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WIRTSCHAFTS- UND SOZIALGEOGRAPHIE WIRTSCHAFTSINFORMATIONEN Prof. Mag. Wolfgang Sitte - Dr. Christian Sitte . . : . . . Räume der Geographie und zu Raum- begriffen im Geographieunterricht Ute Wardenga, Institut für Länderkunde, Leipzig Anm. d. Herausgeber. Der folgende Beitrag ist ent- standen im Umfeld der Diskussionen um die Grund- strukturen von neuen Geographielehrplänen. Auch in Österreich laufen gerade wieder Lehrplanreformen im AHS-Oberstufenbereich (mehr siehe unten nächster Beitrag) bzw. im Bereich der Handelsakademien (vgl. auch in GW-UNTERRICHT'87/2002, S. 29 ff.). Da es sich hier um einen konstituierenden Teil unseres Unter- richtsgegenstandes handelt, der in vielen Diskussionen immer wieder in unterschiedlichster Begriffsabstrakti- on bzw. mit unterschiedlichsten und oft nicht explizit ausgesprochenen Gedankengebäuden dahinter ver- wendet wird, versuchen wir mit diesem uns freundli- cherweise zur Verfügung gestellten Beitrag, etwas Klar- heit zu schaffen. Dies erscheint auch deswegen gerecht- fertigt, als u. a. der LP-Entwurf für die AHS-Oberstufe im ersten Thema jeder Klasse unterschiedliche Aspekte des„Machens von Räumen"jeweils anspricht. ZIEL die- ses Beitrages ist es auch, verschiedene in der Geogra- phie in Verwendung stehende Raumbegriffe zu erläu- tern und danach zu fragen, welche Formen von Geo- graphieunterricht daraus resultieren könnten. Eine ge- kürzte und anders gegliederte Version des Beitrages ist nachzulesen in: „geographie heute" (Friedrich Verlag, Seelze), 23. Jg., H. 200, Mai 2002, S. 8-11. l. Die Raumbegriffe in den „Grundsätzen und Empfehlungen für die Lehrplan- arbeit im Fach Geographie" Die „Grundsätze und Empfehlungen für die Lehr- planarbeit im Fach Geographie" (nach dem Deutschen „Curriculum 2000+") umfassen heute vier differente Raumbegriffe, die zugleich mit vier möglichen, auch miteinander kombinierbaren Betrachtungsweisen ver- bunden sind: Erstens werden „Räume in realistischem Sinne als „Container" aufgefasst, in denen bestimmte Sachverhal- te der physisch-materiellen Welt enthalten sind. In die- sem Sinne werden „Räume" als Wirkungsgefüge natür- licher und anthropogener Faktoren verstanden, als das Ergebnis von Prozessen, die die Landschaft gestaltet ha- ben oder als Prozessfeld menschlicher Tätigkeiten. Zweitens werden „Räume" als Systeme von Lage- beziehungen materieller Objekte betrachtet, wobei der Akzent der Fragestellung besonders auf der Bedeutung von Standorten, Lage-Relationen und Distanzen für die Schaffung gesellschaftlicher Wirklichkeit liegt. Drittens werden „Räume" als Kategorie der Sinnes- wahrnehmung und damit als „Anschauungsformen" ge- sehen, mit deren Hilfe Individuen und Institutionen ihre Wahrnehmungen einordnen und so Welt in ihren Handlungen „räumlich" differenzieren. • Das bedingt, dass „Räume" viertens auch in der Per- spektive ihre» sozialen, technischen und gesellschaftli- chen Konstruiertheit aufgefasst werden müssen, indem danach gefragt wird, wer unter welchen Bedingungen und aus welchen Interessen wie über bestimmte Räume kommuniziert und sie durch alltägliches Handeln fort- laufend produziert und reproduziert. Quelle: geographie heute, 23. Jg., H. 200, Mai 2002, S. 5 Zunächst kann man „Räume" als „Behälter" (contai- ner) betrachten, in denen bestimmte Sachverhalte der physisch-materiellen Welt wie z. B. Oberflächenformen und Böden, Klima und Gewässer, Vegetation und Tier- welt sowie die Werke des Menschen enthalten sind. In dieser Perspektive werden „Räume" als Entitäten gese- hen, d. h. es wird ohne weitere Reflexion davon ausge- gangen, dass sie in „der" Wirklichkeit vorkommen. Dem Selbstverständnis der traditionellen Geographie entsprechend werden „Räume" dann als Realien behan- delt. Sie werden als Wirkungsgefüge natürlicher und anthropogener Faktoren verstanden, als Ergebnis von Prozessen interpretiert, die die Landschaft gestaltet ha- ben oder als Prozessfeld menschlicher Tätigkeiten ge- sehen. In der zweiten Perspektive werden „Räume" als Sys- teme von Lagebeziehungen materieller Objekte be- trachtet. Hier liegt der Akzent der Fragestellung beson- ders auf der Bedeutung von Standorten, Lage-Relatio- nen und Distanzen und es wird danach gefragt, was diese Sachverhalte für die vergangene und gegenwärti- ge gesellschaftliche Wirklichkeit bedeuten, wobei da- von ausgegangen wird, dass es „die" allgemeinbegriff- lich zu fassende gesellschaftliche „Wirklichkeit" gibt. Wenngleich in der zweiten Perspektive die Frage der Raumabgrenzung, also der Regionalisierung, reflexiv besser zugänglich wird als in der ersten Perspektive, wird „die" gesellschaftliche Wirklichkeit nach wie vor als real vorhandene Entität behandelt. Dieser realistische Zug wird mit der dritten Perspekti- ve befragbar gemacht. Hier werden „Räume" als Kate- gorie der Sinneswahrnehmung betrachtet. Nun wird erstens danach gefragt, wie scheinbar real vorhandene „Räume" von Individuen, Gruppen oder Institutionen gesehen und bewertet werden. Das führt dazu, dass der Wissenschaftliche Nachrichten Nr. 120 - November/Dezember 2002 47

Räume der Geographie und zu Raum- begriffen im

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WIRTSCHAFTS- UND SOZIALGEOGRAPHIEWIRTSCHAFTSINFORMATIONENProf. Mag. Wolfgang Sitte - Dr. Christian Sitte

. . : . . .

Räume der Geographie und zu Raum-begriffen im GeographieunterrichtUte Wardenga, Institut für Länderkunde, Leipzig

Anm. d. Herausgeber. Der folgende Beitrag ist ent-standen im Umfeld der Diskussionen um die Grund-strukturen von neuen Geographielehrplänen. Auch inÖsterreich laufen gerade wieder Lehrplanreformen imAHS-Oberstufenbereich (mehr siehe unten nächsterBeitrag) bzw. im Bereich der Handelsakademien (vgl.auch in GW-UNTERRICHT'87/2002, S. 29 ff.). Da essich hier um einen konstituierenden Teil unseres Unter-richtsgegenstandes handelt, der in vielen Diskussionenimmer wieder in unterschiedlichster Begriffsabstrakti-on bzw. mit unterschiedlichsten und oft nicht explizitausgesprochenen Gedankengebäuden dahinter ver-wendet wird, versuchen wir mit diesem uns freundli-cherweise zur Verfügung gestellten Beitrag, etwas Klar-heit zu schaffen. Dies erscheint auch deswegen gerecht-fertigt, als u. a. der LP-Entwurf für die AHS-Oberstufeim ersten Thema jeder Klasse unterschiedliche Aspektedes„Machens von Räumen"jeweils anspricht. ZIEL die-ses Beitrages ist es auch, verschiedene in der Geogra-phie in Verwendung stehende Raumbegriffe zu erläu-tern und danach zu fragen, welche Formen von Geo-graphieunterricht daraus resultieren könnten. Eine ge-kürzte und anders gegliederte Version des Beitrages istnachzulesen in: „geographie heute" (Friedrich Verlag,Seelze), 23. Jg., H. 200, Mai 2002, S. 8-11.

l. Die Raumbegriffe in den „Grundsätzenund Empfehlungen für die Lehrplan-arbeit im Fach Geographie"

Die „Grundsätze und Empfehlungen für die Lehr-planarbeit im Fach Geographie" (nach dem Deutschen„Curriculum 2000+") umfassen heute vier differenteRaumbegriffe, die zugleich mit vier möglichen, auchmiteinander kombinierbaren Betrachtungsweisen ver-bunden sind:

• Erstens werden „Räume in realistischem Sinne als„Container" aufgefasst, in denen bestimmte Sachverhal-te der physisch-materiellen Welt enthalten sind. In die-sem Sinne werden „Räume" als Wirkungsgefüge natür-licher und anthropogener Faktoren verstanden, als dasErgebnis von Prozessen, die die Landschaft gestaltet ha-ben oder als Prozessfeld menschlicher Tätigkeiten.

• Zweitens werden „Räume" als Systeme von Lage-beziehungen materieller Objekte betrachtet, wobei derAkzent der Fragestellung besonders auf der Bedeutungvon Standorten, Lage-Relationen und Distanzen für dieSchaffung gesellschaftlicher Wirklichkeit liegt.

• Drittens werden „Räume" als Kategorie der Sinnes-wahrnehmung und damit als „Anschauungsformen" ge-sehen, mit deren Hilfe Individuen und Institutionenihre Wahrnehmungen einordnen und so Welt in ihrenHandlungen „räumlich" differenzieren.

• Das bedingt, dass „Räume" viertens auch in der Per-spektive ihre» sozialen, technischen und gesellschaftli-chen Konstruiertheit aufgefasst werden müssen, indemdanach gefragt wird, wer unter welchen Bedingungenund aus welchen Interessen wie über bestimmte Räumekommuniziert und sie durch alltägliches Handeln fort-laufend produziert und reproduziert.

Quelle: geographie heute, 23. Jg., H. 200, Mai 2002, S. 5

Zunächst kann man „Räume" als „Behälter" (contai-ner) betrachten, in denen bestimmte Sachverhalte derphysisch-materiellen Welt wie z. B. Oberflächenformenund Böden, Klima und Gewässer, Vegetation und Tier-welt sowie die Werke des Menschen enthalten sind. Indieser Perspektive werden „Räume" als Entitäten gese-hen, d. h. es wird ohne weitere Reflexion davon ausge-gangen, dass sie in „der" Wirklichkeit vorkommen.Dem Selbstverständnis der traditionellen Geographieentsprechend werden „Räume" dann als Realien behan-delt. Sie werden als Wirkungsgefüge natürlicher undanthropogener Faktoren verstanden, als Ergebnis vonProzessen interpretiert, die die Landschaft gestaltet ha-ben oder als Prozessfeld menschlicher Tätigkeiten ge-sehen.

In der zweiten Perspektive werden „Räume" als Sys-teme von Lagebeziehungen materieller Objekte be-trachtet. Hier liegt der Akzent der Fragestellung beson-ders auf der Bedeutung von Standorten, Lage-Relatio-nen und Distanzen und es wird danach gefragt, wasdiese Sachverhalte für die vergangene und gegenwärti-ge gesellschaftliche Wirklichkeit bedeuten, wobei da-von ausgegangen wird, dass es „die" allgemeinbegriff-lich zu fassende gesellschaftliche „Wirklichkeit" gibt.Wenngleich in der zweiten Perspektive die Frage derRaumabgrenzung, also der Regionalisierung, reflexivbesser zugänglich wird als in der ersten Perspektive,wird „die" gesellschaftliche Wirklichkeit nach wie vorals real vorhandene Entität behandelt.

Dieser realistische Zug wird mit der dritten Perspekti-ve befragbar gemacht. Hier werden „Räume" als Kate-gorie der Sinneswahrnehmung betrachtet. Nun wirderstens danach gefragt, wie scheinbar real vorhandene„Räume" von Individuen, Gruppen oder Institutionengesehen und bewertet werden. Das führt dazu, dass der

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Begriff der Wirklichkeit pluralisiert werden muss. Zwei-tens wird deutlich, dass Individuen, Gruppen oder In-stitutionen ihre Wahrnehmungen in räumliche Begriffeeinordnen und so Welt räumlich differenzieren. Beidesunterhöhlt im Endeffekt sowohl den realistischenRaumbegriff wie den realistischen Gesellschaftsbegriffals auch den realistischen Wirklichkeitsbegriff, dennnun können weder „der" Raum noch „die" Gesellschaftnoch „die" Wirklichkeit als wahrnehmungsunabhängi-ge Konstanten gedacht werden.

Vor diesem Hintergrund arbeitet die vierte, konstruk-tivistische Perspektive, die davon ausgeht, das „Räume"„gemacht" werden und damit Artefakte von gesell-schaftlichen Konstruktionsprozessen sind. Nun wirdz. B. danach gefragt, wie raumbezogene Begriffe alsElemente von Handlung und Kommunikation auftretenund welche Funktionen eine raumbezogene Sprache inder modernen Gesellschaft erfüllt, wer unter welchenBedingungen und aus welchen Interessen wie über be-stimmte Räume kommuniziert wird und wie die durchdie raumbezogene Sprache erst konstituierten räum-lichen Entitäten durch alltägliches Handeln und Kom-munizieren fortlaufend produziert und reproduziertwerden.

Wenn man die in den „Grundsätzen und Empfehlun-gen für die Lehrplanarbeit im Fach Geographie" enthal-tenen Raumbegriffe genau analysiert, wird man schnellfeststellen, dass sie verschiedenen Phasen und Schich-ten der Fachentwicklung entstammen. Während dasKonzept des Container-Raumes die traditionelle Geo-graphie beherrschte und seinen klassischen Ausdruckin der Landschaftsgeographie der Zwischenkriegszeitfand, gehören die anderen Begriffe der jüngeren Fach-entwicklung an und hier insbesondere den Konzeptendes spatial approach und der „Raumstrukturfor-schung", dem Verhaltens- und wahrnehmungsgeogra-phischen Ansatz einschließlich der humanistic geogra-phy sowie all jenen Orientierungen, die seit etwa Mitteder 1980er Jahre unter dem gemeinsamen Oberbegriffeiner „konstruktivistischen Geographie" immer intensi-ver diskutiert werden. Um die Kontexte dieser verschie-denen Raumbegriffe und die Haupttendenzen deutlichzu machen, wird im Folgenden ein kurzer historischerAbriss gegeben, der sich aus Platzgründen weitgehendauf die deutschsprachige Geographie beschränkt.

2. Der „Container-Raum" und seine Kontexte

Obwohl seit den 1850er Jahren seitens der schon be-stehenden Geographischen Gesellschaften zahlreicheVorstöße unternommen wurden, um die Geographie inden mächtig aufstrebenden Hochschulen zu verankern,wurde das Fach erst nach der Reichseinigung in größe-rem Umfang an deutschen Universitäten institutionali-siert (zum Folgenden vgl. ausführlich Wardenga 2001).Die Hauptaufgabe, für die aus den verschiedensten Fä-chern zusammenberufenen Lehrstuhlinhaber bestandzunächst darin, der Disziplin gegenüber anderen Fä-chern ein eigenständiges Profil zu verleihen. Trotz kon-troverser Diskussionen wurde man sich sehr schnell da-rüber einig, dass die Geographie eine stärker naturwis-senschaftliche Ausrichtung gewinnen musste, wenn siemit all jenen Fächern erfolgreich konkurrieren wollte,die bisher unter dem Dach einer allgemeinen Erdwis-

senschaft zusammengefasst worden waren. Infolgedes-sen wurde, nicht zuletzt unter der Führung Ferdinandvon Richthofens, zunächst die Allgemeine Geographiegefördert. Die Regionale Geographie oder Länderkun-de galt demgegenüber als bloße Darstellung die „überdie systematische Zusammenstellung aller auf die ein-zelnen Erdräume bezüglichen Erscheinungen nicht hin-ausgeht" (Richthofen 1883, S. 31), insofern also „didak-tisch" (ebd., S. 32), „enzyklopädisch" (ebd., S. 33) und„an sich geistlos" (ebd., S. 35) war. Das führte dazu, dassdie Regionale Geographie bis in die 1880er Jahre hineinder minder gepflegte Teil des Faches blieb.

Mit dem Heranwachsen der ersten Nachwuchsgene-ration begannen sich die Gewichte allerdings zu ver-schieben. Denn die jüngeren Geographen wie z.B. Al-brecht Penck, Alfred Philippsön und Alfred Hettner teil-ten die von Richthofen im Hinblick auf die RegionaleGeographie vorgetragene Skepsis, man können die aneinem Ort wirkenden Kausalbeziehungen kaum ange-messen beschreiben, nicht mehr. Schon in den 1890erJahren entwickelte sich deshalb eine Bewegung füreine qualitative Verbesserung der Regionalen Geogra-phie'.die unter der Führung von Alfred Hettner vor al-lem das Ziel hatte, die die Allgemeine Geographie prä-gende Kausalforschung auch in der Länderkunde ein-zuführen und sie damit zu einem gleichberechtigtenTeil des Faches zu machen. Obwohl die gegen den ba-dischen Neokantianismus gerichtete Wissenschaftssys-tematik Hettners außerhalb der Geographie ohne großeResonanz blieb, fand seine Formel von der Geographieals einer chorologisch (= länder- und landeskundlich)arbeitenden Raumwissenschaft im Fach selbst schnellAnklang.

Das hatte mehrere Gründe. Erstens konnte man mitder Übernahme der raumbezogenen Perspektive dasProblem der Materialbewältigung und Materialverar-beitung lösen, das die explorative Entschleierung derErde mit sich gebracht hatte. Denn je größer im Laufedes 19. Jahrhunderts die Informationsdichte zu Geolo-gie, Klima, Gewässern, Vegetation und Tierwelt sowieden unterschiedlichen menschlichen Kulturen wurde,desto naheliegender und notwendiger erschien eineraumbezogene Präsentation auf unterschiedlichenMaßstabsebenen, weil man damit den Stoff beschrän-ken, auf verschiedenen Maßstabsebenen und Abstrak-tionsstufen anordnen und die Verschiedenheit der Erd-oberfläche und der mit ihr verbundenen Erscheinungenbesser zur Anschauung bringen konnte. Insofern redu-zierte die raumbezogene Perspektive also Komplexität.Denn sie gestattete eine relativ einfache, deshalb auchin den Schulunterricht zu transferierende Stoffauswahl:hatte man einmal den zur Behandlung anstehendenRaum abgegrenzt (was sich freilich als ein schwierigesmethodisches Problem erwies), brauchten die in ihmenthaltenen Tatsachen nur nach einem bestimmtenMuster, für das sich später der Name „länderkundlichesSchema" einbürgerte, beschrieben und erklärt werden.Zweitens war das raumbezogene Denken deshalb at-traktiv, weil es Potenziale bot, um die Geographie zu ei-ner eigenständigen und unverwechselbaren Hoch-schuldisziplin zu machen. Eine als Raumwissenschaftdefinierte Geographie konnte Grenzen zu ihrem wis-senschaftlichen Umfeld kommunizieren und sich alsselbständige Forschungsdisziplin mit eigener Fragestel-

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lung etablieren. Drittens schließlich war die zeitgenös-sische intellektuelle Kommunikation zutiefst von räum-lichen Schemata, wie z. B. der Nationalstaatsdiskussionund der Kolonialismusfrage durchsetzt und bot damitauf der alltagsweltlichen Ebene geeignete Anknüp-fungspunkte für das von Geographen produzierteraumbezogene Wissen, das nicht zuletzt der Homoge-nisierung und Stereotypisierung von Subjekten dienteund die Aneignung von Welt unter der Perspektive ei-nes spezifisch deutschen Großmachtstrebens betrieb.

Mit dem Einbau des Landschaftskonzeptes in dieHochschulgeographie verfestigten sich in der Zwi-schenkriegszeit die raumbezogenen Denkfiguren wei-ter. Entlang des vorwissenschaftlich-ästhetisch gepräg-ten Wortumfeldes wurde in zahlreichen methodologi-schen Abhandlungen der Begriff „Landschaft" als Zen-tralbegriff einer neuen Geographie bestimmt, deren„höchste Aufgabe", „Endzweck", „Kern" die RegionaleGeographie betrachtet wurde. „Landschaft" galt vonnun an als das „eigentliche" und „ureigenste" For-schungsobjekt der Geographie, das, wie die Zeitgenos-sen glaubten, ihre keine andere Wissenschaft streitigmachen konnte. Wie schon in der Geographie des Kai-serreichs wurden im Denkschema der Landschaftsgeo-graphie „Räume" in der Regel auch als in „der" Realitätvorgegebene Behälter (container) betrachtet, in denenbereits alles vorfindbar enthalten war: der Gesteinsun-tergrund, die Oberflächenformen und Böden, das Kli-ma, die Gewässer, die Pflanzen und Tiere sowie derMensch selbst einschließlich seiner Siedlungen, Ver-kehrswege, Wirtschaftsflächen etc. Jeder einzelne die-ser Räume bildete für den Landschaftsgeographen einereal existierende Ganzheit, wobei ihm die Aufgabe zu-fiel, diese Ganzheit in ihrer unverwechselbaren Einma-ligkeit zu beschreiben und zu erklären.

3. Der Prozess der Ablösung vom Denkenin „Container-Räumen":die Raumstrukturforschung

Das für die Geographie überaus erfolgreiche, in derZwischenkriegszeit dem intellektuellen zeitgenössi-schen Milieu in höchstem Maße angepasste Land-schaftskonzept, geriet vor dem Hintergrund eines stän-dig wachsenden Krisen- und Veränderungsbewusst-seins schon im Laufe der 1950er und 1960er Jahre zuse-hends unter Beschuss, weil festgestellt werden musste,dass die Landschaftsgeographie weder den Anforde-rungen der internationalen Geographie und internatio-nalen Wissenschaft genügte, noch zeitgemäße Antwor-ten auf die sich in der Nachkriegszeit rasch modernisie-rende Welt finden konnte. Im Gefolge der auf demKieler Geographentag geäußerten Kritik, die bei deretablierten Geographenschaft vor dem Hintergrund derStudentenunruhen wie eine Bombe einschlug, wurdendie bislang durch das container-Konzept definiertendisziplinären Außengrenzen des Faches zugunsten ei-ner nun immer stärker werdenden Rezeption von An-sätzen gelockert, die entweder aus den Nachbarwissen-schaften stammten und / oder in der zeitgenössischenangloamerikanischen Geographie intensiv diskutiertwurden. Unter Umgehung des mit der Landschaftsgeo-graphie verbundenen Begriffsarsenals wie z. B. Schau,Ganzheit, Integration, Komplex, entwickelte sich in der

deutschsprachigen Hochschulgeographie unter demEinfluss des spatial approach seit den 1970er Jahren die„Raumstrukturforschung" (vgl. hierzu Arnreiter/Weich-hart 1998, S. 65). Sie nahm mit ihren statistisch gestütz-ten Regionalisierungsbemühungen die im spatial ap-proach verwendeten neuen Methoden zwar auf undthematisierte insofern „Räume" als Systeme von Lage-beziehungen materieller Objekte, wobei sie den Akzentder Fragestellung besonders auf die Bedeutung vonStandorten, Lage-Relationen und Distanzen für dieSchaffung gesellschaftlicher Wirklichkeit legte. Siesuchte jedoch nicht - wie der spatial approach - als no-mologisches Forschungsprogramm nach' Raumgeset-zen, sondern tendierte immer wieder dazu, die ausge-grenzten Raumeinheiten zu hypostasieren und sie, wiedas in der Landschaftsgeographie üblich gewesen war,als in der Realität vorkommende Raumganzheiten zubehandeln. Dennoch stieß die „Raumstrukturfor-schung" seit den 1970er Jahren eine neue Differenzie-rung an, die spätestens seit den 1980er Jahren dann alsdie Differenz von „realistischen" versus „konstruktivisti-schen" Ansätzen diskutiert wurde.

9 •

4. Die allmähliche Ablösungvon realistischen Forschungskonzeptenin den 1980er Jahren

Innerhalb der traditionellen Geographie wurde inder Regel ein realistisches Forschungsprogramm vertre-ten. Die Mehrheit der Hochschulgeographen teilte dieAuffassung, dass es ihre Aufgabe sei, die in der Realitätvorgegebene Kammerung der Erde mittels regionalgeo-graphischer Forschung erklären zu können. Bei ent-sprechend „wahren" Forschungsergebnissen, so glaub-te man ganz im naturwissenschaftlichen Positivismusbefangen, könnte die Geographie eines Tages eine ab-solute Regionalisierung der Erde aufstellen, auf derenBasis dann nur noch, quasi wie auf einer Registrierplat-te, die aktuell stattfindenden Veränderungsprozesse zuerklären seien. Mit dieser Denkfigur war ein wahr-scheinlich aus der frühmodernen Kartographie stam-mender horror vacui verbunden: kein Gebiet der Erde,und sei es noch so winzig, durfte aus der Regionalisie-rung herausfallen. Andererseits sollten Grenzen abermöglichst als Linien ausgebildet sein, so dass keineÜberlappungen zustande kamen, die womöglich einGebiet als zu zwei Raumeinheiten gehörig definierthätten.

Aufgrund der empirischen Forschungsergebnissewurde schon im Laufe des 19. Jahrhunderts deutlich,dass an diesem Absolutheitsmodell nicht festgehaltenwerden konnte. Das veranlasste z. B. Alfred Hettner zuder Auffassung, dass Regionalisierungen immer in Rela-tion zu den Kriterien der Regionalisierung betrachtetwerden sollten und deshalb niemals „wahr" oder„falsch", sondern nur „zweckmäßig" oder „unzweckmä-ßig" sein konnten (vgl. Hettner 1927 und Wardenga1995). In der Landschaftsgeographie dagegen schienenderartige Überlegungen als hypertrophe Spielereien ei-nes in die Fachmethodologie verliebten Dogmatikers,weil in der Semantik des Landschaftsbegriffs die Be-grenztheit des individuellen Erdraums bereits aufgeho-ben war, so dass die Problematik der Regionalisierungund die in ihr notwendig implizierte Tendenz der Kritik

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des Realismus zum blinden Fleck wurde.Erst mit der methodologischen Revolution des spatial

approach konnte von dessen Vertretern die Regionali-sierungsproblematik wieder gesehen und dem Be-wusstsein Raum geschaffen werden, dass die von Geo-graphen ausgegrenzten Raumeinheiten Ergebnisse ei-ner spezifischen methodischen Operation waren, die inerster Linie der Erfassung der räumlichen Ordnung,Verteilung und Verflechtung bestimmter Sachverhaltemit dem Ziel dienten, je nach Erkenntnisinteresse räum-liche Koinzidenzen von sozialen, ökonomischen, kul-turellen, politischen und gegebenenfalls auch natur-räumlichen Erscheinungen aufzuzeigen. Zwar war da-mit die Einsicht gewonnen, dass die von Geographenausgegliederten Raumeinheiten gedankliche Konstruk-te von Wissenschaft darstellten (vgl. Blotevogel 1996).Der Schritt zur Überlegung, dass auch Geographen nureine Gruppe von Raumkonstrukteuren darstellten, wardamit aber noch nicht getan, denn noch übte der in derSozialisation erworbene realistische Blick einen starkenEinfluss aus.

Mit der seit Ende der 1970er Jahre im deutschspra-chigen Raum beginnenden Rezeption des verhaltens-wissenschaftlichen Ansatzes wurde jedoch ein weitererwichtiger Anstoß für die Entwicklung einer konstruk-tivstischen Perspektiven gegeben. Denn nun geriet aufder Suche nach Erklärungen für differentes menschli-ches Verhalten im Raum und in Kritik an der wertneut-ralen Beschreibung von Strukturen durch den spatialapproach die subjektive Wahrnehmung und Bewer-tung der Wirklichkeit durch Individuen und Gruppen inden Mittelpunkt des Interesses. Das nun die For-schungsbemühungen strukturierende Stimulus-respon-se-Modell versuchte das Raumverhalten mittels ver-schiedener Wahrnehmungs- und Informationsfilter zuerklären, die die von der Umwelt ausgehenden Reizeverzerrten (vgl. dazu und zum folgenden ausführlicherArnreiter/Weichhart 1998, S. 64).

Dieses Modell wurde allerdings schon bald wiederdurch den neu entwickelten Ansatz der humanistischenGeographie als zu positivistisch und zu mechanizistischabgelehnt. Menschen, so der Haupteinwand dieses An-satzes, seien als eigenständige Handlungsträger undnicht als reagierende Roboter anzusehen. Infolgedes-sen müsse die humangeographische Forschung nachder Lebenswelt von Menschen und deren Sinn fragenund somit mit Beschreibungs- und Analysekritierienoperieren, die „nicht den artifiziell-abstrakten Katego-rien der Wissenschaft, sondern den lebensweltlichenKategorien des alltäglichen Denkens und Handelns zuentsprechen haben" (ebd., S. 66).

Die diesem Ansatz zugrundeliegende, auf das Verste-hen abzielende phänomenologisch-hermeneutischeWeltdeutung implizierte im Zusammenhang mit der seitden 1980er Jahren auf breiter Front aufgewerteten qua-litativen Methodik eine grundsätzliche Neufassung desBeobachterstatus von Wissenschaftlern. Wissenschafterstanden nun, wie ein berühmt gewordenes Bild vonAnne Buttimer veranschaulichte, nicht mehr am Uferund beobachteten als Outsider die Realität anderer un-beteiligt von Ferne, sondern saßen in einem Boot mitden Beobachteten und bemühten sich, die Insider-Per-spektive zu erfassen, waren damit also Teil eines ge-meinsam erlebten Geschehens geworden.

5. Raum als Element von Kommunikationund Handlung

Den ersten, im Ergebnis konsequent auf einen kons-truktivistischen Raumbegriff hinauslaufenden Ansatzhat im deutschsprachigen Bereich Helmut Klüter be-reits 1986 entwickelt (vgl. Klüter 1986, 1994). Er kriti-sierte an den Verhaltens- und wahrnehmungsgeogra-phischen Ansätzen, die in den 1980er Jahren den hu-mangeographischen Mainstream der Forschung inDeutschland bestimmten, dass sie trotz aller subjektbe,,-zogenen Relativierung von Räumbegriffen noch zustark im Container-Raum-Denken verhaftet blieben, in-dem sie menschliches Verhalten und menschlicheWahrnehmung als im Raum stattfindend vorstellten.Demgegenüber wies er in Rezeption der Luhmann-schen Theorie sozialer Systeme darauf hin, dass es ineiner als Sozialwissenschaft verstandenen Humangeo-graphie darum gehen müsse, Raum als Element vonetwas anderem zu konstituieren. Er forderte zu untersu-chen, wie in verschiedenen, funktional getrennten so-zialen Systemen wie z. B. der Politik, der Wirtschaft,der» Recht, der Kunst oder der Wissenschaft Räume zuElementen einer sozialsystemspezifischen Kommuni-kation gemacht würden und regte an, zu analysieren,welche Raumabstraktionen und kommunikationsrele-vanten Raumbegriffe dabei von welchem System zuwelchem Zweck produziert und reproduziert werden.

Klüters Gedanken haben sich in der Folgezeit leiderin nur geringem Maße durchgesetzt; man darf ex postund in Kenntnis des weiteren Ganges der Forschungvermuten, dass der Grund dafür in der nur marginalenStellung zu suchen ist, die dem Subjekt in der Luhmann-schen Theorie und damit auch in Klüters Ansatz zu-kommt. Vor dem Hintergrund der subjektzentriert ar-beitenden wahrnehmungsgeographischen Ansätze er-wies sich dagegen die Rezeption der GiddensschenStrukturationstheorie als weitaus anschlussfähiger. Eineder frühesten Arbeiten hat in diesem Zusammenhangder finnische Geograph Anssi Paasi bereits Mitte der1980er Jahre vorgelegt (vgl. Paasi 1986). Konsequentabweichend vom herkömmlichen realistisch-geogra-phischen Verständnis schlug er vor, Regionen alsdurch kollektives Handeln produzierte räumlicheStrukturen der Gesellschaft zu verstehen. A. Paasibetrachtete dabei Regionen unter einer explizit kollekti-ven Dimension, zeigte, wie sie Ergebnis institutionellerPraktiken waren und machte deutlich, wie sie als histo-rische Produkte über die auf der lebensweltlichen Ebe-ne des Handelns, Wahrnehmens und Bewertens bezo-genen Formen verfestigt wurden. Für Paasi waren Re-gionen deshalb nicht mehr in „der" Realität gegeben, erbetrachtete sie auch nicht als Artefakte einer durch denGeographen als Experten geleisteten Regionalisierung,sondern als Ergebnisse eines in der Gesellschaft ablau-fenden Konstituierungsprozesses. Insofern sind - ganzim Unterschied zum traditionellen geographischenDenken - Regionen in Paasis Denken kontingent:wenn sie in der gesellschaftlichen Praxis nicht ständigreproduziert werden, hören sie auf zu existieren.

Noch einen Schritt weiter als Paasi geht Benno Wer-len, der die durch alltägliche Handlungen der Subjektevollzogenen Regionalisierungen zum Gegenstand einereigenständigen Perspektive macht (vgl. Werlen 1995,

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1997, 2000). Werlen geht von der These aus, dass Sub-jekte mit ihrem alltäglichen Handeln einerseits die Weltauf sich beziehen, andererseits mit ihren Handlungendie Welt aber auch gestalten. Dieses „alltägliche Geo-graphie-Machen", wie es Werlen nennt, im Rahmendessen die Erdoberfläche in materieller und symboli-scher Hinsicht gestaltet wird, bedeutet auf das Raum-konzept bezogen einen grundsätzlichen Perspektiv-wechsel. Nun geht es nicht mehr um Raumkonzepte,die — einem realistischen Raumbegriff folgend — sozial-kulturelle Gegebenheiten räumlich abbilden, sondernum Raumkonzepte, die - einem relationalen Raumbe-griff folgend - Räume als Produkte sozialen Handelnvon Subjekten thematisieren und sie insofern als sozialkonstruiert erscheinen lassen.

Der Umbruch gegenüber den traditionellen Ansätzender Geographie ist evident. Nun wird nicht mehr in ess-entialistischer Weise gefragt: was ist ein Raum? Wiesieht er aus? Welche natürlichen und anthropogen be-stimmten Prozesse laufen in ihm ab? Sondern nun wirdgefragt: Wie kann man Räume als Elemente menschli-chen Handelns konzeptionalisieren? Welche Arten vonRäumen kommen durch welche Arten von menschli-chen Handlungen zustande?

6. Zu Raumbegriffenim Geographieunterricht

Wenn man unter „Konstruktivismus" mit lan Hac-king „verschiedene soziologische, historische und phi-losophische Projekte (versteht — UW), bei denen es umdie Darstellung und die Analyse von wirklichen, histo-risch eingebundenen, sozialen Interaktionen und kau-salen Wegen geht, die zur Entstehung oder Durchset-zung einer derzeit gegebenen Entität oder Tatsache ge-führt haben oder daran beteiligt waren" (Hacking 1999,S. 81), sind konstruktivistische Perspektiven aus derheutigen Humangeographie nicht mehr wegzudenken.Mit ihnen haben seit Mitte der 1980er Jahre vor allemsolche Ansätze an Gewicht gewonnen, die sich von ess-entialistischen und naturalisierenden Vorstellungen,soziales Geschehen fände in Räumen statt, verabschie-den und sich statt dessen auf die Suche danach machen,welche Bedeutung raumbezogene Konzepte undräumliche Semantiken im sozialen Handeln undder sozialen Kommunikation besitzen. Das er-scheint vielen traditionell arbeitenden Geographen alsein Bruch mit jeder Tradition. Erinnern wir uns jedochan die Anfänge im Hochschulbereich: Die Geographiewurde zu einer Zeit an Hochschulen institutionalisiert,als es darum ging, neue Forschungsergebnisse in bishernicht gekanntem Ausmaß zu synthetisieren und vordem Hintergrund eines dominierenden Nationalstaats-diskurses der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.Hierzu wurde auf eine in der Alltagswelt verankerte,disziplinär zunächst nur wenig wissenschaftlich forma-lisierte Raumsemantik zurückgegriffen, die im Laufe derZeit in verschiedenen Ansätzen kondensiert und zurGrundlage der disziplinären Identifikation gemachtwurde. In der Tat stellt diese geographische Raumse-mantik aber nur eine unter den vielen, in der Alltags-welt stets mitlaufenden Raumsemantiken dar. Ein Geo-graphieunterricht, der sich allein damit begnügen wür-de, die geographieinterne Raumsemantik zu vermitteln,

verschenkte ganz erhebliches Potenzial, weil er „Räum-lichkeit" nicht als eine der grundsätzlichen Formen desIn-der-Welt-Seins thematisieren und damit auch sichselbst nicht reflektieren könnte.

Was ist nun mit dem Einbau einer konstrukti-vistischen Betrachtungsweise in den Geographie-unterricht gewonnen? Nehmen wir das Beispiel Tou-rismus und deklinieren anhand dieses Beispiels (ohnedie Frage der Stufung ins Spiel zu bringen) die verschie-denen Raumbegriffe durch, die in den „Grundsätzenund Empfehlungen für die Lehrplanarbeit im Fach Geo-graphie" enthalten sind.

1. In der Perspektive des Container-Raumes würdeman als Einstieg etwa ein Dia benutzen, das einen (inder Regel) nicht allzu stark überformten Tourismusortzeigen wird, der, landschaftlich ansprechend gelegen,offensichtlich viele Möglichkeiten der Urlaubsgestal-tung zu bieten scheint. Ein klassisch geographischerUnterricht würde nun z. B. herausarbeiten, was in die-sem Raum-Container in Bezug auf den Tourismus vonden Oberflächenformen über das Klima, die Vegetationund Tierwelt bis hin zu den Siedlungs- und Wirtschafts-formen der Menschen enthalten ist und wie dies alleszusammengenommen zur Voraussetzung einer touristi-schen Nutzung wird. In diesem Falle würde der gege-bene Ausschnitt aus der Erdoberfläche als real existentbehandelt. Probleme der regelhaft ausgebildetenRaumstruktur und der individuellen Wahrnehmungkämen, wenn überhaupt, nur sekundär zur Sprache,konstruktivistische Perspektiven entfielen ganz.

2. In der zweiten Perspektive rückt das Problem derRaumstruktur in den Vordergrund. Hier würde vor al-lem die Bedeutung von Standorten, Lagerelationen undDistanzen für den Tourismus thematisiert. Ein solcherUnterricht handelte etwa von Bettenkapazitäten undÜbernachtungszahlen, Einzugsbereichen, Nachfrage-und Organisationsstrukturen, regionalwirtschaftlichenEffekten und Raumentwicklungspotenzialen, ohnedass auf die Individualität des gewählten (und als ty-pisch eingestuften) Fallbeispiels ausführlich eingegan-gen würde. Unter Verwendung quantifizierbarer Mate-rialien würde mithin weitestgehend das angesprochen,was unter dem Begriff „Raumstrukturforschung" in den1970er Jahren die Forschungsfront prägte. Da mit die-sem Ansatz das Regionalisierungsproblem behandelbarwird, könnte ein wesentlicher Inhalt des Unterrichts da-rauf beruhen, dem Problem nachzugehen, wie touris-musgeprägte Räume regionalisiert werden können.

3. Mit der dritten Perspektive würde man wieder zumProblem der Individualität zurückkehren und unter ver-änderten Fragestellungen das kontinuieren, was bereitsim Rahmen des ersten Ansatzes als konkret-ökologi-scher Raum behandelt wurde. Doch jetzt dominierte dieFrage nach der subjektzentrierten Wahrnehmung. Nunwürden z. B. bestimmte positive oder negative Einstel-lungen zu Urlaubslandschaften herausgearbeitet, dieRolle von Subjekt- und gruppenspezifischen Bewertun-gen bei der Urlaubsentscheidung diskutiert oder einevorhandene, scheinbar ausgewogene und attraktive In-frastruktur unter den spezifischen Anforderungen spe-zieller Nutzerkreise beurteilt. Das Regionalisierungs-problem würde in den Hintergrund treten; statt dessenwürde der Erkenntnis Vorschub geleistet, dass derselbeRaum unterschiedlich wahrgenommen wird und sich

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unterschiedliche Wahrnehmungen auch in der Raum-struktur niederschlagen können.

4. Die konstruktivistische Perspektive schließlich re-kapitulierte zunächst das Problem der Regionalisie-rung, das nun aber nicht mehr in der „objektiven" Weiseder Raumstrukturforschung gefasst würde, sondern dieim alltäglichen Handlungsvollzug und in der alltägli-chen Kommunikation bedeutsamen Regionalisierun-gen ins Auge fasste. Entscheidend dabei wäre, dass nunbewusst gemacht würde, dass es nicht mehr darumgeht, Handlungen oder Kommunikationen im Raum zuverorten, sondern Raum als Element von Handlung undKommunikation zu fassen. Damit würde ein besonde-rer Akzent auf der sozialen Konstruiertheit von Räumenliegen und den Funktionen, die raumbezogene Sprachemit ihrer Fähigkeit zur Reduktion von Komplexität ge-rade im Tourismus haben kann. In diesem Zusammen-hang könnte es z. B. darum gehen, die gedruckten und/oder im Internet veröffentlichten Selbstdarstellungenverschiedener Tourismusgebiete zu analysieren. Hierkämen dann etwa Fragen ins Spiel wie: Wer präsentiertdie einzelnen Regionen wie? Welche Strategien werdendamit verfolgt? In welchem Zusammenhang stehen diePräsentationen mit den vorgesetzten Zwecken, dem an-gesprochenen Adressatenkreis und den gesellschaftli-chen Diskursen im Umfeld von Tourismus? Was bedeu-tet es, wenn im Tourismus raumbezogene Sprache(Texte, Bilder, Logos, Karten, Diagramme etc.) einge-setzt werden? Wie werden durch raumbezogene Spra-che neue räumliche Entitäten aufgebaut? Wie funktio-niert der Prozess der Ontologisierung und welche Ef-fekte ergeben sich daraus für die Vermarktung und dieRezeption des konstruierten Raumbildes?

Ich denke, dass man mit den hier aufgeworfenenkonstruktivistischen Fragestellungen angemessenere,weil differenzierte Antworten auf die in den „Grundsät-zen und Empfehlungen" skizzierten aktuellen gesell-schaftlichen Probleme finden kann als mit einem Unter-richt, der sich nur auf die traditionellen Raumbegriffestützt. Die humangeographische Forschung jedenfallssetzt sich schon seit längerem intensiv mit solchen Fra-gestellungen auseinander (vgl. zusammenfassend Mig-gelbrink 2002). Der Einbau der konstruktivistischenPerspektive und der mit ihr verbundenen Raumkon-zepte in den Geographieunterricht erscheint aus derSicht der Forschung daher unumgänglich, zumal für ei-nen Geographieunterricht, der den Herausforderungenam Beginn des 21. Jahrhunderts reflektiert begegnenmöchte.

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Anschrift der Verfasserin:Ute Wardenga ist Stellvertretende Direktorin des Instituts für Län-derkunde, Leipzig (IfL) und Leiterin der IfL-Abteilung „Theorieund Geschichte der Regionalen Geographie".Ute Wardenga, Institut für Länderkunde, Schongauer Straße 9,04239 Leipzig. E-Mail:- [email protected]

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