrund zu drängen, abzulähmen. Und heute ist die Zeit, woman so etwas einsehen muß, wo man nur weiterkommt, wenn mandie Dinge durchschaut. Denn die instinktiven Kräfte – das habe ichöfter ausgeführt -, die wirken nicht mehr. Und die Bourgeoisie – jetztkommt die Kehrseite der Sache -, die ist in ihrem Zusammenschlus-se hauptsächlich dagewesen, um herabzulähmen die Weisheit. DieMenschen haben sich schon zusammengefunden in der Bourgeoisie,deren Seelen hineingestrebt haben, um den Kopfmenschen auszu-bilden; aber namentlich die sogenannte Wissenschaftlichkeit dersozialen Bourgeoisie, die hat eine solche Struktur bewirkt, daß derKopfmensch möglichst kopflos geworden ist. Und er erweist sich jaimmer mehr und mehr gegenüber dem Anstürmen der neueren Zeitals ein recht kopfloses Wesen.

Ständeordnung als Unwissenheit, Gewalt undUngerechtigkeit

Quelle [22]: GA 329, S. 108, 1/1985, 19.03.1919, Winterthur

Es ist mir öfter gerade von Professoren erwidert worden, ich wolledie Menschheit in drei Klassen teilen. Das Gegenteil will ich! Früherwurde geteilt in Nährstand, Lehrstand und Wehrstand. Aber derheutige Lehrstand lehrt nichts. Der Nährstand ist nichts weiteresals ein Gewaltstand, und der Wehrstand, dem wird ja die Aufgabegestellt, dasjenige den Besitzlosen zu sagen, was die Besitzendenwollen! Ja, sehen Sie, das ist dasjenige, was gerade überwundenwerden soll: die Stände, die Klassen sollen überwunden werdengerade dadurch, daß man den Organismus als solchen, abgesondertvom Menschen gliedert. Der Mensch ist ja das Vereinigende. Er wird

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auf der einen Seite im Wirtschaftsorganismus drinnen stehen, undkann ebenso, indem er im Wirtschaftsorganismus drinnen steht,Mitglied der Vertretung des politischen Staates sein; er kann auchdem Geistesleben angehören. Dadurch ist die Einheit geschaffen. Ichwill gerade den Menschen dadurch befreien, daß ich den sozialenOrganismus in drei Teile gliedere.

Überwindung der Ständeordnung durch sozialeDreigliederung

Wie soll nun die Ständeordnung Geschichte werden? Steiner sieht inder sozialen Dreigliederung die einzige Möglichkeit, die Ständeordnungzu überwinden. Von den Sozialisten muß er deswegen immer wiederAbstand nehmen. Mit ihrem Ziel, die Klassenunterschiede abzuschaffen,ist er zwar einverstanden, von ihren Mitteln hält er aber nichts.

Überwindung der Ständeordnung durch Dreigliederungstatt Sozialisten

Quelle [8]: GA 186, S. 010-011, 3/1990, 29.11.1918, Dornach

Nun werden Sie gesehen haben, daß alles dasjenige, was ich letztenSonntag hier als die notwendigen Impulse der Zukunft entwickelthabe, geeignet ist, die Reste, die geblieben sind in unserer sozialenStruktur aus alten Zeiten, und von denen wir ganz durchwühlt sind,rechtmäßig, gesetzmäßig zu überwinden. Vor allen Dingen werdenSie ersehen, wenn Sie tiefer nachdenken werden über die prakti-schen Ergebnisse dessen, was ich am letzten Sonntag vorgebrachthabe, daß diese praktischen Ergebnisse jener sozialen Struktur, vonder ich gesprochen habe, geeignet sind, dasjenige zu überwinden,und zwar sachgemäß zu überwinden, was unsachgemäß von de-nen überwunden werden will, die sich Sozialisten nennen, die aber

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mehr von Illusionen als von Wirklichkeiten leben. Was überwundenwerden muß – wie gesagt, bei tieferem Nachdenken wird Ihnendas schon aus dem am letzten Sonntag Gesagten hervorgehen -, istdie Gliederung der sozialen Struktur nach Ständen. Was errungenwerden muß im Sinne des Bewußtseinszeitalters, in dem wir leben,des fünften nachatlantischen Zeitraumes, ist, daß an die Stelle deralten Ständegliederungen der Mensch tritt.

Bolschewistische Ausrotter des Bürgertums denken selberbürgerlich

Quelle [8]: GA 186, S. 041-043, 3/1990, 30.11.1918, Dornach

Nun, wenn man die Grundeigenschaften dieses russischen Bolsche-wismus betrachtet, so muß man sagen, sein erstes Bestreben gehtdahin, dasjenige, was wir im Sinne des Marxismus charakterisiert ha-ben als die Bourgeoisie, zu vernichten, aus der Welt zu schaffen. Dasist sozusagen Grundmaxime. Alles, was als Bourgeoistum, als Bour-geoisie heraufgekommen ist im Laufe der geschichtlichen Entwicke-lung, mit Stumpf und Stiel als der Menschheitsentwickelung nachseiner Ansicht schädlich auszurotten. Dazu sollen ihn verschiedeneWege führen. Erstens die Überwindung aller KlassenunterschiedebeimMenschen. Auf solche sachliche Überwindung der Klassen- undStändeunterschiede, wie ich sie Ihnen gestern wieder vorgeführt ha-be, läßt sich der Bolschewismus nicht ein. Er denkt ja durchaus selberbürgerlich. Und das, was ich Ihnen gestern vorgeführt habe, ist nichtbürgerlich gedacht, sondern ist menschlich gedacht. Er will in seinerArt die Klassenunterschiede, die Ständeunterschiede überwinden.Nun sagt er sich: Die gegenwärtigen Staaten sind aufgebaut in ihrerStruktur von der bürgerlichen Lebensauffassung. Daher müssen dieFormen der gegenwärtigen Staaten verschwinden. Es muß alles das,was in den gegenwärtigen Staaten Anhängsel des Bürgertums ist,

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wie die Polizeiordnung, die Militärordnung, die Justizordnung, allesdas muß verschwinden.

Was also das Bürgertum zu seiner Sicherheit, zu seiner Rechtspre-chung geschaffen hat, das muß verschwinden, mit dem Bürgertumselbst verschwinden. Übergehen muß die gesamte Verwaltung, diegesamte Organisation der sozialen Struktur in die Hände des Pro-letariats. Dadurch wird der Staat, wie er bis jetzt bestanden hat,absterben, und das Proletariat wird die gesamte menschliche Struk-tur, das gesamte gesellschaftliche Zusammenleben verwalten. Daskann nicht erreicht werden durch die alten Einrichtungen, die ebendas Bürgertum sich geschaffen hat, das kann nicht erreicht werdenetwa dadurch, daß man Reichstage oder sonstige Volksvertretungennach diesem oder jenem Wahlrecht wählt, wie das in der bürgerli-chen Lebensauffassung gemacht worden ist; denn würde man solcheVertretungskörper weiter wählen, so würde nur das Bürgertum sichdarinnen fortsetzen. Also mit allen solchen Vertretungskörpern, sei-en sie mit diesem oder jenem Wahlrecht, kommt man nicht zu denZielen, welche da angestrebt werden. Daher handelt es sich darum,daß zunächst wirklich diejenigen Maßregeln Platz greifen, welcheaus dem Proletariat selber herauskommen, welche in keinem Bür-gerkopfe wachsen können, weil der Bürgerkopf notwendigerweisenur solche Maßregeln treffen kann, die überwunden werden sollen,sondern die nur aus einem Proletarierkopf kommen können. Da-her kann nicht von irgendeiner National- oder Staatsversammlungirgend etwas verwaltet werden, sondern einzig und allein von derDiktatur des Proletariats; das heißt, es muß übergeführt werden diegesamte soziale Struktur in die Diktatur des Proletariats. Nur dasProletariat wird einen Sinn dafür haben, wirklich das Bürgertumaus der Welt zu schaffen. Denn das Bürgertum, wenn es in Vertre-tungskörpern sitzen würde, würde ja keinen Sinn dafür haben, sichselber aus der Welt zu schaffen, während es doch darauf ankommt,daß das Bürgertum, daß die Bourgeoisie entrechtet werde. Daher

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können Einfluß auf die soziale Struktur nur diejenigen Menschenhaben, welche im echten Sinne Proletarier sind, das heißt nur dieje-nigen, welche Arbeit verrichten, die der Allgemeinheit nützen. KeinRecht zu wählen hat daher derjenige im Sinne dieser proletarischenWeltanschauung, welcher in irgendeiner Form sich von anderenMenschen, die er dafür bezahlt, Dienste leisten läßt. Also, wer im-mer Leute anstellt, Leute für sich verdingt, die er für ihre Dienstebezahlt, hat kein Recht, irgendwie teilzunehmen an der sozialenStruktur, hat also auch kein Wahlrecht. Ebensowenig hat ein Wahl-recht derjenige, welcher von den Zinsen etwa seines Vermögenslebt, der also Zinsgenießer ist. Ebensowenig hat ein Recht zu wäh-len derjenige, der ein Händler ist, der also nicht werktätige Arbeitverrichtet, oder der ein Zwischenhändler ist. Alle diese Menschenalso, die von Zinsen leben, die andere Leute anstellen und sie be-zahlen, die Händler sind oder Zwischenhändler, können auch nichtRegierungsorgane sein, während die Diktatur des Proletariats waltet.Während dieser Diktatur des Proletariats gibt es keine allgemeine Re-defreiheit, keine Versammlungsfreiheit, keine Organisationsfreiheit;sondern Versammlungen abhalten, sich organisieren können alleindiejenigen, die werktätige Arbeit verrichten. Allen anderen ist diefreie Rede, ist das Versammlungsrecht, ist das Recht, sich in Gesell-schaften oder Vereinen zu organisieren, verboten. Ebenso genießennur diejenigen Menschen Pressefreiheit, welche werktätige Arbeitverrichten. Die Presse der Bourgeoisie wird unterdrückt, wird nichtgeduldet. – Dies sind ungefähr solche Maximen, welche leiten sollen,ich möchte sagen, die Übergangszeit. Denn wenn diese Maximeneine Zeitlang – das verspricht sich die proletarischeWeltanschauungvon ihrem Vorgehen – gewaltet haben werden, wird eben nur nochwerktätige Menschheit da sein. Es wird nur noch Proletariat da sein.Das Bürgertum wird ausgerottet sein.

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Befreiung von der Ständeordnung durch Proletariat

Quelle [22]: GA 329, S. 137, 1/1985, 02.04.1919, Basel

Ich denke auch nicht, wie manche geglaubt haben, an eineWiederge-burt der alten Stände und Klassen: Lehrstand, Wehrstand, Nährstand– nein, das Gegenteil ist es, von dem ich hier rede. Nicht die Men-schen sollen geteilt werden in Klassen. Klassen, Stände, sie sollenverschwinden dadurch, daß das Leben außerhalb des Menschen, dasobjektive Leben gegliedert wird. Der Mensch aber ist die Einheit, derin alle drei Organismen hineingehört. In dem geistigen Organismuswerden seine Anlagen, seine Fähigkeiten gepflegt. Im staatlichenOrganismus findet er sein Recht. Im wirtschaftlichen Organismusfindet er die Befriedigung seiner Bedürfnisse.

Ich glaube allerdings, daß der moderne Proletarier aus seinem Klas-senbewußtsein heraus das wahre Menschheitsbewußtsein entwi-ckeln wird, daß er Verständnis finden wird immer mehr und mehrfür das, worauf hier hingewiesen worden ist: für die wahre Befrei-ung der Menschheit. Und ich hoffe, daß wenn einmal ganz klar vordes modernen Proletariers Seele stehen wird, wie er gerade nachdem wahren Menschheitsziel hinzustreben berufen ist, daß er dannwerden wird, dieser moderne Proletarier, nicht nur der Befreier desmodernen Proletariats – das muß er ganz gewiß werden -, daß erwerden wird der Befreier alles Menschlichen, alles desjenigen, wasim Menschenleben wahrhaft wert ist, befreit zu werden.

Statt Ständeordnung wirkliche Demokratie durchDreigliederung

Quelle [27]: GA 334, S. 144-145, 1/1983, 19.03.1920, Zürich

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Gerade dadurch, daß der Mensch sich drinnen befindet in einemsolchen dreigegliederten sozialen Organismus, ist es möglich, daßalle Stände aufhören, daß wirkliche Demokratie eintritt. Daraufweist, ich möchte sagen, für jeden Unbefangenen mit einer innerenNotwendigkeit gerade die Entwickelung der modernen Staaten.

Sehen wir denn nicht, daß sie auf der einen Seite dem notwendi-gen Impuls nach Demokratie Rechnung tragen müssen, aber danndie Demokratie wiederum verderben lassen dadurch, daß selbstver-ständlich aus dem Geistesleben heraus der Fähige im demokrati-schen Staatsleben immer mehr Gewicht haben wird als der wenigerFähige? In den Dingen, wo es auf die Fähigkeit ankommt, ist dasganz gerechtfertigt, zum Beispiel im geistigen Gebiet. Dagegen mußdas eigentlich demokratische Staatswesen frei und rein gehaltenwerden von solchen übermächtigen Einflüssen besonders befähig-ter Persönlichkeiten, denn es muß eben ein Gebiet geben nach derGrundforderung der modernen Menschheit, in dem sich nur geltendmacht dasjenige, was allen Menschen, die mündig geworden sind,in gleicher Weise zukommt.

Das wirtschaftliche Gebiet zeigt im besonderen Maße, wie unmög-lich es ist, das einwirken zu lassen, was der Mensch durch seinebesondere Artung sich als Fähigkeit im Wirtschaftsleben erwirbt.Er erwirbt sich dadurch vielleicht eine wirtschaftliche Übermacht.Sie darf aber nicht zu einer sozialen Übermacht werden. Sie wirdes nur dadurch nicht, daß dasjenige, was wirtschaftliche Macht ist,was innerhalb des Wirtschaftslebens verbleibt, unmöglich zu einerpolitischen, zu einer rechtlichen Übermacht werden kann. Alles das-jenige, was heute gerade zur Karikatur der sogenannten sozialenFrage geführt hat, das würde überwunden werden, wenn man sicheinlassen wollte darauf, daß das Wirtschaftsleben auf seinen eige-nen Boden gestellt würde und das demokratische Staatsleben gerade

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dadurch ehrlich und aufrichtig wiederum auf seinen eigenen Bodensich stellen könnte.

Das Individuum bringt die Einheit in die sozialeDreigliederung

Steiner setzt also zur Überwindung der Ständeordnung nicht auf denSozialismus, sondern auf die soziale Dreigliederung. Nun sieht es aberzunächst so aus, als ob die soziale Dreigliederung genauso wie dieStändeordnung zur Zersplitterung der Menschheit führt. Es soll sichnämlich jeder Lebensbereich verselbständigen, ein eigenes Leben führen.Der Mensch ist aber nicht mehr an einem bestimmten Lebensbereichgebunden. Durch diese Beweglichkeit bekommt er die Möglichkeit,Vermittler zwischen den verschiedenen Lebensbereichen zu werden.Das Individuum ist es also, das die Ständeordnung überwindet unddamit die Einheit in die soziale Dreigliederung bringt.

Dreigliederung nach Gesichtspunkten statt nach Ständen

Quelle [28]: GA 337a, S. 143-144, 1/1999, 03.03.1920, Stuttgart

Selbstverständlich gehört zu diesem Gewebe von wirtschaftlichenInstitutionen – mit Bezug auf das Wirtschaften – auch alles dasjeni-ge, was sonst arbeitet im Rechtsleben, im Staatsleben, was arbeitetim geistigen Leben. Das geistige Leben als solches ist unabhängigauf seine eigenen Füße gestellt, aber diejenigen, die im geistigenLeben wirksam sind, die müssen essen, trinken, sich kleiden; siemüssen daher von sich aus auch wiederum Wirtschaftskorporatio-nen bilden, die sich als solche demWirtschaftskörper einzuverleibenhaben, die im Wirtschaftskörper sich assoziieren mit denjenigenKorporationen, die nun wiederum gerade ihren Interessen dienenkönnen. Dasselbe muß geschehen mit der Korporation derjenigen

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Menschen, die im Staatsleben stehen. So wird im Wirtschaftslebenalles drinnen sein, was an Menschen überhaupt im sozialen Orga-nismus drinnen ist – geradeso, wie in den beiden andern Gliedern,im Staatsleben und Geistesleben, alles drinnen ist an Menschen, wasdem sozialen Organismus angehört. Nur sind die Menschen unterverschiedenen Gesichtspunkten in den drei Gliedern des sozialenOrganismus drinnen. Das, worauf es ankommt, das ist ja, daß dersoziale Organismus nicht gegliedert ist nach Ständen, sondern nachGesichtspunkten, und daß in jedem Gliede des sozialen Organismusmit seinen Interessen ein jeder Mensch drinnensteht.

Jeder Mensch ist ein Vermittler der drei Glieder

Quelle [1]: GA 023, S. 140, 6/1976, 28.04.1919, Stuttgart

Die dargestellten einzelnen Lebenseinrichtungen werden gezeigthaben, daß es der zugrunde liegenden Denkungsart sich nicht, wiemancher meinen könnte – und wie tatsächlich geglaubt wurde, alsich hier und dort das Dargestellte mündlich vorgetragen habe -,um eine Erneuerung der drei Stände, Nähr-, Wehr- und Lehrstandhandelt. Das Gegenteil dieser Ständegliederung wird angestrebt. DieMenschen werden weder in Klassen noch in Stände sozial einge-gliedert sein, sondern der soziale Organismus selbst wird gegliedertsein. Der Mensch aber wird gerade dadurch wahrhaft Mensch seinkönnen. Denn die Gliederung wird eine solche sein, daß er mit sei-nem Leben in jedem der drei Glieder wurzeln wird. In dem Gliededes sozialen Organismus, in dem er durch den Beruf drinnen steht,wird er mit sachlichem Interesse stehen; und zu den andern wird erlebensvolle Beziehungen haben, denn deren Einrichtungen werdenzu ihm in einem Verhältnisse stehen, das solche Beziehungen her-ausfordert. Dreigeteilt wird der vomMenschen abgesonderte, seinen

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Abgrenzung der Dreigliederung

Lebensboden bildende soziale Organismus sein; jeder Mensch alssolcher wird ein Verbindendes der drei Glieder sein.

Anmerkung: In der vorangehenden schriftlichen Fassung beschränktsich Steiner auf das Wesentliche, so daß es für Christof Lindenau spä-ter 1 ein Leichtes war, seine Aussagen völlig auf den Kopf zu stellen.In der ursprünglichen Form (GA 328) sind seine Aussagen dagegenunmißverständlich: Die eindeutige Zuordnung einer Einrichtung zueinem bestimmten Lebensbereich, zum Beispiel die Zuordnung derAssoziation zum Wirtschaftsleben, braucht kein Rückfall in die alteStändeordnung zu sein. Der Mensch lebt eben nicht nur in der Assozia-tion und daher nicht nur imWirtschaftsleben. Wenn Christof Lindenaudas Gegenteil behauptet, so setzt er gerade die Ständeordnung voraus,die er eigentlich überwinden möchte.

Abgeordneter dürfen auch imWirtschaftsleben tätig sein

Quelle [21]: GA 328, S. 133-134, 1/1977, 25.02.1919, Zürich

Mir hat einmal jemand hinterher nach meinem Vortrag gesagt: Alsohaben wir doch wiederum einen Hinweis auf die alten GliederungenPlatos: Nährstand, Wehrstand, Lehrstand! – Das, was ich gesagt ha-be, ist das Gegenteil der Gliederung in Nähr-, Wehr- und Lehrstand;denn es werden nicht die Menschen in Stände gegliedert, sondernes wird eine Gliederung versucht des sozialen Organismus. WirMenschen sollen gerade nicht abgeteilt werden! Es kann ganz gutderselbe Mensch tätig sein in dem geistigen Glied, oder tätig sein imrechtlichen und sogar in dem wirtschaftlichen Gliede. Der Menschist gerade dadurch emanzipiert von irgendwelcher Einseitigkeit in ir-

1. Siehe Christof Lindenau. Soziale Dreigliederung: Der Weg zu einer lernendenGesellschaft. Ein Entwurf zum anthroposophischen Sozialimpuls. Stuttgart: VerlagFreies Geistesleben, 1983, S. 84, Quelle [36]

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gendeinem der Glieder des sozialen Organismus. Es handelt sich alsonicht darum, daß die Menschen in solche selbständigen Klassen ab-geteilt werden sollen, wenn man den gesunden sozialen Organismusentwickelt, sondern daß der soziale Organismus selber nach seinenGesetzen geordnet wird. Das ist der durchgreifende Unterschied. Frü-her hat man Menschen gegliedert. Nun soll, der Denkweise unsererZeit entsprechend, der soziale Organismus selbst gegliedert werden,damit der Mensch hinschauen kann auf dasjenige, worin er drinnenlebt, um je nach seinen Bedürfnissen, nach seinen Verhältnissenund Fähigkeiten in dem einen oder in dem anderen Gliede tätig seinzu können. Es wird zum Beispiel ganz gut möglich sein, daß in derZukunft ein Mensch, der im Wirtschaftsleben tätig ist, zu gleicherZeit Abgeordneter ist auf dem Gebiet des rein politischen Staates.Er wird aber dann ganz selbstverständlich seine wirtschaftlichenInteressen in einer anderen Weise geltend machen müssen, als ergeltend machen kann dasjenige, was allein in Betracht kommt aufdem Gebiete des Rechtsstaates. Diese drei Glieder werden selbersorgen für die Abgrenzung ihrer Territorien. Es wird nicht allesdurcheinanderkonfundiert werden, daß sich das eine in das anderehineinmischt.

Landwirte dürfen auch ins Parlament

Quelle [21]: GA 328, S. 094-095, 1/1977, 12.02.1919, Zürich

Nein, das ist keine Erneuerung dieser alten platonischen Idee, son-dern das ist in gewisser Beziehung das radikale Gegenteil davon,und darauf kommt es an. Denn zwischen dem, was platonisch ge-dacht werden konnte als etwas Großes in Griechenland und nochfür spätere Zeiten, und demjenigen, was heute gedacht werden mußzum Heile und zur Gesundung des sozialen Organismus, liegt dergroße, krisenhafte Menschheitseinschnitt um das 15. Jahrhundert.

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Abgrenzung der Dreigliederung

Dazumal, zu platonischen Zeiten, war die Gliederung des sozialenOrganismus eine solche, daß man die Menschen nach Ständen ein-teilte. Die Gliederung, von der ich hier sprach, die gliedert nicht dieMenschen, die gliedert den sozialen Organismus; die gliedert diesensozialen Organismus so, daß unter Umständen ein Mensch in allendrei Gliedern drinnen sein kann, das Entsprechende tun kann, aberdadurch, daß der soziale Organismus gegliedert ist, ist er nicht inder Lage, irgendwie schädlich von dem einen Gliede in das anderehineinzuwirken, nicht einmal dann, wenn, wie es in modernen Par-lamenten vielfach geschehen ist, derselbe Mensch meinetwillen alsLandwirt zugleich in einer staatlichen Partei drinnensteht. Heuteist es noch möglich, daß er durch irgendwelche Assoziationen eineInteressenvertretung inauguriert, daß in das Rechtsleben hinein einewirtschaftliche Interessenvertretung kommt. Ich habe das letzte Malein Beispiel angeführt, wo ein ganzer Staat in seinem Rechtslebenvon einer solchen Interessenvertretung durchsetzt wurde. Das wirdausgeschlossen. Aber was ich als dreigliederig bezeichne im gesun-den sozialen Organismus, das ist der vom Menschen abgesondertesoziale Organismus. Der Mensch wird gerade dadurch selbständig,wird gerade dadurch entkleidet des Charakters eines Sklaven dessozialen Organismus, daß nicht Menschenklassen, Menschenschich-ten als Glieder dastehen, sondern daß der soziale Organismus selbergegliedert wird.

Anmerkung: Andere Vortragsstellen sind genauso eindeutig und zumTeil noch genauer, konnten aber von Lindenau für sein Buch nichtberücksichtigt werden, weil sie erst später erschienen sind. Eine sol-che Stelle wurde schon auf Seite 207 erwähnt: „Ständeordnung alsUnwissenheit, Gewalt und Ungerechtigkeit“.

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Dreigliederung oder Ständeordnung

Man kann sowohl ins Parlament als ins Wirtschafts- undGeistesleben

Quelle [22]: GA 329, S. 319-320, 1/1985, 10.04.1919, Münchenstein

Und Sie werden vielleicht bemerkt haben aus meinen Ausführun-gen, daß ich nicht daran denke, die Menschen weiter in Stände oderin Klassen zu gliedern. In älteren Zeiten hat man unterschiedenLehrstand, Nährstand und Wehrstand. Darum handelt es sich nicht.Gerade dadurch, daß abgesondert sind von dem Menschen die Ein-richtungen, wie wir sie in dem dreigegliederten sozialen Organismushaben, gerade dadurch ist der Mensch selbst dasjenige, was alle dreiGlieder vereint. Und er wird in einem demokratischen Staatswe-sen seine Vertretung haben, oder selbst darinnen stehen; er wirdim Wirtschaftsleben stehen müssen und im Geistesleben, also imganzen dreigegliederten sozialen Organismus stehen. Der Menschist dasjenige, was die drei voneinander getrennten Gebiete einheit-lich umfaßt. Das ist dasjenige, was ich ausgesprochen habe mit denWorten: den Menschen frei machen. Und er wird frei werden, wennwir nicht mehr schwören auf den abstrakten Einheitsstaat.

Anmerkung: Eine dieser Stellen macht den Bezug zum Geisteslebendeutlicher. Hier wird ausdrücklich gesagt, daß die Schulen der geis-tigen Organisation gehören, daß es aber von den Eltern nicht gesagtwerden kann, da Eltern auch im Rechts- und Wirtschaftsleben stehen.Dasselbe läßt sich, entgegen der Behauptung von Lindenau, auch vonden Lehrern sagen: Ihre Schule gehört zwar zum Geistesleben, sie selbstaber nicht.

Schule gehört zum Geistesleben, Eltern verbinden dagegenalle Glieder

Quelle [22]: GA 329, S. 174, 1/1985, 09.04.1919, Basel

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Abgrenzung der Dreigliederung

Nicht denke ich an irgendeine Aufrichtung der alten Stände: Lehr-stand, Nährstand, Wehrstand. Gerade alles Ständehafte, alles Klas-senhafte wird dadurch überwunden, daß der soziale Organismusselbst in seine drei Glieder geteilt wird. Der Mensch aber steht indiesen drei Gliedern als das Vereinende darinnen. Der Mensch istmeinetwillen in irgendeinen Beruf, in irgendeine Gliederung hin-eingestellt. Mit den anderen Gliedern steht er in einem lebendigenZusammenhange. Aus freiem Vertrauen schickt er seine Kinder indie Schulen der geistigen Organisation. Im Wirtschaftsleben stehtohnedies jeder darinnen; im Staats- und Rechtsleben dadurch, daßdieses Staatsleben vor allen Dingen dasjenige zu verwalten hat, vordem alle Menschen gleich sind.

Mündiger darf unabhängig davon wirtschaftlichen Kreditgenießen

Quelle [22]: GA 329, S. 221-222, 1/1985, 14.10.1919, Bern

Es handelt sich ja nicht darum, daß etwa erneuert werde, wie man-che geglaubt haben, dasjenige, was in der vorchristlichen, in derplatonischen Weltanschauung gefordert wurde als Lehrstand, Wehr-stand, Nährstand. Nein, damals hat man die Menschheit als solchegegliedert in drei Stände; so daß der eine zu dem einen, der ande-re zum zweiten, der dritte zum dritten Stande gehört hat. Geradedas soll vermieden werden, daß die Menschen nicht Menschen seinkönnen im Ganzen, sondern in Stände zerfallen. Es wird nicht dieMenschheit als solche gegliedert, sondern es wird das menschlicheLeben gegliedert. Und derjenige, der im Leben drinnensteht, er stehtin einer gewissen Weise auf allen drei Böden: In dem Geisteslebeninsofern er einen lebendigen Anteil hat an dem Geistesleben in dereinen oder anderen Weise; er steht darinnen in dem Rechtsleben, inden gesamten Rechtsfragen, weil er ein mündig gewordener Mensch

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Dreigliederung oder Ständeordnung

ist in diesem Teil, entweder direkt durch irgendein Referendum oderindirekt durch Vertretung und dergleichen, und er steht in dem,worinnen er durch seine Person Kredit hat, oder Sach- und Fach-kenntnis hat, in einem bestimmten Wirtschaftsgebiete, in welchemer eingegliedert ist durch eine Assoziation; das ganze Wirtschaftsle-ben ist in sich gegliedert.

Folgen für das Geistesleben: Einheitsschule stattStändeschulen

Die Überwindung der Ständeordnung durch die soziale Dreigliederunghat auch Folgen für das Geistesleben. Es wird keine Ständeschulenmehr geben, sondern nur noch Einheitsschulen, daß heißt Schulen, dienicht auf eine Klasse, sondern auf den Menschen zielen. Die Waldorf-schule ist in Deutschland nicht nur die erste freie Schule, sondern auchdie erste Einheitsschule gewesen. Man kann natürlich unter Freiheitdes Geisteslebens verstehen, daß es allerlei Schulen geben wird, alsoauch Ständeschulen. Es zeigt aber nur, daß man die Folgen der Freiheitunterschätzt. Ständeschulen wie die heutigen deutschen Gymnasien,Realschulen und Hauptschulen werden durch diese Freiheit an Bodenverlieren, ohne daß man sie durch Verbot oder wirtschaftliche Benach-teiligung zu bekämpfen braucht. Das versuchen natürlich auch dieSozialisten mit ihren staatlichen Gesamtschulen. Das Ergebnis wirdaber immer hinter ihren Erwartungen zurückbleiben, weil sie demGeistesleben das von außen verordnen wollen, was es von sich aus vielbesser erreichen könnte.

Ständeschulen als Ergebnis der Verquickung von Geistes-und Rechtsleben

Quelle [23]: GA 330, S. 032-033, 2/1983, 22.04.1919, Stuttgart

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Abgrenzung der Dreigliederung

Es entsteht sowohl aus dem Durchschauen des Geisteslebens wie ausdem Durchschauen der Zustände, die in der neueren Zeit entstan-den sind aus der Verquickung des Geisteslebens mit dem Staate, dieForderung, das Geistesleben als eigene Organisation völlig abzutren-nen und auf sich selbst zu stellen. Man braucht nicht zu befürchten,was besonders auf sozialistischer Seite gefürchtet werden wird, daßzum Beispiel die Einheitsschule, die von dieser Seite gefordert wird,dadurch gefährdet werden könnte, daß schon die niederste Schuleauf die eigene Grundlage des Geisteslebens, in eine selbständigegeistige Verwaltung, gestellt wird. Die Bedingungen des sozialenLebens werden so sein in der Zukunft, daß nicht Sonderschulenfür Stände und Klassen werden entstehen können. Gerade wennder niederste Lehrer nicht Staatsdiener ist, sondern nur von einergeistigen Verwaltung abhängig ist, dann wird daraus nichts ande-res entstehen können als die Einheitsschule. Denn wodurch sinddie Stände entstanden? Gerade dadurch, daß verquickt wurde dasGeistesleben mit dem Staatsleben.

Zur Einheitsschule braucht es keinen Staatszwang

Quelle [23]: GA 330, S. 061-062, 2/1983, 23.04.1919, Stuttgart

Man kann zum Beispiel sagen: Wir haben uns nun glücklich dazudurchgerungen, die Einheitsschule anzustreben; wenn nun das Geis-tesleben befreit werden und nicht Staatszwang die Kinder in dieSchule führen soll, sondern jeder aus freiem Willen heraus seineKinder in die Schule schicken kann, die er wählt, da werden dochwieder die Höhergestellten ihre eigenen Schulen begründen. Die alteStändeschule wird wieder auftauchen. Dieser Einwand war noch be-rechtigt in der alten Ordnung, aber in sehr kurzer Zeit wird er nichtmehr berechtigt sein. Die alten Stände werden nicht mehr da sein.Und was in diesem Aufruf für das Geistesleben gefordert wird, die

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Dreigliederung oder Ständeordnung

Emanzipation des Geisteslebens von der untersten Schule bis heraufzur Universität, die wird nicht gefordert als einzelne Einrichtung,sondern im Zusammenhang mit einer ganzen Neugestaltung, die esmöglich machen soll, daß bis zu dem Zeitpunkte, wo der Menschder Schule entwächst, etwas anderes existieren wird als die Ein-heitsschule. Die Einwände, die gegen diese Dinge gemacht werden,sind nur konservative Vorurteile. Darüber muß man hinauskommen.Wir müssen sehen lernen, daß das Geistesleben emanzipiert werdenmuß, daß es freigestellt werden muß auf sich selbst, damit es nichtmehr ein Diener der Staats- und Wirtschaftsordnung ist, sondernein Diener dessen, was das allgemeine menschliche Bewußtsein anGeistesleben hervorbringen kann; damit das Geistesleben nicht füreine Klasse da ist, sondern für alle Menschen gleich.

Sehr verehrte Anwesende, Sie arbeiten heute vonmorgens an, soweitIhre Arbeit reicht, in der Fabrik. Sie gehen aus der Fabrik heraus undgehen höchstens vorbei an den Bildungsanstalten, die für gewisseMenschen errichtet sind. In diesen Bildungsanstalten werden diefabriziert, die bisher die herrschende Klasse waren, die die Regierunggeführt haben und so weiter. Ich frage Sie: Hand aufs Herz, habenSie eine Ahnung davon, was da drinnen getrieben wird? Wissen Sie,was da drinnen vorgeht? Nichts wissen Sie! Da zeigt sich unmittelbaranschaulich die Scheidung der Klassen. Da ist der Abgrund. Wasin dem Aufruf angestrebt wird, ist, daß alles, was auf geistigemBoden getrieben wird, alle angeht, und daß der geistige Arbeiterder ganzen Menschheit verantwortlich ist. Das können Sie nichterreichen, wenn Sie nicht das geistige Leben befreien und auf sichstellen.“

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Abgrenzung der Dreigliederung

Dreigliederung oder Marxismus

Die Überzeugungskraft des Marxismus erklärt sich Rudolf Steiner zu-folge auch dadurch, daß sie als Theorie auf die drei Lebensbereiche– Geistesleben, Rechtsleben und Wirtschaftsleben – ausdrücklich ein-geht. Sie basiert nämlich auf die materialistische Geschichtsauffassung,auf den Klassenkampf und auf die Mehrwerttheorie. Damit machtsie leider die gegenwärtige Übermacht des Wirtschaftslebens über diebeiden anderen Lebensbereiche zum integralen Bestandteil der zukünf-tigen Sozialordnung, statt sie – wie die soziale Dreigliederung – zuüberwinden.

Marxismus als Dreigliederungsersatz

Quelle [30]: GA 338, S. 188-191, 4/1986, 17.02.1921, Stuttgart

Gerade weil der Marxismus die modernste Form ist, muß er auchvon denjenigen, die nun etwas wirklich Durchgreifendes wollen,scharf ins Auge gefaßt werden. Ganz selbstverständlich kann manheute nicht irgendwie in die Menschenmassen hineinreden, ohneein geklärtes, wenigstens gefühlsmäßiges Verständnis zu haben fürdasjenige, was der Marxismus bedeutet. Das Wesentliche dabei ist jadoch, daß der Marxismus jene Weltanschauung und Lebensauffas-sung ist, welche am besten der ganzen sozialen Lage des modernenProletariers entspricht. Er ist einfach angepaßt der ganzen sozia-len Lebensauffassung des modernen Proletariers. Und wenn manrein theoretisch den Marxismus bekämpft, so macht man eigentlichetwas, was der Wirklichkeit nicht gemäß ist. Man bekämpft denMarxismus und bedenkt nicht, daß man es ja hat dazu kommenlassen in der Realität, daß der moderne Proletarier so geworden ist,wie er geworden ist. Das ist zurückzuführen auf die Sorglosigkeitder übrigen Bevölkerung. Aber indem man ihn hat werden lassen,

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Dreigliederung oder Marxismus

wie er geworden ist, konnte er nichts anderes, als den Marxismus alsseine Weltanschauung und Lebensauffassung nehmen. Denn dieserMarxismus enthält in sich durchaus für die Auffassung des Prole-tariats die Dreigliederung des menschlichen sozialen Lebens. DerArbeiter hat, indem er Marxist wird, aus dem Marxismus herausseine für seine Klasse passende Anschauung über die Dreigliederungdes sozialen Lebens. Die hat er da drinnen.

Denn sehen Sie, in der modernen Zeit wurde es immer mehr undmehr Sitte, von dem Konsum und seinem Durchschauen abzulenkenund nach dem bloßen Erwerb hinzuschauen. Dabei hatte man dannnur die Notwendigkeit, von diesem Erwerben so viel abzulassen,daß der soziale Organismus noch verwaltet werden kann. Es inter-essierte einen, gleichgültig, ob Aristokrat oder Bourgeois, nur soviel von dem Erträgnis des Erwerbs, als man selbst bekam und alsman abgeben mußte, damit überhaupt das Ganze zusammengehaltenwerden konnte. Wie gestaltete sich das bei den Menschen, welchedurch alte Privilegien oder sonstige Umstände in dem realen sozialenOrganismus drinnenstanden? Sie suchten soviel wie möglich ausdem Erwerb herauszuschlagen. Den Konsum achtete man nicht, undman bewilligte, allerdings nur mit Brummen, für dasjenige, was fürden Zusammenhalt des Ganzen notwendig war, die Steuern. Was tatder moderne Proletarier? Der stand nur an der Maschine und außer-halb des Kapitalismus. Der bewilligte gewisse Steuern grundsätzlichnicht, wenn er nicht umfiel. Denn er hatte kein Interesse an der Rea-lität des alten sozialen Organismus. Er interessierte sich auch nurfür das, was übrigblieb aus dem Erwerb. Da er nicht drinnenstand inder Verwaltung des Kapitals, so wurde das bei ihm nur der Gegen-stand einer Kritik dessen, was er Mehrwert nennt. Das Verhältnis desProletariers zum Mehrwert, ihn kritisierend, ist dasselbe wie beimBourgeois, wenn er brummend die Steuern bewilligt. Der Bourgeoisist, indem er die Steuer bewilligt, nicht vorgedrungen zu dem, wasdahintersteht. Der Proletarier ist auch nicht vorgedrungen. Aber er

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Abgrenzung der Dreigliederung

hat Kritik geübt. Er hat den Mehrwert ins Auge gefaßt und hat Kritikgeübt. Das zeigt also, daß es sich darum handelt, zu der Kritik dasPositive hinzuzufügen. Das wäre selbstverständlich das assoziativePrinzip. Aber es ist in der Theorie des Mehrwertes dasjenige drinnen,was innerhalb einer Weltanschauung und Lebensauffassung demProletarier das wirtschaftliche Element verkörpert.

Das zweite, was in der marxistischen Theorie drinnenlebt, insofernesie die Lebensauffassung und Weltanschauung des Proletariers ist,ist der Klassenkampf, der nach seiner Ansicht sein muß. Das ist daspolitisch-rechtliche Element. Auf dem Wege des Klassenkampfeswill er sich seine Rechte erkämpfen, will er die Arbeit organisierenund so weiter. Es ist also das zweite Gebiet des sozialen Lebens dar-innen. Es ist nur die Kehrseite zu dem, wie es bei dem Bourgeoisund den Aristokraten ist. Die kommen aus ihrer Klasse nicht her-aus. Die haben nicht das Talent, aus dem Klassenmäßigen in dasallgemein Menschliche hineinzukommen. Der Arbeiter macht dasbewußt, aber er nimmt natürlich seine Klasse. So haben wir alsoim Marxismus auch dasjenige, was sich im modernen Leben als daspolitisch-rechtliche Element herausgebildet hat, das noch nicht denÜbergang gefunden hat zu dem wirklich demokratischen Element,das ja nirgends durchgeführt ist, wozu man aber kommen muß, wosich auf dem Boden des staatlich-rechtlichen Gebietes des sozialenOrganismus alle Menschen gleichberechtigt gegenüberstehen, diemündig geworden sind. Das ist ungefähr dasjenige, was immer diebetreffenden Klassen gemeint haben bis jetzt. Als es noch, sagen wir,vor der Französischen Revolution im wesentlichen das aristokrati-sche Element gegeben hat, war dieses unter sich ganz demokratisch,aber unterhalb seiner Klasse hat der Mensch eben aufgehört, er warnicht mehr im vollsten Sinne des Wortes Mensch. Dann kam dasBourgeoistum herauf. Das war unter sich wiederum ganz demokra-tisch. Aber darunter hörte wiederum der Mensch auf. Dasjenige,wohin alles tendiert in der neueren Zeit, ist die allgemeine Demokra-

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Dreigliederung oder Marxismus

tie. Derjenige, der außerhalb des sozialen Organismus stand wie derProletarier, der konstituierte seine eigene Klasse gegen die anderenan die Stelle des allgemeinen Menschlichen, das so zu definieren ist,daß in alledem, worüber demokratisch parlamentarisiert werden soll,alle Menschen, was sie auch vorstellen, alle Menschen, die mündiggeworden sind, als gleiche sich behandelnd sich gegenüberstehen. Sohaben wir, ich möchte sagen, auch in dem Klassenkampf dasjenige,was wir etwa so charakterisieren müssen: Der Proletarier weiß, esmuß – er ist insofern modern -, es muß etwas ganz anderes kommen,als bisher dagewesen ist. Aber das allgemein Menschliche hat ernicht gelernt. Daher geht er von seiner Klasse aus, statt von demallgemein Menschlichen.

Und auch für das Geistige hat innerhalb der marxistischen Weltan-schauung und Lebensauffassung der Proletarier sein Element. Das istdie materialistische Geschichtsauffassung. Im materialistischen Zeit-alter und bei der ganzen Erziehung des modernen Proletariers, dernur an den Mechanismus des Lebens herankommt und nicht an diePsyche und an den Geist, wurde dieses Geistesleben in der Anschau-ung des Proletariers ganz selbstverständlich zu der materialistischenGeschichtsauffassung. Aber diese stellt welt- und lebensanschau-ungsgemäß das geistige Element dar.

Sie haben also das alleräußerste radikale Ausleben desjenigen, wasdie moderne Menschheit eigentlich will und worin sie sich nicht zuhelfen weiß, in dem proletarischen Marxismus. Und Sie müssen demgegenüber etwas stellen, was ebenso fundiert ist wie der proletari-sche Marxismus für das Proletariat. Was ist das Wesentliche diesesproletarischen Marxismus als Weltanschauung? Das Wesentlichedes proletarischen Marxismus als Weltanschauung ist der Unglaubean den Menschen.

Dieser Unglaube an den Menschen hatte in den Zeiten der Urweis-heit der Menschheit seine Berechtigung, denn da waren es göttliche

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Abgrenzung der Dreigliederung

Kräfte, die in dem menschlichen Innern saßen und den Menschenführten. Die Menschen wußten sich auf dasjenige verwiesen, wassie unbewußt aus Seelentiefen heraus als die Offenbarungen derGötter als Richtkräfte für das Leben erkennen konnten. Da wares der Unglaube an den Menschen und der Glaube an die Götter.Als herausgebunden war aus dem alten theokratisch-kirchlichenElement das staatlich-administrative, das beamtlich-militärische Ele-ment, da bestand noch immer dieser Unglaube an den Menschen.Denn da entstand der Glaube, der Mensch als solcher kann dochnicht die Geschicke leiten, das muß der Staat tun. Der Staat wur-de zum Götzen, zum Fetisch. Und das führte den Menschen, dernun in das Staatssystem eingespannt war, zum Unglauben an denMenschen, zum Glauben an den äußeren Fetisch. Natürlich, sobaldder Gott herunterkommt, wird er immer mehr und mehr zum Fe-tisch. Der proletarische Marxismus ist die dritte und letzte Stufedes Unglaubens an den Menschen. Denn der Proletarier sagt sich inseiner materialistischen Geschichtsphilosophie: Nicht der Menschist es, der die Geschicke leitet, sondern „die Produktionskräfte“ sindes, die ihn leiten. Wir stehen als Menschen ohnmächtig da mit un-serer Ideologie. So, wie die Produktionsprozesse verlaufen, so istder geschichtliche Gang. Und was die Menschen innerhalb dieserProduktionskräfte sind, ist nur das Ergebnis der Produktionskräfteselbst.

Unglaube an denMenschen undwirklicher Glaube auch an den hand-greiflichen Fetisch! Es ist kein prinzipieller Unterschied, ob der aufandere Weise in die Dekadenz gekommene afrikanische Wilde einenäußeren Holzklotz anbetet, zum Fetisch macht, oder ob der euro-päische Proletarier die Produktionsmittel und Produktionsprozesseals dasjenige ansieht, was die Geschichte dirigiert. Da ist logischprinzipiell gar kein Unterschied, es ist unser Zauber-Aberglaube! Und das müssen wir genügend ansehen. In verschiedener Weisesind die Menschen in die Dekadenz gekommen. In Afrika war auch

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Dreigliederung oder Marxismus

eine Urweisheit da. Dann ist das heruntergekommen in der Verwal-tung; in Ägypten sehen wir das. Dann verfällt es. Der Fetischismusist nicht dasjenige, was am Ausgangspunkte steht, sondern was inder Dekadenz eintritt. Am Ausgangspunkt steht überall der reineGötterglaube, und im Verkommen liegt erst der Fetischismus. Inner-halb der zivilisierten Gegenden wurden, statt daß man äußerlicheHolzklötze anbetete, die „Produktionskräfte“ angebetet. Die Gebetewurden natürlich auch anders eingerichtet. Aber „die Produktions-kräfte“ und „Produktionsprozesse“ wurden zu Götzen gemacht. Esist die letzte Phase des Unglaubens an den Menschen, die Phase derwirtschaftlich abergläubischen Denkweise. Es ist auch prinzipiellkein Unterschied, ob man sich als afrikanischer Wilder mit einemZauberspruch zu seinem Götzen begibt oder in einer modernen pro-letarischen Versammlung sich zusammenfindet und marxistischePhrasen drischt. Das Gebet klingt anders, aber man muß sich klarsein darüber, was das innere Wesen der Sache ist.

Demmuß gegenübergestellt werden, was nun nicht Unglaube an denMenschen, sondern Glaube an den Menschen ist. Und letzten Endeskommt es darauf an, daß der Glaube an den Menschen gefundenwerde, der Glaube, daß im Innern des Menschen sich die Richtkräftefür das Leben offenbaren. Der Mensch muß zu sich selbst kommen,zum vollen Selbstbewußtsein. Er muß die Möglichkeit finden, sich zusagen: Alles Äußere ist Aberglaube. Einzig und allein die Richtkräfteim eigenen Innern sind es, die in das Leben eingreifen müssen!

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Abgrenzung der Dreigliederung

Dreigliederung oder heutige Ordnung

Viele Vertreter der sozialen Dreigliederung berufen sich leider nur zugerne auf die Stellen, wo Rudolf Steiner von der sozialen Dreigliederungmeint, daß es sie schon gibt. Was braucht man sich noch für eine Drei-gliederung einzusetzen, meinen sie, wenn man nur besser hinschauenmuß!

Würden sie wirklich so gut hinschauen, so würden sie schon sehen, daßes massiven Handlungsbedarf gibt. Man kann höchstens sagen, daßder natürliche Mensch dreigegliedert ist, und die Gesellschaft deswegennach einer Dreigliederung verlangt. Da der Mensch aber gedanklichnicht mitkommt, und die Gesellschaft nicht naturgegeben, sondern vonMenschen gemacht wird, so bleibt die Gesellschaft bisher noch hinterdem Menschen zurück. Hat er sich einmal selber verstanden, so wirder sie endlich auch dreigliedern.

Dreigliederung ist keine Utopie

Quelle [31]: GA 339, S. 027, 3/1984, 12.10.1921, Dornach

So ist es ja auch in vieler Beziehung gekommen: Viele Menschen, dieheute über die Dreigliederung reden, rufen durchaus die Meinunghervor – durch die Art, wie sie reden -, daß es sich um irgendeineUtopie handle, um irgend etwas, was man anstreben solle.

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Größenordnung der Dreigliederung

Unter den Dreigliederern, die sich wirklich für eine Dreigliederung ein-setzen wollen, und sich nicht nur hinsetzen und zuschauen wollen, wiealles doch schon alles dreigegliedert ist, gibt es leider manche Praktiker,die es sich zu einfach machen wollen. Unter dem Vorwand, zunächst beisich anzufangen, versuchen sie einzelne Einrichtungen dreizugliedern,obwohl die soziale Dreigliederung gerade darin besteht, die Einrichtun-gen auf jeweils einen einzigen Lebensbereich zu spezialisieren. Diese„innerbetriebliche“ Dreigliederung wird oft Meso-Dreigliederung oderNeugliederung genannt. Solche dreigegliederten Einrichtungen sindaber nichts anderes als Miniausgaben der bisherigen Einheitsstaates.Small Dreigliederung ist not beautiful.

Es bleibt aber die Frage, wie groß oder wie klein die Dreigliederunganfangen muß, eine Frage worauf Steiner wiederholt eingegangenist. Um es kurz zu fassen: Die Frage der Größenordnung ist selberdreigegliedert und muß anders beantwortet werden, je nachdem esum das Geistesleben, das Rechtsleben oder das Wirtschaftsleben geht.Stehen einem keine Gesetze im Wege, so läßt sich – zum Beispiel inder Form der Christengemeinschaft – mit dem freien Geistesleben imKleinen anfangen. Dies gilt auch – schon eingeschränkter – für dieWaldorfschule. Bei der Frage des Abiturs müsste man aber schon einGesetz kippen, was nur auf Landes- bzw. Bundesebene möglich wäre.Bei der Wirtschaft, kann man sich dieselbe Frage stellen. Hier gehtes darum zu bestimmen, wie weit das Vertrauen reicht. Dies wirdnicht unbedingt die EU- oder Weltebene sein, sondern eher zwischenwenigen Unternehmen sein. Aber vielleicht gerade Unternehmen anzwei anderen Enden der Welt, wie bei den heutigen Ansätzen zu einemfairen Handel.

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Größenordnung der Dreigliederung

Welt, Land, Einrichtung

Christengemeinschaft als praktische Dreigliederungsarbeit

Quelle [34]: GA 342, S. 049-056, 1/1993, 13.06.1921, Stuttgart

Was Sie also in erster Linie werden suchen müssen, das ist schondie Gemeinschaftsbildung. Und da werden Sie nicht anders können,wenn Sie zu einem wahrhaftigen, zu einem wirklichkeitsgetränktenZiel kommen wollen, als praktisch Dreigliederung zu treiben, sichwirklich bewußt zu sein, wie man praktisch Dreigliederung treibenkann. Sie brauchen dazu gerade in Ihrem Berufe absolut nicht inabstrakter Weise für die Dreigliederung zu agitieren. Es ist geradein Ihrem Beruf gut [möglich], für die Dreigliederung ganz praktischzu arbeiten. Aber das geht nicht anders, als daß Sie den Weg suchenzu denjenigen, zu denen Sie sprechen wollen. Es muß ein wirklicherWeg gefunden werden, Gemeinden zu gründen.

Nun braucht man nicht zu glauben, daß man, indem man so etwastut, in einem gewissen radikalen Sinn ein Revolutionär werden muß.Das braucht man gar nicht. Es kann sich in dem einen Fall erge-ben, daß Sie auf dem ganz regulären Wege in irgendein Pfarramt,in ein Predigeramt kommen. Es kann sich auch ergeben, daß esIhnen gelingt, die äußeren materiellen Verhältnisse da oder dort sozu dirigieren, daß Sie eine völlig freie Gemeinde begründen. Abersolche freie Gemeinden und solche, in die man das Bestreben hat,Freiheit des religiösen Lebens hineinzutragen, sie müssen zusam-mengehören; und das kann nur sein, wenn in einer gewissen Weisedasjenige, was Sie anstreben – ich bitte das nicht mißzuverstehen,es soll nicht das Predigen des reinen Machtprinzips sein, aber desberechtigten Machtprinzips -, wenn dasjenige, was Sie anstreben,eine Macht wird, das heißt, wenn Sie eine bestimmte Zahl von Ge-sinnungsgenossen haben. Etwas anderes wird auf die Welt keinen

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Welt, Land, Einrichtung

Eindruck machen. Sie müssen tatsächlich die Möglichkeit haben,über ein großes Territorium hin Leute als Prediger zu haben, dieaus Ihren ganz konkreten Kreisen sind. Dazu wird es schon einmalnotwendig sein, daß Sie diesen Kreis, den Sie Jetzt haben, mindestensnoch zehnmal größer machen. Das wird gewissermaßen Ihre ersteAufgabe sein, daß Sie sich einen so großen Kreis von Gesinnungsge-nossen zunächst auf dem Wege, auf dem der kleinere Kreis zustandegekommen ist, eben suchen. Nur dann, wenn in den entferntestenOrten – relativ natürlich entferntesten Orten – gesehen wird, wiedie gleiche Bestrebung auftritt, wenn ein Zusammenhalt mit Ihnenüber ein größeres Territorium ist, dann werden Sie praktisch zu einersolchen Gemeindebildung schreiten können, gleichgültig, ob Sie aufeinem heute anerkannten Wege ins Predigeramt gekommen sindoder sonstwie.

Sie werden so wirken können, daß Sie nun wirklich Ihre Gemein-dekinder innerlich, gemüthaft an sich ketten können. Wenn ichsage „ketten“, so bedeutet das nicht, Sklavenketten anzulegen. Dazugehört allerdings, daß die Gemeindemitglieder durch Sie das Be-wußtsein bekommen, in einer gewissen Brüderlichkeit zu leben. DieGemeinden müssen konkrete brüderliche Gefühle in sich haben undsie müssen ihren Prediger-Leiter als eine selbstverständliche Autori-tät anerkennen, an die sie sich auch wenden in konkreten Fragen.Das heißt, Sie müssen zuerst in diesen Gemeinden, die Sie nichtin agitatorischer Weise Brüdergemeinschaften oder dergleichen zunennen brauchen, eine selbstverständliche Autorität vor allen Din-gen sich verschaffen – so sonderbar es zunächst erscheint – in bezugauf das Wirtschaftsleben. Es muß möglich sein, daß bei Ihnen Ratgesucht wird in wirtschaftlichen Angelegenheiten und in alle dem,was mit wirtschaftlichen Angelegenheiten zusammenhängt, aus derpersönlichen Erkenntnis der Gemeindemitglieder heraus. Es mußmöglich werden, daß man das Gefühl hat, man bekommt eine Art

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Größenordnung der Dreigliederung

Direktive aus der geistigen Welt heraus, wenn man den Predigerfragt.

Sehen Sie, wenn man das Leben betrachten kann, dann tritt einemin scheinbar kleinen Symptomen dasjenige entgegen, was eigent-lich richtunggebend sein soll. Ich ging einmal in Berlin durch eineStraße und begegnete einem mir seit langer Zeit bekannten Prediger.Der trug eine Reisetasche. Ich wollte höflich sein und irgendeineFrage an ihn richten. Das nächste war natürlich, daß ich die Fragean ihn richtete, die sich aus der Situation heraus ergab: „Treten Sieeine Reise an?“ – „Nein“, antwortete er mir, „ich gehe eben zu einerAmtshandlung“. – Nun mögen Sie darin etwas außerordentlich Un-bedeutsames sehen; aus dem ganzen Zusammenhang erschien miraber die Sache außerordentlich bedeutsam. Der betreffende Predigerwar allerdings mehr Theologe als Prediger in seinem Wirken, aberer war durchaus ein innerlich tiefernster Mensch; er hatte in seinerReisetasche die Dinge, die er brauchte zu einer Taufe und sprachdennoch so, fühlte so, daß er auch einem Menschen gegenüber, vondem er die Voraussetzung haben konnte, daß er eine andere Rede-wendung verstehen würde, aussprechen konnte: „Ich gehe zu einerAmtshandlung“. – Das ist so ungefähr wie bei einem Polizeimann,wenn ein Dieb gesucht werden soll, der geht auch zu einer Amts-handlung.

Dasmüßte überhaupt ganz aus demWirken des Predigers verschwin-den, daß irgendwie bei ihm der Zusammenhang mit dem äußerenstaatlichen oder sonstigen Leben im Bewußtsein hervortritt. Es mußschon in der ganzen Gefühlsweise, wie sie sich dann in die Redeergießt, das enthalten sein, daß dasjenige, was da vollzogen wird,durch eine solche Persönlichkeit vollzogen wird, die aus der sichihres Gottes bewußten menschlichen Persönlichkeit, aus dem freienAntrieb der menschlichen Persönlichkeit heraus handelt. Es mußdas Bewußtsein vorhanden sein: Ich tue das nicht als Amtshandlung,

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Welt, Land, Einrichtung

ich tue es selbstverständlich aus meinem Innersten heraus, weil diegöttliche Kraft mich dahin führt.

Sie mögen das als eine Nebensache ansehen. Gerade die Tatsache,daß man solche Tatsachen als Nebensachen ansieht, die ist vielleichtdas Allerwichtigste in den Schäden des heutigen religiösen Wirkens.Wenn solche Dinge wiederum einmal als Hauptsache angesehen wer-den, daß bis in die kleinste Empfindung hinein der Mensch sich alsdurchdrungen weiß von dem unmittelbaren Dasein des Göttlichenim Physischen, und wenn sich der Prediger als solche Autorität fühlt,daß er weiß, ich trage das göttliche Leben da hinein, ich vollbringenicht eine Amtshandlung im heutigen Sinne, sondern ich führe einenAuftrag des Gottes aus -, dann erst wird er auf seine Gemeindekinderdasjenige übertragen, was an Imponderabilien übertragen werdenmuß.

Dies ist scheinbar recht weit weg von dem Wirtschaftsleben. Unddennoch, man darf nicht so, wie die Sachen heute liegen, die Din-ge, die wir hier in Stuttgart anstreben auf dem Gebiete der Drei-gliederung, etwa auch für maßgebend halten für andere Gebietedes Lebens. Wir arbeiten die Dreigliederung aus dem Gesamten dessozialen Organismus heraus. Für Ihren Beruf handelt es sich aberum etwas anderes. Für Ihren Beruf handelt es sich darum, jedes derdrei Glieder – die ja, auch wenn sie nicht richtig organisiert sind,eben in Wirklichkeit doch da sind -, jedes dieser drei Glieder mitreligiös-geistlichem Leben zu durchdringen; so daß – obwohl völligeFreiheit des Ratholens herrscht innerhalb der Gemeinden, innerhalbderer sich ja natürlich auch das Wirtschaftsleben abspielt – gewis-sermaßen die selbstverständliche Voraussetzung sein muß, daß manin den wirtschaftlichen Dingen, bei denen es sich darum handelt,daß geistiges Leben hineinfließt in die Gemeinde, die Entscheidungbei dem Prediger, bei dem Pfarrer holt. Es muß ein solcher Einklangsein, und vor allen Dingen muß der Pfarrer in innigem Zusammen-

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hang leben mit dem gesamten Wohltätigkeitsleben seiner Gemeinde.Gewissermaßen mit dem Ausgleiche der sozialen Ungleichheitenmuß er in einem wissenden Zusammenhang stehen. Das muß inder Gemeinde angestrebt werden. Man muß tatsächlich der Beraterder Männer sein, und man muß in gewisser Beziehung auch derhelfende Berater der Frauen sein, man muß der Wohltätigkeit derFrauen eine Hilfe sein und so weiter.

Sowohl die Männer als auch die Frauen müssen da, wenn es sichdarum handelt, ihre Angelegenheiten des wirtschaftlichen Lebens,wirtschaftlicher Hilfe, wirtschaftlichen Zusammenarbeitens in ei-nem höheren Sinne einzurichten, unbedingt das selbstverständlicheGefühl haben, da hat der Prediger mitzusprechen. Ohne ein Interesse,ein mittuendes Interesse im Wirtschaftsleben, lassen sich religiöseGemeinschaften nicht begründen, insbesondere nicht in der heutigenschwierigen Zeit des Wirtschaftslebens.

Nicht wahr, solche Dinge können wir zunächst als ein Ideal hinstel-len, aber auf dem einen oder anderen Gebiet wird man die Möglich-keit haben, sich dem Ideal mehr oder weniger zu nähern. Sie werdennatürlich unendlich viel Widerstände finden, wenn Sie so etwasanstreben. Sie werden Zurückweisungen finden, aber Sie müssenes dazu bringen, daß Ihre Gemeindemitglieder dieses Bewußtseinempfangen, das ich eben charakterisiert habe, und daß durch ihr Ver-langen die Notwendigkeit sich herausstellt, dieses richtungebendeHineinsprechen des Predigers in das Wirtschaftsleben zu erzielen.

Ich muß an dieser Stelle sagen, daß vieles Ideal bleiben muß, vorallen Dingen muß heute noch vielfach Ideal bleiben das, was vomRechtsleben, vom Staatsleben der Anteil desjenigen sein muß, derals Prediger in einer Gemeinde lebt. Ich will ein konkretes Beispielanführen. Dadurch, daß das religiöse Leben immer mehr den realenBoden verloren hat, sind solche Dinge zustande gekommen, wie sieden heutigen Menschen außerordentlich aufgeklärt erscheinen, wie

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sie aber aus dem sozialen Leben heraus das religiöse Leben gründlichuntergraben. Da ist zum Beispiel die Ansicht, die man heute überdie Ehegesetzgebung hat. Es ist ganz zweifellos notwendig, daß dieEhegesetzgebung – mag man sie nun sonst aus anderen Verhält-nissen heraus straff oder weniger straff denken -, es ist unter allenUmständen notwendig, daß diese Ehegesetzgebung gewissermaßensich hineinfügt in die Dreigliederung des sozialen Organismus. Dazuist aber natürlich notwendig, daß deutlich gefühlt wird gegenüberder Ehe, daß sie in ihrer eigenen Institution durchaus ein Bild desdreigliedrigen sozialen Organismus darstellt. Sie ist erstens eineWirtschaftsgemeinschaft und muß sich hineingliedern in den sozia-len Organismus, insofern er seinen wirtschaftlichen Teil hat. Es mußalso ein Zusammenhang gesucht werden zwischen jenerWirtschafts-gemeinschaft, die die Ehe darstellt und den Assoziationen. An daskann heute kaum mehr als gedacht werden, aber aus den Gemein-schaften heraus muß dieses Bewußtsein entstehen, daß vor allenDingen die wirtschaftliche Seite der Ehe mitgetragen werden mußdurch die Maßnahmen der Assoziationen, durch die Maßnahmendes wirtschaftlichen Lebens.

Das zweite ist, daß das Rechtsverhältnis deutlich empfunden wirdals ein Verhältnis für sich, und daß der Staat nur in das Rechts-verhältnis der Ehe hineinzureden hat, daß also die Eheschließungzwischen Mann und Weib den Staat nur insofern angeht, als sie eineAngelegenheit des Rechts ist, das vom Staate ausgeht.

Dagegen werden Sie als Ihre ureigene Angelegenheit innerhalb derreligiösen Gemeinschaft den geistigen Segen der Ehe beanspruchenmüssen in einer völlig freien Weise aus Ihrer Entscheidung heraus.Sie werden also anstreben müssen als ein Ideal, daß in die Freiheitder religiösen Entscheidung hineingestellt wird der religiöse Segender Ehe und daß diese Entscheidung durchaus respektiert wird, sodaß sie als Grundlage angeschaut wird für das andere, daß also

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Größenordnung der Dreigliederung

tatsächlich durch das Vertrauen, das in der Gemeinschaft existiert,gesucht wird zunächst für die Ehe die Entscheidung des Pfarrersoder des Predigers. Ich weiß natürlich, daß solch eine Sache heutevielleicht sogar von vielen evangelischen Leuten als etwas ganzUnzeitgemäßes angesehen wird, aber wieder kann ich nur sagen:Daß man solche Dinge als unzeitgemäß ansieht, darin zeigen sichja die Schäden des Zivilisationslebens, die das religiöse Leben ganzunweigerlich untergraben.

Also, Sie werden Ihren Gemeindemitgliedern das Bewußtsein bei-bringen müssen, daß der eigentliche innere geistige Kern der Ehe mitdem religiösen Leben zu tun hat und daß durchaus auf diesem Ge-biete Dreigliederung praktisch werden muß, das heißt, daß alle dreiTeile der Ehe allmählich im sozialen Leben ihre Ausgestaltung findenmüssen, daß also alle diese drei Dinge drinnen sein müssen. Mansoll sich Dreigliederung nicht so vorstellen, daß man ein Programmutopistischer Art aufstellt und sagt, man soll die Dinge dreigliedern.Man gliedert sie in bester Art in diese drei Glieder, wenn man erfaßt,daß in jeder Institution des Lebens die Dreigliederung implizit ent-halten ist, und wie man die einzelnen Dinge so gestalten kann, daßdie Dreigliederung zugrunde liegt. Man braucht vielleicht geradeinnerhalb Ihres Berufes nicht zu starkes Gewicht darauf zu legen,die Dreigliederung in abstracto zu vertreten; aber man muß verste-hen, wie das Leben fordert, daß diese Dreigliederung kommt, dasheißt, daß jedes der einzelnen Glieder des sozialen Organismus einewirklich konkrete, daseiende Realität ist.

Natürlich werden Sie heute großen Widerstand dagegen erfahren,aber Sie können gerade in einem solchen Punkte, wenn Sie zunächstaufklärerisch in Ihrer Gemeinde wirken, das Verhältnis, in dem dasfreie Geistesleben – in dem ja vor allen Dingen das religiöse Ele-ment enthalten sein muß – mit dem steht, welches werden soll, amallerbesten entfalten, nicht in, ich möchte sagen, wohlwollenden

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gegenseitigen Beanredungen, daß man sich gegenseitig duldet, son-dern dadurch, daß man tatsächlich das von der Sache Gefordertewirklich auch als sein Ideal hinstellt. Natürlich müssen Sie gewärtigsein, daß man Ihnen da den allergrößtenWiderstand entgegenbringt.

Und drittens: Sie müssen die Möglichkeit haben, nun wirklich daszu entwickeln, was im dreigliederigen sozialen Organismus das freieGeistesleben bedeuten soll. Wir haben heute in dem allgemeinen so-zialen Organismus überhaupt kein Geistesleben mehr, wir haben einintellektuelles Leben, wir haben aber kein Geistesleben. Wir haben,ich möchte sagen, keinen Umgang der Götter mit den Menschen.Wir haben nicht das Bewußtsein, daß in allem, was äußerlich inder physischen Welt vorgeht, das göttliche Wirken durch uns selberda sein soll, und daß der wirkliche reale Geist in die Welt getragenwerde, daß also sowohl die Handlungen, die sich innerhalb des Wirt-schaftslebens abspielen, als auch die rechtlichen Festsetzungen, diesich innerhalb des Staatslebens abspielen, und namentlich, daß derJugendunterricht und auch die Unterweisung des Alters die freieTat der an diesem Geistesleben teilnehmenden Menschen sein muß.– Das ist dasjenige, was eben eingesehen werden muß.

Im kleinen Maßstab läßt sich nichts erreichen

Quelle [7]: GA 185a, S. 149-151, 3/2004, 22.11.1918, Dornach

Mir begegnete vor vielleicht achtzehn, neunzehn Jahren in Berlin einMann, der schon damals als nationalökonomischer Denker und Or-ganisator außerordentlich geschätzt war. Mir begegnete er dazumal,ich kannte ihn, ich war da und dort einmal mit ihm zusammengekom-men, hatte auch von seiner Berühmtheit gehört. Die Leute erzähltenschon dazumal in Berlin, der Mann sei so berühmt, daß er, nachdemjetzt eine große Zeitung gegründet worden sei, mit einem großenGehalt bei dieser Zeitung angestellt worden sei, und zwar nicht für

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Größenordnung der Dreigliederung

Artikel, die er für diese Zeitung schreiben sollte, sondern es war ihmfreigestellt, wann er wollte, alle Jahre einmal einen Artikel zu schrei-ben. Aber das einzige, was er zu leisten hatte für das hohe Gehalt,das war, daß er für alle anderen Zeitungen nicht schrieb. So berühmtwar der Mann, daß einer der größten Zeitungsunternehmer Berlinsihm einfach ein hohes Gehalt gab dafür, daß ihm keine Konkurrenzerwuchs durch das Schreiben dieses Mannes in anderen Zeitungen,währenddem er ihm freistellte, wann er wollte, in seiner Zeitung zuschreiben. Dieser Mann ging auch immer mehr und mehr schon mitdem Plane um, im Kleinen über ein bestimmtes Terrain hin allerleisoziale Einrichtungen, gewissermaßen kleine soziale Mustergesell-schaften oder Musterstaaten, könnte man sagen, zu errichten. Esgalt für ungeheuer scharfsinnig, wie er sich diese sozialen Musterge-meinschaften ausgedacht hatte. Und wenn er nicht eigentlich nochviel mehr Anhänger gewann und die Anhänger, die er gewann, nurim Theoretischen blieben, so rührte das auch nicht davon her, daßdie Leute ihn nicht für sehr scharfsinnig gehalten hätten, sondern esrührte davon her, daß die Leute zu bequem waren, selbst zu so etwassich zu bekennen, was sie für sehr scharfsinnig und sehr wohltätigfür die Menschheit hielten. Nun begegnete er mir und sagte – ichsah ihn schon mit strahlendem Gesichte kommen -: Jetzt habe ichendlich den Geldmann gefunden, der mir die Summe zur Verfügungstellt, daß ich einmal eine solche Siedelungsgenossenschaft gründenkann. Jetzt wollen wir das Gemeinwesen der Zukunft gründen. – Ichsagte nichts als: Gründen Sie es nur, es wird schon nach nicht allzulanger Zeit verkrachen. – Denn solche Dinge gründet man doch nurin der gegenwärtigen Zeit, damit sie verkrachen, selbstverständlich.

Ich erzähle Ihnen diese Geschichte aus dem Grunde, weil der Glaubesich leicht festsetzen könnte bei einem nicht energischen Denken,bei einem Denken, das nicht an die großen Probleme des Lebensanknüpfen will, man solle in der Gegenwart mit allerlei Gründungenim Kleinen anfangen; mit nicht umfassenden Gründungen und gera-

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de bei kleinen Gründungen müsse es sich zeigen, ob irgend etwassich auch im Großen bewähren könne. Das aber ist ein vollstän-diges Unding, denn Sie begründen dann innerhalb einer krankengesellschaftlichen Ordnung irgend etwas, was vielleicht ganz mus-terhaft sein kann, aber gerade, wenn es gut ist und sich dadurchmächtig unterscheidet von all dem, in das es hineingestellt ist, somuß es um so sicherer mißlingen. Sie können unmöglich, so wiedie Dinge sich entwickelt haben, wo die Welt im Großen zeigt, wiesie sich ins Absurde geführt hat, auch nur im entferntesten darandenken, irgendwie mit kleinen Teilchen irgend etwas zu erreichenoder im kleinen Maßstabe irgend etwas zu machen. Nur dasjenigekann irgendeine Bedeutung haben, welches das Umfassende heuteergreift, welches seine Strahlen aussenden kann, ich möchte sagen,nach allem, was Mensch ist. Es schadet nichts, wenn solches insGroße Gedachte mißlingt, denn es wird die Anregung bleiben, und,auf diese kommt es an. Auf den Impuls kommt es an.

Es geht nicht um die Verbesserung kleiner Einrichtungen

Quelle [26]: GA 333, S. 085, 2/1985, 15.09.1919, Berlin

Es handelt sich nicht darum, daß man über die Verbesserung kleinerEinrichtungen nachdenkt; es handelt sich darum, daß man umden-ken und umlernen muß.

Erst wenn auf dem selbständig demokratischen Gemeinboden, woder eine Mensch dem andern als Mündiggewordener, als Gleicherdem Gleichen gegenübersteht, über die Arbeitskraft geurteilt wird,und wenn der Mensch als freier Mensch diese Arbeit in das selbstän-digeWirtschaftsleben hineinträgt, wo nicht Arbeitsverträge, sondernVerträge über die Erzeugung geschlossen werden, erst dann wirdaus dem Wirtschaftsleben weichen, was heute Unruhe erzeugenddarin ist. Das muß durchschaut werden.

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Größenordnung der Dreigliederung

Propaganda durch Initiativen statt durch große Zahl

Quelle [28]: GA 337a, S. 141-142, 1/1999, 03.03.1920, Stuttgart

Wenn wir, die wir in engerem Kreis an der Fortführung der Dreiglie-derungsideen arbeiten, dennoch durchaus glauben, daß die Arbeitfortgesetzt werden muß, so sind wir auf der anderen Seite auchgründlich davon überzeugt, daß der Weg, der eben zunächst einge-schlagen worden ist – eine genügend große Anzahl von Seelen zuüberzeugen von der Notwendigkeit der Dreigliederung -, daß dieserWeg heute nicht rasch genug zum Erfolg führen kann. Deshalb müs-sen wir heute denken an unmittelbar praktische Unternehmungen,deren Gestalt ja schon in der nächsten Zeit vor unsere engere Zeit-genossenschaft hintreten soll. Wir müssen daran denken, unser Zielzu erreichen durch gewisse Institutionen, die ersetzen können dasje-nige, was bewirkt worden wäre durch das Zusammenwirken einergenügend großen Anzahl von überzeugten Menschen. Wir müssenwenigstens den Versuch machen, durch Institutionen, die wirtschaft-liche Institutionen sind, erste Musterinstitutionen zu schaffen, andenen man sehen wird, daß in solchen wirtschaftlichen Institutionenunsere Ideen praktisch verwirklicht werden können. Diese könnendann Nacheiferung finden in dem Sinne, daß man dann den Tatsa-chen dasjenige glaubt, was man vorher den uns überzeugend schei-nenden Worten nicht glauben wollte. Auf der anderen Seite werdendiese Musterinstitutionen auch tatsächlich solche wirtschaftlichenFolgen haben können, daß manches von dem, was schon eingetretenist an wirtschaftlicher Helotisierung, wiederum gutgemacht werdenkann. In der Tat ist ja eine große Anzahl von Menschen in diesemMitteleuropa soweit gekommen, daß es ihnen ganz gleichgültig ist,woher sie ihre Profite beziehen. Sie lassen sich von den Siegern un-ter Umständen die Direktiven und auch die sachlichen materiellenUnterlagen geben, wenn das für sie nur möglich macht, entspre-chende Profite zu haben. Die Art und Weise, wie man in manchen

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Kreisen heute daran denkt, sich wirtschaftlich aufzuhelfen in Mittel-europa, ist ja geradezu beschämend. So muß gedacht werden, ausder Dreigliederungsidee selber heraus praktische Institutionen zuschaffen, welche den Beweis werden liefern können – selbst unterden schon recht schwierig gewordenen Verhältnissen -, daß dieseDreigliederungsidee tatsächlich nicht eine utopistische, sondern einepraktische ist.

Sehen Sie, als wir mit unserer Arbeit begonnen haben, wurde viel-fach gefragt: Ja, könnt ihr uns für einzelne Einrichtungen praktischeGesichtspunkte geben? Wie soll man das oder jenes machen? – Der-jenige, der eine solche Frage aufgeworfen hat, der hat gewöhnlichganz davon abgesehen, daß es sich nicht darum handeln konnte,die eine oder andere Institution, die gerade ihre Unbrauchbarkeiterwiesen hat, durch gute Ratschläge weiter zu erhalten, sonderndaß es sich darum gehandelt hat, durch Umwandlung im großeneinen völligen sozialen Neuaufbau zu bewirken, durch den danndie einzelnen Institutionen getragen worden wären. Dazu hätte esnicht der Ratschläge bedurft für das eine oder andere, sondern dazuhätte es bedurft, daß die Ideen im großen eingesehen worden wären,das heißt von einer genügend großen Anzahl von Menschen – dennzuletzt werden doch alle Institutionen von Menschen gemacht.

Dreigliederung braucht zur Praxis möglichst viele Köpfe

Quelle [30]: GA 338, S. 187, 4/1986, 17.02.1921, Stuttgart

Was im Sinne der Dreigliederung vertreten werden soll, ist dasjenige,was die wirkliche Dreigliederung in sich hält, selbst auf die Gefahrhin, daß die praktischen Einrichtungen wegen des Widerstandes derMenschen nicht gleich erfolgen können. Das Wichtigste ist heute,daß die Dreigliederungsidee in möglichst viele Köpfe hinein kommt.

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Größenordnung der Dreigliederung

Dadurch kommen wir doch auch am schnellsten zur praktischenVerwirklichung derselben.

Dreigliederung der Größenordnung

Die Frage der Größenordnung läßt sich nicht allgemein beantworten.Und das es immer wieder versucht wird, zeigt vielleicht, wie schwerman es hat, dreigliedrig zu denken. Wenn Geistesleben, Rechtslebenund Wirtschaftsleben eigene Zielgrößen haben (siehe Stellen aus demGesamtwerk Rudolf Steiners, 9. Band, Nationalismus und Volksseelen),warum sollten sie nicht auch andere Einstiegsgrößen haben?

Im Parlament Machtmißbrauch verhindern

Quelle [28]: GA 337a, S. 167, 1/1999, 03.03.1920, Stuttgart

Bezüglich der Beteiligung an den Wahlen möchte ich nur das folgen-de sagen: Natürlich kann man in abstracto durchaus sagen, an derWahl sich beteiligen und ins Parlament eintreten und dort wirken,das stütze den gegenwärtigen Staat. – Das kann man nicht so ohneweiteres sagen. Ich will nicht einmal so stark pro oder contra spre-chen; das hängt von den verschiedenen konkreten Verhältnissen ab,ob man sich an der Wahl beteiligt oder nicht. Aber wenn man strengdie Dreigliederung auffaßt, ist es prinzipiell nicht ganz richtig, sichnicht zu beteiligen am Parlament. Das prinzipiell Richtige, im Sinneder Dreigliederung konsequent gedacht, wäre: an den Wahlen sichbeteiligen, soviele wählen lassen als gewählt werden können, insParlament eintreten und Obstruktion treiben bei allen Fragen, diesich auf Geistesleben und Wirtschaftsleben beziehen. Das würdekonsequent im Sinne der Dreigliederung gedacht sein. Es handeltsich darum, abzugliedern den mittleren Teil, das Staatsleben. Das

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Dreigliederung der Größenordnung

kann nur herausgeholt werden, wenn das andere links und rechtsabgeworfen wird. Das kann man dann nicht anders tun, als indemman sich wirklich wählen läßt, eintritt und Obstruktion treibt beialle dem, was verhandelt und beschlossen wird auf dem Gebiete desGeistes- und Wirtschaftslebens. Das wäre konsequent gedacht imSinne der Dreigliederung des sozialen Organismus.

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Geltungsdauer der Dreigliederung

Charakteristisch für das Dritte Reich war das Denken in Endlösun-gen. Und dasjenige, was verewigt werden sollte, war noch dazu vonvornherein völlig veraltet. Das Ergebnis war nur Vernichtung. Im Un-terschied dazu geht es bei der sozialen Dreigliederung nicht darum,irgend etwas Veraltetes wie die Blutsbanden in die Zukunft zu retten,sondern darum, entwicklungsfähig zu bleiben. Eine Folge davon ist,daß gerade die soziale Dreigliederung über sich selber hinausweist.Gelingt es, sie in die Realität umzusetzen, kommt es dadurch von selbstzu etwas, was keine soziale Dreigliederung mehr sein wird, sonderneine Weiterentwicklung.

Man muß nur genau aufpassen, wer von Weiterentwicklung spricht. Esist seit einigen Jahrzehnten zu einer Mode geworden, die soziale Drei-gliederung weiterzuentwickeln. Wer sich aber Autoren wie WilhelmSchmundt oder Dieter Brüll vornimmt, wird schnell enttäuscht. IhrenAnspruch, die soziale Dreigliederung weiterzuentwickeln, haben sienicht eingelöst. Ihr Werk zeigt vielmehr, daß sie vor der sozialen Drei-gliederung zurückgeschreckt sind, weil sie selber veraltet waren. Nochbequemer machen es sich diejenigen, welche die soziale Dreigliederungseit dem Scheitern der Dreigliederungsbewegung im Jahre 1922 fürüberholt halten.

Demgegenüber muß man klar machen: Die soziale Dreigliederung istnicht überholt. Dafür müßte sie zuerst einmal verwirklicht wordensein. Wer das aber trotzdem behauptet, sollte sich erst einmal selbstprüfen, ob er in unsere Zeit wirklich angekommen ist.

Ich baue hier auf die Vorarbeiten von Karl Heyer, der die folgendenZitate zur Geltungsdauer der sozialen Dreigliederung 1949 zusammen-getragen und in einem ähnlichen Sinne kommentiert hat.

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Jahrzehnte für die Dreigliederung

Jahrzehnte für die Dreigliederung

Zunächst geht es um zwei Stellen, wo Rudolf Steiner die Dringlichkeitder sozialen Dreigliederung für die nächsten Jahrzehnte betont. Erwarnt dabei vor weiteren Katastrophen, die leider eingetreten sind.

Dreigliederung will sich in den nächsten Jahrenverwirklichen

Quelle [8]: GA 186, S. 009-011, 3/1990, 29.11.1918, Dornach

Nicht ist es etwa ein Programm, das ich entwickeln wollte, das be-tone ich ausdrücklich; denn Sie wissen, von Programmen halte ichganz und gar nichts, Programme sind Abstraktionen. Dasjenige, wo-von ich Ihnen gesprochen habe, soll keine Abstraktion bedeuten,sondern soll eineWirklichkeit bedeuten. Ich habe den verschiedenenLeuten, zu denen ich im Lauf der letzten Jahre von diesen sozialenImpulsen als von einer Notwendigkeit gesprochen habe, die Sachein der folgenden Weise dargestellt. Ich habe gesagt: Das, was hiergemeint ist, und was ganz und gar kein abstraktes Programm ist, daswill sich durch die historischen Impulse in den nächsten zwanzigbis dreißig Jahren in der Welt verwirklichen. Sie haben die Wahl –so konnte man dazumal zu den Leuten, die noch die Wahl hatten,sprechen; heute haben sie sie nicht mehr -, entweder Vernunft anzu-nehmen und sich auf solche Dinge einzulassen, oder aber zu erleben,daß die Dinge sich durch Kataklysmen, durch Revolutionen in derchaotischsten Weise verwirklichen werden. Eine andere Alternativegibt es eben für diese Dinge im Verlauf des weltgeschichtlichen Ge-schehens nicht. Und heute ist einmal die Anforderung, daß solcheDinge verstanden werden, die den wirklich in der Welt wirksamenImpulsen entnommen sind. Heute ist eben nicht die Zeit, wie ichwiederholt betont habe, in der jeder sagen kann: Ich glaube, daß dies

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oder jenes geschieht oder geschehen soll, – sondern heute ist dieZeit, wo nur derjenige wirksam etwas über die Notwendigkeitender Zeit zu sagen vermag, der in der Lage ist, das anzuschauen, wassich im Laufe der Zeit verwirklichen will.

Nun, vor allen Dingen handelt es sich darum, daß ich Ihnen natür-lich nur eine Skizze geben konnte dessen, was von mir angesehenwerden muß als eine Notwendigkeit, die sich verwirklichen will.Und ich will heute – ich möchte sagen, nur um eine Anknüpfungzu haben, nur noch kurz wiederholen, daß es sich darum gehandelthat, daß diese Konfusion der sozialen Struktur, welche allmählich zudiesen katastrophalen Ereignissen der letzten Jahre in der ganzenWelt geführt hat, daß diese Konfusion ersetzt werden muß, einfachersetzt werden muß durch jene Dreigliederung der sozialen Struk-tur, von der ich Ihnen das letztemal gesprochen habe. Sie habengesehen, daß diese Dreigliederung darauf hinausläuft, daß dasjenige,was bisher in konfuser Weise der einheitlichen, scheinbar einheitli-chen Staatsorganisation zugrunde lag, daß das in getrennte Gebietesich auflösen muß. Es wird sich auflösen in die drei Gebiete, vondenen ich das erste bezeichnet habe als das der politischen oderSicherheitsordnung; das zweite als das Gebiet der sozialen Organi-sation, der wirtschaftlichen Organisation; das dritte als das Gebietder freien geistigen Produktion. Diese drei Dinge werden sich – undzwar schon im Laufe der nächsten Jahrzehnte wird sich das auchdenjenigen Leuten zeigen, die unwillig sind, es heute zu verstehen -,diese drei Gebiete werden sich selbständig nach jeder Richtung hingliedern. Und man entkommt den großen Gefahren, denen die Weltsonst auch weiter entgegengeht, nur, wenn man sich daraufeinläßt,diese Dinge zu verstehen. Verstehen wird man sie aber nur, wennman wirklich auf die Dinge eingeht. Ich möchte, damit das Folgendenicht mißverstanden werde, noch einmal betonen: Die soziale Fragehaben wir weder zu schaffen, noch irgendwie theoretisch über siezu diskutieren. Durch die letzten Betrachtungen werden Sie gese-

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Jahrzehnte für die Dreigliederung

hen haben, daß sie da ist, daß sie als ein Faktum, als eine Tatsachehingenommen werden muß, und daß sie nur in der entsprechendenWeise erfaßt und verstanden werden muß, wie ein Naturereignis.

Nun werden Sie gesehen haben, daß alles dasjenige, was ich letztenSonntag hier als die notwendigen Impulse der Zukunft entwickelthabe, geeignet ist, die Reste, die geblieben sind in unserer sozialenStruktur aus alten Zeiten, und von denen wir ganz durchwühlt sind,rechtmäßig, gesetzmäßig zu überwinden. Vor allen Dingen werdenSie ersehen, wenn Sie tiefer nachdenken werden über die prakti-schen Ergebnisse dessen, was ich am letzten Sonntag vorgebrachthabe, daß diese praktischen Ergebnisse jener sozialen Struktur, vonder ich gesprochen habe, geeignet sind, dasjenige zu überwinden,und zwar sachgemäß zu überwinden, was unsachgemäß von de-nen überwunden werden will, die sich Sozialisten nennen, die abermehr von Illusionen als von Wirklichkeiten leben. Was überwundenwerden muß – wie gesagt, bei tieferem Nachdenken wird Ihnendas schon aus dem am letzten Sonntag Gesagten hervorgehen -, istdie Gliederung der sozialen Struktur nach Ständen. Was errungenwerden muß im Sinne des Bewußtseinszeitalters, in dem wir leben,des fünften nachatlantischen Zeitraumes, ist, daß an die Stelle deralten Ständegliederungen der Mensch tritt.

Entwicklungskräfte streben in den nächsten Jahren nachDreigliederung

Quelle [21]: GA 328, S. 061, 1/1977, 10.02.1919, Zürich

Und so habe ich auseinandergesetzt, daß das, was man heute zusam-menmuddeln will in einen einheitlichen Staat, geradeso wie wennman den menschlichen Organismus – zu einem Homunkulus würdeman ihn dann machen – zusammenmuddeln wollte, so daß seine dreiSysteme wirr zentralisiert wären, daß das, was man heute so zentra-

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Geltungsdauer der Dreigliederung

lisieren will, zum gesamten Staatsbetriebe machen will, lebendig indrei Glieder auseinanderfallen muß, wenn sich ein gesunder sozialerOrganismus entwickeln soll. Es muß als selbständiges Glied diesessozialen Organismus alles dasjenige sich entwickeln, was geistigeKultur ist, als selbständiger Organismus sich entwickeln alles das,was man heute im engeren Sinne das politische Staatsleben nennt,das nicht durch Zentralisation, sondern nur durch eine lebendigeWechselwirkung mit dem geistigen Leben zusammenhängen soll,und es muß sich als drittes selbständiges Glied entwickeln der Wirt-schaftsorganismus. Geistiger Organismus, Staatsorganismus, wirt-schaftlicher Organismus, das ist es, wovon man sagen muß: in dennächsten zehn bis zwanzig Jahren streben die Entwickelungskräfteder Menschen dahin. Und wer sich dieser Entwickelung widersetzt,widersetzt sich dem, was die Lebensmöglichkeiten der modernenMenschheit sind.

Einige Monate später bekommt die Dreigliederungsbewegung Zulaufaus der Arbeiterbewegung. Rudolf Steiner betont, daß schnell gehan-delt werden muß. Die Betriebsräte sollen gebildet werden, bevor diewestlichen Kapitalisten zusammen mit den verbliebenen mitteleuro-päischen Kapitalisten Geld in die Betriebe stecken. Sonst wird erst nachder nächsten Katastrophe gehandelt werden können.

Westliches Kapital wird Sozialisierung aufschieben

Quelle [24]: GA 331, S. 286-287, 1/1989, 23.07.1919, StuttgartBetriebsräte-Versammlung zur Bildung der vorbereitenden württem-bergischen Betriebsräteschaft

Es ist auch im öffentlichen Leben durchaus so wie bei gewissenSpeisen, die sauer werden, wenn sie nicht zur rechten Zeit genossenwerden. So sollten auch die öffentlichen Angelegenheiten nicht erstder Gleichgültigkeit, der Interessenlosigkeit ausgeliefert werden. Sie

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Jahrhunderte für die Dreigliederung

müssen nun einmal mit einer gewissen Schnelligkeit ausgeführtwerden. Außerdem warten die Amerikaner und Engländer durchausnicht auf unser langsames Vorgehen. Wenn wir nicht bis zu einemgewissen Zeitpunkt, der nicht mehr fern liegen kann, dazu kommen,von diesem wirtschaftlichen, geistigen und politischen Leben zusagen: So wollen wir die Dinge einrichten, und wir schaffen ausden im Wirtschaftsleben Tätigen die Leitung der Betriebe –, dannwerden die Anglo-Amerikaner Gelder in die Betriebe hineinsteckenund sich mit den noch vorhandenen Kapitalisten vereinigen, und diewirtschaften dann nach dem Prinzip des anglo-amerikanischen Kapi-talismus in den Betrieben Mitteleuropas. Dann haben Sie lange dasNachsehen. Dann können Sie schuften für einen neuen Kapitalismus,der viel schrecklicher sein wird als der bisherige. Dann können Sienichts mehr sozialisieren, dann müssen Sie warten, bis Sie so starksind, daß Sie durch etwas ähnlich Blutiges, wie es die letzten fünf bissechs Jahre waren, die Möglichkeit gewinnen, an solche Dinge zudenken. Die Durchkapitalisierung vom Westen ist durchaus schonauf dem Marsche. In Berlin haben die Leute die Parole ausgegeben:Die Sozialisierung ist auf dem Marsche! – Sie ist nicht auf dem Mar-sche. Sie wird erst auf demMarsche sein, wenn die Betriebsräteschaftgeschaffen ist. Aber die Durchkapitalisierung ist durchaus auf demMarsche, also die Durchsetzung aller Betriebe Mitteleuropas mitamerikanischem und englischem Kapital. Deshalb verträgt das, waswir heute riskieren können, keine lange Interessenlosigkeit, sondernwichtig ist, daß wir rasch zugreifen.

Jahrhunderte für die Dreigliederung

In den nächsten Jahrzehnten hat sich in Europa bekanntlich nicht diesoziale Dreigliederung, sondern der Nationalismus verwirklicht. Diesbedeutet aber nicht, daß die soziale Dreigliederung zum alten Eisen

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Geltungsdauer der Dreigliederung

gehört. Sie bleibt das Ideal „unserer Zeit und der nächsten Zukunft“.Auch wenn immer wieder neue Wege genommen werden müssen, umauf ihre Notwendigkeit aufmerksam zu machen.

Michael-Zeit ist Dreigliederungszeit

Quelle [10]: GA 192, S. 016-017, 2/1991, 21.04.1919, Stuttgart

Auch in der Gegenwart werden zahlreich diejenigen Menschen sein,die da glauben, etwas Bedeutungsvolles zu sagen, wenn sie darüberreden, wie die Menschheit für ewige Zeiten beglückt werden kann,was für Zustände herbeigeführt werden müssen als Idealzuständeder Menschheit. Solche Ewigkeitsideen und solche Idealzustände derMenschheit denkt derjenige nicht, der aus dem wirklichen geistigenLeben heraus seine Erkenntnisse schäpft. Wie ich es immer hierauseinandergesetzt habe, war die Entwickelung so, daß stets einebestimmte Epoche einer anderen Epoche folgte und vor allen Dingenfür alle Hauptepochen der nachatlantischen Zeit ein eigenes konkre-tes Ideal vorhanden war, wie auch für unsere Zeit und für die nächsteZukunft. Nicht darauf kommt es an, wie in chiliastischer Weise eintausendjähriges Reich herbeizuführen ist, sondern was die geistigeWelt für eine kurze Zeitspanne verwirklichen will, die man abernur übersehen kann, wenn man sich auf eine geistige Wissenschaftwirklich einläßt. Und unsere Zeit fordert eben in dringlicher Art das,was als der Grundnerv dieses Aufrufes geltend gemacht wurde: DieDreigliederung des sozialen Organismus. Der soziale Organismuskann nur dadurch gesund werden, daß er diese Dreigliederung er-hält, die Sie gelesen haben in dem Aufruf, und wie Sie sie findenwerden in meiner Broschüre „Die Kernpunkte der sozialen Fragein den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft“. Dergegenwärtige Menschheitszyklus erfordert diese Dreigliederung.

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Sehen Sie, ein ganz anderes wäre es gewesen, wenn noch in der Mitteoder selbst noch imHerbste des Jahres 1917 diese Dreigliederung vonbedeutungsvoller Seite, entweder Deutschlands oder Österreichs,geltend gemacht worden wäre, als eine Kundgebung der ImpulseMitteleuropas gegenüber den von amerikanischen Gesichtspunktenentworfenen sogenannten Vierzehn Punkten des Woodrow Wilson.Dazumal wäre das eine historische Notwendigkeit gewesen. Ich ha-be Kühlmann dazumal gesagt: Sie haben die Wahl, entweder jetztVernunft anzunehmen und auf das hinzuhorchen, was in der Entwi-ckelung der Menschheit sich ankündigt als etwas, was geschehensoll – denn was in diesen Auseinandersetzungen steht, ist nicht ir-gendein Programm, wie es heute so viele haben, sondern ist etwas,was herausgelesen ist aus der Entwickelung der Menschheit undwas ganz gewiß realisiert wird in den nächsten fünfzehn, zwanzig,fünfundzwanzig Jahren, was aber vor allen Dingen realisiert werdenmuß innerhalb Mitteleuropas -, heute haben Sie die Wahl, entwederVernunft anzunehmen, was sich realisieren will, durch Vernunft zurealisieren, oder Sie gehen Revolutionen und Kataklysmen entgegen.– Statt Vernunft anzunehmen, bekamen wir den Frieden von Brest-Litowsk, den sogenannten Frieden von Brest-Litowsk. Denken Sie,was es gewesen wäre – das kann ohne Renommisterei gesagt wer-den -, wenn gegenüber den sogenannten Vierzehn Punkten dazumalin den Donner der Kanonen die Stimme des Geistes hineingetönthätte. Ganz Osteuropa hätte dafür Verständnis gehabt – das weißjeder, der die Kräfte in Osteuropa kennt -, den Zarismus ablösenzu lassen von der Dreigliederung des sozialen Organismus. Dannwäre zustande gekommen, was eigentlich hätte zustande kommenmüssen. Diejenigen, die der Sache dazumal wohlwollend gegenüber-gestanden haben, haben höchstens den Rat gegeben, man solle dasals Broschüre drucken lassen. Nun denken Sie sich, welcher Unsinndas dazumal gewesen wäre. In den mancherlei Dingen, die dazumalnicht gelesen wurden, wäre auch das selbstverständlich Literatur ge-

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Geltungsdauer der Dreigliederung

blieben. Die Zeiten ändern sich. Heute, wo alles auszugehen hat vonder breiten Masse, heute, wo zwischen dort und jetzt die Oktober-und Novembertage des Jahres 1918 liegen, heute ist der richtige Wegder, sich mit diesen Dingen an die breite Öffentlichkeit zu wenden.Das sind die größten Schädlinge der Menschheit, die immer glauben,die Sache müsse, wenn sie richtig ist, insofern sie sich auf das prakti-sche Leben bezieht, zu jeder Zeit in gleicher Weise richtig sein. Nein,so faul darf unser Denken nicht werden, wie die Leute, die dieseAnsicht haben, glauben. Die Dinge sind zu verschiedenen Zeitenvon ganz verschiedenen Gesichtspunkten aus zu beurteilen.

Man muß ja allerdings etwas tiefer hineinschauen in die Entwicke-lung der Menschheit, wenn man die ganze, volle, weitgehende Praxisdesjenigen würdigen will, was gerade dieser Dreigliederung zugrun-de liegt. Diese Dreigliederung ist, ich muß das immer wieder undwiederum betonen, nicht etwas, was einem einfallen kann. Sie istetwas, was der Geist der Zeit und der Gegenwart unbedingt vonden Menschen fordert, was der Geist der Zeit verwirklichen will,was der Geist der Zeit – bitte, wenn Sie das Folgende hören, werdenSie auch diesen Satz, den ich jetzt vorausschicken kann, verstehen-, was der Geist der Zeit tatsächlich verwirklicht. Und gerade da-durch entsteht das Chaos, daß die Menschheit anders denkt und vorallen Dingen anders handelt, als der Geist der Zeit denkt und han-delt. Eigentlich verwirklicht sich schon seit den siebziger Jahren desneunzehnten Jahrhunderts das, was in dieser Dreigliederung steht,nur die Menschen haben sich anders verhalten und sind dadurch infurchtbare Widersprüche geraten mit dem, was in den Tatsachenverwirklicht wird. Sie wissen, es handelt sich vor allen Dingen umdie Dreigliederung des sozialen Organismus in einen geistigen Teil,in einen eigentlich staatlichen oder politischen Teil und in einenwirtschaftlichen Teil. Betonen möchte ich zunächst: Das Erweisender Richtigkeit dieser Grundanschauung kann aus dem bloßen ge-sunden Menschenverstand geschehen, wie überhaupt alles aus dem

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Jahrhunderte für die Dreigliederung

gesunden Menschenverstand heraus begriffen werden kann, wasgeisteswissenschaftlich gewonnen wird, wie ich das ja auch immerbetont habe. Aber ich glaube allerdings nicht, daß aus dem heutigenDenken heraus man in richtigerWeise – bitte nicht zu vergessen, daßich sagte: in richtiger Weise – dazu kommen kann. Es sind ja Men-schen, welche zu ähnlichem gekommen sind, aber es handelt sichdarum, daß man auf wirklich praktischer Grundlage dazu kommt,auf einer Grundlage, die dasjenige berücksichtigt, was in unsererZeit sich verwirklichen will, und eigentlich sich verwirklicht.

Anmerkung: Was ist aber unsere Zeit? Was ist seit den siebziger Jahrendes neunzehnten Jahrhunderts denn passiert? Und wer ist der Geist derZeit, auf den sich Rudolf Steiner hier bezieht?

Nimmt man die vorige Stelle zusammen mit der nächsten Stelle, wirdklar, daß er eine Michael-Zeit, und damit eine kosmopolitische Zeitmeint. Also eine Zeit, welche die Blutsbande und den Nationalismusüberwinden muß. Nicht umsonst warnt er im letzten Kapitel der „Kern-punkte der sozialen Frage“ eindrücklich vor dem Nationalismus alsstärksten Widerstand gegen die soziale Dreigliederung. Dies fällt denMenschen umso schwerer, als die vorigen Jahrhunderte gerade unterdem Zeichen der Vererbung groß geworden sind. Gabriel, Jeanne d’Arcund dergleichen sind aber jetzt Vergangenheit. Diese tiefe Zäsur ist es,welche jedes Hängen an der Vergangenheit gerade heute so gefährlichmacht.

Michael-Zeit ist kosmopolitisch

Quelle [15]: GA 240, S. 296-297, 5/1992, 27.08.1924, London

Nachdem jene Macht, welche man mit dem christlichen NamenGabriel bezeichnen kann, drei bis vier Jahrhunderte geherrscht hatals die dirigierendeMacht in der europäischen Zivilisation, wurde sie

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abgelöst – Ende der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts – durchdie Michael-Herrschaft, die wiederum drei bis vier Jahrhundertedauern wird, im Geistesleben der Menschen fortleben und webenund wellen wird und in der wir eben jetzt drinnen stehen.

Wir haben also in unserer Gegenwart immerhin Veranlassung – weilwir selber wiederum in der Michael-Strömung drinnen leben -, wirhaben Veranlassung, auf solche Michael-Strömungen hinzuweisen.

Wir finden diese Michael-Strömung, wenn wir in der Zeit, die demMysterium von Golgatha hart voranging, hinschauen auf die vomenglischen Westen ausgehende, ursprünglich von den Mysterienvon Hybernia angeregte Artusströmung. Wir sehen in einer älterenForm diese Michael-Strömung, wenn wir hinblicken auf dasjenige,was Jahrhunderte vor der Entstehung des Mysteriums von Golgathavon Nordgriechenland, von Mazedonien aus, durch jene interna-tionale, jene kosmopolitische Strömung geschehen ist, die an denNamen Alexanders des Großen geknüpft ist und unter dem Einflußjener Weltanschauung gestanden hat, die unter dem Namen der ari-stotelischen bekannt ist. Was in der vorchristlichen Zeit sich durchAristoteles und Alexander abgespielt hat, stand damals so in derMichael-Herrschaft drinnen, wie wir jetzt wiederum in der Michael-Herrschaft drinnen stehen, und dazumal war auf Erden ebenso wiejetzt in dem geistigen Leben der Michael-Impuls. Immer, wenn einMichael-Impuls in der Erdenmenschheit ist, dann ist die Zeit, wo das-jenige, was in einem Kulturzentrum, in einem spirituellen Zentrumbegründet worden ist, über viele Völker der Erde, in allen Gegenden,in denen es möglich ist, ausgebreitet wird.

Das geschah in der vorchristlichen Zeit durch die Alexanderzüge.Da wurde das, was innerhalb der griechischen Kultur gewonnenworden ist, verbreitet über diejenige Menschheit, in der es verbreitetwerden konnte. Und wenn man Aristoteles und Alexander gefragthätte: Woher habt ihr dasjenige, was in euren Herzen sitzt als der Im-

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puls zur Ausbreitung des geistigen Lebens eurer Zeit? – sie würdenzwar mit einem anderen Namen, aber im Wesen doch geantwor-tet haben: Von dem Impuls des Michael, desjenigen, der als Die-ner Christi von der Sonne aus wirkt. Denn von den verschiedenenArchangeloi, welche abwechselnd die Kultur beherrschen, gehörtMichael, der im Alexander-Zeitalter und wiederum in unserem Zeit-alter herrscht, der Sonne an. Es gehört derjenige, der dann gefolgt istauf die Alexander-Zeit, Oriphiel, dem Saturn an. Es gehört derjenige,der dann auf Oriphiel gefolgt ist, Anael, der Venus an. Es gehörtderjenige Erzengel, der im 4., 5. Jahrhundert die europäische Zivi-lisation beherrscht hat, Zachariel, der Jupitersphäre an. Dann kamRaphael aus der Merkursphäre in derjenigen Zeit, in der insbeson-dere eine Art Medizinkultur-Denkweise im Untergrunde desjenigenblühte, was als europäische Zivilisation sich abspielte. Dann kamSamael so über das 12. Jahrhundert hin. Samael gehört dem Marsan. Dann kam Gabriel, der der Mondensphäre angehört. Und nuntrat wiederum seit den siebziger Jahren des vorigen JahrhundertsMichael ein, der der Sonnensphäre angehört. So gehen im Rhythmusfort die Herrschaften über das Geistesleben der Erde durch diesesieben Wesen aus der Hierarchie der Archangeloi.

Nationalisten als schärfste Gegner der Dreigliederung

Quelle [1]: GA 023, S. 141-142, 6/1976, 28.04.1919, Stuttgart

Gegenwärtig wird der Dreigliederung des sozialen Organismus nochder schärfste Widerstand von seiten derjenigen Menschheitszusam-menhänge erwachsen, die aus den Gemeinsamkeiten der Sprachenund Volkskulturen sich entwickelt haben. Dieser Widerstand wirdsich brechen müssen an dem Ziel, das sich aus den Lebensnotwendig-keiten der neueren Zeit die Menschheit als Ganzes immer bewußterwird setzen müssen. Diese Menschheit wird empfinden, daß ein je-

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der ihrer Teile zu einem wahrhaft menschenwürdigen Dasein nurkommen kann, wenn er sich lebenskräftig mit allen anderen Teilenverbindet. Volkszusammenhänge sind neben anderen naturgemäßenImpulsen die Ursachen, durch die sich Rechts- und Wirtschaftsge-meinsamkeiten geschichtlich gebildet haben. Aber die Kräfte, durchwelche die Volkstümer wachsen, müssen sich in einer Wechselwir-kung entfalten, die nicht gehemmt ist durch die Beziehungen, welchedie Staatskörper und Wirtschaftsgenossenschaften zueinander ent-wickeln. Das wird erreicht, wenn die Volksgemeinschaften die innereDreigliederung ihrer sozialen Organismen so durchführen, daß jedesder Glieder seine selbständigen Beziehungen zu anderen sozialenOrganismen entfalten kann.

Anmerkung: Während Rudolf Steiner in den „Kernpunkten der sozialenFrage“ absichtlich Bezüge auf irgendwelche Erzengel vermeidet, läßt eres sich nicht nehmen, Schlüsse aus dieser unausgesprochenen Annahmezu ziehen und schon damals in Vorträgen vor Mitgliedern der anthro-posophischen Gesellschaft zu erklären, daß die soziale Dreigliederungfür die drei bis vier nächsten Jahrhunderten gültig bleiben wird.

Dreigliederung für einige Jahrhunderte richtig

Quelle [10]: GA 192, S. 388-389, 2/1991, 28.09.1919, Stuttgart

Die Menschen wollen immer absolutistisch die Dinge auffassen, undman freut sich heute schon, wenn die Dinge nicht absolutistischaufgefaßt werden.

Ich habe neulich eine große Freude gehabt, und zwar dadurch, daßmich ein Mann besuchte in Berlin, der – nun, wie soll ich es nennendie Besprechung der Dreigliederung unter dem Titel „Ein falscherProphet“, in der „Hilfe“ gelesen hatte. Ich weiß nicht, ob Sie diesesElaborat kennen. Das hat also ein Amerikaner gelesen und hat sich

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gesagt: Wovon in solcher Weise geschrieben wird, da ist etwas dran,da muß ich mich dafür interessieren. – Und er kam dann mit HerrnPfarrer Rittelmeyer zu mir und setzte auseinander, daß er aus demganzen schwächlichen Stil und so weiter entnommen habe, daß mansich für die Sache interessieren müsse. Und unter den Fragen, dieer stellte und die alle sehr verständig waren, war auch die folgende,die mich besonders freute: Nun, die Dreigliederung, man kann siefür die jetzige Zeit sehr gut einsehen; man kann einsehen, daß jetztdie Dreigliederung notwendig ist, daß sie an die Stelle des altenEinheitsstaates treten muß. Sind Sie der Meinung, daß nun die Drei-gliederung die letzte, endgültige Lösung der sozialen Frage ist? –Das war eine sehr verständige Frage. Ich konnte ihm antworten: Dasglaube ich ganz und gar nicht. Sondern im Laufe der Geschichtsent-wickelung hat sich in den verflossenen Jahrhunderten ergeben, daßmehr der Einheitsstaat heraufkam. Jetzt ist notwendig gewordendurch die Zeitforderung die Dreigliederung. Und es wird wiederumeine Zeit kommen, wo die Dreigliederung überwunden werden muß.Aber das ist nicht die jetzige Zeit, das ist die Zeit in drei bis vierJahrhunderten. Da wird man wiederum denken müssen, wie mandie Dreigliederung ablösen kann. – Das ist der Gegensatz zu demchiliastischen Denken, der Gegensatz zu dem Denken, das ein tau-sendjähriges Reich ein für allemal herbeiführen will, dem Denken,das sich sagt: Wir müssen einen gesegneten Zustand der Menschheitherbeiführen, dann ist er eben da, dann kann er bleiben. – So bequemlebt es sich nicht in der Welt. Da ist notwendig, daß dasjenige, wasals richtig in einer bestimmten Epoche herbeigeführt wird, wieder-um abgelöst wird von dem, was dann für die folgende Epoche dasrelativ Richtige ist. Das ist es, um was es sich handelt. Das heißtorganisch denken im Gegensatz zum mechanischen Denken, das dieGegenwart beherrscht, wo man eigentlich meint, es gibt nun etwasein für allemal absolut Richtiges. Das eine ist richtig für Stuttgart,das andere für New York, für Australien. Das eine ist richtig für 1919,

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das andere für 2530. Nein, so bequemmacht es dieWeltentwickelungden Menschen nicht, daß irgend etwas absolut Richtiges da ist. DieDinge sind immer richtig für bestimmte Orte und für bestimmteZeiten. Und manmuß konkret aus den Verhältnissen heraus denken.

Jahrtausende für die Dreigliederung

Geht Rudolf Steiner allerdings nicht allein auf die soziale Dreigliederungals soziale Struktur des Michael-Zeitalters ein, sondern auf die sozialenIdeale, die dadurch im Geistesleben, Rechtsleben und Wirtschaftslebenverwirklicht werden, so ergeben sich größere Zeiträume. Zur Verwirkli-chung der Freiheit bedarf es nämlich der ganzen fünften Kulturepoche,also weit mehr als Tausend Jahre. Für jedes weitere Ideal kommt nocheine Kulturepoche dazu.

Umsetzung der sozialen Dreigliederung braucht dreiZeiträume

Quelle [9]: GA 190, S. 048-056, 3/1980, 23.03.1919, Dornach

Wir stehen in dem Zeitalter, in dem zum Beispiel der große, ge-waltige Umschwung sich vollziehen muß, daß die Menschen vonDenkautomaten zu wirklich denkenden Menschen werden. Nichtwahr, es ist schrecklich, wenn man so etwas sagt, denn die Menschender heutigen Zeit halten sich doch selbstverständlich für denkendeMenschen, und wenn man von ihnen verlangt, daß sie erst denkendeMenschen werden sollen, dann betrachten sie das mehr oder we-niger als eine Beleidigung. Aber es ist dennoch so. Seit der Mittedes 15. Jahrhunderts kam immer mehr das über die Menschen, daßsie zu Denkautomaten geworden sind. Die Menschen überlassensich gewissermaßen heute den Gedanken, sie beherrschen nicht die

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Gedanken. Denken Sie sich nur einmal, was das bedeuten würde,wenn Ihnen dasselbe passieren würde mit Bezug auf andere GliederIhres Organismus, was den meisten Menschen gegenwärtig pas-siert mit Bezug auf die Denkorgane. Fragen Sie sich, ob der heutigeMensch sehr geneigt sein kann ich sage: sein kann -, willkürlichmit einem Gedanken zu beginnen, willkürlich mit einem Gedankenabzuschließen? Die Gedanken brodeln heute den Menschen durchden Kopf. Sie können sich ihrer nicht erwehren, sie geben sich ihnenautomatisch hin. Da steigt ein Gedanke auf, der andere geht fort, daszuckt und blitzt durch den Kopf, und die Menschen denken so, daßman eigentlich am besten sagen könnte, es denkt in den Menschen.Denken Sie sich, wenn dasselbe den Menschen passieren würde inbezug auf ihre Arme und Beine, wenn sie diese ebensowenig beherr-schen würden, wie sie ihr Denken beherrschen. Denken Sie sich, einMensch würde sich heute auf den Straßen mit

den Armen so benehmen, wie er sich mit dem Denkorgan benimmt!Sie können sich vorstellen, was alles an Gedanken durch den KopfeinesMenschen zuckt, wenn er über die Straße geht, und nun denkenSie sich, er würde fortwährend mit den Händen und Armen fuchtelnwie mit seinen Gedanken, oder gar mit den Beinen! Und dennoch,vor dieser Epoche stehen wir, vor welcher die Menschen lernenmüssen, ebenso Gewalt zu haben über ihre Gedanken, das heißt,genauer gesprochen, über ihre Denkorgane, wie sie Gewalt habenüber ihre Arme und Beine. In dieses Zeitalter tritt der Mensch ein.Eine gewisse innere Disziplin des Denkens ist dasjenige, was Platzgreifen soll und wovon die Menschen heute noch recht weit entferntsind.

Wir sind ja seit der Mitte des 15. Jahrhunderts in den fünften nach-atlantischen Zeitraum eingetreten. Bevor dieser abläuft, müssentatsächlich die Menschen lernen, ihr Denken so zu beherrschen wieihre Arme und ihre Beine. Dann wird die eigentliche Aufgabe die-

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ses fünften nachatlantischen Zeitraums für diejenigen Menschenerfüllt werden, die das können. Sie sehen, es handelt sich um Ernstes,wenn man dasjenige in Erwägung ziehen will, was gewissermaßenam Horizonte der Menschheitsentwickelung im heutigen Zeitalterheraufzieht. Nun wird aber mit dem, was ich eben angedeutet ha-be, mit diesem Beherrschen des Denkens etwas wesentlich anderesverknüpft sein. Die Menschen werden, je mehr sie das Denken zubeherrschen beginnen, desto mehr in die Lage kommen, wiederbildlich vorzustellen, Imaginationen zu haben. Und Imaginationenwerden gebraucht von den Menschen, denn nur dadurch könnensich in die heute vielfach wirkenden antisozialen Triebe die sozialenTriebe hineinentwickeln, daß die Menschen durch Imaginationendie Fähigkeit bekommen, sich so recht in die anderen Menschen, inihre Mitmenschen hineinzuversetzen. Man kann sich nicht durch dasbloße abstrakte Denken in die Mitmenschen hineinversetzen. Dasabstrakte Denken macht eigensinnig, das abstrakte Denken bringtden Menschen dazu, bloß auf seine eigenen Meinungen zu hören.Und vor allen Dingen bringt das abstrakte Denken den Menschendazu, überhaupt sich abzuschließen mehr oder weniger von jenerBeweglichkeit, die man braucht, um mit der geistigen Welt leben zukönnen. Daß man heute nicht leicht mit der geistigen Welt lebenkann, das können Sie an einer ganz bestimmten Erscheinung, dieheute außerordentlich häufig ist, sehen.

Sehen Sie, es ging zum Beispiel jetzt unser „Aufruf“ durch die Welt.Er ist ja von einer Anzahl von Menschen – das ist augenscheinlich –verstanden worden.

Überall in der Weit haben sich da oder dort Menschen gefunden, dieihn verstanden haben. Aber eine ganze Anzahl anderer Menschenhat ihn eingestandenermaßen nicht verstehen können. Man kannsich sogar schwer vorstellen, was das heißt, man versteht den Auf-ruf nicht, denn es steht nichts drinnen, was nicht eigentlich jeder

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Mensch von vornherein verstehen könnte. Dennoch finden ihn vieleunverständlich. Woher kommt dies? Das kommt daher, daß heutedie wirkliche Geistesbildung auf einen außerordentlichen Tiefstandgekommen ist, weil die Leute in dem Augenblicke, wo Gedanken ansie anklingen, die ihren Gedankenautomatismus unterbrechen, nichtmehr mitkönnen. Die Menschen sind heute gewöhnt, den einmal inSchwung gekommenen Gedanken automatisch zu folgen. Beobach-ten Sie nur so recht die typischen Leute der Gegenwart, Sie werdenihnen goldene Dinge erzählen können – wenn dann die Leute selberetwas sagen sollen, rollt wiederum dasjenige ab, was sie seit Kindheitzu sagen gewohnt sind. Neue Gedanken in die Köpfe der Menschenzu setzen, das wird heute außerordentlich schwer. Wer ein kleinwenig Lebenserfahrung hat, der weiß in der Regel immer, was manzu dem einen oder zu dem anderen, das heute in der Welt auftritt,von seiten der meisten Leute sagen wird. So automatisch sind dieUrteile, so automatisch sind die Gedanken der Menschen geworden.Der Gedankenautomatismus ist dasjenige, was am meisten störendeingreift in das, was heute durch die Entwickelungskräfte von denMenschen gefordert wird. Formeln mögen die Leute gern haben, Ein-gewöhntes mögen sie gern haben. Je weiter man westwärts kommt,um so mehr hört man, wenn irgendein Satz geprägt ist: Ja, das kannman nicht sagen! – Wie häufig sagen die Leute, wenn irgend etwasDeutsches zum Beispiel ins Holländische oder ins Englische oderins Französische zu übersetzen ist: Das ist nicht englisch, das istnicht holländisch, das ist nicht französisch! – Umgekehrt kann mandas nicht sagen. Im Deutschen ist alles möglich. Da kann man dasPrädikat an den Anfang, in die Mitte, ans Ende setzen – immer ist esdeutsch. Man kann den Ausdruck, eine Redeweise sei nicht deutsch,fast gar nicht gebrauchen in dem Sinne, wie man sagt, irgend et-was sei nicht holländisch, nicht englisch, nicht französisch und soweiter. Gewiß, es gibt auch da gewisse Denkgewohnheiten, die sichdann in der Satzfolge ausdrücken; aber man kann ebensogut eine

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andere Satzfolge gebrauchen, als diejenige, die in der Grammatiksteht. Es ist eigentlich in dieser Beziehung nichts falsch, und es istnur eine Philistrosität, eine Spießerei, wenn vielfach da auch vonFalschem und Unrichtigem gesprochen wird. Es drückt sich in derSprache oftmals der Automatismus des Denkens sehr klar aus. Aufsolche Nuancen des Lebens müßten eigentlich die Menschen heuteaufmerksam sein, denn solche Nuancen sind zum Verständnis un-serer Zeit außerordentlich wichtig. Also indem der Automatismusdes Denkens aufhört und die Beweglichkeit des Denkens wiederPlatz greift, wird auch die Möglichkeit zu Imaginationen in denMenschenseelen erweckt werden.

Es wird nun noch eines bekämpft werden müssen, und das ist die Un-gebildetheit unseres Zeitalters. Die Ungebildetheit unseres Zeitaltersist nämlich eine außerordentlich große. Die Menschen verstehenalles mögliche nicht, einfach weil es in ihren Denkautomatismusnicht hineinpaßt. Prediger werden gewöhnlich so allgemein ver-ständlich gefunden, weil sie im Grunde genommen nichts anderessagen, als was in den Denkautomatismen der Zuhörer unzähligeMale abgeschnurrt ist. Die Leute finden das ganz besonders schön,wenn sie so im Inneren denken können: Ach, was der sagt, das habeich ja auch schon immer innerlich gesagt – habe ich es nicht gesagt?– Wie oft hört man heute gerade diese Redensart und wie treffendfindet man dasjenige, von dem man sagen kann: Habe ich das nichtselbst gesagt? – Es ist wohl kaum notwendig, das zu hören, wasman schon selbst gesagt hat. Es ist eine ziemliche Verschwendungdes Lebens, wenn man sich immer anhören will, was man schonselbst gesagt hat. So bequem hat man es allerdings beim Anhörendes Geisteswissenschaftlichen nicht. Die meisten Menschen könnensich nicht sagen, daß sie das schon selbst gesagt haben. Und weiles in den Denkautomatismus nicht hineinpaßt, finden es die Leuteheute so schwer verständlich. Die ungebildetsten Leute sind heuteoftmals gerade in denjenigen Kreisen, wo man sie am wenigsten

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suchen würde. Die Spezialisierung der Wissenschaft hat es dahingebracht, daß gerade die Wissenschafter ein bestimmtes Feld bea-ckern. Da bohren sie sich hinein mit ihrem Denkautomatismus, undim übrigen sind sie oftmals die ungebildetsten Leute. Wir habenheute Universitätsprofessoren, die eigentlich das Allereinfachstenicht verstehen können, die wirklich die ungebildetsten Leute sind,über deren Ungebildetheit man sich nur deshalb täuscht, weil sie sooftmals sagen: So etwas ist zu wenig populär für das Volk! – Manhört solche Dinge auch auf anderen Gebieten. Wie oft kann manzum Beispiel von Theaterdirektoren unserer Großstädte hören: Manmuß Allgemeinverständlicheres geben, sonst verstehen die Leutenicht. – Meistens liegt dem zugrunde, daß die Theaterdirektorenselbst Besseres nicht verstehen, während die Leute, die ins Theatergehen, eigentlich froh wären, wenn man ihnen etwas anderes bie-ten würde. Man muß schon ein wenig auf die Untergründe sehen,wenn man unsere Zeit gerade in dem verstehen will, worinnen esnotwendig ist, diese Zeit etwas weiterzuführen.

Alle diese Dinge sind wichtig für die Gewinnung eines Urteils dar-über, was beitragen kann, damit die Menschen zu den für das sozialeLeben so notwendigen Imaginationen kommen. Werden allmäh-lich diese Imaginationen in den Menschenseelen auftreten, dannwerden diese Menschenseelen in eine Stimmung kommen, welchees unerträglich finden wird, das geistige Leben, Erziehungswesen,Schulwesen, Universitätswesen abhängig zu wissen von der staatli-chen Ordnung oder von der Wirtschaftsordnung.

Eine Zeit wird kommen, wo die Imaginationen bei den einzelnenMenschen so stark sein werden, daß diese Menschen sich innerhalbeines Geisteslebens, das nach staatlichen oder nach wirtschaftlichenVerhältnissen geordnet ist, fühlen werden wie ein Mensch, der ge-fesselt und in eine Bahn eingespannt ist, so daß er sich nur in einerRichtung bewegen kann. Die Menschen, welche Imaginationen ent-

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wickeln, werden sich in der Bildung gefesselt empfinden, welchevom Staats- und Wirtschaftsleben abhängig ist und heute als dasIdeal angesehen wird. Die Entwickelungskräfte der Zeit sind in die-ser Beziehung stark sprechend, meine lieben Freunde. Wenn dieheutigen Verhältnisse fortgingen, würde nach und nach eine starkeDiskrepanz, ein Nichtzusammenstimmen eintreten zwischen dem,was die Menschen fordern durch die äußere Verfassung ihrer Seelenan freiem Geistesleben, und demjenigen, was da sein würde, wennalle Bildung eingeschnürt wäre in staatliche Verhältnisse. Es sindvielleicht nur karikaturhafte Vorläufer, wenn jetzt in einzelnen Städ-ten Mittel-und Osteuropas die Schulknaben und Schulmädchen dieErzieher und Erzieherinnen herausexpedieren und aus ihren eigenenReihen die Vorstände wählen, aber es ist eine Stimmung, die nicht zuübersehen ist, die eben dahin geht, abzuwerfen dasjenige, was nichteine Fortsetzung haben darf. Es ist solch ein Wetterleuchten einerneuen Zeit, das man nicht bloß verurteilen darf, das man schon in sei-nen Impulsen ein wenig richtig auffassen sollte. Das ist das eine. DieMenschen werden immer mehr und mehr darauf angewiesen sein,ein freies Geistesleben zu haben. Warum? Weil wir im fünften nach-atlantischen Zeitalter einer sinnlich-übersinnlichen Einrichtung derWelt entgegengehen, in der diejenigen Geister der höheren Hier-archien, die wir als Angeloi bezeichnen, tiefer heruntersteigen alsvorher, in eine viel innigere Gemeinschaft mit den Menschen treten,als das vorher der Fall war. Die Beziehungen zwischen der sinnlichenund der übersinnlichen Welt sollen vom jetzigen Zeitalter an inti-mer werden. Die Menschen sollen nicht nur den Regen empfangenaus den Wolken, sondern sie sollen von höheren Regionen auchdie Eingebungen der immer mehr sich unter die Menschenseelenmischenden Engel wahrnehmen lernen.

Dadurch wird das Geistesleben, das befreit wird, in der Tat zu einemsolchen, das durch die Gedankenfreiheit aufnehmen wird dasjenige,was als Einflüsse einer übersinnlichen Welt herunterkommt. Ein auf

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sich selbst gebautes Geistesleben zu begründen, das emanzipiert istvom Staats-und Wirtschaftsleben, ist nicht ein äußeres Programm,das ist etwas, was im Zusammenhang mit den die Menschheit fort-entwickelnden inneren Kräften des Menschenlebens erlernt werdenmuß. Deshalb kann man sagen: Wenn man eine solche soziale Ori-entierung fordert, wie sie durch unsere Dreigliederung angestrebtwird, so fordert man nicht etwas im Sinne eines Programms, sondernetwas, was gefordert wird durch die Offenbarungen der geistigenWelt, die immer deutlicher und deutlicher zu den Menschen spre-chen werden, und die zugleich sagen werden, wie die Menschheitin ihr Verderben, in krankhafte Zustände sich hineinlebt, wenn siedasjenige nicht hören will, was aus übersinnlichen Welten heraussich zum Heil, zur Gesundung der Menschheit offenbart. Und außerdem, daß sich die Engel in dieserWeise in intimere Gemeinschaft mitden Menschen einlassen – in Mitteldeutschland nennt man diesesSich-Einlassen von Vornehmeren mit Leuten aus dem Volke „sichgemein machen“, also die Engel werden sich gemein machen in derZukunft -, auch die Erzengel werden dies tun. Das wird noch andereImpulse geben; wenn die auch viel leiser sprechen werden, wenndie sprechen werden wie leise Inspirationen, so werden sie dochkommen, diese Inspirationen. Und diese Inspirationen werden inder Zukunft die innere Substanz der Zukunftsstaaten begründen,die auf der einen Seite aus sich herausgestellt haben das Geistesle-ben, auf der anderen Seite das Wirtschaftsleben, die also wirkliche,auf sich gestellte Rechtsstaaten sind. Die Staaten, welche zum Bei-spiel begründet wurden im dritten nachatlantischen, im ägyptisch-chaldäischen Zeitalter, die kann man theokratische nennen, wieman auch den alten hebräischen Staat eine Theokratie nennen kann.Aber diese Theokratien sind allmählich verschwunden. Theokratiensollen aber wiederum auf die Erde kommen. Im irdischen Rechtsle-ben soll man das Walten der Erzengel fühlen. Wir haben ja gesagt,das Gegenteil vom übersinnlichen Leben des Menschen präge sich

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gerade im Rechtsleben aus. Aber in dieses Rechtsleben, das so, wiees auf der Erde lebt, das Ungeistigste ist, soll sich die Führung undLeitung der mit dem Menschen wieder intimer werdenden Erzengel,der Archangeloi, mischen.

Und die Zeitgeister werden zu Trägern, zu Verwaltern des wirtschaft-lichen Kreislaufes der Menschen, die werden immer mehr und mehrim wirtschaftlichen Leben walten, wenn dieses wirtschaftliche Le-ben wirklich organisiert sein wird. Ein assoziatives Leben wird eswerden. Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts hat sich der Hang derMenschen herausgebildet, immer bloß auf die Gütererzeugung zu se-hen, auf die Güteranhäufung, auf das Profitieren. Eine Umkehr wirdnotwendig. In der zukünftigen Zeit, wenn der Wirtschaftskreislaufauf sich selbst gestellt sein wird, wird es viel mehr auf die Güterver-teilung unter den Menschen und auf den Güterkonsum ankommen.Assoziationen werden sich bilden, welche nach dem Konsum wie-derum die Produktion regeln werden. Wenn man heute noch einenspärlichen Anfang macht mit einer solchen Sache, so wird sie wenigverstanden oder durch andere Impulse heute noch beeinträchtigt.

Denken Sie doch, wie wir vor einiger Zeit versucht haben, Brot un-ter die Leute dadurch zu bringen, daß nicht in einer blinden Weisevon einer Stelle aus produziert wurde und das dann auf den Marktgebracht wurde, sondern daß wir Konsumenten, die sich rekrutierensollten aus der Anthroposophischen Gesellschaft, baten, das Brot ab-zunehmen. Das wäre eine Konsumgenossenschaft gewesen, die aufdiese Weise von einer bestimmten Stelle aus versorgt worden wäre.Da wäre an einem Punkte überwunden worden das abstrakte Prinzipvon Angebot und Nachfrage. Da wäre auf einem anderen Wege, wiees immer mehr kommen muß, das Prinzip durchgeführt worden, daßproduziert wird in dem Maße, als konsumiert werden kann. Dies istdas einzige gesunde Prinzip der Volkswirtschaft. Aber wie gesagt,heute sind solche Dinge noch schwer im Kleinen durchzuführen.

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Aber angestrebt werden muß das gerade im Wirtschaftsleben. DieSozialdemokratie spricht das aus mit den Worten: Bisher ist produ-ziert worden, um zu profitieren; künftig muß produziert werden, umzu konsumieren. So aber, wie die Sozialdemokratie dieses Prinzipverwirklichen will, so würde es zu einer Lähmung des wirklichensozialen Organismus führen. Das Prinzip ist berechtigt, aber es wirdheute noch nicht in dem Sinne gedacht, wie es zumHeile des sozialenOrganismus verwirklicht werden kann.

So scheint heraus aus demjenigen, was uns, ich möchte sagen, vonder Zukunft entgegenströmt: erstens die Notwendigkeit des selb-ständigen Geisteslebens, durch das sich die Angeloi intimer machenmit den Menschen; zweitens das selbständige Staatsleben, durch dassich die Archangeloi intimer machen mit den Menschen; drittensdas selbständige Wirtschaftsleben, durch das sich die Archai intimermachen mit den Menschen. So rücken die Entwickelungskräfte derMenschheit heran. Am schnellsten muß das selbständige Geistesle-ben vorwärtskommen, denn das muß, wenn die Menschheit nichteinem großen Unheil entgegengehen soll, fertig, das heißt selbstän-dig sein am Ende des fünften nachatlantischen Zeitraums. Am Endedes sechsten nachatlantischen Zeitraums muß fertig, selbständigsein eine neue spirituelle Theokratie, und am Ende des siebentennachatlantischen Zeitraums muß vollständig ausgebildet sein einwirkliches soziales Gemeinwesen, in dem der einzelne sich unglück-lich fühlen würde, wenn nicht alle ganz gleich glücklich wären wieer, wenn der einzelne sein Glück erkaufen müßte mit Entbehrungenvon anderen.

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Kernpunkte der Dreigliederung

Ein weiterer Streitpunkt unter Dreigliederern ist die Frage nach denPrioritäten. Was ist das Wichtigste, bzw. das Dringendste an der so-zialen Dreigliederung. Während die Frage nach dem Wichtigsten sichschon allgemein beantworten läßt, ist die Frage nach dem Dringendstenstärker zeitlich bedingt. Die Antwort vom Frühjahr 1919 war wenigeMonate später schon wieder ungültig. Das heißt aber vielleicht auch,daß die Antwort von 1922 heute nicht mehr gültig ist. Hier muß manseine Zeit kennen. Und vielleicht ist das Erwachen der Zivilgesellschaftin den letzten Jahren die lang ersehnte Gelegenheit, die Dreigliederungin die Welt zu setzen.

Prinzip oder Illustration

Bei seinen Darstellungen der sozialen Dreigliederung hat Steiner vonvornherein davor gewarnt, das Prinzip mit seiner Illustration zu ver-wechseln. Die Warnung hat aber nichts geholfen. Steiner mußte sichdaher später beschweren, daß viele Menschen an den von ihm an-geführten Beispielen geklammert haben. Diese nachträgliche KritikSteiners haben sich spätere Anthroposophen zu Herzen genommen undversucht, weniger sklavisch mit den „besonderen Angaben“ Steinersumzugehen. Sie sind aber so gründlich vorgegangen, daß sich oft dieFrage stellt, ob sie sich darauf beschränkt haben „keinen Stein aufdem anderen“ zu lassen, oder ob sie nicht ganz einfach den Boden, dasPrinzip der sozialen Dreigliederung verlassen haben. Man kommt alsonicht umhin, sich die entsprechenden Stellen genauer anzuschauen,um herauszukriegen, wo für Steiner die Illustration anfängt und dasPrinzip aufhört. Die erste Stelle gehört in die Zeit vor der eigentlichenDreigliederungsbewegung.

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Prinzip oder Illustration

Wirklichkeitsgemäße Ideen lassen die Art ihrer Ausführungoffen

Quelle [8]: GA 186, S. 292-293, 3/1990, 20.12.1918, Dornach

Gewiß, wenn man in Abstraktionen und Allgemeinheiten bleibt,dann kann man alles sagen. Denn das ist das Wesentliche solcherWeltanschauungen, die abstrakt sind, daß sie alles, alles in ihre ab-strakten Formeln kleiden können. Kommt man zu solchen Begriffenund Ideen, wie ich sie Ihnen neulich dargelegt habe als die grund-soziale Idee der Zukunft, die dreigliedrige Idee, so ist diese Idee,wie ich Ihnen letzten Sonntag gezeigt habe, der Wirklichkeit selberangemessen und breitet sich aus in ihrer Konfigurierbarkeit über dieWirklichkeit. Mit dieser Idee kann man eben nur die Wirklichkeitumfassen, und sie ist geeignet für die Wirklichkeit. Mit einer abstrak-ten Idee kann man alles umfassen. Gegenüber einer wirklichen Ideekann man so reden, wie ich es getan habe gegenüber verschiedenenLeuten, zu denen ich gesprochen habe. Ich habe darüber gesprochen,ich habe sie ausgeführt, diese dreigliedrige Idee, aber nicht so wieeiner, der überzeugt ist von einer Dogmatik, und der da sagt: Dasmußt du annehmen – oder es ist alles schlimm! – Darum handelt essich nicht bei Wirklichkeitsideen. Ich habe deshalb zu den Leutenanders gesprochen. Ich sagte: Diese Ideen, an die braucht man nichtzu glauben wie an Dogmen, sondern man fange irgendwo an in derWirklichkeit, und man wird sehen, wenn man sie einführt in dieWirklichkeit, daß sich die Wirklichkeit damit bearbeiten läßt; viel-leicht, wenn man fertig ist oder wenn man nur in einem sehr kleinenTeil die Wirklichkeit bearbeitet hat, dann kommt es ganz anders. –Ich würde mich gar nicht wundern, wenn die Wirklichkeit, sobalddie Idee durchgeführt würde, gerade in der Ausführung keinen Steinauf dem andern ließe von dem, was ursprünglich angeführt wurde.Wenn man nicht dogmatisch vorgeht, hält man an seinen Program-men nicht so fest wie Programmenschen, die für Gesellschaften

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Kernpunkte der Dreigliederung

Programme und Statuten ausarbeiten, sondern man gibt eben, wassich in der Wirklichkeit selber ausgestalten will; dann ist es in derWirklichkeit anwendbar. Und man fange an! Vielleicht werden dannIdeen herauskommen, die ganz anders sind als diejenigen, die geradedargestellt worden sind. Das Wirklichkeitsgemäße besteht geradedarin, daß es mit dem Leben sich ändert, und das Leben ändert sichfortwährend. Es handelt sich gar nicht darum, schöne Ideen, son-dern wirklichkeitsgemäße Ideen zu haben. Die spricht man nichtabstrakt aus, sondern die versucht man so auszusprechen, daß sielebendig sind, in die Wirklichkeit sich einfügen. Daher sind sie na-türlich von Abstraktlingen furchtbar leicht angreifbar. Das ist aberdas Neue an der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft,daß man nicht nur Neues in ihr denkt, sondern daß man auf neueArt denkt. Und darum können so viele Menschen nicht heran andieses Denken in neuer Art. Auf dieses Denken in neuer Art aberkommt es an, auf dieses Denken, von dem man sagen kann, daß derGedanke untertaucht in die Wirklichkeit und man mit der Wirk-lichkeit lebt. Mit der Abstraktion können Sie alles beweisen. Miteiner Abstraktion, sei es selbst die eines Gottes, da können Sie sagenals ein braver, monarchistischer Untertan: Der König ist von GottesGnaden eingesetzt. – Die heutige Zeit kann ihm die Lehre geben:Er ist nun auch wieder von Gottes Gnaden abgesetzt! Man kann,wenn man Abstraktionen hat, das Schwarze und das Weiße unterdiese Abstraktionen bringen. Mit Abstraktionen kann man sagen,daß der Gott die Heere anführt des einen und des andern. Daraufeben kommt es an bei jenem Streben nach wahrer Wirklichkeit,das gerade der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaftzugrundeliegt, daß solches abstrakte Leben, respektive solches ab-strakte Reden, das ruinös ist für die Wirklichkeit, ersetzt wird durchwirklichkeitsgemäßes Denken, durch ein Reden, das liebevoll unter-taucht in die Wirklichkeit und aus der Wirklichkeit selber herausredet. Das Denken, das nicht nur etwas anderes denkt, sondern das

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Prinzip oder Illustration

anders denkt, als man bisher gedacht hat, das strebt nach dem Ideal:„Nicht ich, sondern der Christus in mir“ – nach dem paulinischenWorte. Denn dieser Christus suchte nach dem Zusammenklang desäußeren Menschlichen mit dem inneren Menschlichen.

Das muß ein Ideal werden für das ganze menschliche Streben.

Anmerkung: Eine weitere Warnung findet sich in den „Kernpunktender sozialen Frage“ selber, gegen Ende des dritten Kapitels, also geradeim Anschluß an der Stelle, wo er am stärksten auf Einzelfragen dersozialen Dreigliederung eingeht, wie die Zirkulation des Kapitals unddas Altern des Geldes.

Besondere Angaben nur Beispiele, fest ist beiDreigliederung nur die Richtung

Quelle [1]: GA 023, S. 117-128, 6/1976, 28.04.1919, Stuttgart

Vielleicht findet mancher in dem hier Dargestellten Unvollkommen-heiten. Die mögen gefunden werden. Es kommt einer wirklichkeits-gemäßen Denkart nicht darauf an, vollkommene „Programme“ einfür alle Male zu geben, sondern darauf, die Richtung zu kennzeich-nen, in der praktisch gearbeitet werden soll. Durch solche besondereAngaben, wie sie die hier gemachten sind, soll eigentlich nur wiedurch ein Beispiel die gekennzeichnete Richtung näher erläutertwerden. Ein solches Beispiel mag verbessert werden. Wenn dies nurin der angegebenen Richtung geschieht, dann kann ein fruchtbaresZiel erreicht werden. [...]

Wieder liegt es in der Art eines wirklichkeitsgemäßen Denkens, daßmit einer solchen Angabe nur wie durch ein Beispiel die Richtungbezeichnet wird, in welcher die Einrichtungen bewirkt werden kön-nen. Es wäre möglich, daß für das einzelne ganz anders gearteteEinrichtungen als richtig befunden würden. Aber dieses „Richtige“

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wird sich nur finden lassen durch das zielgemäße Zusammenwirkender drei in sich selbständigen Glieder des sozialen Organismus. Hier,für diese Darstellung, möchte im Gegensatz zu vielem, was in derGegenwart für praktisch gehalten wird, es aber nicht ist, die ihrzugrunde liegende Denkart das wirklich Praktische finden, näm-lich eine solche Gliederung des sozialen Organismus, die bewirkt,daß die Menschen in dieser Gliederung das sozial Zweckmäßigeveranlassen.

Anmerkung: Diese Warnung wurde nicht besonders beachtet, vielleichtgerade weil sie erst hinter den „besonderen Angaben“ kam, also eigent-lich fast zu spät. Als Steiner 1920 für eine Neuauflage der „Kernpunkte“die Einleitung schrieb, wiederholte er dort die Warnung, so daß sie seit-dem ganz am Anfang des Buches, mitten in den „allgemeinen Angaben“steht.

Schwerpunkt auf Wege (Prinzip) statt auf Ziele (Illustration)gelegt worden

Quelle [1]: GA 023, S. 007-022, 6/1976, 1920

Die Aufgaben, welche das soziale Leben der Gegenwart stellt, mußderjenige verkennen, der an sie mit dem Gedanken an irgendeineUtopie herantritt. Man kann aus gewissen Anschauungen und Emp-findungen den Glauben haben, diese oder jene Einrichtungen, dieman sich in seinen Ideen zurechtgelegt hat, müsse die Menschenbeglücken; dieser Glaube kann überwältigende Überzeugungskraftannehmen; an dem, was gegenwärtig die „soziale Frage“ bedeutet,kannman doch völlig vorbeireden, wennman einen solchen Glaubengeltend machen will.

Man kann heute diese Behauptung in der folgenden Art bis in dasscheinbar Unsinnige treiben, und man wird doch das Richtige treffen.

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Prinzip oder Illustration

Man kann annehmen, irgend jemand wäre im Besitze einer vollkom-menen theoretischen „Lösung“ der sozialen Frage, und er könntedennoch etwas ganz Unpraktisches glauben, wenn er der Mensch-heit diese von ihm ausgedachte „Lösung“ anbieten wollte. Denn wirleben nicht mehr in der Zeit, in welcher man glauben soll, auf dieseArt im öffentlichen Leben wirken zu können. Die Seelenverfassungder Menschen ist nicht so, daß sie für das öffentliche Leben etwaeinmal sagen könnten: Da seht einen, der versteht, welche sozialenEinrichtungen nötig sind; wie er es meint, so wollen wir es machen.

In dieser Art wollen die Menschen Ideen über das soziale Leben garnicht an sich herankommen lassen. Diese Schrift, die nun doch schoneine ziemlich weite Verbreitung gefunden hat, rechnet mit dieserTatsache. Diejenigen haben die ihr zugrunde liegenden Absichtenganz verkannt, die ihr einen utopistischen Charakter beigelegt haben.Am stärksten haben dies diejenigen getan, die selbst nur utopistischdenken wollen. Sie sehen bei dem andern, was der wesentlichsteZug ihrer eigenen Denkgewohnheiten ist.

Für den praktisch Denkenden gehört es heute schon zu den Erfahrun-gen des öffentlichen Lebens, daß man mit einer noch so überzeugenderscheinenden utopistischen Idee nichts anfangen kann. Dennochhaben viele die Empfindung, daß sie zum Beispiele auf wirtschaftli-chem Gebiete mit einer solchen an ihre Mitmenschen herantretensollen. Sie müssen sich davon überzeugen, daß sie nur unnötig re-den. Ihre Mitmenschen können nichts anfangen mit dem, was sievorbringen. [...]

Die „soziale Frage“ ist nicht etwas, was in dieser Zeit in das Men-schenleben heraufgestiegen ist, was jetzt durch ein paar Menschenoder durch Parlamente gelöst werden kann und dann gelöst seinwird. Sie ist ein Bestandteil des ganzen neueren Zivilisationslebens,und wird es, da sie einmal entstanden ist, bleiben. Sie wird für jedenAugenblick der weltgeschichtlichen Entwickelung neu gelöst wer-

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den müssen. Denn das Menschenleben ist mit der neuesten Zeit ineinen Zustand eingetreten, der aus dem sozial Eingerichteten immerwieder das Antisoziale hervorgehen läßt. Dieses muß stets neu be-wältigt werden. Wie ein Organismus einige Zeit nach der Sättigungimmer wieder in den Zustand des Hungers eintritt, so der sozialeOrganismus aus einer Ordnung der Verhältnisse in die Unordnung.Eine Universalarznei zur Ordnung der sozialen Verhältnisse gibt esso wenig wie ein Nahrungsmittel, das für alle Zeiten sättigt. Aber dieMenschen können in solche Gemeinschaften eintreten, daß durchihr lebendiges Zusammenwirken demDasein immer wieder die Rich-tung zum Sozialen gegeben wird. Eine solche Gemeinschaft ist dassich selbst verwaltende geistige Glied des sozialen Organismus.

Wie sich für das Geistesleben aus den Erfahrungen der Gegenwartdie freie Selbstverwaltung als soziale Forderung ergibt, so für dasWirtschaftsleben die assoziative Arbeit. [...]

Damit wird nicht eine Utopie gezeichnet. Denn es wird gar nichtgesagt: Dies soll so oder so eingerichtet werden. Es wird nur daraufhingedeutet, wie die Menschen sich selbst die Dinge einrichten wer-den, wenn sie in Gemeinschaften wirkenwollen, die ihren Einsichtenund ihren Interessen entsprechen.

Daß sie sich zu solchen Gemeinschaften zusammenschließen, dafürsorgt einerseits die menschliche Natur, wenn sie durch staatlicheDazwischenkunft nicht gehindert wird; denn die Natur erzeugt dieBedürfnisse. Andrerseits kann dafür das freie Geistesleben sorgen,denn dieses bringt die Einsichten zustande, die in der Gemeinschaftwirken sollen. Wer aus der Erfahrung heraus denkt, muß zugeben,daß solche assoziative Gemeinschaften in jedem Augenblick ent-stehen können, daß sie nichts von Utopie in sich schließen. IhrerEntstehung steht nichts anderes im Wege, als daß der Mensch derGegenwart das wirtschaftliche Leben von außen „organisieren“ willin dem Sinne, wie für ihn der Gedanke der „Organisation“ zu einer

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Suggestion geworden ist. Diesem Organisieren, das die Menschenzur Produktion von außen zusammenschließen will, steht diejenigewirtschaftliche Organisation, die auf dem freien Assoziieren beruht,als sein Gegenbild gegenüber. Durch das Assoziieren verbindet sichder Mensch mit einem andern; und das Planmäßige des Ganzenentsteht durch die Vernunft des einzelnen. [...]

So kann der soziale Organismus in zwei selbständige Glieder zer-fallen, die sich gerade dadurch gegenseitig tragen, daß jeder seineeigenartige Verwaltung hat, die aus seinen besonderen Kräften her-vorgeht. Zwischen beiden aber muß sich ein Drittes ausleben. Es istdas eigentliche staatliche Glied des sozialen Organismus. [...]

Die Einheit des ganzen sozialen Organismus wird entstehen ausder selbständigen Entfaltung seiner drei Glieder. Das Buch wirdzeigen, wie die Wirksamkeit des beweglichen Kapitales, der Produk-tionsmittel, die Nutzung des Grundes und Bodens sich durch dasZusammenwirken der drei Glieder gestalten kann. Wer die sozialeFrage „lösen“ will durch eine ausgedachte oder sonstwie entstande-ne Wirtschaftsweise, der wird diese Schrift nicht praktisch finden;wer aus den Erfahrungen des Lebens heraus die Menschen zu sol-chen Arten des Zusammenschlusses anregen will, in denen sie diesozialen Aufgaben am besten erkennen und sich ihnen widmen kön-nen, der wird dem Verfasser des Buches das Streben nach wahrerLebenspraxis vielleicht doch nicht absprechen.

Das Buch ist im April 1919 zuerst veröffentlicht worden. Ergänzun-gen zu dem damals Ausgesprochenen habe ich in den Beiträgengegeben, die in der Zeitschrift „Dreigliederung des sozialen Organis-mus“ enthalten waren und die soeben gesammelt als die Schrift „InAusführung der Dreigliederung des sozialen Organismus“ erschie-nen sind.

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Man wird finden können, daß in den beiden Schriften weniger vonden „Zielen“ der sozialen Bewegung als vielmehr von den Wegengesprochen wird, die im sozialen Leben beschritten werden sollten.Wer aus der Lebenspraxis heraus denkt, der weiß, daß namentlicheinzelne Ziele in verschiedener Gestalt auftreten können. Nur werin abstrakten Gedanken lebt, dem erscheint alles in eindeutigenUmrissen. Ein solcher tadelt das Lebenspraktische oft, weil er esnicht bestimmt, nicht „klar“ genug dargestellt findet. Viele, die sichPraktiker dünken, sind gerade solche Abstraktlinge. Sie bedenkennicht, daß das Leben die mannigfaltigsten Gestaltungen annehmenkann. Es ist ein fließendes Element. Und wer mit ihm gehen will,der muß sich auch in seinen Gedanken und Empfindungen diesemfließenden Grundzug anpassen. Die sozialen Aufgaben werden nurmit einem solchen Denken ergriffen werden können.

Aus der Beobachtung des Lebens heraus sind die Ideen dieser Schrifterkämpft; aus dieser heraus möchten sie auch verstanden sein.

Anmerkung: Wenn die Beispiele so leicht mit dem Prinzip verwechseltwerden, dann kann man sich fragen, warum sich Steiner überhauptauf Beispiele einläßt. Hätte er sich auf die Darstellung des Prinzipsbeschränkt, so hätte er vielleicht die vielen Mißverständnisse vermeidenkönnen. Auf diese Frage gibt Steiner dankenswerterweise selber eineAntwort, nur ist sie alles anders als schmeichelhaft.

Heutige denkfaule Menschen verlangen Illustration derDreigliederung

Quelle [30]: GA 338, S. 140-141, 4/1986, 15.02.1921, Stuttgart

Nun werden wir aber genötigt sein, die Denkgewohnheiten derheutigen Menschen zu respektieren. Sie müssen sich aber nur klarsein darüber, daß, wenn Sie jetzt hinausziehen und den Leuten eine

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Stunde lang, fünfviertel Stunden lang von solchen Dingen reden,wie ich sie Ihnen jetzt vorbringe, sie anfangen zu gähnen, und siegehen zuletzt aus dem Saal und sind froh, daß es aufgehört hat, dennsie sehnen sich nach einem gesunden Schläfchen. Sie finden, daßdas schwer ist, viel zu schwer ist! Denn die Menschen haben sichvollständig abgewöhnt, Gedanken zu folgen, die von Wirklichkeitgetragen sind. Dadurch, daß die Leute immer nur Abstraktionengefolgt sind, daß sie schon als Schulkinder daran gewöhnt wordensind, Abstraktionen zu folgen, dadurch ist die Menschheit denkfaulgeworden. Die Menschheit ist ja furchtbar denkfaul in der Gegen-wart. Und darauf müssen wir Rücksicht nehmen, aber in nützlicherWeise.

Deshalb lassen wir ja Erzählungen einfließen in unsere Vorträge vondemjenigen, was aus anthroposophisch orientierter Geisteswissen-schaft sich schon herausentwickelt hat. Erzählen wir den Leutenvielleicht weniger Anekdoten! Das ist ja sonst sehr nützlich gegen-über der heutigen denkfaulen Menschheit, wenn man ab und zueinen schwierigen Vortrag durch Anekdoten unterbricht, aber wirkönnen unsere Zeit auf Besseres verwenden. Erzählen wir in derZwischenzeit, indem wir das in der nötigen Weise einfügen in denVerlauf unserer Gedankenfolge, von unserer Waldorfschule, von derEurythmie, von unseren Hochschulkursen, von dem KommendenTag.

Das ist etwas, was dann den Gedankenverlauf durchbricht, was fürdie Leute zunächst eine angenehme Abwechslung ist – sie brau-chen dann weniger zu denken. Denn, nicht wahr, das Wesen derSache kann dann nachkommen. Wir können eine Weile schildern,wie die Waldorfschule zustande gekommen ist, wie sie eingerichtetist; wir können schildern, wie dreißig Dozenten in Dornach in denHochschulkursen die Wissenschaften zu befruchten versucht ha-ben von der Geisteswissenschaft aus. Da brauchen die Leute, wenn

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man ihnen sagt, die Wissenschaft soll befruchtet werden, in diesemMoment nicht darüber nachzudenken, wie das in der Chemie, inder Botanik und so weiter geschieht, sondern sie können bei allge-mein verschwommenen Vorstellungen bleiben, während man davonspricht. Und da haben sie dann Zeit, sich ein wenig zwischen denvorgebrachten Gedanken ins Gedankenbett zu legen. Wir habenwiederum die Möglichkeit gewonnen, in den nächsten fünf Minutenvon etwas schwierigeren Dingen zu sprechen. Die anderen Dingesind aber trotzdem außerordentlich nützlich. Wenn wir zum Beispielden Leuten erzählen, wie wir Zeugnisse gemacht haben in der Wal-dorfschule, wie wir versucht haben, da nicht hineinzuschreiben „fastbefriedigend“, „kaum genügend“ – was man ja überhaupt gar nichtunterscheiden kann, ob einer „kaum“ oder „fast genügend“ hat -, wowir aber so etwas wie eine kleine Biographie gegeben haben jedemKinde, und einen Lebensspruch. Die Leute brauchen ja nicht vieldarüber nachzudenken, wie schwierig das ist, das heißt, das könnensie schon nachdenken, wie schwierig es ist, einen Lebensspruch fürjedes Kind zu finden; aber wenn man bloß das Resultat sagt, geht esschmerzlos vor sich, das entgegenzunehmen. So können wir erzäh-len, was praktisch da ausgestaltet worden ist. Und auf diese Weisekönnen wir den Leuten auch etwas erzählen über die Einrichtun-gen der Waldorfschule, wie dann nach und nach das Haus zu kleingeworden sei, wie wir Baracken bauen mußten, weil wir nicht dasGeld hatten, um Vollgebäude zu bauen. Es ist schon nützlich, daßdie Leute auch manchmal hören, daß wir nicht genug Geld haben;das kann ganz angenehme Folgen haben. Wenn wir solche Dingeeinfügen in unsere Betrachtungen, so wird das durchaus erstens sehrsachlich sein – denn sachlich ist es -, wird sehr gerechtfertigt sein;aber außerdem können wir eine angenehme Abwechslung für dieZuhörer schaffen.

Dann können wir erzählen von den Hochschulkursen in Dornach,in Stuttgart. Wir können einflechten, daß das alles heute noch zum

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großen Teil die armen Waldorflehrer leisten müssen, daß also sichwenig Leute noch zusammengefunden haben, die nun wirklich imSinne anthroposophisch orientierter Geisteswissenschaft etwas leis-ten. Denn daß die Waldorflehrer dreimal überlastet sind, das ist auchetwas, was die Leute ganz gern entgegennehmen, nicht wahr. Jederbildet sich dann ein, er selber sei auch überlastet. Na, und auf dieseWeise können wir, indem wir tatsächlich von demjenigen, was äu-ßerlich schon dasteht, sprechen, den Leuten zu gleicher Zeit etwaszeigen, was sie vielleicht zwischendurch immer wieder gerne hören,aber was sie auch wissen sollen, was sie auch wissen müssen.

Und dann reden wir ihnen namentlich auch von dem KommendenTag. Wir versuchen, ein Bild zu geben davon, wie dieser Kommen-de Tag eingerichtet ist. Wie er eingerichtet ist, das sehen Sie jaaus den Prospekten, die ausgegeben worden sind. Wir bringen denLeuten einen Begriff vom Kommenden Tag anhand der ausgegebe-nen Prospekte bei und sagen ihnen: Selbstverständlich werden Siefinden, daß dieser Kommende Tag noch nicht den Assoziationen –über Assoziationen werden wir morgen noch sprechen – vollständigentspricht, daß er noch sehr stark herausgebaut ist aus der gegen-wärtigen Volkswirtschaft. Aber wir sagen den Leuten zu gleicherZeit: Das wissen wir ja ohnedies, aber es zeigt eben, wie notwendiges ist, daß diese Volkswirtschaft anders wird, wie man mit dem bes-ten Willen nicht ein Ideal einer Assoziation herausgestalten kannaus dem gegenwärtigen volkswirtschaftlichen Leben.

Aber notwendig ist es, daß Sie in Ihren Vorträgen unsere Bewegungals ein Ganzes fassen. Sie sollen sich nicht genieren, auf der einenSeite, der geistigen Seite, die anthroposophische Orientierung vordie Leute hinzustellen, auf der anderen Seite aber auch bis in diepraktischen Dinge des Kommenden Tages hineinzugehen und dasalles vor die Leute hinzustellen. Sie brauchen im Vortrage, den Siehalten, ja nicht gerade zur Geldzeichnung aufzufordern, das – ich

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sage es in Parenthese – kann dann der andere tun, der mitfährt undder erst nach dem Vortrag an die Leute herantritt, es nimmt sich sobesser aus. Aber obwohl ich es in Parenthese sage, so soll es dochgeschehen. Wie gesagt, Sie brauchen das im Vortrag nicht direkt zutun, für die Sache zu werben. Aber Sie können eben durchaus durch-blicken lassen, daß man, ohne daß irgendwie selbstsüchtige Zweckedahinterstecken, zur Förderung desjenigen, was eigentlich mit derDreigliederung gewollt ist, erstens Geld, zweitens Geld, drittens Geldbraucht. Und je nachdem der eine oder andere von Ihnen nun nachder Situation das für richtig findet, kann er mit dem dreifachen Geld-betonen das erste Wort Geld stärker tönen lassen und mit dem Tonfallen oder auch mit dem zweiten Ton ansteigen. Das ist etwas, waszur inneren Formung der Sache irgendwie etwas beitragen kann.

Ich sage Ihnen das nicht, um damit mehr andeuten zu wollen als das,daß man schon Rücksicht nehmenmuß auf die Art undWeise, wie et-was gesagt wird. In einer gewissen Beziehung sollte man, wenn manin einen Saal hineingeht, sich einmal selber durchfühlen, ob man sooder so reden muß. Das kann man nämlich ungefähr durchfühlen,namentlich wenn man unter ganz fremde Leute tritt. Also, solcheDinge werden Sie doch schon berücksichtigen müssen. Sie werdennicht, wenn Sie das erreichen wollen, was jetzt erreicht werden soll,mit einem fertigen Konzept vor die Leute hintreten können, sondernSie werden sich ganz nach den Verhältnissen richten müssen. Daswerden Sie nur können, wenn Sie in bezug auf die Gestaltung undDurchlebung Ihrer Vorträge sich so verhalten, wie ich das gesterncharakterisiert habe. Aber wir dürfen durchaus nicht außer achtlassen, auf dasjenige, was uns immerhin doch schon gelungen ist inder Begründung des Schulwesens, auch praktischer Einrichtungen,immer wieder und wiederum hinzuweisen. Denn es ist schon einmalso in der Gegenwart, daß die Menschen dieses brauchen. Und Sietun gut, gerade wenn Sie den dreigegliederten sozialen Organis-mus schildern, die Einrichtung der Waldorfschule zur Illustration

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zu benützen, und ebenso, wenn Sie das sonstige Wirtschaftslebenschildern, immer wiederum zu exemplifizieren dasjenige, was durchden Kommenden Tag gewollt wird. Ich möchte durchaus, daß Sienicht vergessen, daß auf unsere verschiedenen Einrichtungen geradedurch Ihre Vorträge die Welt ganz scharf hingewiesen werden muß.

Und hinter all dem muß das Bewußtsein davon stehen, daß aus allenEcken und Enden heraus – ich habe es schon mehrmals in diesenVorträgen gesagt – die Gegnerschaft da ist und noch mehr kommenwird, und daß wir nicht mehr sehr lange Zeit haben, um das zurGeltung zu bringen, was wir zur Geltung bringen wollen und waszur Geltung gebracht werden muß, sondern daß wir in der nächstenZeit die Dinge scharf anfassen müssen.

Wir dürfen uns kein Beispiel nehmen – das sage ich für diejenigen,die längere Zeit in der anthroposophischen Bewegung drinnenste-hen – an dem, wie die anthroposophische Bewegung als solcheverlaufen ist, denn die verläuft zum Teil ja so, daß ihre Mitgliedersich allzu wenig für das interessieren, was eigentlich in der Weltvorgeht. Jetzt sind wir in einer Zeit, wo ein scharfes Interesse entwi-ckelt werden muß für das, was in der Welt vorgeht. Und wir müssenschon einmal durchaus exemplifizieren und auch uns kritisierendverhalten mit Bezug auf das, was heute an aktuellen Ereignissen inder Welt vor sich geht. Daher müssen wir uns interessieren für dieseEreignisse. Wir müssen aus diesen Ereignissen heraus suchen, dieNotwendigkeit unserer Bewegung darzulegen. Wir müssen immerwieder und wiederum betonen, wie diese Ereignisse geeignet sind,die moderne Zivilisation in ihren Niedergang hineinzuführen. Denndie Menschen müssen begreifen lernen, daß, wenn so fortgefahrenwird, wie es heute üblich ist, ganz gewiß der Niedergang der mo-dernen Zivilisation herauskommt, und daß die europäischen Länderwenigstens durch furchtbare Zeiten hindurchgehen müßten, wennnicht aus einem wirklich aktiven Geistesleben und aus einem aktiv

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erfaßten Staats- und Wirtschaftsleben heraus eine Grundlage gelegtwürde für einen Neuaufbau.

Anmerkung: Diese Schwäche für Beispiele haben allerdings nicht nurübliche Menschen gezeigt. Sie scheint auch bei den eigenen Anthropo-sophen vorhanden gewesen zu sein.

Illustration wird leicht zum Programm gemacht

Quelle [16]: GA 259, S. 248-249, 1/1991, 31.01.1923

Kurzfassung: Steiner beschwert sich darüber, daß dasjenige, was erzur Illustration einer Sache gesagt hatte, schon am nächsten Tag zumProgramm gemacht worden ist. Zeigt nur, wie wenig die Leute (indiesem Fall die führenden Anthroposophen) überhaupt nachdenken.

Heute versammeln wir uns hier, und weil ich gestern hingewiesenhabe auf das Konkrete dessen, was uns zusammengeführt hat, wirdheute das zum Programm gemacht, was ich gestern nur illustrativangeführt habe.

Warum findet man nicht die Möglichkeit, etwas, was man vorherüberlegt hat, vorzubringen?Warum findet sich nicht die Möglichkeit,ein wesenloses Geschwätz von Frl. Ruben zurückzuweisen? Warumfindet sich nicht die Möglichkeit, das zurückzuweisen, was Bockvorgebracht hat und was ich vorgestern zurückweisen mußte? Wasich selbst also zurückweisen mußte? Warum halten wir Versamm-lungen, ohne daß sich die Persönlichkeiten darauf vorbereiten? DerGrundfehler ist der, daß sich kein Mensch auf das vorbereitet, waser hier vorbringen will. Wenn ein Mensch zeigt, daß er sich vorbe-reitet hat, dann bringt er es mit Wärme und mit Enthusiasmus vor.Einen Enthusiasmus hat es heute nur im Schimpfen gegeben. Manmöchte nur wünschen, daß irgend etwas im Positiven mit Wärmevorgebracht würde! Das ist dasjenige, was man brauchen würde!

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Prinzip oder Illustration

Und das ist das, was fehlt. Hier herrscht eine Kälte, die das Unge-heuerlichste ist, und die ganze Versammlung hat dieses gemeinsameCharakteristikum, daß sie kalt ist bis zum Exzeß, daß keine Wärmeverspürt worden ist!

Wenn man dieses erlebt, kann man nicht glauben, daß man dabei ist,die Gesellschaft fortführen zu können. Man könnte nur konstatieren,daß Sie nicht einmal nachdenken. Das ist das eigentümliche, daßman nicht innerlich Gedanken entwickelt. Heute abend sind alleStühle zu kurulischen geworden. Wirklich, es ist eine Überraschunggewesen, daß dasjenige, was nur als Illustration von mir vorgebrachtwurde, heute abend schon zum „Programm“ gemacht worden ist.

Anmerkung: Steiner beschwert sich also darüber, daß dasjenige, was erzur Illustration einer Sache gesagt hatte, schon am nächsten Tag zumProgramm gemacht worden ist. Es bleibt aber die Frage, wo Steinerdie Grenzen zwischen Illustration und Prinzip eigentlich zieht. Um siezu klären, reicht es nicht aus, darauf zu achten, was Steiner zur Illus-tration rechnet. Noch entscheidender ist es, herauszuarbeiten, welchesPrinzip dadurch illustriert werden soll. Dies erklärt, warum die Auszü-ge ziemlich großzügig geraten sind: das Prinzip ergibt sich meistenserst aus dem Kontext, der von den heutigen Dreigliederern daher oftlieber ausgelassen wird. Nimmt man alle Stellen zusammen, so kommtheraus, daß Steiner unter dem Prinzip der sozialen Dreigliederung nichtnur die Entflechtung (oder Befreiung) und Verbindung (oder Ausgleich)der drei Lebensbereiche meint, sondern auch die drei Ideale, die von deneinzelnen Lebensbereichen erstrebt werden, sobald sie sich verselbstän-digt haben. Das Prinzip der sozialen Dreigliederung ist also, entgegender Behauptung von Dieter Brüll, kein rein formales Prinzip, das insich noch keinen bestimmten Inhalt hat.1 Die soziale Dreigliederungführt vielmehr von selbst zu ganz bestimmten Inhalten, im Rechtsleben

1. Siehe Dieter Brüll. Der anthroposophische Sozialimpuls - Ein Versuch seinerErfassung. Schaffhausen: Novalis Verlag, 1984, S. 163, Quelle [35]

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Kernpunkte der Dreigliederung

zur Demokratie, im Wirtschaftsleben zum Fachlichen. Diesen Inhaltbraucht man daher nicht außerhalb der sozialen Dreigliederung zusuchen, wie zum Beispiel im Brüllschen anthroposophischen Sozialim-puls.

Nach der Emanzipation von Wirtschafts- und Geisteslebenstellen sich Detailfragen anders

Quelle [29]: GA 337b, S. 241-244, 1/1999, 12.10.1920, Dornach

Wer kommt denn nun eigentlich in Betracht, wenn die Dreigliederungdes sozialen Organismus propagiert werden soll? Die Besitzenden kön-nen nicht in Betracht kommen, denn sie haben ja keine anderen Be-strebungen, als ihren Besitz ungestört zu erhalten.

Sie denken auch nicht daran, andere Gedanken anzunehmen als die-jenigen, durch die sie ihren Besitz gewonnen haben. Sie verschlafenaußerdem noch alle die wichtigen Ereignisse der Gegenwart, siewissen nichts davon. Sie wissen höchstens, daß jetzt wieder einmaldie Polen die Oberhand haben; früher machten sie ihre Pläne, als dieRussen die Oberhand hatten und so weiter. Daß dasjenige, was da imOsten aufgeht, nicht besiegt ist mit irgendeinem Polensieg, davonmerken wiederum die lieben Bourgeois West- und Mitteleuropasnichts. Und wenn dasjenige, was da lebt im Osten, nicht von jenenImpulsen aus bekämpft werden kann, die in der Dreigliederungs-richtung liegen, geht das wiederum hinein in einen anderen Kopf;wenn es auch in der einen Form besiegt und totgeschlagen wird, sogeht es in einer anderen, neuen Form wiederum auf. Also die Frageist schon in einem gewissen Sinne mit Recht gestellt; es ist richtig,die Besitzenden kommen kaum in Betracht, und das Proletariat, dieProletarier wollen ja auch, wie es sich gezeigt hat, zunächst nichtsdavon wissen. Aber, meine sehr verehrten Anwesenden, diese Fragebrauchen wir gar nicht so aufzuwerfen, sondern wir brauchen nur zu

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Prinzip oder Illustration

versuchen, in der Richtung, die ich eben angegeben habe, das Rechtezu tun und wirklich das kennenzulernen, was da ist, nicht schläfrigvorbeizugehen an der Gegenwart. Was wissen die Bourgeois in derRegel davon, was in den Gewerkschaften vor sich geht? Sie wissengar nichts davon. Ja, die gewöhnlichste Erscheinung des heutigen Ta-ges ist diese: man geht als Bourgeois auf der Straße an einemArbeitervorbei, und eigentlich geht man an ihm so vorbei, daß man keineAhnung davon hat, in welchem Zusammenhange man mit ihm steht.Es handelt sich darum, daß wir unsere Pflicht nach der Richtungdes Fortschrittes getan haben, so wie ich das jetzt angedeutet habe –dann findet sich schon das Wesentliche. Und es handelt sich ja gera-de darum, daß wir heute, wo wir schon die konkreten Bestrebungenentwickeln können, das assoziative Prinzip so, wie ich es vorgesterncharakterisiert habe, da, wo wir nur können, in das Leben rufen unddaß wir da, wo wir es heute schon können, alles dazu tun, um dasgewerkschaftliche Leben aufzulösen und assoziative Verbände zuschaffen zwischen den Unternehmenleitenden und den Arbeitenden,den Arbeitnehmern. Wenn wir hinarbeiten können nach der Auflö-sung des Gewerkschaftslebens, so können wir manches andere tun.Vor allem können wir dasjenige, was der Bund für Dreigliederungdes sozialen Organismus ist, von uns aus stärken. Ich meine natür-lich mit „uns“ jetzt unterschiedslos alle diejenigen, die hier sitzen,nicht etwa bloß die Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft– unter denen sind ja solche, die heute noch immer sagen: Demwirklichen Anthroposophen muß das politische Leben ferneliegen,der kann sich nur mit dem politische Leben befassen, wenn seinBeruf das notwendig macht. – Das kommt auch vor, solche Egoistengibt es, und die nennen sich trotzdem Anthroposophen, die glauben,gerade ein besonders esoterisches Leben zu entwickeln, indem siesektenmäßig sich zusammensetzen mit einer kleinen Anzahl vonMenschen und ihre Seelenwollust befriedigen im Durchdringen mitallerlei Mystik. (Beifall) Meine sehr verehrten Anwesenden, das ist

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Kernpunkte der Dreigliederung

nichts anderes als die sektenmäßig organisierte Lieblosigkeit; das istbloß Reden von Menschenliebe, während jenes gerade aus der Men-schenliebe, das heißt aus dem innersten Prinzip anthroposophischenWirkens hervorgegangen ist. Was sich im Bund für Dreigliederungausdrücken soll, das ist dasjenige, worauf es ankommt, und dieseDinge heute zu verstehen, ist unendlich wichtig und wichtiger, alsalle Detailfragen auszubrüten. Denn, meine sehr verehrten Anwe-senden, solche Fragen, die konkrete Fragen sein werden, die werdensich übermorgen in einer ganz anderen Weise noch ergeben, als wiruns träumen lassen, wenn wir morgen irgendeiner Einrichtung aufdie Beine geholfen haben, die nun wirklich zur Emanzipation desWirtschaftslebens vom Staatsleben etwas Reales beiträgt; dann erstentstehen nämlich die Aufgaben.

Wir haben gar nicht nötig, aus den heutigen Auffassungen herausdie Fragen zu stellen, zum Beispiel, wie die Personen aus der geis-tigen Organisation die Überleitung des Kapitals besorgen werden.Lassen sie nur einmal etwas geschehen sein zur Entstehung derDreigliederung, lassen Sie nur einmal Tatkräftiges entstanden sein,dann werden Sie sehen, was für eine Bedeutung so etwas habenwird, wie das, was man heute als Frage stellen kann. Heute stellenSie ja natürlich, wenn Sie den geistigen Organismus, das heißt dieSumme der niederen und höheren Schulanstalten betrachten undin bezug auf einzelnes Fragen stellen, dann stellen Sie die Fragen inbezug auf eine staatskorrupte Einrichtung. Sie müssen erst warten,welche Fragen gestellt werden können, wenn die Emanzipation desGeisteslebens da ist. Da werden sich die Dinge ganz anders her-ausstellen als heute. Und so ist es auch im Wirtschaftsleben. DieFragen, die da notwendig sind zu stellen, die ergeben sich erst. Daherist es von keiner großen Fruchtbarkeit, heute irgendwie im allge-meinen zu reden von Assoziationen und so weiter, und es kommtnicht viel dabei heraus, wenn man sich eine Vorstellung machen will,wie eine Assoziation wirklich sich an die andere angliedern muß.

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Prinzip oder Illustration

Lassen Sie nur einmal diejenigen wirtschaftlichen Assoziationenentstehen, innerhalb welcher man dann ohne Staatshilfe, ich meineauch im Geistigen ohne Staatshilfe arbeiten muß, denn dann werdensich die richtigen Fragen ergeben, denn dann muß man auf sichselbst gestellt arbeiten, dann muß man wirtschaftlich denken, damitdie Dinge überhaupt gehen können. Und das wird von allergrößterBedeutung für den wirtschaftlichen Fortschritt sein.

Kapitalzirkulation als Illustration zum Prinzip „Befreiungdes Geisteslebens“

Quelle [33]: GA 341, S. 015, 3/1986, 31.07.1922, Dornach

Wenn Sie meinen, das Wirklichkeitsgemäße werde Ihnen schwer beidiesen Betrachtungen, so möchte ich sagen: Das Wirklichkeitsgemä-ße könnte eigentlich gerade leicht werden! Sie sagen: die „Kernpunk-te“ sind logisch in sich geschlossen. Das sind sie gar nicht, wederdie „Kernpunkte“ noch die anderen Sachen! Wobei ich betone, daßich nicht rein volkswirtschaftlich sein wollte, sondern sozial undvolkswirtschaftlich. Dadurch ist natürlich der ganze Stil und dieHaltung dieser Schriften bedingt, so daß sie nicht durchaus reinvolkswirtschaftlich bewertet werden können. Das können höchstenseinzelne Aufsätze in den Dreigliederungsschriften. Aber logisch insich geschlossen finde ich sie schon gar nicht, weil ich doch, vor-sichtig genug, nur Richtlinien angegeben habe und Exempel odereigentlich nur Illustrationen. Ich wollte ein Bewußtsein dafür hervor-rufen, was dadurch erreicht wird, daß jemand ein Produktionsmittelnur so lange verwaltet, als er dabeisein kann; dann muß es über-gehen auf den, der es selbst wieder verwalten kann. Ich kann mirgut denken, daß das, was dadurch erreicht werden soll, auf einemanderen Wege erreicht werden könnte. Ich wollte bloß Richtlinienangeben. Ich wollte zeigen, daß man einen Ausweg findet, wenn man

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Kernpunkte der Dreigliederung

diese Dreigliederung sachgemäß durchführt, wenn man tatsächlichdas Geistesleben als solches befreit, wenn man das Rechtsleben aufdemokratische Basis stellt, und wenn man das Wirtschaftsleben aufdas Sachliche und Fachliche stellt, was in den Assoziationen ver-treten werden kann. Und ich habe die Überzeugung, daß dann imWirtschaftlichen schon das Richtige geschieht.

Ich sage, die Menschen werden das Richtige finden, die in der Asso-ziation darin sind. Ich möchte mit Menschen rechnen, und das istdas Wirklichkeitsgemäße.

Anmerkung: Wichtig ist auch, daß Steiner seine unübliche und unbe-queme Zuordnung des Kapitals zum Geistesleben und der Arbeit zumRechtsleben nicht zur Illustration, sondern zum Prinzip der sozialenDreigliederung rechnet. Wer diese Zuordnungen zur Disposition stellt,hat bereits mit der sozialen Dreigliederung gebrochen.

Illustration zum Prinzip „Kapital gehört zum Geistes-,Arbeit zum Rechtsleben“

Quelle [20]: GA 305, S. 234-238, 2/1979, 29.08.1922, Oxford

Und da müssen wir uns klar sein, allmählich hat das, was ursprüng-lich Theokratie war, vom Leben sich entfernt. Denn in denjenigenStätten, wo die ursprünglichen Theokraten gelebt haben, da gab eskeine Bibliotheken, da war nicht die Wissenschaft in Bibliothekeneingereiht; da setzte man sich nicht hin, wenn man sich vorbereitete,um eine Wissenschaft zu beherrschen, und studierte alte Bücher,sondern da lebte man mit dem lebendigen Wesen des Menschen. Dasah man den Menschen an. Da fragte man sich: Was ist da draußenmit dem Menschen zu tun. Die Bibliothek war die Welt. Man schautenicht in Bücher, sondern auf die menschliche Physiognomie, manachtete auf menschliche Seelen, man las in ihnen; man schaute nicht

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Prinzip oder Illustration

in die Bücher hinein, sondern man schaute auf die Menschen. Indie Bibliotheken ist allmählich unsere Wissenschaft hineingegangenoder sonst irgendwie aufgespeichert, vom Menschen getrennt.

Wir brauchen ein Geistesleben, das wiederum ganz in der Weltdrinnensteht, wir brauchen ein Geistesleben, wo die Bücher aus demLeben heraus geschrieben sind, ins Leben hinein wirken und nurAnregungen sind für das Leben, nur Mittel und Wege sein wollenfür das Leben. Wir müssen aus der Bibliothek heraus. Wir müssengerade im geistigen Leben in das Leben hinein. Und wir müssenein Erziehungswesen haben, das nicht nach Regeln verfährt, dasnach den Kindern verfährt, die real da sind, nach Menschenkenntnis;aus Menschenkenntnis heraus die Kinder kennenlernt und aus demKinde selbst herausliest, was zu tun ist jeden Tag, jede Woche, jedesJahr.

Wir brauchen ein staatlich-juristisches Leben, in dem Mensch demMenschen gegenübersteht, wo nur nach dem geurteilt wird, wozueine berechtigte Kompetenz jeder einzelne hat, wie ich schon sagte,gleichgültig in welchem Beruf, in welcher sonstigen Situation erdrinnensteht. Das gehört in das staatlich-juristische Leben hinein;was alle Menschen gleich macht.

Was wird dann in das geistige Leben hineinkommen, wenn das geis-tige Leben so aufgefaßt wird, wie ich es jetzt beschrieben habe?Vom wirtschaftlichen Leben wird von selbst nach und nach die Kapi-talverwaltung in das geistige Leben hineinkommen. Schimpft manheute über den Kapitalismus – man kann ja nichts machen gegenden Kapitalismus, man braucht doch den Kapitalismus. Es handeltsich nicht darum, daß Kapital da ist, Kapitalismus da ist, sondern:welche sozialen Kräfte in dem Kapital und Kapitalismus wirken. DerKapitalismus ist entstanden aus der geistigen Erfindungsgabe derMenschheit. Er ist schon aus dem Geistigen heraus entstanden durchArbeitsteilung und geistige Erkenntnis. Ich habe nur zur Illustration,

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Kernpunkte der Dreigliederung

weil ich keine Utopie geben wollte, in meinen „Kernpunkten“ ge-sagt, wie etwa dieses Hinströmen des Kapitals zum geistigen Glieddes sozialen Organismus geschehen könnte, indem derjenige, derzunächst Kapital erworben hat und dadurch Kapital arbeitend hat,und mit seiner eigenen Person bei dieser Arbeit des Kapitals dabeiist, indem der so, wie man es heute mit den Büchern macht, die nachdreißig Jahren an die Allgemeinheit übergehen, dafür sorgt, daß dasKapital an die Allgemeinheit übergeht. Ich habe es nicht als einenutopischen Standpunkt aufgestellt, sondern gesagt, so könnte manvielleicht dazu kommen, dem Kapital diese Strömung zu geben, sodaß es, statt daß es überall stockt, in die Blutzirkulation des sozia-len Lebens hineinkomme. Alles das, was ich gesagt habe, ist gesagtals Illustration, sind nicht Dogmen, nicht utopische Begriffe, son-dern ich wollte etwas anführen, was vielleicht durch die Assoziationgeschehen wird.

Es kann vielleicht aber etwas ganz anderes geschehen. Derjenige,der lebensvoll denkt, setzt nicht Dogmen hin, die ausgeführt werdensollen, sondern rechnet mit Menschen, die aus ihrem Zusammen-hang dasjenige herausbringen, was sozial ziel- und zweckvoll ist,wenn diese Menschen in der richtigen Weise in den sozialen Orga-nismus hineingestellt sind. Überall ist gerechnet mit Menschen undnicht mit Dogmen. Aber ich habe es ja erleben müssen: Dasjenige,was eigentlich gemeint war mit den „Kernpunkten“, ist gar nichtdiskutiert worden. Dagegen haben die Leute gefragt: Wie wird manes dahin bringen, daß das Kapital sich nach so und so viel Jahrenan den Fähigsten vererbt? Und so weiter. Die Menschen wollen janichts Wirkliches, wollen nur Utopien. Das ist es aber, was geradegegen die unbefangene Aufnahme eines solchen Impulses spricht,wie er in der Dreigliederung vorliegt.

Und so wird man sehen, wenn das juristisch-staatliche Leben in derrichtigen Weise sich auswirken kann, daß dieses juristisch-staatliche

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Prinzip oder Illustration

Leben vor allen Dingen dann die Arbeit des Menschen einbezieht.Die Arbeit des Menschen steckt ja heute ganz im wirtschaftlichenLeben drinnen. Sie wird nicht behandelt als etwas, was von Menschzu Mensch bestimmt wird. Ich habe etwa 1905 einen Aufsatz ge-schrieben über die soziale Frage, und habe da klarmachen wollen,daß unter unserer heutigen Arbeitsteilung Arbeit nur eine Warewird, indem sie hineinfließt in den ganzen übrigen Organismus. Füruns selber hat in Wirklichkeit unsere Arbeit nur einen Scheinwert.Nur was die anderen für uns tun, hat einen Wert; während das, waswir tun, für die anderen einen Wert haben soll. Das ist etwas, wasdie Technik schon erreicht hat. Nur sind wir mit unserer Moral nochnicht nachgekommen. Technisch, innerhalb der heutigen sozialenOrdnung, kann man nichts für sich machen, nicht einmal einen Rock.Sogar wenn man sich den Rock selber macht, so hat er einen sol-chen Preis, wie er ihn haben würde, wenn er innerhalb der ganzensozialen Ordnung von einem anderen gemacht wird. Das heißt, wasden Rock ins Ökonomische hineinstellt, das ist universell, ist aus derGemeinschaft heraus bestimmt. Es ist nur ein Scheingebilde, wennman meint, der vom Schneider für sich selbst hergestellte Rock seibilliger. Man kann das ausrechnenmit Zahlen, da erscheint es billiger.Würde man es aber hineinstellen in eine Gesamtbilanz, so würdeman sehen: Ebensowenig wie man aus seiner eigenen Haut heraus-fahren kann, ebensowenig kann man, indem man sich selber einKleidungsstück macht, das ökonomische ändern oder ausschalten.Auch das Kleidungsstück, das man für sich selbst gemacht hat, mußinsgesamt bezahlt werden. Die Arbeit ist dasjenige, was der Menschfür den Menschen macht, die nicht darnach geordnet werden kann,wieviel Arbeitszeit man in der Fabrik braucht. Die Bewertung derArbeit führt im eminentesten Sinne hinein in das Gebiet des Rechts,der staatlich-juristischen Ordnung.

Daß das nicht unzeitgemäß, sondern zeitgemäß ist, das können Siedaraus entnehmen, daß die Arbeit überall geschützt wird, gesichert

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wird und so weiter. Aber das sind alles nicht halbe, das sind Viertels-maßregeln, die nur dann voll zur Geltung kommen können, wenneine richtige Dreigliederung des sozialen Organismus da ist. Denndann wird erst der Mensch dem Menschen gegenüberstehen undwird erst die Arbeit eine richtige Regelung finden, wenn Menschen-würde gegen Menschenwürde sprechen wird, aus dem heraus, fürdas alle Menschen kompetent sind.

Dann werden Sie sagen: Ja, da kann einmal nicht genügend Arbeit dasein, wenn auf diese Weise im demokratischen Staat dann die Arbeitbestimmt wird. Ja, da ist einer der Punkte, wo das Soziale hineinführtin das Allgemein-Historische, in die allgemeine Menschheitsentwi-ckelung. Das wirtschaftliche Leben darf nicht die Arbeit bestimmen.Es muß eingeschlossen sein auf der einen Seite zwischen der Natur,auf der anderen Seite zwischen der staatlich festgesetzten Arbeit.Geradesowenig wie ein Komitee jetzt bestimmen kann, wie viele Re-gentage im Jahre 1923 da sein sollen, damit man richtig wirtschaftenkann im Jahre 1923, wie man das hinnehmen und damit rechnenmuß als einem Gegebenen, mit demjenigen, was die Natur gibt,so wird man auch im selbständigen wirtschaftlichen Organismusrechnen müssen mit dem Gegebenen als mit einer Arbeitsmenge,die innerhalb des staatlich-juristischen Organismus sich ergibt. Daskann ich nur im allgemeinen erwähnen als eine Charakteristik.

Im ökonomischen Glied des sozialen Organismus werden die Asso-ziationen dastehen, in denen werden Konsumenten und Produzentenund Händler in gleicher Weise aus ihren Lebenserfahrungen her-aus ein assoziatives Urteil – nicht ein individuelles, das gar keineBedeutung hat -, ein assoziatives Urteil abgeben. Das kann manheute nicht erreichen, wenn man die kleinen Ansätze nur verfolgt,welche da sind. Daß diese kleinen Ansätze da sind, beweist, daßunbewußt in der Menschheit die Intention besteht, es so zu machen.Man gründet Genossenschaften, Gewerkschaften, alle möglichen

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Prinzip oder Illustration

Gemeinschaften. Gewiß, das bezeugt, daß der Drang da ist. Aberwenn sie heute eine Genossenschaft gründen neben der übrigensozialen Ordnung, so muß diese Genossenschaft entweder hinein-wachsen in die übrige soziale Ordnung, gerade solche Preise haben,geradeso die Ware auf den Markt bringen, wie dies üblich ist, oderaber sie muß zugrunde gehen. Dasjenige, um was es sich bei derDreigliederung des sozialen Organismus handelt, ist nicht, aus einemutopistischen Gedanken heraus Wirklichkeiten zu schaffen, sonderndas, was wirklich ist, anzufassen; diejenigen Institutionen, die ge-genwärtig da sind, diejenigen, die konsumieren, die produzieren, derUnternehmer, das, was da ist selber ohne Neugründung, das soll inAssoziationen zusammengefaßt werden. Man soll gar nicht fragen:Wie gründet man neue Assoziationen? – Sondern: Wie faßt mandie wirtschaftlichen Verbände, die wirtschaftlichen Institutionen,die da sind, in Assoziationen zusammen? – Dann wird vor allenDingen innerhalb dieser Assoziationen aus der wirtschaftlichen Er-fahrung heraus eines richtig erfolgen, woraus tatsächlich eine sozialeOrdnung kommen kann – wie aus dem gesunden menschlichen Or-ganismus eben die menschliche Gesundheit kommt immenschlichenLeben -, eine ökonomische Zirkulation: Produktionsgeld, Leihgeldund Schenkungsgeld, Stiftung. Ohne daß diese drei Glieder darinnensind, gibt es keinen sozialen Organismus. Man kann heute nochso viel wettern gegen die Stiftungen, Schenkungen, sie müssen dasein. Die Menschen machen sich nur etwas vor. Sie sagen sich: Ja, ineinem gesunden sozialen Organismus gibt es keine Schenkungen.Aber sie zahlen ihre Steuern. Die Steuern sind ja nur der Umweg;denn darin sind die Schenkungen, die wir an die Schulen und soweiter abgeben, das sind die Schenkungen.

Die Menschen sollten aber eine solche soziale Ordnung haben, wosie immer sehen, wie die Dinge laufen, und sich nicht etwas vor-machen. Wenn sie das soziale Leben herauskriegen allmählich ausdemjenigen, was jetzt konfundiert alles in sich enthält, dann werden

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Kernpunkte der Dreigliederung

sie, wie sie jetzt in dem gesunden menschlichen Organismus dasBlut laufen sehen, so das Geld laufen sehen als Produktionsgeld,Leihgeld, Schenkungsgeld. Und sie werden sehen, wie mit dem Men-schen zusammenhängt auf der einen Seite imHandels-, Zirkulations-,Produktions- und Erwerbsgeld dasjenige Geld, das angelegt wird,damit es auf dem Wege des Leihens, indem es verzinst wird, wie-derum in die Produktion übergeht, und auf der anderen Seite dasSchenkgeld, das zufließen muß dem, was freies Geistesleben ist.

So nur können die Menschen am sozialen Geschehen teilnehmen,daß jeder in der freien Assoziation sieht: So läuft das Leben – dannkann Gesundheit hineinkommen in den sozialen Organismus. DieserDreigliederungsidee gegenüber ist alles abstrakte Denken verpönt.Da gibt es nur lebendiges Denken.

Anmerkung: Bei der folgenden Stelle wird angedeutet, daß auch dieIdeale der Lebensbereiche zum Prinzip der sozialen Dreigliederung zurechnen sind, nämlich der Kollektivismus für das Wirtschaftsleben undder Individualismus für das Geistesleben. Zur vollen Klarheit fehlenallerdings Verbindungsglieder, die hier nicht angesprochen werden: dieZuordnung des Kapitals und der Konsumtion zum Geistesleben.2

Illustration zum Prinzip „Ausgleich von Kollektivismus undIndividualismus“

Quelle [3]: GA 079, S. 239-246, /1988, 30.11.1921, Oslo (Kristiania)

Wir sehen, wie derjenige Teil des wirtschaftlichen Lebens, den wirals den Produktionsprozeß überschauen, durch die Kompliziertheit

2. Siehe dazu Band 4: Assoziation und Wirtschaftsleben/Assoziation als Einrich-tung des Wirtschaftslebens/Assoziation und Bedarfsorientierung/Produktionals geistige, Konsum als wirtschaftliche Frage und Bedürfnisse als freie geistigeFrage

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Prinzip oder Illustration

des technischen Lebens immer mannigfaltiger geworden ist. Undwenn ich es mit einemWorte, das ja schon ein Schlagwort gewordenist – alleinmanmuß solcheWorte gebrauchen -, bezeichnenwill:Wirsehen, daß das Produktionsleben immer kollektivistischer gewordenist.

Was kann denn im Grunde genommen heute der einzelne innerhalbunseres sozialen Organismus im Produktionsleben leisten? Er istüberall eingespannt in das, was mit anderen in Gemeinschaft getanwerden muß. Unsere Art des Produzierens ist so kompliziert gewor-den, daß der einzelne wie in einem großen Produktionsmechanismuseingespannt ist. Es ist das Produktionsleben kollektivistisch gewor-den. Darauf sieht gerade der Proletarier hin, und er verspricht sichin seiner wirtschaftlich fatalistischen Anschauungsweise, daß derKollektivismus noch immer stärker und stärker werden wird, daß im-mer mehr undmehr die Produktionszweige sich zusammenschließenwerden, und daß dann die Zeit kommenwerde, wo das internationaleProletariat selbst diese Produktion übernehmen kann. Auf das war-tet der Proletarier. Er gibt sich also dem großen Irrtum hin, daß derKollektivismus der Produktion das Naturnotwendige ist – denn erempfindet das wirtschaftlich Notwendige fast wie eine Naturnotwen-digkeit -, und daß dieser Kollektivismus weiter ausgebaut werdensoll, daß vor allen Dingen das Proletariat dazu berufen sei, sich dannauf die Stühle zu setzen, auf denen die heutigen Produzenten sitzen,und daß das kollektivistisch Gewordene nunmehr kollektivistischverwaltet werde. Wie stark das Proletariat aus seinem wirtschaftli-chen Interesse heraus an einer solchen Idee hängt, sehen wir in dentraurigen Ergebnissen des wirtschaftlichen Experimentes im Osten,denn dort wurde sozusagen – allerdings nicht so, wie es sich dieProletarier-Theoretiker geträumt haben, sondern aus den kriegeri-schen Verhältnissen heraus – der Versuch gemacht, in diesem SinnedasWirtschaftsleben zu gestalten. Man kann heute schon sehen, undman wird es immer mehr und mehr sehen: Der Versuch wird – ganz

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Kernpunkte der Dreigliederung

abgesehen von seinen ethischen oder sonstigen Werten oder vonden Sympathien oder Antipathien, die man ihm entgegenbringenkann – durch seine eigenen inneren zerstörenden Kräfte kläglichscheitern und unsägliches Unglück in die Menschheit bringen.

Dem Produktionsleben steht gegenüber das Leben der Konsumtion.Aber das Leben der Konsumtion kann niemals von selbst kollekti-vistisch werden. In der Konsumtion steht der einzelne im Grundegenommen durch Naturnotwendigkeit als Individualität darinnen.Aus der Persönlichkeit des Menschen, aus dem menschlichen Indi-viduum heraus kommen die Bedürfnisse der Gesamtkonsumtion.Es blieb daher, neben dem Kollektivistischen der Produktion, dasIndividualistische der Konsumtion bestehen. Und immer schrofferund schroffer wurde der Abgrund, tiefer und tiefer wurde dieserAbgrund zwischen der nach Kollektivismus strebenden Produkti-on und den doch sich immer heftiger geltend machenden, geradedurch den Kontrast immer heftiger geltend machenden Interessender Konsumtion. Für den, der das heutige Leben durchschauen kannmit unbefangenem Blicke, ist es nun keine Abstraktion, sondern fürden beruhen die furchtbaren Disharmonien, in die wir hineingestelltsind, gerade auf dem Mißverhältnis, das sich durch das Angedeuteteheute herausgebildet hat zwischen den Impulsen der Produktionund den Bedürfnissen der Konsumtion.

Man kann allerdings das ganze Elend, das in dieser Beziehung heutebis in die tiefsten Gemüter der Menschen hinein herrscht, nur über-schauen, wenn man sich eben nicht durch Studium, sondern durchLebenspraxis Jahrzehnte hindurch in das vertieft hat, aus dem sichauf den einzelnen Gebieten des Lebens diese Disharmonie ergebenhat. Und nun wirklich nicht aus irgendwelchen Prinzipien, nicht austheoretischen Erwägungen, sondern aus diesen Lebenserfahrungenheraus ist entstanden, was ich niedergelegt habe in meinem Buche„Die Kernpunkte der sozialen Frage“. Ganz fern lag es mir, aus dieser

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Lebenspraxis heraus irgendwie eine utopische Lösung der sozialenFrage zu versuchen. Ich mußte allerdings erfahren, daß das heutigeDenken der Menschen ganz unwillkürlich nach der utopischen Seitehinneigt. Ich mußte selbstverständlich zusammenfassen, was sichmir aus der großen Mannigfaltigkeit des Lebens ergeben hat, was ichlieber in einzelnen konkreten Beispielen erörtert hätte, ich mußte eszusammenfassen in allgemeine Sätze, die dann wiederum ihrerseitszusammengestellt sind in den Schlagworten „Dreigliederung dessozialen Organismus“. Aber was da drinnen ist, das mußte dochdurch einige Richtlinien wenigstens exemplifiziert werden. Manmußte sagen, wie man sich denkt, daß die Dinge in die Hand ge-nommen werden sollen. Deshalb habe ich einige Beispiele gegeben,wie die Entwickelung des Kapitalismus weiter fortschreiten soll,wie etwa die Arbeiterfrage zu regeln ist und so weiter. Da habeich versucht, konkrete, einzelne Andeutungen zu geben. Nun, ichhabe viele Diskussionen mitgemacht über diese „Kernpunkte dersozialen Frage“, und, ich habe stets gefunden, daß die Menschen inihrer utopistischen Meinung von heute immer fragen: Ja, wie wirddenn in der Zukunft das oder jenes sein? – Sie haben sich dabeigestützt auf die Andeutungen, die ich über das einzelne gegebenhabe, was ich aber niemals anders gemeint habe, denn als Beispiel.Im ganzen konkreten Leben ist es ja so, daß man irgend etwas, wasman tut, was man nach seinem besten Wissen einrichtet, daß mandas in irgendeiner Gestalt in die Wirklichkeit hineinstellen kann,daß man es aber selbstverständlich auch anders machen könnte. DieWirklichkeit ist nicht so, daß nur ein einzelnes Theoretisches aufsie paßt. Man könnte selbstverständlich auch alles anders machen.Der Utopist aber, der möchte bis ins einzelne hinein schlagwortartigalles charakterisiert haben. Und so sind denn diese „Kernpunkte dersozialen Frage“ vielfach gerade durch die anderen im utopistischenSinne ausgedeutet worden. Sie sind in Utopien vielfach umgewan-delt worden, während sie nicht im entferntesten als Utopie gemeint

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sind, sondern hervorgegangen sind aus einem Betrachten dessen,was sich im Produktionsprozeß als der Kollektivismus ergeben hat,aus der Anschauung, wie nun wirklich von seiten der Produkti-on eine gewisse Notwendigkeit vorliegt, in diesen Kollektivismushineinzusegeln, wie aber auf der anderen Seite alle Kraft der Produk-tion doch wiederum abhängt von den Fähigkeiten des menschlichenIndividuums.

So trat einem gerade aus der Betrachtung der modernen Produktionmit furchtbarer Intensität vor das seelische Auge, daß eigentlichder Grundimpuls, der aller Produktion zugrunde liegen muß, daspersönliche Können, gewissermaßen absorbiert wird durch den Kol-lektivismus, der sich aus den wirtschaftlichen Kräften selbst herausergeben hat und immer weiter ergibt. Es trat einem auf der einenSeite entgegen dasjenige, wozu das wirtschaftliche Leben neigt, undauf der anderen Seite die auch selbstverständliche Forderung, dieindividuellen Kräfte der einzelnen menschlichen Persönlichkeit ge-rade innerhalb des Wirtschaftslebens zur Geltung zu bringen. Undes obliegt einem, über den sozialen Organismus so nachzudenken,wie diese Grundforderung des wirtschaftlichen Fortschrittes: diePflege der individuellen Fähigkeiten -, bestehen kann im rein durchdie technischen Verhältnisse immer Komplizierterwerden der Pro-duktionsprozesse. Das ist es auf der einen Seite, was einem so ganzlebendig vor die Seele tritt: der wirkliche wirtschaftliche Fortgang,und die notwendigen Anforderungen, die man stellen muß an daswirtschaftliche Leben, damit es gedeihen könne.

Auf der anderen Seite geht ja alles das, was wir die heutige sozialeFrage nennen, im Grunde genommen praktisch gar nicht aus denProduktionsinteressen hervor. Wenn im Produktionsgebiete nachKollektivismus gesucht wird, so ergibt sich das eigentlich aus dentechnischen Möglichkeiten des Wirtschaftslebens, aus den techni-schen Notwendigkeiten auch. Was man gewöhnlich die soziale Frage

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nennt, wird eigentlich ganz und gar aus Konsumtionsinteressen vor-gebracht, die wiederum nur auf der menschlichen Individualitätberuhen können. Und die merkwürdige Tatsache stellt sich heraus,daß – wenn auch scheinbar etwas anderes stattfindet – aus reinenKonsumtionsinteressen heraus der Ruf nach Sozialisierung durchdie Welt geht. Man sieht das auch, wenn man die Diskussionen unddas Leben praktisch verfolgt. Ich habe das ja gesehen bei meinenVorträgen, die ich im April 1919 zu halten begonnen habe, und dieimmer wieder gehalten wurden, und in den darauffolgenden Diskus-sionen, wie eigentlich unsympathisch berührt sind diejenigen, dieals Produzenten oder Unternehmer im praktischen Wirtschaftslebendrinnen stehen, von der Diskussion dessen, was man soziale Fragenennt, in dem Sinne, wie es aus den Konsumtionsinteressen herausgepredigt wird.

Dagegen sieht man, wie im Grunde genommen überall, wo der Rufnach Sozialismus aufkommt, nur das Konsumtionsinteresse ins Augegefaßt wird. So daß man hier gerade in den Idealen des Sozialismuswirksam hat als Willensimpuls den Individualismus. Im Grunde ge-nommen streben alle diejenigen, die sozialistisch sind, nach demSozialismus hin aus ganz individuellen Emotionen heraus. Und dasStreben nach dem Sozialismus ist im Grunde genommen nur eineTheorie, die über dem, was die individuellen Emotionen sind, dahin-schwimmt. Aber auf der anderen Seite ergibt sich durch eine ganzernstliche Betrachtung dessen, was sich in unserem Wirtschafts-leben, auch wiederum seit Jahrhunderten, immer mehr und mehrentwickelt hat, die ganze volle Bedeutung desjenigen, was man jalandläufig in der Nationalökonomie, in der Volkswirtschaftslehrezusammenfaßt mit dem Namen Arbeitsteilung.

Ich bin überzeugt davon, daß außerordentlich viel Geistvolles überdiese Arbeitsteilung geschrieben und gesagt worden ist, glaube abernicht, daß sie in ihrer vollen Bedeutung für das praktische wirt-

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schaftliche Leben bis in ihre letzten Konsequenzen schon durch-dacht worden ist. Ich glaube das aus dem Grunde nicht, weil mansonst einsehen müßte, daß im Grunde genommen überhaupt ausdem Prinzip der Arbeitsteilung mit Konsequenz folgt, daß niemandeigentlich in einem sozialen Organismus, in dem volle Arbeitsteilungherrscht, für sich selber noch etwas produzieren – ich sage sogar –kann. Wir sehen ja heute noch die letzten Reste der Selbstprodukti-on, namentlich wenn wir die kleinen Landgüter ins Auge fassen. Dasehen wir, daß eigentlich derjenige, der produziert, das zurückbehält,was für seinen und seiner Familie Bedarf notwendig ist. Und wasbewirkt dieses, daß er sozusagen ein Versorger des eigenen Bedarfsnoch sein kann? Das bewirkt, daß er eigentlich in einer ganz un-richtigen Weise innerhalb eines sozialen Organismus produziert, derim übrigen auf Arbeitsteilung aufgebaut ist. Jeder, der heute sichselbst einen Rock macht, oder der sich selbst mit seinen eigenen,auf seinem eigenen Grund und Boden gebauten Nahrungsmittelnversorgt, versorgt sich eigentlich zu kostspielig, denn dadurch, daßArbeitsteilung herrscht, kommt jedes Erzeugnis billiger zustande,als es zustande kommen kann, wenn man es für sich selbst fabriziert.Man braucht nur über diese Tatsache nachzudenken und man wirdals ihre letzte Konsequenz das ansehen müssen, daß im Grunde ge-nommen niemand heute so produzieren kann, daß irgendwie seineArbeit in das Produktionserzeugnis, in das Erzeugnis hineinfließt.Und doch liegt die Merkwürdigkeit ja vor, daß zum Beispiel KarlMarx das Erzeugnis wie eine kristallisierte Arbeit behandelt. So istes aber am allerwenigsten heute. Das Erzeugnis ist heute in bezugauf seinen Wert – und allein der kommt im wirtschaftlichen Lebenin Betracht – von der Arbeit zunächst am allerwenigsten bestimmt.Es ist bestimmt von der Brauchbarkeit, das heißt von Konsumtions-interessen, von der Brauchbarkeit, mit der es drinnen steht in demauf Arbeitsteilung beruhenden sozialen Organismus.

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Das alles gibt einem auf wirtschaftlichem Gebiete die großen Fra-gen der Gegenwart auf. Und aus diesen Fragen heraus hat sichmir ergeben, daß wir eben einfach in dem heutigen Zeitpunkte derMenschheitsentwickelung vor der Notwendigkeit stehen, den sozia-len Organismus so zu gestalten, daß er immer mehr und mehr seinenaturgemäßen drei Glieder zeigt.

Anmerkung: An einer anderen Stelle legt Steiner den Schwerpunkt aufdie Verbindung, den Ausgleich der verschiedenen Lebensbereiche. Sieverhalten sich zueinander wie Aufbau und Abbau. Diese Verbindungwird hier eindeutig zum Prinzip der sozialen Dreigliederung gerechnet.

Illustration zum Prinzip „SelbstausgleichendeDreigliederung statt Einheitsstaat“

Quelle [5]: GA 083, S. 278-286, 3/1981, 11.06.1922, Wien

Als ich vor drei Jahren etwa auf Verlangen einer Reihe von Freunden,die damals unter dem Eindruck der Ereignisse im sozialen Lebennach der vorläufigen Beendigung des großen Weltkriegs standen,meine „Kernpunkte der sozialen Frage“ veröffentlicht hatte, da ergabsich für mich, ich möchte sagen, als unmittelbares Erlebnis, daß die-se Veröffentlichung im Grunde mißverstanden worden ist auf allenSeiten, und zwar gerade aus dem Grunde, weil man sie zunächsteinreihte in diejenigen Schriften, welche in einer mehr oder weni-ger utopistischen Weise in äußerlichen Einrichtungen versuchtendarzustellen, was ihre Verfasser als eine Art Heilmittel gegen dieauftretenden sozialen chaotischen Zustände empfanden, die sich imVerlauf der neueren Menschheitsentwickelung ergeben haben. Mei-ne Schrift war gewissermaßen als ein Appell nicht an das Denkenüber allerlei Einrichtungen, sondern als ein Appell an die unmittelba-re Menschennatur gemeint. Daß das aus geisteswissenschaftlichen

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Untergründen heraus nicht anders sein konnte, wird ja aus der gan-zen Haltung der bisher gehaltenen Vorträge hervorgehen.

So hat man namentlich vielfach dasjenige, was ich eigentlich nurzur Illustration der Hauptsache gegeben habe, für die Hauptsacheselbst genommen. Ich mußte, indem ich versuchte darzustellen, wiedie Menschheit zu einem sozialen Denken, Fühlen und auch Wollenkommen könne, dies zum Beispiel daran illustrieren, wie möglicher-weise die Kapitalzirkulation so umgewandelt werden könnte, daßsie von vielen Menschen nicht in der Weise drückend empfundenwerde, wie das in der Gegenwart vielfach der Fall ist. Ich mußte daseine oder das andere über Preisbildung, über den Wert der Arbeitund dergleichen sagen. Aber das alles nur eigentlich zur Illustration.Denn wer, wenn ich mich jetzt des Ausdrucks bedienen darf, hinein-greifen will ins volle Menschenleben, dem kommt es auch darauf an,dieses Menschenleben zunächst zu belauschen, um aus ihm herausauf menschliche Art Auswege für Verirrungen zu finden, und zwarnicht durch Anpreisen gewisser IdeenschabIonen, die dann auf denverschiedensten Gebieten des Lebens ausgeführt werden sollen.

Vor allen Dingen ergibt sich für den, der das soziale Leben Euro-pas nicht mit dieser oder jener vorgefaßten Meinung, sondern mitunbefangenem Sinn in den letzten dreißig bis vierzig Jahren aufsich hat wirken lassen, daß eigentlich dasjenige, was heute sozial zugeschehen hat, bereits vorgezeichnet ist in dem unbewußten Wollengerade der europäischen Menschheit. Überall kann man die unbe-wußten Tendenzen nach irgend etwas finden. Sie leben schon in denMenschenseelen, und man braucht ihnen durch Worte nur Ausdruckzu verleihen.

Das ist es, was mich veranlaßte, dem Drängen von Freunden nach-zugeben und dieses Buch zu schreiben. Das war die Veranlassung,daß ich aus dem Wirklichkeitssinn, den die Geisteswissenschaft –in bescheidener Weise darf das ausgedrückt werden – dem Men-

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Prinzip oder Illustration

schen anerzieht, versucht habe, das zu beobachten, was in allensozialen Klassen und Ständen unter der Oberfläche der äußerenErscheinungen und Einrichtungen in den letzten Jahrzehnten inEuropa vorgegangen ist. Und ich wollte eigentlich nicht sagen: Dasoder jenes finde ich richtig; sondern ich wollte sagen: Das oder jeneswird aus dem verborgenen Unbewußten heraus gewollt, und es istnotwendig, daß man sich einfach bewußt werde desjenigen, wonachdie Menschheit eigentlich drängt. Und gerade darinnen ist der Grundfür viele unserer sozialen Mißstände zu suchen, daß heute diesesunbewußte Drängen in gewissem Widerspruch steht zu dem, wasdie Menschheit in intellektualistischer Weise ausgedacht und in dieEinrichtungen hineingetragen hat, so daß eigentlich unsere Einrich-tungen dem widersprechen, was in den Tiefen der Menschenherzenheute gewollt wird.

Und noch aus einem anderen Grunde glaube ich nicht, daß es heuteüberhaupt einen besonderen Wert hat, irgendwie in utopistischerWeise die eine oder andere Einrichtung einfach hinzustellen. Wirsind innerhalb der geschichtlichen Menschheitsentwickelung in derzivilisierten Welt doch in das Stadium eingetreten, daß, wenn auchnoch so Gescheites gesagt wird über das, was unter und zwischenMenschen geschehen soll, dies eigentlich gar keine Bedeutung habenkann, wenn die Menschen es nicht annehmen, wenn es nicht etwasist, wozu die Menschen selber sich hindrängen, allerdings zumeisteben in unbewußter Art.

So glaube ich, daß heute, wenn man über solche Dinge überhauptdenkenwill, mit dem in der geschichtlichen Entwickelung derMensch-heit heraufgekommenen demokratischen Sinn gerechnet werdenmuß, namentlich dem demokratischen Sinn, wie er auf dem Grundder Seelen der Menschen heute lebt, mit diesem demokratischenSinn, daß eigentlich in sozialer Beziehung etwas nur Wert hat, wennes darauf abzielt, nicht demokratische Meinungen zu sagen, son-

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dern die Menschen dazu zu bringen, ihre Meinungen aussprechenzu können, geltend machen zu können. So war für mich die Haupt-sache, die Frage zu beantworten: Unter welchen Verhältnissen sinddie Menschen in der Lage, ihre sozialen Meinungen, ihren sozialenWillen wirklich zum Ausdruck zu bringen?

Wir müssen, wenn wir die Welt um uns herum in bezug auf dassoziale Leben betrachten, uns sagen: Ja, wissen könnte man schonvieles von dem, wie das eine oder das andere anders sein sollte; aberwas alles ist da an Hemmnissen, so daß das, was wir ganz gut wissenkönnen, was wir ganz gut geltend machen wollen, nichtWirklichkeitwerden kann. Da sind die Standes- und Klassenunterschiede selberund sind Klüfte zwischen den Klassen der Menschen, Klüfte, dienicht einfach dadurch zu überbrücken sind, daß man eine Meinungdarüber hat, wie sie überbrückt werden sollen, sondern Klüfte, diesich dadurch ergeben, daß eben, ich habe gestern so großen Wertdarauf gelegt, der Wille, der das eigentliche Zentrum der Menschen-natur ist, engagiert ist durch die Art und Weise, wie man sich in denStand, in die Klasse oder in irgendeinen anderen sozialen Zusam-menhang hineingelebt hat. – Und wiederum, wenn man auf etwassieht, was sich in unserer neueren Zeit unter den kompliziertenwirtschaftlichen Verhältnissen immer mehr und mehr neben dieStandesvorurteile, die Standesempfindungen, die Standeswillensim-pulse als solche Hemmnisse hingestellt hat, so findet man diese inden wirtschaftlichen Einrichtungen selber. Wir werden in gewissewirtschaftliche Einrichtungen hineingeboren und können aus diesennicht heraus. – Und eine dritte Art Hemmnisse für das wirklichesoziale Zusammenwirken der Menschen ist da: daß diejenigen, dievielleicht gerade als führende Persönlichkeiten in der Lage wären,jenen tiefen Einfluß auszuüben, von dem ich eben gesprochen habe,andere Schranken haben, die Schranken nämlich, die sich ergebenaus gewissen dogmatischen Lehren über das Leben, aus gewissendogmatischen Empfindungen über das Leben. Wenn viele Menschen

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über die wirtschaftlichen Schranken, über die Klassen- und Stan-desschranken nicht hinaus können, so können viele nicht über ihreBegriffs- und Ideenschranken hinaus. Das alles ist, möchte ich sagen,schon reichlich Lebensinhalt geworden, der sich dann in seinemErgebnis vielfach als Chaos darstellt.

Aberwennman nun versucht, über alles, was sich durch dieseHemm-nisse und Klüfte hindurch in den unbewußten Untergründen derSeelen in den letzten Jahrzehnten gezeigt hat, klar zu werden, dannwird man darauf hingewiesen, daß eigentlich die Kernpunkte dersozialen Frage ganz woanders liegen, als wo man sie gewöhnlichsucht. Sie liegen darinnen, daß in der neueren Zeit der Menschheits-entwickelung gleichzeitig mit dem Heraufkommen der das Lebenso kompliziert machenden Technik in der zivilisierten Welt zugleichder Glaube an die Allmacht des Einheitsstaates heraufgekommen ist.Und immer stärker und stärker ist dieser Glaube an die Allmacht desEinheitsstaates im Laufe des 19. Jahrhunderts geworden. So starkund fest ist er geworden, daß er selbst unter den mancherlei erschüt-ternden Urteilen, die sich große Menschenmassen über die sozialeOrganisation gebildet haben, nicht erschüttert worden ist.

Und mit dem, was als dogmatischer Glaube so über die Menschenkommt, verbindet sich dann etwas anderes. Mit diesem Glaubenwill man daran festhalten, daß in demjenigen, auf das man denGlauben wendet, eine Art Allheilmittel liege, so daß man dann inder Lage sein könne, zu sagen, welches der beste Staat ist; daß mandann auch schon, ich will nicht sagen, das Paradies heraufzuzaubernversuchen kann, daß man aber doch meint, man treffe die denkbarbesten Einrichtungen.

Dadurch aber ist uns eines verlorengegangen, das sich vor allem demaufdrängt, der das Leben seiner Wirklichkeit nach so betrachtet, wiees in den letzten Tagen hier betrachtet worden ist. Wer sich geradedadurch, daß er darauf angewiesen ist, seine Ideen für die geistige

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Welt auszubilden, einen rechten Sinn für die Wirklichkeit aneignet,der kommt nämlich darauf, daß die besten Einrichtungen, die manfür irgendein Zeitalter ersinnen kann, nur eben höchstens ihre Gütefür dieses Zeitalter behalten können, daß es aber mit dem, was inder sozialen Organisation da ist, eine ähnliche Bewandtnis hat, wiezum Beispiel mit dem natürlichen Organismus des Menschen.

Ich will nicht ein fatales Analogiespiel treiben, aber ich möchte zurVeranschaulichung auf das hinweisen, was eben vom menschlichenOrganismus aus auch im sozialen Organismus begriffen werdenkann: Wir können niemals sagen, daß der menschliche, übrigensauch der tierische und pflanzliche Organismus nur in einer auf-steigenden Entwickelung sein könne. Soll das, was organisch ist,gedeihen, soll es seine Kräfte aus sich heraustreiben, dann muß es altwerden können, dann muß es auch absterben können. Wer genauerden menschlichen Organismus studiert, findet, daß dieses Abster-ben in jedem Augenblicke in ihm vorhanden ist. Immerfort sinddie aufsteigenden, sprießenden, sprossenden, fruchtenden Kräftevorhanden, immer auch sind die abbauenden Kräfte vorhanden. Undder Mensch verdankt gerade diesen abbauenden Kräften sehr viel.Ja, derjenige, der den Materialismus vollständig überwinden will,der muß sein Augenmerk gerade auf diese abbauenden Kräfte immenschlichen Organismus richten. Er muß überall das aufsuchenim menschlichen Organismus, wo die Materie gewissermaßen un-ter dem Einfluß der Organisation zerfällt. Und er wird dann finden,daß gerade an den Zerfall der Materie die Ausbildung des geistigenLebens im Menschen gebunden ist. Wir können die menschlicheOrganisation nur begreifen, wenn wir neben den aufsteigenden,sprießenden, sprossenden und fruchtenden Kräften den kontinuier-lichen Verfall beobachten.

Und wenn ich das auch nur zur Veranschaulichung sage, so kann eseben doch veranschaulichen, was der unbefangene Beobachter auch

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Prinzip oder Illustration

für den sozialen Organismus finden muß: Der soziale Organismusstirbt zwar nicht, dadurch unterscheidet er sich zum Beispiel vondem menschlichen Organismus, aber er wandelt sich, und aufstei-gende und absteigende Kräfte sind ihm naturgemäß. Nur der begreiftden sozialen Organismus, der weiß: wenn man die besten Absichtenverwirklicht und irgend etwas auf irgendeinem Gebiet des sozialenLebens herstellt, was aus den Verhältnissen heraus gewonnen ist,wird es nach einiger Zeit dadurch, daß Menschen mit ihren Indi-vidualitäten drinnen arbeiten, Absterbekräfte, Niedergangskräftezeigen. Was für das Jahr zwanzig eines Jahrhunderts das Richtige ist,das hat sich bis zum Jahre vierzig desselben Jahrhunderts so verwan-delt, daß es bereits seine Niedergangskräfte in sich enthält. DerleiDinge werden manchmal gewiß in Abstraktionen ausgesprochen.Aber man bleibt im intellektualistischen Zeitalter bei diesen Abstrak-tionen, auch wenn man vermeint, noch so praktisch zu denken. Undso erleben wir es auch, daß die Leute zwar im allgemeinen zugeben,es seien im sozialen Organismus Absterbekräfte, Niedergangskräfteenthalten, der soziale Organismus müsse sich immer umwandeln,die Niedergangskräfte müßten immer neben den Aufgangskräftenwirksam sein – aber da, wo wir mit unsern Absichten, mit unsermWillen in die soziale Ordnung eingreifen, da bemerken wir das inder Abstraktion Zugegebene doch nicht.

So konnte man in der sozialen Ordnung, die vor dem Weltkrieg war,sehen, daß der Kapitalismus zu einer gewissen Befriedigung auchfür breitere Massen dann geführt hat, wenn er in einer Entwickelungdrinnensteckte, die aufsteigender Art war. Die Löhne stiegen, wennder Kapitalismus für irgendeinen Zweig des Lebens in aufsteigenderEntwickelung war. Wenn man also immer weiter und weiter kam,wenn sich das Kapital immer freier und freier betätigen konnte, dannkonnte man sehen, daß tatsächlich der Arbeitslohn und die Verwen-dungsmöglichkeiten der Arbeit immer mehr und mehr stiegen. Abernicht in derselben Weise hat man das Augenmerk darauf gelenkt,

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wie in diesem Steigen zu gleicher Zeit andere soziale Faktoren ent-halten sind, die ganz parallel gehen und die bewirken müssen, daßsich Niedergangskräfte geltend machten, daß sich zum Beispiel beisteigenden Löhnen die Lebensverhältnisse so gestalten mußten, daßeben die steigenden Löhne nach und nach so wirkten, daß sie garnicht außerordentlich viel zur Besserung der Lebenslage beitrugen.Gemerkt hat man selbstverständlich solche Dinge. Aber die sozialenStrömungen verfolgte man nicht so, daß die Anschauungen selberlebens- und wirklichkeitsgemäß gewesen wären.

Und deshalb muß das soziale Leben heute, wo wir an einen wich-tigen historischen Punkt hingestellt sind, in seinen Fundamentenbetrachtet werden, nicht an den Oberflächenerscheinungen. Und dawird man auf die einzelnen Zweige, die in unserem sozialen Lebenenthalten sind, geführt.

Anmerkung: Nun kommt eine Stelle, die von Dieter Brüll selber aus-führlich zitiert wird,3 obwohl sie deutlicher als manche anderen Stellenseine Theorie widerspricht, wonach die soziale Dreigliederung einereine Formsache sei und den Inhalt der einzelnen Lebensbereiche völligoffen lasse. Hier wird nämlich ausdrücklich erwähnt, daß das Rechtsle-ben durch die soziale Dreigliederung demokratischer (Gleichheit) undimWirtschaftsleben die Preisbildung gesunder (Brüderlichkeit) werden.Die entsprechenden Passagen fehlen im Zitat von Dieter Brüll.

Da der Vortrag damals in der Gesamtausgabe von Rudolf Steiner nochnicht erschienen war, würde sich nur noch schwer ermitteln lassen, ober diese Passagen selber ausgelassen hat, oder ob sie schon in seiner(inoffiziellen) Vorlage gefehlt haben.

3. Siehe Dieter Brüll. Der anthroposophische Sozialimpuls - Ein Versuch seinerErfassung. Schaffhausen: Novalis Verlag, 1984, S. 72–74, Quelle [35]

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Prinzip oder Illustration

Illustration zum Prinzip „Spezialisierte Einrichtung erstrebtvon selbst eigenes Ideal“

Quelle [4]: GA 081, S. 108-116, 1/1994, 09.03.1922, Berlin

Sie wissen ja alle, daß in das in ein so furchtbares Chaos hineinge-hende Zivilisationsleben in einem gewissen Zeitpunkte die soge-nannten „Vierzehn Punkte“ Woodrow Wilsons fielen. Was warendiese Vierzehn Punkte denn eigentlich? Sie waren im Grunde genom-men nichts anderes als die abstrakten Prinzipien eines weltfremdenMannes, die abstrakten Prinzipien eines Menschen, der von derWirklichkeit wenig wußte, wie sich dann in Versailles, wo er inder Wirklichkeit eine hervorragende Rolle hätte spielen können,gezeigt hat. Ein wirklichkeitsfremder Mann wollte aus dem Intellek-tualismus heraus der Welt zeigen, wie sie sich organisieren sollte.Man muß nur erlebt haben, mit welcher Begeisterung die zivilisierteMenschheit an diesen Vierzehn Punkten hing, allerdings mit Aus-nahme eines großen Teiles der mitteleuropäischen Bevölkerung, fürdie es aber leider auch einen, wenn auch kurzen Zeitraum gab, indem sie auf diese Vierzehn Punkte hereinfiel.

Im Jahre 1917 versuchte ich demgegenüber, einzelnen Persönlich-keiten Mitteleuropas, die sich dafür interessierten, denen aber nichtnachgelaufen wurde, sondern die entweder herankamen oder her-angebracht wurden, zu zeigen, wie abstrakt, wie wirklichkeitsfremddasjenige ist, was da in die soziale Gestaltung der Welt herein will,wie sozusagen alles das, was an schlechten Erziehungsgrundsätzenin der modernen Zivilisation waltet, kondensiert in diesem Welt-schulmeister Woodrow Wilson sich darstellte, und wie die abstrak-ten Grundsätze dieser – im schlechten Sinne – Weltschulmeistereivon den Leuten mit Begeisterung aufgenommen wurden. Dazumalversuchte ich zu zeigen, daß eine Gesundung dieser Verhältnissenur eintreten könne, wenn man gegenüber allen solchen abstrakten

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Kernpunkte der Dreigliederung

Einstellungen sich auf den Boden stellt, der die Gedanken nichtausschließt, der aber gerade die Gedanken so hervorbringt, daß sieaus der Wirklichkeit, aus der Realität herauswachsen. Dann darfman sich aber nicht irgend etwas Utopistisches ausdenken – ichmöchte sagen, die Woodrow Wilsonschen Grundsätze waren derverdichtetste Utopismus, waren der Utopismus in der dritten Potenzschon -, sondern dann muß man sich klar sein, daß man aus denrealen Bedingungen der gegenwärtigen Menschheit selbst suchenmuß, wie Impulse zu finden sind. Daher verzichtete ich bei dem, wasich auseinanderzusetzen hatte, auf jede utopistische Theorie, ver-zichtete darauf, überhaupt zu sagen, wie sich etwa Kapital, wie sichArbeit und dergleichen gestalten sollten; ich gab höchstens einigeBeispiele dafür, wie man sich denken könne, daß sie sich aus dengegenwärtigen Verhältnissen heraus in eine nächste Zukunft hineingestalten könnten. Das aber war alles nur zur Illustration dessengesagt, was sie werden sollten; denn ebenso gut wie ich da über dieWandlung der Kapitalkräfte in meinen „Kernpunkten“ gesprochenhabe, ebenso gut könnte diese Wandlung auch in einer modifiziertenWeise sich vollziehen. Nicht darauf kam es mir an, ein abstraktesZukunftsbild hinzustellen, sondern zu sagen, aus welchen Unter-gründen heraus, auf reale Art, man nun – nicht zu einer theoretischausgedachten, sondern zu einer wirklichen Lösung der sogenanntensozialen Frage kommen könnte. Es handelte sich nicht darum, zusagen: Dies oder jenes ist die Lösung der sozialen Frage. Um einesolche Lösung zu versuchen, dazu habe ich nun wirklich zu vieleErfahrungen gemacht. Ich war schon in den 80er Jahren des vorigenJahrhunderts in dem gemütlichen Wien fast jeden Nachmittag nachzwei Uhr eine Stunde zusammen mit allen möglichen gescheitenLeuten. Da ist im Verlaufe einer Stunde die soziale Frage jeden Nach-mittag mehrmals gelöst worden! Und derjenige, der unbefangengenug in die Verhältnisse der Gegenwart hineinsieht, weiß schonganz gut, daß Lösungen, die heute oftmals in dicken Büchern auftre-

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ten, auch nicht viel mehr wert sind, als die, welche damals in Wienmit einigen Bleistiftstrichen und vielen fanatischen Worten übereiner weißen Tischplatte verhandelt worden sind. Darum konntees sich also nicht handeln, und das war das ärgste Mißverständnis,das mir entgegengebracht wurde, daß es sich um so etwas handelnsollte.

Was ich zeigen wollte, war: Die Lösung des sozialen Problems kannnur auf reale Weise selbst erfolgen; diese Lösung kann überhauptnicht durch Diskussionen, sondern nur durch Geschehen, durchTätigkeit erfolgen. Zu dieser Tätigkeit müssen aber erst die Bedin-gungen hingestellt werden, und auf diese Bedingungen versuchteich in meinen „Kernpunkten“ und in anderen Auseinandersetzungenzu verweisen. Ich versuchte zu zeigen, daß wir in unserem sozialenOrganismus einmal solche Einrichtungen brauchen, die es ermögli-chen, daß ein Geistesleben aus seinen eigenen Bedingungen heraussich entwickeln kann, wo also nur die Bedingungen des Geistes-lebens selbst wirken; daß wir sodann ein zweites Glied brauchen,wo nur die rechtlich-staatlichen Impulse wirken, und außerdem eindrittes Glied, wo nur diejenigen Impulse wirken, die aus der Waren-produktion und der Warenkonsumtion hervorgehen, und die zuletzt,wenn sie sich aus einem assoziativen Wirtschaftssystem entwickeln,gipfeln müssen in einer gesunden Preisbildung. Damit sollten nichtetwa die alten Stände wieder ins Dasein zurückgerufen werden.Nicht die Menschen sollten sich gliedern in einen Lehrstand, einenWehrstand und einen Nährstand; sondern der Mensch der neuerenZeit ist bis zur Individualität vorgeschritten, und er wird nicht inabstrakter Weise eingegliedert sein in einen bestimmten Stand. Aberwas draußen als Einrichtungen vorhanden ist, das tendiert einfachaus den Kräften, die im geschichtlichen Werden vorhanden sind,dazu, daß abgesondert aus den eigenen Bedingungen heraus ver-handelt wird, etwas getan wird für das Geistesleben, für das Rechts-oder Staatsleben und für das Wirtschaftsleben. Dann erst, wenn die

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Kernpunkte der Dreigliederung

Bedingungen dazu geschaffen sind, daß zum Beispiel der Wirtschaf-ter rein aus wirtschaftlichen Impulsen heraus das gestalten kann,was etwa die gegenwärtigen Marktverhältnisse modifizieren soll,oder was die gegenwärtigen Kapitalverhältnisse modifizieren soll,erst wenn solche Möglichkeiten geschaffen sind, entwickelt sichunter den Menschen dasjenige, was eine reale Lösung – die aber infortwährendem Werden ist – der sozialen Frage genannt werdenkann.

Also es geht mir nicht darum, die soziale Frage zu lösen, weil ichder Meinung sein mußte, daß überhaupt diese Lösung nie in einemeinzelnen Moment als etwas Abgeschlossenes gegeben werden kann,weil das soziale Problem, nachdem es einmal heraufgekommen ist,in fortwährendem Fluß ist. Der soziale Organismus ist etwas, wasjung wird, altert, und dem immer neue Impulse eingeflößt werdenmüssen, von dem aber nie gesagt werden kann: so und so ist seineGestalt. Wenn der soziale Organismus nicht so ist, daß die Menschenin einem, alle Interessen zusammenmischenden Parlament zusam-mensitzen, wo dann wirtschaftlich Interessierte über Fragen desGeisteslebens, staatliche Interessen über wirtschaftliche Fragen undso weiter entscheiden, sondern wenn in einem gesunden sozialenOrganismus die einzelnen Gebiete aus ihren eigenen Bedingungenheraus betrachtet werden, dann wird einmal das Staatsleben auf einereale demokratische Grundlage gestellt werden können; dann wirddas, was zu sagen ist, nicht von einem Menschen in einem solcheneinzigen Parlament gesagt werden, sondern es wird hervorgehenaus den fortdauernden kontinuierlichen Verhandlungen unter deneinzelnen Gliedern des sozialen Organismus.

In diesem Sinne war also mein Buch eine Mahnung dazu, endlichaufzuhören mit dem unfruchtbaren Reden über die soziale Frageund sich auf einen Boden zu stellen, von dem aus man jeden Tagdie Lösung der sozialen Probleme in die Hand nehmen kann. Es war

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ein Ruf, der an die Verstehenden ging, um wirklich das, was immernur im Abstrakten gedacht war, überzuführen in das durchdachteHandeln. Dazu sollten zum Beispiel im wirtschaftlichen Leben dieAssoziationen dienen. Solche Assoziationen sind grundverschiedenvon dem, was in der neueren Zeit an Vergesellschaftungen zustandegekommen ist, und können jeden Tag aus den wirtschaftlichen Un-tergründen gebildet werden. Bei ihnen handelt es sich darum, daßnun wirklich diejenigen Menschen, die im Behandeln von Waren-produktion, von Warenzirkulation und im Konsumieren von Warenverbunden sind – was jeder Mensch ist -, sich zu Assoziationen zu-sammenschließen, so daß daraus vor allem die gesunde Preisbildunghervorgeht. Es ist ein langer Weg von dem, was aus Sach- und Fach-kenntnis heraus die in den Assoziationen verbundenen Menschenwerden zu leisten haben, bis zu dem, was nicht durch eine Gesetzge-bung, auch nicht als Resultat von Diskussionen, sondern als Resultatder Erfahrung sich ergibt als die gesunde Preisbildung. Doch vorallem hatten Menschen das Bedürfnis, die Grundzüge dessen, was da-mals gewollt wurde und was ich jetzt in diesen einleitenden Wortenvor Sie hinzustellen versuchte, zu diskutieren; denn die Welt war soeingeschult in abstraktes Denken, daß man auch diese Anregung nurvom Gesichtspunkte des abstrakten Denkens nahm, und daß mansich mit dem, was ich nur als Illustration gegeben habe, vor allemso hilft, daß man stundenlang diskutiert, während es sich darumhandeln sollte, wirklich einzusehen, wie jeden Tag die Gliederungdes sozialen Organismus in Angriff genommen werden kann in derWeise, wie es in den „Kernpunkten“ angedeutet ist.

So handelt es sich heute nicht darum, theoretische Lösungen dersozialen Frage zu suchen, sondern die Bedingungen aufzusuchen,unter denen dieMenschen sozial lebenwerden. Und siewerden sozialleben, wenn der soziale Organismus nach seinen drei Gliedern hinarbeitet, wie ja der natürliche Organismus auch unter dem Einflußseiner relativen Dreigliederung gerade zur Einheit hin arbeitet.

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Kernpunkte der Dreigliederung

Sehen Sie, man muß heute erst einmal sagen, wie solche Dingegemeint sind. Und wenn man sie ausspricht, wird immer noch gefor-dert, daß nun dieWorte, deren man sich schon einmal bedienen muß,so genommen werden sollen, wie man sie nimmt nach der intellek-tualistischen Bedeutung, die man ihnen heute beilegt. Man übersetztsofort in seinen Intellektualismus das, was ganz ausdrücklich nichtin Intellektualismus eingetaucht ist. Daher ist über Kapital, über dieNaturgrundlagen der Produktion, über die Arbeit in meinem Bucheso gesprochen, daß die Ideen einfach für das Leben gedacht sind.Wenn wir abstrakt verhandeln, können wir lange definieren, und dasist ja auch geschehen. Der eine sagt mit demselben Recht: Kapital istkristallisierte Arbeit, ist Arbeit, die aufgespeichert ist -, wie der ande-re mit demselben Recht sagt: Kapital ist ersparte Arbeit. Und so kannman es mit allen volkswirtschaftlichen Begriffen machen, wenn maninnerhalb des Intellektualismus stehen bleibt. Aber das alles sindnicht Dinge, mit denen man es nur theoretisch zu tun haben kann,sondern die man lebendig in ihrer Gestaltung erfassen muß. Undwer sich wie die Praktiker, die viel auf ihre Praxis und Routine sichzugute tun, der Abstraktheit in diesen Dingen befleißigt, der kannfolgendes machen, was ich durch einen Vergleich verdeutlichen will.

Ich sehe den Ernst Müller. Er ist klein, hat durchaus kindliche Zü-ge und kindliche Eigenschaften. Ich sehe diesen Ernst Müller nachzwanzig Jahren wieder und sage: Das ist nicht der Ernst Müller,denn der ist klein, hat kindliche Eigenschaften und eine ganz anderePhysiognomie. – Ja, wenn ich mir damals meinen Begriff von demErnst Müller gebildet habe und ihn nun nach zwanzig Jahren zurDeckung bringen will mit dem, was mir jetzt als reale Wesenheitentgegentritt, so mache ich einen furchtbaren Fehler. Doch so weniges die Menschen glauben mögen: es ist so, wenn sie heute wirtschaft-lich denken. Sie machen sich Gedanken und Begriffe über Kapitalund Arbeit und so weiter, und sie meinen, diese Begriffe müßtenimmer Geltung haben. Aber da braucht man nicht zwanzig Jahre

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zu warten, braucht man nur von einem Arbeitgeber zum andernzu gehen, aus einem Lande ins andere und entdeckt dann, daß derBegriff, den man sich an der einen Stelle gebildet hat, eben an deranderen Stelle gar nicht mehr gilt, wenn er sich nicht von selbstumgewandelt hat – wie der Ernst Müller. Man erkennt nicht, wasda ist, wenn man nicht bewegliche Begriffe hat, die voll im Lebendrinnen stehen.

Das ist das, was möglich machte, daß gerade auf anthroposophi-schem Boden in unserer heutigen Zeit der Not auch wirtschaftlicheEinrichtungen ihren Ausdruck finden, weil Anthroposophie es ihrerNatur nach gegenüber dem beweglichen Geiste mit beweglichenIdeen zu tun haben muß, weil man an ihr lernen kann, wie manseine Ideen mit Wachstumskraft, mit innerer Beweglichkeit ausstat-ten muß und dann mit solchen Ideen – so wenig es die heutigenPraktiker glauben mögen – auch in die andersgeartete Wirklichkeiteintauchen kann, die sich abspielt als soziales Leben von Mensch zuMensch, von Volk zu Volk durch die ganze, nunmehr notwendig ge-wordene und so künstlich beeinträchtigte Weltwirtschaft hindurch.Und so darf wohl gesagt werden: Nicht eine Äußerlichkeit ist es, daßgerade auf anthroposophischem Boden auch der Versuch gemachtwurde, zu – nicht sozialen Ideen, sondern zu sozialen Impulsen zukommen. Ich erinnere mich noch an die Zeit, in der über diese Dingeviel diskutiert worden ist. Ich habe immer sagen müssen: Ich mei-ne soziale Impulse! – Das hat die Leute furchtbar geärgert. Dennselbstverständlich hätte ich sagen sollen: soziale Ideen oder sozialeGedanken; denn die Leute hatten für solche Dinge nur Gedankenim Kopfe. Daß ich von Impulsen sprach, ärgerte sie furchtbar; dennsie merkten nicht, daß ich „Impulse“ brauchte aus dem Grunde, weilich Realitäten meinte und nicht abstrakte Ideen. Ausdrücken mußman sich selbstverständlich in abstrakten Ideen.

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Kernpunkte der Dreigliederung

So muß heute wieder begriffen werden, daß ein neues Verständnisgesucht werden muß für das, was man das soziale Problem nennt.Wir leben heute unter anderen Verhältnissen als im Jahre 1919. DieZeit ist insbesondere auf dem Wirtschaftsgebiete außerordentlichschnellebig. Notwendig ist es, daß selbst solche Ideen, die schon fürdie damalige Zeit beweglich gehalten worden sind, weiter in Flußgehalten werden, und daß man bei seinen Beobachtungen auf demStandpunkte des Geistesgegenwärtigen steht. Wer die Verhältnissedes Wirtschaftslebens real ins Auge zu fassen vermag, der weiß, daßsie sich seit der Abfassung der „Kernpunkte“ wesentlich geänderthaben, und daß man nicht wieder bloß so deduzieren kann wie da-mals. Aber man wird dort [in den „Kernpunkten“] wenigstens einenVersuch finden, diese Methode des sozialen Denkens in einer realisti-schenWeise zu suchen, gerade vielleicht deshalb, weil dieser Versuchentsprossen ist einem Boden, wo Realitäten immer gesucht wurden,wo man nicht in Schwärmerei oder in falsche Mystik hineinfallenwill – weil dieser Versuch erwachsen ist auf dem nach Exaktheitringenden Boden der anthroposophischen Weltanschauung.

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Reihenfolge oder Gleichzeitigkeit

Reihenfolge oder Gleichzeitigkeit

Während der Dreigliederungsbewegung betont Rudolf Steiner immerwieder, daß darauf geachtet werden muß, daß sich nicht nur Wirt-schaftsräte, sondern im Gegenzug auch Kulturräte bilden. Eine Ver-selbständigung des Wirtschaftslebens allein hält er nämlich nicht füreinen ersten Schritt in Richtung soziale Dreigliederung.

Zweigliederung ist das Gegenteil der Dreigliederung

Quelle [28]: GA 337a, S. 049, 1/1999, 25.05.1919, Stuttgart

Als eine besondere Verwirklichung desjenigen, was mit der Drei-gliederung gemeint ist, würde das noch nicht gelten können, wennmeinetwillen alle Metallarbeiter Württembergs in der Weise behan-delt würden, wie Sie gesagt haben, obwohl es sich formal durchausdurchführen ließe. Aber ich muß, wenn ich von der Dreigliederungspreche, ausdrücklich betonen, daß ich eine einseitige Abgliede-rung des Wirtschaftslebens vom Staatsleben unter Verbleiben desgeistigen Lebens beim Staatsleben für das Gegenteil des Erstrebtenansehe, weil ich eine Zweigliederung für ebenso schädlich wie ei-ne Dreigliederung für notwendig halte. Wenn durch solche Dingeein einzelner Wirtschaftszweig abgegliedert würde, würde ich dasdurchaus nicht als im Sinne der Dreigliederung ansehen. Es könntesich allerdings formell in einem sozialen Organismus, der nach derDreigliederung hinarbeitet, so etwas auch vollziehen.

Zweigliederung noch schlimmer als Einheitsstaat

Quelle [31]: GA 339, S. 115, 3/1984, 16.10.1921, Dornach

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Kernpunkte der Dreigliederung

Man sieht ja auch heute, wie wenig die Leute Empfindung habenfür ein freies Geistesleben, daran, daß da oder dort Forderungenauftreten für ein vom Staate emanzipiertes Wirtschaftsleben. Mandenke sich einmal im Konkreten aus, was nun das für ein sozialesGebilde wäre, bei dem auf der einen Seite der Rechtsstaat ist, deraber die ganze Schulverfassung in sich hat, aus dem also eigentlichalles das hervorgehen soll, was an Weisheiten dann in den Wirt-schaftszusammenhängen entwickelt wird, und auf der anderen Seiteein emanzipiertes Wirtschaftsleben! Wer im wahren Sinne für dieDreigliederung des sozialen Organismus ist, dem sollte es nur nieeinfallen, etwa zu sagen: Da ist ja schon ein Stück von der Drei-gliederung des sozialen Organismus, nämlich die Zweigliederung. –Viel besser ist der chaotische Einheitsstaat als eine irgendwie gearte-te Zweigliederung. Denn das ist das Wesen der Dreigliederung, daßsie eben eine Dreigliederung ist und nicht eine Zweigliederung.

Anmerkung: Nach dem Scheitern der Rätebewegung gibt Rudolf Steinerdas Ziel einer Umwandlung des Wirtschaftslebens nicht sofort auf. Ersetzt nun auf Musterinstitutionen, die aber natürlich den Nachteil ha-ben, zu klein zu sein, um den wirtschaftlichen Niedergang aufhalten zukönnen. Siehe dazu die Stelle „Propaganda durch Initiativen statt durchgroße Zahl“ auf Seite 242. Geholfen hätten diese Musterinstitutionennur, wenn sie schnell genug Anhänger gebracht hätten. Sie wurdenstattdessen kurz danach durch die Weltwirtschaftskrise hinweggefegt.

Nach dem Scheitern der Dreigliederungsbewegung gibt Rudolf Steinerdas Ziel einer Verselbständigung des Geisteslebens nicht auf. Offenbarsieht er darin ein geeigneter erster Schritt in Richtung soziale Drei-gliederung.

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Reihenfolge oder Gleichzeitigkeit

Priorität nach Ende der Dreigliederungsbewegung beiBefreiung des Geisteslebens

Quelle [34]: GA 342, S. 202-206, 1/1993, 16.06.1921, Stuttgart

Alles dasjenige, was heute in solchen Dingen von Anthroposophiekommt, steht durchaus auf dem Boden der Wirklichkeit und ist im-mer darauf aus, den Boden der Wirklichkeit nicht zu verlassen. DieDreigliederungsbewegung hat im Frühling 1919 begonnen, in derZeit, als besonders über Mitteleuropa eine erwartungsvolle Stim-mung bei großen Teilen der Bevölkerung ausgegossen war. Dieseerwartungsvolle Stimmung war allerdings in verschiedener Wei-se ausgegossen, aber es war eine solche Stimmung da, ich möchtees einfach so ausdrücken, daß eine größere Anzahl von Menschenglaubte, wir sind in das Chaos hineingeworfen und wir müssendurch vernünftige Harmonisierung der sozialen Kräfte weiterkom-men. Diese Stimmung war vielfach verbreitet, als ich im April 1919mit der Tätigkeit für die Dreigliederung begann.

Nun, ich habe dazumal, aus der Form heraus, die ich meinen Vorträ-gen über die Dreigliederung gegeben habe, sehr häufig geschlossendamit, daß dasjenige, was da gemeint ist, sehr bald in Wirklich-keit umgesetzt werden soll, denn es könnte sehr bald zu spät sein,und diese Formel „Es könnte sehr bald zu spät sein“ können Siein den damals nachgeschriebenen Vorträgen sehr häufig finden. Eswar dazumal die Zeit, wo man in der Form, wie ich es formulierthabe, hätte etwas ausrichten können, wenn die Gegner nicht zustark angewachsen wären, eine zu starke Macht geworden wären.Nun liegt ja die Sache so: Es ist seit jener Zeit in Mitteleuropa einefurchtbare reaktionäre Welle heraufgezogen, viel stärker als mandenkt, und man muß das durchaus ernst nehmen. Damit ist dieDreigliederung nicht als Prinzip getroffen – das ist dauernd -, aberso wie man dazumal sie verwirklichen wollte, so kann sie nicht

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Kernpunkte der Dreigliederung

mehr verwirklicht werden. Was aus dem Realen der Zeit gedacht ist,ist für die Zeit gedacht, und man würde zum Abstrakten kommen,wenn man so etwas nicht einsehen wollte. Wir stehen heute aufdem Punkt, wo gesagt werden muß, es müssen neue Formen gesuchtwerden, um aus dem Chaos herauszukommen. Man hat nicht mehrin denselben Formulierungen vor die Welt hinzutreten, wenn mandie Dreigliederung selbst vertritt. Insbesondere haben wir heutenotwendig als unbedingt Wichtiges, was wiederum zu irgendeinemLicht führen kann, wir haben heute nötig – so unbehaglich es seinmag – ein Hineinleuchten in die ganze Welt der Unwahrhaftigkeit,welche unser geistiges Leben durchzieht. Wir müssen einmal hinein-leuchten in diese Unwahrhaftigkeit des geistigen Lebens. Das ist daseine, das Negative. Und das Positive ist: Wir müssen nun, so schnellals das geht, zur Verwirklichung des einen Teiles der Dreigliederungkommen, zur Befreiung des geistigen Gebietes. Wir müssen wenigerabstrakte Dreigliederung treiben, denn Sie können heute nicht in derForm, wie wir 1919 begonnen haben, wiederum die Dreigliederungin die Wege leiten – heute ist das Gegnertum zu stark. Nur in derErkenntnis dessen, was Zeitmacht ist, liegt dasjenige, was uns nochschützen kann vor der Null, spenglerisch gesprochen, nämlich vordem Heraufkommen des Unterganges. Sie müssen trachten, daß dasKonstituieren des freien Geisteslebens gefordert ist.

Die Wirtschaftswissenschaftler sind in einer solchen Weise ver-sumpft und verdorben in ihren Anschauungen, daß gar keine Rededavon sein kann, die Dreigliederung zu verstehen; dazu sind dieniemals zu bewegen. Wie wenig die Dreigliederung verstanden wor-den ist auf diesem Gebiet, das tritt einem schrecklich entgegen. Ichwill Ihnen ein Beispiel sagen: Hier an diesem Ort, als eine Drei-gliederungssitzung im Anfang gehalten wurde, da stand ein sehrbekannter Vorsitzender einer bekannten Partei vor mir – wir hattenein großes Komitee zusammengebracht und er war damals darun-ter -, der sagte zu mir: „Die Sache mit der Dreigliederung, es wäre

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Reihenfolge oder Gleichzeitigkeit

recht schön, wenn man es haben könnte, aber vorläufig verstehtes ja kein Mensch, und verstehen tut man es nur, wenn Sie zu denLeuten reden“ – ich sage das nicht aus Unbescheidenheit, sondernnur, um etwas an diesem Beispiel zu zeigen -, „und auf zwei Au-gen darf das nicht gebaut werden. Wir wissen ja, daß in 15 bis 20Jahren die letzten Reste von dem, was wir da haben, doch in denNiedergang kommen. Heute könnten wir das noch aufhalten, wennwir die Dreigliederung durchführen würden. Die kennt aber weiterniemand, und so wenden wir diese 15 bis 20 Jahre noch lieber diealten Gedanken an, als Ihre Dreigliederung.“ -

Dies ist ein Beispiel für das Verständnis, das die Politik der Sacheentgegengebracht hat. Es ist nur zu hoffen, daß man zunächst nochdie letzten Reste der geistigen Impulse sammeln kann, um dieseBefreiung des Geisteslebens auf religiösem Gebiet, auf dem Gebietder Kunst und auf dem wissenschaftlichen Gebiet zu versuchen. Dassind ja die drei Unterformen; jedes der drei Glieder hat ja wiederdrei Untergebiete. Das geistige Gebiet hat als Untergebiete Religion,Wissenschaft und Kunst. Wenn es gelingt, auf diesen Gebieten dieBefreiung des Geisteslebens zu erreichen, dann werden sich von sel-ber, vielleicht eher als wir glauben, aus dem Vorbild des freien undbefreiten Geisteslebens die Leute finden, die auch ein Verständnishaben für die Gleichheit im Staatsleben und für die Brüderlichkeitim Wirtschaftsleben. Das nächste ist also, mit aller Kraft hinzuar-beiten auf die Verselbständigung des einen Gliedes. Vorläufig ist fürSie das eine wichtig: für die Befreiung des religiösen Gebietes zuarbeiten; das ist dasjenige, was Sie ja tun müssen. Man darf das WortDreigliederung nicht gebrauchen in der abstrakten, sondern muß esgebrauchen in der konkreten Form, indem man den größten Wertlegt auf die Verselbständigung des einen Gebietes, das namentlichdurch die Verlogenheit unter die Räder gebracht worden ist. Es wäreeine Illusion, wenn man nicht sehen würde, wie rasend wir in denNiedergang hineingehen. Wenn Sie auf die Tatsachen hinblicken,

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Kernpunkte der Dreigliederung

können Sie sich eigentlich nicht vorstellen, daß sehr lange so wei-ter gewirtschaftet werden kann. Die Zinsen für die Schulden desDeutschen Reiches sind 85 Milliarden im letzten Jahre 1920/21 –die Zinsen, nicht die Schulden. Es wird darauf hingewiesen, daßdie Steuerleistung der Bewohner Mitteleuropas auf das Dreifacheangehoben werden muß. Wie will man da zurechtkommen? Heutegibt es Leute, die zahlen 60 % Steuern von dem, was ihr Einkommenist; die werden dann, wenn sie das Dreifache zahlen müssen, 180% zu zahlen haben, und ich bitte Sie zu überlegen, wie man 180 %Steuern bezahlen soll und wie die Wirklichkeitslogik aussieht beiden Leuten, die über öffentliche Angelegenheiten reden. Wir sindamHineinrutschen in das furchtbarste Chaos. Heute ist es dazu nochso, daß man sagen muß, die Dinge werden noch immer verfälschtdargestellt.

Ich habe vor einiger Zeit in einem Kreise von Industriellen einenVortrag gehalten und habe hingewiesen auf die wahre Tatsache,daß die Städte vor dem Verkrachen stehen mit ihren Haushalten;sie haben sich noch gehalten, weil von Seiten der Sparkassen eineKorrektur gekommen ist, aber mit einer solchen Korrektur kannmannur so weit kommen, bis die Kassen leer sind. Man kann einen Rocknoch behalten, wenn man nicht die nötigen Mittel hat, einen neuenzu kaufen; dann trägt man eben die alten Kleider weiter – so wieman eben heute die alten Wirtschaftspraktiken weiterträgt -, einmalwerden sie eben vom Leibe fallen. Das ist nur eine Täuschung, wennsich die Leute behaglich fühlen und von Aufstieg reden. Wir sinddurchaus in einem Niedergang.

Wenn es möglich ist, das Geistesleben zu retten, dann ist auch dieZivilisation gerettet. Aber es ist notwendig, heute sich wiederum desWandels der Zeit bewußt zu sein. Mißverstehen Sie mich nicht, ichrede nicht davon, daß die Dreigliederung abgesetzt werdenmuß, aberso wie man es dazumal betrieben hat, wie es möglich gewesen wäre

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Reihenfolge oder Gleichzeitigkeit

durch ein Konstituieren der drei nebeneinander bestehenden Glieder,so ist es heute nicht mehr möglich. Heute muß man retten, was nochzu retten ist, und das ist dasjenige, was in den Menschenseelenvorhanden ist. Zur Befreiung des Geisteslebens zu kommen, das istdasjenige, was man heute natürlich versuchen muß.

Deutsches Geistesleben anders als Politik und Wirtschaftnoch zu retten

Quelle [19]: GA 300b, S. 254-255, 4/1975, 31.01.1923, Stuttgart

X.: Sollen wir eine Spende für die Ruhrbevölkerung aufbringen odernicht? Es wäre für uns wesentlich, wenn Sie uns Winke geben könntenüber die allgemeine Lage.

Dr. Steiner: Die allgemeine Lage jetzt zu besprechen, ist nicht soleicht, weil die Sache gilt, die ich einmal mit immer wieder hervor-tretender Deutlichkeit gesagt habe, während ich hier die Vorträgeüber Dreigliederung hielt: Man muß etwas tun, bevor es zu spät ist.Es ist heute zu spät, irgendwie auf dem Felde desjenigen, was manbisher in Europa Politik genannt hat, etwas zu erreichen. Die einzigeAnregung, die ich gegeben habe, war die Verwandlung des altenDreigliederungsbundes in den „Bund für freies Geistesleben“. DieseAnregung ging aus von der Erkenntnis, daß man in der Zukunft fürEuropa und für die gegenwärtige westliche Zivilisation nur nochetwas tun kann durch die Förderung des Geisteslebens als solches.Von da aus muß alles übrige ausgehen. Sowohl die Dinge, die unterdem gegenwärtigen Regime wirtschaftlich gemacht werden, wiealle politischen Impulse, sind heute machtlos. Es ist nur möglich,das Geistesleben zu fördern und zu hoffen, daß etwas geschehenkann. Es handelt sich darum, alles das, was uns in dieser Richtungobliegt, zusammenzufassen unter dem einen. Ich habe früher einenAusspruch von Nietzsche aus den Briefen von 1871 zitiert, das ist

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Kernpunkte der Dreigliederung

der, daß dazumal eingeleitet worden ist die Exstirpation des deut-schen Geistes zugunsten des deutschen Reiches. Heute gilt es, dasGegenteil zu erreichen: Die Herstellung des deutschen Geistes trotzdes Zerfalles aller politischen Institutionen; so kommt man auchvorwärts. Man muß sich stramm auf diesen Boden stellen. Allesübrige muß von Fall zu Fall entschieden werden.

Die Frage der Ruhrbesetzung ist unter dem Gesichtspunkt zu be-handeln, daß ein Ertrinkender alles macht. Aus dem Ertrinken undToben heraus werden die Dinge einer hysterischen Politik gemacht.Das Tragische ist, daß so ungeheuer gelitten wird unter dem Zuckeneines Riesentodes. Deshalb bin ich dafür, zur Ruhrspende beizutra-gen, wo es möglich ist. Es ist eine humanitäre Sache. Man kannabsehen von aller nationalistischen Farbe. Man kann die Sache auf-fassen als eine rein menschliche Sache. Ich bin für alle diese Dinge,insoferne sie rein menschliche Angelegenheiten sind.

Wir stehen heute vor einem Abgrund in der europäischen Kultur,und wir müssen uns anschicken, diesen Abgrund zu überspringen.Ich habe längst aufgehört, nach dieser Richtung Artikel zu schreiben.Ich habe den letzten geschrieben, als die Genueser Konferenz war,um noch einmal auf das Ganze aufmerksam zu machen. Wenn ich inDornach Arbeitervorträge halte, so machen die Arbeiter gar nichtmehr den Anspruch, etwas Politisches zu hören. Sie lassen sichnaturwissenschaftliche Vorträge halten, weil sie begreifen, daß dasganze politische Reden heute gegenstandslos geworden ist.

Wenn Sie meinen, daß Sie eine Sammlung anlegen können, sie wirdwahrscheinlich nicht reichlich ausfallen, sie kann gering sein.

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Reihenfolge oder Gleichzeitigkeit

Geistige Arbeit trotz wirtschaftlichem Scheitern weitermöglich

Quelle [17]: GA 260a, S. 534-536, 2/1987, 15.07.1924, Stuttgart

Es ist von mir jetzt schon an verschiedenen Orten betont worden,wie das in allerenergischster Weise Sich-Stellen auf rein anthropo-sophischen Boden seit der Weihnachtstagung überall gezeigt hat,daß das Vertrauen zur eigentlichen anthroposophischen Sache inden letzten Monaten nicht geringer, sondern wesentlich größer ge-worden ist. So daß wir innerhalb des Anthroposophischen überallmit tiefster Befriedigung auf dasjenige hinsehen können, was nachdieser Richtung hin unter uns lebt.

Ich muß sagen, ich bin heute mit außerordentlich betrübtem, schwerbesorgtem Herzen daran gegangen, den Vorschlag zu machen, denich einmal nach der Kenntnisnahme von der Lage des „Kommen-den Tages“ Ihnen, meine lieben Freunde, unterbreiten mußte. Undich hätte es durchaus verstehen können, wenn dieser Vorschlagim weitgehendsten Sinne eine Ablehnung erfahren hätte. Ich mußschon sagen, es ist tief rührend und zu Herzen gehend, daß diesnicht stattgefunden hat, sondern daß wir hinschauen können darauf,daß schon jetzt in der ersten Stunde sich die Freunde bereit erklärthaben, 20 700 Stück Aktien auf diesem Schenkungswege an denGoetheanum-Fonds gelangen zu lassen. Ich kann Ihnen gar nichtsagen, wie sehr ich dankbar bin über dieses sehr schöne Resultat,daß wir hinblicken können auf dieses Ergebnis, daß die angezeigteZahl von 20 700 Stück Aktien zur Verfügung gestellt worden ist, sodaß wir nach dieser Richtung hin in der allernächsten Zeit zur vollenSanierung der geistigen Betriebe, soweit das möglich ist, kommenwerden, und damit auch mittelbar zur Sanierung des „KommendenTages“ werden beitragen können.

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Kernpunkte der Dreigliederung

Das ist ein im Grunde genommen außerordentlich erschütterndesResultat und wir dürfen auf den Verlauf dieser Versammlung nurmit im Grunde tiefster Rührung zurückblicken. Ich danke allen den-jenigen, die haben schenken können und es getan haben, wirklichaus tief bewegtem Herzen heraus für dasjenige, was von Ihnen aus-geht, was nicht allein für den „Kommenden Tag“, sondern geradefür unsere anthroposophische Bewegung eine außerordentlich be-deutsame Tat bedeutet. Denn, wenn diese Opferwilligkeit sich nuneinmal trotz der Mißerfolge der letzten Jahre innerhalb der Anthro-posophenkreise in einer solchen Art zeigt, so werden wir dennochauf unserem Hauptwege in der nächsten Zeit das leisten können,was geleistet werden muß. Und geleistet werden muß dasjenige, wasdurch Anthroposophie in geistiger Beziehung für die Menschheitund für die moderne Zivilisation getan werden kann. Wenn wirmit unseren materiellen Unternehmungen nicht den gewünschtenErfolg hatten, wenn sozusagen alles das, was aus der Dreigliede-rungsbewegung hervorgegangen ist, im Grunde genommen heuteins Wasser gefallen ist, so haben wir doch – und dieses allein durchdas unbegrenzte Vertrauen, das unsere Anthroposophen zur An-throposophie haben – die Möglichkeit, auf dem eigentlich geistigenFelde weiterzuschreiten.

Das allerdings legt die Verpflichtung auch mir auf, in der Art, wieich versuchte die Weihnachtstagung bisher fruchtbar zu machen,in dem immer Esoterischer- und Esoterischermachen der anthropo-sophischen Sache, in tatkräftiger Weise fortzufahren. Gerade ausdemjenigen, was die Freunde heute getan haben, fühle ich, wie starkdie Verpflichtung ist, in dieser Richtung in allerenergischster Weisefortzufahren. Wenn wir in dieser Art zusammenhalten, daß jederdas tue, was er tun kann, werden wir auf dem entsprechenden Wegeweiterkommen.

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Reihenfolge oder Gleichzeitigkeit

Sehen Sie, meine lieben Freunde, es liegt auch das noch vor: DieDreigliederungsbewegung ist vor Jahren hier begründet worden. Ein-zelne Unternehmungen sind aus ihr hervorgegangen. Derjenige Teilder Dreigliederungsbewegung, der rein praktisch hätte durchgeführtwerden sollen, zu dem praktisches Zusammenwirken notwendig ge-wesen wäre, hat sich zunächst nicht bewährt. Dagegen zeigt sichweit über die Grenzen von Europa hinaus, namentlich auch in Ame-rika, ein reges Interesse für diese Impulse. Lassen Sie mich diesesWort, über das so viel geschimpft worden ist, gebrauchen: es sindeben Realitäten in der Dreigliederung. Es zeigt sich, daß diese Im-pulse immer mehr und mehr doch mit einem gewissen Verständnisergriffen werden. Und vielleicht wird gerade für diese Impulse dasgut sein, wenn man nicht in voreiliger Weise sie in eine ungeschicktePraxis überzuführen versucht, sondern wenn man dasjenige befolgt,was ich am Anfange unserer Begründung unserer Zeitschrift „An-throposophie“ ja oft gesagt habe: Dreigliederung kann erst dannwirken, wenn sie in möglichst viele Köpfe hineingegangen ist. Wirhaben den Mißerfolg gesehen in der Anwendung der Dreigliederungauf die äußere Lebenspraxis der Menschen, aber sie wird als etwas,was immerhin auf anthroposophischem Boden doch steht, ihrenWeg in der Welt machen. Alle Anzeichen zeigen, daß unsere Kraftauf dem anthroposophisch-geistigen Felde da angewendet werdenmuß. Und in diesem Sinne möchte ich Ihnen sagen, daß ich es alseine Verpflichtung der Dankbarkeit empfinde, alles das aufzuwen-den, was geeignet ist, den esoterisch-geistigen Charakter unsereranthroposophischen Bewegung immer weiter und weiterzubringen.Wenn das gelingt, und es muß gelingen, weil das Geistige nicht inder gleichen Weise Hemmnisse findet wie das äußere Materielle,dann werden die Freunde, die diese Opferwilligkeit gezeigt haben, inerneuerterWeise sich mit unserem Leben in der anthroposophischenBewegung weit inniger noch verbunden fühlen.

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Literaturlisten

Zuerst aufgeführt werden die verwendeten Bände aus der „Rudolf Stei-ner Gesamtausgabe“ (gekürzt GA). Anschliessend werden die sonstigenQuellen aufgelistet.

Rudolf Steiner Gesamtausgabe

[1] Rudolf Steiner. GA 23 - Die Kernpunkte der sozialen Frage inden Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft. 6. Aufl.Dornach: Rudolf Steiner Verlag, 1976 (siehe S. 116, 121, 124,125, 127, 150, 157–159, 163, 165, 215, 257, 273, 274).

[2] Rudolf Steiner. GA 24 - Aufsätze über die Dreigliederung dessozialen Organismus und zur Zeitlage 1915 bis 1921. 2. Aufl.Dornach: Rudolf Steiner Verlag, 1982 (siehe S. 123, 129, 130,133, 145, 146, 148, 154, 156, 157, 163, 165).

[3] Rudolf Steiner. GA 79 - Die Wirklichkeit der höheren Welten.2. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag, 1988 (siehe S. 47, 296).

[4] Rudolf Steiner. GA 81 - Erneuerungs-Impulse für Kultur undWissenschaft. Berliner Hochschulkurs. 1. Aufl. Dornach: RudolfSteiner Verlag, 1994 (siehe S. 311).

[5] Rudolf Steiner. GA 83 - Westliche und östliche Weltgegensätz-lichkeit - Wege zu ihrer Verständigung durch Anthroposophie.3. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag, 1981 (siehe S. 39, 170,303).

[6] Rudolf Steiner.GA 174 - Zeitgeschichtliche Betrachtungen, Zwei-ter Teil. 1. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag, 1966 (sieheS. 197).

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[7] Rudolf Steiner. GA 185a - Entwicklungsgeschichtliche Unterla-gen zur Bildung eines sozialen Urteils. 3. Aufl. Dornach: RudolfSteiner Verlag, 2004 (siehe S. 203, 239).

[8] Rudolf Steiner. GA 186 - Die soziale Grundforderung unsererZeit - In geänderter Zeitlage. 3. Aufl. Dornach: Rudolf SteinerVerlag, 1990 (siehe S. 194, 200, 208, 209, 247, 271).

[9] Rudolf Steiner. GA 190 - Vergangenheits- und Zukunftsimpulseim sozialen Geschehen. 3. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag,1980 (siehe S. 180, 260).

[10] Rudolf Steiner. GA 192 - Geisteswissenschaftliche Behandlungsozialer und pädagogischer Fragen. 2. Aufl. Dornach: RudolfSteiner Verlag, 1991 (siehe S. 95, 252, 258).

[11] Rudolf Steiner. GA 193 - Der innere Aspekt des sozialen Rätsels.Luziferische Vergangenheit und ahrimanische Zukunft. 4. Aufl.Dornach: Rudolf Steiner Verlag, 1989 (siehe S. 68, 89).

[12] Rudolf Steiner. GA 196 - Geistige und soziale Wandlungen inder Menschheitsentwickelung. 1. Aufl. Dornach: Rudolf SteinerVerlag, 1966 (siehe S. 117).

[13] Rudolf Steiner. GA 199 - Geisteswissenschaft als Erkenntnis derGrundimpulse sozialer Gestaltung. 2. Aufl. Dornach: RudolfSteiner Verlag, 1985 (siehe S. 62).

[14] Rudolf Steiner. GA 203 - Die Verantwortung des Menschen fürdie Weltentwickelung durch seinen geistigen Zusammenhangmit dem Erdplaneten und der Sternenwelt. 2. Aufl. Dornach:Rudolf Steiner Verlag, 1989 (siehe S. 53).

[15] Rudolf Steiner. GA 240 - Esoterische Betrachtungen karmischerZusammenhänge, Band Vl. 6. Aufl. Dornach: Rudolf SteinerVerlag, 1992 (siehe S. 255).

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Literaturlisten

[16] Rudolf Steiner. GA 259 - Das Schicksaljahr 1923 in der Geschich-te der Anthroposophischen Gesellschaft. Vom Goetheanumbrandzur Weihnachtstagung. 1. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag,1991 (siehe S. 284).

[17] Rudolf Steiner. GA 260a - Die Konstitution der AllgemeinenAnthroposophischen Gesellschaft und der Freien Hochschulefür Geisteswissenschaft. Der Wiederaufbau des Goetheanum.2. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag, 1987 (siehe S. 327).

[18] Rudolf Steiner. GA 297a - Erziehung zum Leben. 1. Aufl. Dor-nach: Rudolf Steiner Verlag, 1998 (siehe S. 50).

[19] Rudolf Steiner. GA 300b - Konferenzen mit den Lehrern der Frei-en Waldorfschule 1921-1923. 4. Aufl. Dornach: Rudolf SteinerVerlag, 1975 (siehe S. 325).

[20] Rudolf Steiner. GA 305 - Die geistig-seelischen Grundkräfte derErziehungskunst. 2. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag, 1979(siehe S. 175, 290).

[21] Rudolf Steiner. GA 328 - Die soziale Frage. 1. Aufl. Dornach:Rudolf Steiner Verlag, 1977 (siehe S. 216, 217, 249).

[22] Rudolf Steiner. GA 329 - Die Befreiung des Menschenwesensals Grundlage für eine soziale Neugestaltung. Altes Denken undneues soziales Wollen. 1. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag,1985 (siehe S. 113, 118, 119, 207, 212, 219, 220).

[23] Rudolf Steiner. GA 330 - Neugestaltung des sozialen Organis-mus. 2. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag, 1983 (siehe S. 36,122, 132, 134, 155, 160, 221, 222).

[24] Rudolf Steiner.GA 331 - Betriebsräte und Sozialisierung. Diskus-sionsabende mit den Arbeiterausschüssen der großen BetriebeStuttgarts, 1919. 1. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag, 1989(siehe S. 16, 17, 250).

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[25] Rudolf Steiner. GA 332a - Soziale Zukunft. 2. Aufl. Dornach:Rudolf Steiner Verlag, 1977 (siehe S. 66, 113, 114, 125, 135, 139,140, 144, 146, 148, 161, 162, 166, 168, 196).

[26] Rudolf Steiner. GA 333 - Gedankenfreiheit und soziale Kräfte.Die sozialen Forderungen der Gegenwart und ihre praktischeVerwirklichung. 2. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag, 1985(siehe S. 241).

[27] Rudolf Steiner. GA 334 - Vom Einheitsstaat zum dreigliedrigensozialen Organismus. 1. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag,1983 (siehe S. 212).

[28] Rudolf Steiner. GA 337a - Vertiefung der Dreigliederungs-Idee,Band I. Studienabende des Bundes für Dreigliederung des sozia-len Organismus 1919-1920. 1. Aufl. Dornach: Rudolf SteinerVerlag, 1999 (siehe S. 21, 214, 242, 244, 319).

[29] Rudolf Steiner. GA 337b - Vertiefung der Dreigliederungs-Idee,Band II. Diskussionsabende des Schweizer Bundes für Drei-gliederung des sozialen Organismus. 1. Aufl. Dornach: RudolfSteiner Verlag, 1999 (siehe S. 286).

[30] Rudolf Steiner. GA 338 - Wie wirkt man für den Impuls derDreigliederung des sozialen Organismus? Zwei Schulungskursefür Redner und aktive Vertreter des Dreigliederungsgedankens.4. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag, 1986 (siehe S. 173, 224,243, 278).

[31] Rudolf Steiner. GA 339 - Anthroposophie, soziale Dreigliederungund Redekunst. Orientierungskurs für die öffentliche Wirksam-keit mit besonderem Hinblick auf die Schweiz. 3. Aufl. Dornach:Rudolf Steiner Verlag, 1984 (siehe S. 230, 319).

[32] Rudolf Steiner. GA 340 - Nationalökonomischer Kurs. Aufgabeeiner neuen Wirtschaftswissenschaft, Band I. 6. Aufl. Dornach:Rudolf Steiner Verlag, 1979 (siehe S. 26, 128, 142, 151).

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Literaturlisten

[33] Rudolf Steiner. GA 341 - Nationalökonomisches Seminar. Auf-gabe einer neuen Wirtschaftswissenschaft, Band II. 3. Aufl. Dor-nach: Rudolf Steiner Verlag, 1986 (siehe S. 172, 289).

[34] Rudolf Steiner. GA 342 - Vorträge und Kurse über christlich-religiöses Wirken, I. Anthroposophische Grundlagen für ein er-neuertes christlich-religiöses Wirken. 1. Aufl. Dornach: RudolfSteiner Verlag, 1993 (siehe S. 232, 321).

SonstigeQuellen

[35] Dieter Brüll. Der anthroposophische Sozialimpuls - Ein Versuchseiner Erfassung. Schaffhausen: Novalis Verlag, 1984 (sieheS. 285, 310).

[36] Christof Lindenau. Soziale Dreigliederung: Der Weg zu einerlernenden Gesellschaft. Ein Entwurf zum anthroposophischenSozialimpuls. Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben, 1983 (sieheS. 216).

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Tel. 030 - 68 07 96 89 43www.dreigliederung.de

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Publikationen

Schriftenreihe «Paradoxien»

Rudolf Steiner Bedingungsloses Grundeinkommen?Rudolf Steiner Über die SteuerfrageRudolf Steiner Über ArbeitslosigkeitRudolf Steiner Über die GlobalisierungRudolf Steiner Was ist Geld?Rudolf Steiner Über Zins und alterndes GeldRudolf Steiner Über die BodenfrageRudolf Steiner Der Boden ist keine WareRudolf Steiner Ursache und Wirkung der BodenspekulationRudolf Steiner Was ist eine freie Schule?Rudolf Steiner Wirtschaft und soziale Dreigliederung

im Lehrplan der Waldorfschule

Schriftenreihe «Brücken»

Sylvain Coiplet Die Überwindung des Nationalimusdurch die soziale Dreigliederung

Sylvain Coiplet Anarchismus und soziale Dreigliederungein Vergleich

Nicanor Perlas Zivilgesellschaft und soziale DreigliederungMatthias Schmelzer Fairer Handel und Freier Markt

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