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SACHEN MIT W œ RTERN Takt. Zeitschriſt für Literatur und Ähnliches. 3. Ausgabe, Oktober 2013

SACHEN MIT WOERTERN - Takt. - 3. Ausgabe

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SACHEN MIT WOERTERN versteht sich als Aufforderung zum Wortspiel und Neuentdecken von Alltagsbegriffen. Jede Ausgabe widmet sich deshalb einem Thema, welches von jedem Autor anders aufgegriffen wird. So sollen auch unerfahrene Schreibbegeisterte angeregt werden, sich zu äußern und ihre Geschichten und Gedichte zu veröffentlichen.

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Der Takt ist die Rückwirkung der Mimik auf die Musik: wie die Melodie Abbild des sprach-lichen Gedankens, des Satzes ist. [...] Die Musik hat sich in ihrer Entwicklung an die anthropo-morphischen Hauptäußerungen angeschlos-sen: Gang und Sprache. Richtiger wohl können wir den Gang eine Nachahmung der Musik und den sprachlichen Satz eine Nachahmung der Melodie nennen. In diesem Sinne ist der ganze Mensch Erscheinung der Musik. Dann wäre der Takt als etwas Fundamentales zu ver-stehen: d. h. die ursprünglichste Zeitempfin-dung, die Form der Zeit selbst. (Fragmente 1869-1874 // F. W. Nietzsche)

Die Maschinen sagten: Du mußt im Arbeitstakt vorwärts. Und mein Hirn wiederholte meinem Herzen täglich: Du mußt im Arbeitstakt vorwärts! (Der Geist meines Vaters // Max Dauthendey)

The vision seemed to en-ter the house with me – the stretcher, the phan-tom-bearers, the wild crowd of obedient wor-shipers, the gloom of the forests, the glitter of the reach between the mur-ky bends, the beat of the drum, regular and muffled like the beating of a heart – the heart of a conquering darkness.(Heart of Darkness // Joseph Conrad)

Wie die Atmung des Unge-heuers wölkten sich Dampf und Rauch unablässig über seinem arbeitenden Leibe, aus dessen Innern das Geräusch seiner mächtigen Organe drang, das Dröhnen der Ma-schinen, der helle Klang der Hämmer, der schwere Rhyth-mus der großen Schmiede-hämmer, von denen die Luft wie von tiefen Glocken tönte und unter deren Stößen die Erde erzitterte.(Arbeit // Emile Zola)

Parteigenossen, nur durch eine zielklare, scharfe, revolutionäre Taktik kann man den Mut der Massen stählen! (Reden // Rosa Luxemburg)

[...] die lang-same Fortbe-wegung des Zeigers der Weltgeschich-te auf dem Zifferblatt der Geschichte des Menschenge-schlechtes.(Krieg und Frieden // Lev N. Tolstoi)

TAkTIEREN

R Ü C kS I C H TNAHME

V E R S T Ä N D N I S

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Sachen mit WörternTakt.

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Auftakt

Liebe Leserinnen und Leser,

im Takt zu bleiben oder Schritt zu halten ist bei der Herausgabe eines Magazins nicht die einfachste Aufgabe. Wir freuen uns deshalb, dass wir mit der dritten Ausgabe das Tempo ein wenig anziehen können und mit diesem Heft immerhin schon das zweite in diesem Jahr flügge werden sehen.

Der Moment, in dem man in die Freiheit entlässt, was in den eigenen Händen Gestalt angenommen hat, ist immer mit einer gewissen Sorge verbunden. Die Versuchung ist deshalb groß, um Verständnis und Rücksichtnahme zu bitten. Eine Bitte kann aber schnell zu weit gehen, wie das Beispiel Adolph Knigges zeigt, der sein Werk Über den Umgang mit Menschen mit einem Kapitel Über den Umgang zwi-schen Schriftsteller und Leser schloss. Darin fordert er: Sei also nicht zu strenge, mein gelehrtes Leserlein, in Beurteilung eines sonst nicht schlecht geschriebe-nen Buchs, oder behalte wenigstens Deine Meinung darüber in Deinem Kopfe, in welchem oft viel leerer Raum ist, und verschreie das Buch nicht!

Wir sehen das ein bisschen anders. Ohne die Kritik und Vorschläge unserer LeserInnen wäre dieses Heft nie das geworden, was es jetzt ist. Wir bedan-ken uns deshalb bei allen, die uns Feedback gege-ben haben und mit Rat und Tat zur Seite standen.* Und wünschen uns: weiter so!

Die Redaktion

* Ihr wollt auch mitmachen? Das Thema der nächsten Ausgabe ist „Dunst“! Schickt uns eure Beiträge bis zum 31.12.2013 an [email protected] findet uns auch unter facebook.com/sachenmitwoertern. Wir freuen uns über jede Idee, jeden Handgriff, jeden neuen Kontakt und jedes Feedback!

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Inhaltsverzeichnis

Minutentakt // Nora Lau

Buntspecht // Arno Schlick

Die hohe Kunst der Höflichkeit. Ein soziolinguistischer Beitrag von Judith Daute

Nachtstück // Mena Koller

Mein erster Technohit // Rabea Senftenberg

„Es kann ein Fluch sein, einen Takt zu haben.“ Stephan Heiden im Ge-spräch mit Kommando Elektrolyrik

Kanonen & Taiko // Martin Piekar

ZU DEINEN GEZEITEN // Florian Kuhn

Die Norm // Léon Giogoli

Krossener Straße 12, 3. Etage rechts, linkes Zimmer // Clemens Schittko

Paula und Tom kommen zu Geld // Alexander Kappe

„Leichtfüßig über den Beat hüpfen.“ Ein Interview mit dem Berliner Rap-per Kobito von Laura Schlingloff

Kontakt // Regina Nowacki

Die Tiere // David Jasper

Werkheim // Mathias Pfeiffer

Was im Takt ist, ist intakt. Eine Kolumne von Theresa Lienau

100 Wörter zum Thema von Jesse Coburn

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Minutentakt // Nora Lau

Eine drückende Glocke aus Dunst und Staub lässt mich in einem Glashaus aufwachen, während der Tag in der Morgensonne anschwillt. Raben kicken im flimmernden Gegenlicht Steine über das Dach. Eins. Zwei. Drei. Raben machen gern Eindruck. In den Fenstern der von Menschen bewohnten Festungen aus verkleidetem Stahlbeton spiegelt sich die Landschaft der Stadt müde und unlustig wider. An den Seiten der Gucklöcher fressen sich durstige Schmutzfäden vergangener Re-gengüsse langsam und konisch zulaufend durch das Material, während die tatenhungrige Blondine auf der Brandwand gegenüber in mein Zimmer lächelt. Schamlos. In einem Sportwagen. In eingefrorener Bewegung. Sie will mein Leben in ein Paradies verwandeln.

Das Atmen der Organismen trügt. Alles hat seinen Ort, jedes Lebewesen, jedes Ding. In der Stadt, in meiner Wohnung, auf meinem Schreibtisch. Ich habe Glück. Der Himmel ist nicht zwangsläufig über meinem Kopf. Die Orientierung im vierdimensionalen Datensatz ändert sich mit jedem neuen Koordinatensystem, während der Zoom Intervalle, Einheiten und Maßstäbe auflöst. Die Körper der Menschen bewegen sich im Takt ihres eigenen Daseins aneinander vorbei. Das Versteckspiel ist angenehm. Menschen verdecken Menschen, Häuser verdecken Häuser, Landschaften verdecken Landschaften. Der Raum, in dem ich lebe, definiert sich aus der Verschachtelung der Welten um mich herum, aus Orientierung, Erinnerung, Assoziationen, Geld. Orte werden geschaffen, Orte sind überall. Keinen Ort zu haben ist verboten, keine Zeit zu haben steigert meinen Marktwert. Und weil ich keine Zeit habe, quillt mein Leben in ein Vakuum hinein, harrt aus und wartet.

Ich hole mein Fahrrad vom Balkon, verlasse die Wohnung und drücke die Ruftaste des Fahrstuhls. Ist es unhöflich, übergroße Ge-genstände darin zu transportieren? Der Leuchtdrücker am Bedienta-bleau zeigt bereits ein aufdringliches Rot. Wieder hat mir jemand den Aufzug weggeschnappt. Der Motor ist in Bewegung, scheinbar eine Ewigkeit lang. Ich zähle bis sechzig. Eine Tür klappt, ein Bellen ertönt. Es muss die Dame aus dem zweiten Stock sein, die abwechselnd ihren Hund oder ihr Kaninchen ausführt und nur selten sich selbst, nicht während der Arbeitszeit. Siebzig. Ich warte.

Nora Lau

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Der Aufzug ist schmutzig. Das ist die Regel. Dieses Mal hängt ein gelb gesprenkelter Zettel auf dem blass opak gefleckten Spiegel, „Spucken verboten“. Eine Nachricht der Concierge. Sie kann kaum lesen und schreiben, und doch ist ihre Botschaft klar und fehlerlos. Ihr neunjähriger Enkel grinst perfide, als er den Aufzug betritt. Er besucht die strenge Nonnenschule, zu Fuß nur fünf Minuten entfernt, in un-serer Straße. Seine Familie will ihm eine Zukunft bieten, Anwalt oder Arzt soll er werden. Sechzehn Jahre wird er dafür brauchen.

In der Zwischenzeit kommen wir zu einem Stillstand. Ein asiati-sches Paar gesellt sich zu uns. Ich frage mich, ob wir alle in die kleine Kabine passen. Ich, mein Fahrrad, der Junge, das Paar. Wir passen hinein. Das Rad muss hochkant stehen, um mit uns zu einer regulä-ren Teilmenge des Luftraums zu werden. Wir sinken in die Tiefe. Ich spüre mein Gewicht nur indirekt über die Gegenkraft des Bodens, auf dem ich stehe, mein scheinbares Gewicht, das sich in der Beschleuni-gung von meinem regulären unterscheidet. Das Grinsen der Brand-wand-Blondine gibt meinem Magen eine neue Dimension, schwer, unbestechlich und dumpf.

Dann wache ich auf. Ich öffne die Haustür und ein Schwall feucht-warmer Luft legt sich auf mein Gemüt. Ein Mann mittleren Alters versucht, seinen Wagen über das Halteverbot hinaus auf den Gehweg zu steuern. Er hätte der Blonden gefallen. Doch nicht sie, sondern die dunkle Leopardin aus dem siebten Stock begleitet er zum Eingang. Jeden Morgen, mit charmanter Geste. Heute nicht. Ein Unverschäm-ter kommt ihm zuvor, schneidet ihm den Weg ab, nimmt ihm seinen Platz. Ein schrilles Hupen und drohende Finger zerschneiden die Luft. Der Verratene, zutiefst verletzt, stellt sich nicht hinten an. Er springt von seinem Sitz. Empört knallt er die Tür seines Wagens und schreitet langsam an dem massiven Automobil seines Kontrahenten vorbei. Den Überblick bewahren, sich keinen Leidenschaften hingeben, denke ich noch, als er seinen Autoschlüssel mit Genugtuung durch den fremden Lack schrammt.

Am Ende meines Arbeitstages sind die bröckelnden Stufen im Eingangsbereich mit einem roten Teppich bedeckt, eine erfolglose

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Suche nach Luxus. Das vergoldete Aluminiumgeländer flankiert eine vor sich hin trocknende Palme, die wenig Wasser braucht und niemals welches bekommt. Ich schaue in meinen Briefkasten. Rech-nungen. Wasser, Strom, Telefon. Ich überlege, die Pflanze mit meinen Rechnungen zu wässern. Stattdessen halte ich einem alten Mann mit hoher Stirn die Tür auf. Er wohnt im dritten Stock. Er ist einer der wenigen, die eine kleine Dreizimmerwohnung mieten, ganz für sich allein. Sechzig Quadratmeter steht auf dem Papier des Mietvertrages. In Wirklichkeit sind es vierundfünfzig. Er habe nachgemessen. Jeden Winkel. Er trägt eine Tüte. „Die Milch ist teuer geworden“, sagt er, „dabei brauchte ich nur Brot und Kaffee. Betrüger! Überall Betrüger!“ Wir warten auf den Aufzug. Vergeblich. Der Aufzug streikt. Jemand hat die Tür offen stehen lassen. Die Frage ist, in welchem Stock. Ich wohne im achten.

Ich nehme die Treppe. Vierundneunzig Stufen. In der fünften Etage blockieren drei Musketiere die Aufzugstür. Ich kenne sie nicht. Ich denke an den alten Mann, als die drei ihre Talfahrt aufnehmen, wahrscheinlich auf dem Weg zu einer Bar, um zu konsumieren und sich auszulöschen. Der fünfte Stock ist ein gekrümmter Raum. Eine unendliche Anzahl von Menschen lebt hier. Oder niemand. Keinen, der hier in den Aufzug steigt, habe ich jemals wieder gesehen. Alle, die aussteigen, bleiben für immer. Und dann, zu später Stunde, tummeln sie sich im Fahrstuhl. Nachts lässt niemand Türen offen stehen. Die Nacht ist der Höhepunkt der Aktivität. Der Aufzug fährt und fährt, findet keine Ruhe, kommt nicht zum Stillstand. Hoch, runter, runter, hoch. Ein Metronom. Der Motor klopft, setzt sich mit leisem Stamp-fen in Gang, röhrt und rattert. Ich schlafe nicht, zähle jede Fahrt. Ein-hundert und siebzehn. Einhundert und achtzehn. Sieben Taktschläge pro Minute. Ich stehe auf, meine Pulsrate steigt.

Am nächsten Morgen verstellen Umzugskartons den Eingang. Ein künstliches Leopardenfell liegt darauf. Die Raben spielen auf dem Dach, lassen Steine in die Tiefe plumpsen. Einen. Zwei. Drei. Raben spielen gern. Vier. Fünf. Raben sind neugierig, denn Intelligenz ist aufwendig und teuer zu erkaufen. Steine fallen auf den Gehweg. Sechs. Sieben. Im Halteverbot zerspringt eine Windschutzscheibe.

Nora Lau ist auf der Suche nach kulturellen Unterschieden in der Wahr-nehmung von Orten, Zeit und Wirklichkeit, in Wort und Bild, in Berlin und Mailand. Sie bewegt sich an der Schnittstelle zwischen Text, Kunst

und Architektur, studierte an der Universität der Künste Berlin und schreibt Essays und Kurzgeschichten in deutscher und englischer Sprache.

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Arno Schlick

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Arno Schlick wurde 1970 in Nürnberg

geboren und studierte Philosophie und Biologie in Berlin und Potsdam. Er beschäftigte sich mit Wissenschafts- und Systemtheorie sowie mit Sprachphiloso-phie. Seine literarischen Gattungen sind

Lyrik, Kurzprosa und seit 2012 auch verstärkt Konkrete Poesie.

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Ich suche etwas im Supermarkt und wen-de mich an den Verkäufer. Er ist etwa so alt wie ich, vielleicht ein paar Jahre älter. Wäre er mir in der Universität als Kom-militone begegnet, wäre es klar gewesen: Ich duze ihn. Hier aber ist er der Ange-stellte, ich die Kundin. In dieser Situation befinden wir uns beide in Rollen und das Verhalten beider Gesprächspartner ist durch Konventionen geregelt. Diese Konventionen widersprechen hier dem, was man unter anderen Bedingungen in-tuitiv tun würde und schon ist man sich unsicher, wie viel Höflichkeit angemes-sen ist. Ein Leben lang entwickeln wir ein Gefühl für solche Fragen: Welche Anrede nutze ich? Welche Formulierung und welche Wortwahl sind der Situation an-gemessen? Wie lehne ich etwas ab, ohne unhöflich zu wirken? Einige von uns sind erfolgreicher damit als andere, aber die Meisten erwerben nach und nach ein gewisses Taktgefühl.

Jede Sprache hat ihre eigenen Höflich-keitsregeln

Bedient man sich einer anderen Sprache und lebt dazu vielleicht

in einer anderen Kultur, beginnt der Lernprozess erneut. Jede Sprache hat unterschiedliche Regeln, wenn es um Höflichkeit geht. Türkische Deutschspre-cher werden oft als unhöflich wahrge-nommen, während Engländer als außerordentlich höf-lich gelten. Woran liegt das?

Auf den ersten Blick scheint Höflichkeit mit etwas anderem gekoppelt zu sein: Direktheit. Je indirekter eine Bitte, also eine Äußerung, in der ein Wunsch an jemanden gerichtet wird, formuliert ist, als desto höflicher wird sie empfunden. Das liegt unter anderem daran, dass der Adressat bei einer indirekten Formulie-rung mehr Möglichkeiten hat, die Bitte zurückzuweisen. Sprachwissenschaftler, die sich mit der unterschiedlichenWahr-nehmung und dem unterschiedlichen Ausdruck von Höflichkeit in verschie-denen Sprachen beschäftigen, haben Arten von Bitten nach dem Grad ihrer Direktheit auf einer Skala angeordnet. Jede Sprache hat selbstverständlich andere Mittel, Bitten auszudrücken, aber für jede Sprache ist diese Abstufung nach Direktheit möglich. Als Bitte wird jede Äußerung verstanden, in der ein Wunsch an jemanden gerichtet wird. Im Deutschen wären „Bitten“ im Imperativ eine der direktesten Formen. „Kauf mir ein Eis“ wird in den meisten Situationen als unhöflicher empfunden als „Würdest du mir ein Eis kaufen?“ oder „Meinst du, du könntest mir ein Eis kaufen?“. Noch indirekter als in der letzten Formulierung kann eine Bitte durch sogenannte „off-record“-Strategien ausgedrückt wer-den. In diesen kann die Äußerung auf verschiedene Weise gedeutet werden und die Intention „Bitte“ wird nicht direkt formuliert. Ein Beispiel wäre hier „Ich

esse unglaublich gerne Eis“, wenn die Gesprächspartner vor einer

Eisdiele stehen.

Die hohe Kunst der Höflichkeit

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Auch im Englischen greift der Zusam-menhang von Höflichkeit und Direktheit. Sprecher dieser Sprache bevorzugen, ähnlich wie im Deutschen, negative Höf-lichkeitsstrategien, in denen ein Wunsch oder eine Bitte nicht direkt formuliert, sondern über off-record-Strategien aus-gedrückt werden.

Die Verbindung zwischen Direktheit und Höflichkeit ist nicht in allen Spra-chen so klar

Als Sprecher des Deutschen empfinden wir direktere Formulierungen dement-sprechend als unhöflicher. Vor allem in mediterranen Sprachen wie dem Spani-schen oder Türkischen werden allerdings direktere Ausdrücke bevorzugt. In diesen Sprachen ist die Verbindung von Di-

rektheit und Höflichkeit auch nicht immer so klar wie im Deutschen oder Englischen. Im Türkischen

zum Beispiel hängt viel von der Bedeutung und der sonstigen

Verwendungsweise einzelner Wörter ab. Auch die Herkunft und historische Ent-wicklung eines Wortes hat Einfluss auf den Grad der Höflichkeit, der mit dem Wort assoziiert wird.

Die Rolle der Wortbedeutung

In einer Studie zu wahrgenommener Höflichkeit in Bitten wurden türkische Muttersprachler gebeten, Aussagen nach dem Grad ihrer Höflichkeit zu ordnen. Überraschenderweise wurde eine sehr

direkte Formulierung als taktvollste Form eingestuft. Eine Gastgeberin äußert sich gegenüber ihren Gästen wie folgt:

Bu akşam 7:30’ da yemeğe davetliyim. Kalkmanı rica ediyorum.Heute Abend bin ich um 7:30 Uhr zum Essen eingeladen. Ich bitte euch zu gehen.

Im Deutschen würde diese Äußerung in den meisten Situationen dazu führen, dass die Gäste sich nicht höflich be-handelt fühlen, da die Aufforderung zu direkt formuliert ist. Im Türkischen gilt der Ausdruck rica etmek, also “bitten”, jedoch allein von seiner Bedeutung her bereits als höfliche Formulierung. Aus diesem Grund bewer-ten türkische Sprecher die direkt formulierte Aufforderung oben als äußerst rücksichtsvoll. An diesem Beispiel kann man erkennen, dass Höflichkeit und Direktheit nicht zwingend miteinander zusammenhängen. Auch die Wortbedeu-tung spielt eine Rolle beim Formulieren von höflichen Bitten und Aufforderun-gen. Im Englischen gibt es ebenfalls Verben, die bereits in ihrer Bedeutung als eher formell und damit höflich angese-hen werden. Das englische request wird beispielsweise gegenüber dem Verb ask als sehr viel formgewandter empfunden. Wie höflich eine Äußerung eingestuft wird, hängt demnach nicht nur von der Direktheit ihrer Formulierung und damit

Ein soziolinguisti-scher Beitrag von

Judith Daute Die hohe Kunst der Höflichkeit

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der Möglichkeit des Gesprächspartners, zu widersprechen oder abzulehnen, ab. Höflichkeit ist ebenfalls eine Frage der Wortwahl oder des “Registers”.

Sind türkische Muttersprachler direkter als deutsche?

In der Studie zu wahrgenommener Höflichkeit in Bitten und Aufforderungen wurde auch die Formulierung höflicher Bitten im Türkischen untersucht. Wie bereits erwähnt, scheint das Türkische direktere Strategien zu bevorzugen. Eine Strategie, die genutzt wird, um höflich zu sein, wurde jedoch noch nicht erwähnt: Eine zentrale Handlung der Höflichkeit, die wir alle sicher jeden Tag nutzen, ist es, einfach nichts zu sagen. Obwohl das erst einmal banal klingt, ist es dennoch erwähnenswert. Berücksichtigt man die Strategie der Vermeidung, die wohl indirekteste aller Strategien, um Höf-lichkeit zu erreichen, wirft das ein etwas anderes Licht auf das Verhalten türki-scher Sprecher. Gegenüber deutschen und englischen Sprechern entschieden sich türkische Versuchsteilnehmer in der erwähnten Studie häufiger dafür, nichts zu äußern. Im oben aufgeführten Beispiel zeigte sich das daran, dass sie beschlos-sen, die Einladung zum Essen ausfallen zu lassen und sie den Gästen gegen-über nicht zu erwähnen. Die Aussage, türkische Muttersprachler seien direkter als deutsche oder englische, ist demnach nicht vollkommen korrekt und bedarf noch weiterer Untersuchung.In der Studie wird aber dennoch deutlich,

dass jede Sprache verschiedene Auffas-sungen davon hat, welche Formulierun-gen in welchen Situationen angemessen und höflich sind. Bei der Bewertung der Höflichkeit von Aussagen gaben Sprecher von sechs verschiedenen Sprachen auch sechs unterschiedliche Antworten.

Man sollte sich die Unterschiede vor Augen führen

Beim Erlernen einer Sprache besteht also immer die Herausforderung nicht nur Grammatik und Vokabeln zu beherr-schen, sondern auch die subtilen Regeln der Höflichkeit. Wie schwierig diese Aufgabe ist, wird deutlich, wenn man sich überlegt, dass man schon in seiner Muttersprache ein Leben lang diese Regeln lernt und dann trotzdem unsicher und ratlos im Supermarkt vor dem Ver-käufer steht, um dann sicherheitshalber ganz auf eine Anrede zu verzichten. Ein Taktgefühl in einer anderen Sprache zu entwickeln ist also keine leichte Aufgabe.Die Verständigung mit Sprechern ande-rer Sprachen wird aber vielleicht schon dadurch erleichtert, dass man sich die unterschiedliche Auffassung von Takt in verschiedenen Kulturen vor Augen führt. Eine Spanierin, die sagt: “Ich möchte ein Eis”, ist dann eben nicht unhöflich, son-dern richtet sich nur nach den Höflich-keitsregeln ihrer Sprache.

Zum Weiterlesen: Leyla Marti: “Indirectness and Politeness in Turkish-German Bilingual

and Turkish Monolingual Requests”, in: Jour-nal of Pragmatics, 38 (2006), S. 1836-1869.

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Nachtstück // Mena Koller

Immer wieder nachts immer wieder frühmorgens oder dazwischen im stadtschlierigen dämmergrau ein schlafloses warten und vergessen nur ewig rauschende kriechende zeitlosigkeit vor dem fenster eine bewegungslose flucht und ich bin ein schatten an der eigenen wand in der nacht klaustrophobisch und leergeweint im faradaykäfig zwischen gestern und morgen im grau im schwarz im dazwischen und die einzige gnade nicht zu wissen wie viel zeit noch bleibt im warten im vergehen im bewegungslosen nie-mandsland da draußen und die stille brandet im kreis mein schatten zerfasert an der wand alles verläuft ins rahmenlose und irgendwann kommt das morgen irgendwann geht im niemandsland die sonne auf und wie soll man sich wehren mit leeren händen und brennenden augen es ist so spät es ist viel zu spät die welt dreht sich trunken und wortlos aus ihren angeln und ich bin ein schatten an der eigenen wand im dunkel im dämmergrau im dazwischen und meine teetasse sagt watch out for sharks diese tiefetiefe tasse voller ozeangebrüll und haie aber im gesprungenen porzellan schwappt nur kaltgewordener trost und die raubtiere sind dem tassentümpel längst entkommen ins schwarz ins grau ins dazwischen und finden mein wehrloses schattengefaser und alles riecht nach blut und in stücken wollte ich auf dem meer treiben als ich noch worte hatte und jetzt möchte ich mich in den nassen sand übergeben auf allen vieren mit dem trägen müden brandungsgeräusch neben mir und ich will alles von mir geben grau und schwarz und rot in den nassen sand und wissen dass es dunkel ist und wissen dass es stundenlang dunkel bleiben wird und wenn der sonnenaufgang droht werde ich mit

Mena Koller

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beiden händen mich festhalten im nassen sand und für eine sonnenfi nsternis beten doch hier kann man das meer nicht hören meine laken sind nur salzig vom schweiß und es wird nicht mehr lange dunkel bleiben das dazwischen wird meinem käfi g ent-kommen wird mich verraten und die brandung kann sich darum nicht kümmern die zeit wird mich fi nden mein schatten hat mich schon verlassen und ich muss aufh ören mitten in der nacht sonnenfi nsternisbrillen zu tragen alles stürzt an mir vorbei und hinterlässt nur engere fenster es wird nicht mehr lange dunkel bleiben es wird nicht mehr lange egal sein wie es dir geht das hier könnte das hier wird was ist schon zeit was heißt denn alles oder nichts und was heißt es schon sich nicht mehr im dazwischen zu verstecken ich zeige jeden morgen vor dem spiegel auf mich selbst es ist bald vorbei und ich lüge und du willst nicht weinen und ich vergesse und du brichst durch alle schranken und ich lasse dich im stich du kannst mich nicht sehen kein ich mehr und kein du die andere schwingt ihre rostige axt kein schritt mehr kein heute mehr du fällst unter null kein wort mehr du fällst unter null kein gewicht mehr und kein halten du musst aufh ören zu schreien zerbrochenes geschirr und wunde nagelhaut schließ die tür und lass mich allein bis ich verhungert und verschwunden bin kein schritt mehr kein wort mehr salz und kupfer du fällst unter null alles kommt und kommt und du hast den mund zu spät geschlossen das meer brennt dir in der nase wohin wenden was hal-ten vor oder zurück unten im brunnen alles rund und um und um und um fräst sich alles in die wände und draußen lacht und lacht und lacht das morgen.

Mena Koller, Kindheit und Jugend im Palazzo di Latte, nach dem Abi-tur Abbruch der Lehre und des Studiums, danach vogelfrei. Seit 2010 in

Berlin, seit 2012 mit festem Wohnsitz. Kurzgeschichtenband Fluchtpunkte erschien 2013 bei Periplaneta.

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Rabea Senftenberg

There is no reælity – until you mæke one. Rabea Senftenberg built her own universe.

She prefers playing on different surfaces like walls, wood, stones, brick, canvæs, elephants, cotton, skin or pæper.

 Her wørk is inspired by this & thæt, club culture and party hedønism. Since 2010 she gives the Robot Army Berlin a visual ID. 

There are rumours that she´s a fæmous German politician with migrætion bæckground but we think that´s just a hoax. 

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Die Autoren Ivo Theele, Arne Hirsemann und Patrick Pieper und der Musiker Lukas Schlaff-ke bilden das Künstlerkollektiv Kommando Elektrolyrik. Seit 2008 läuft das intermediale Ex-periment, das die vier selbst als „Konvergenz aus elektronischer Musik, Spoken Word und Per-formance“ bezeichnen – und das nicht ohne Erfolg: 2010 erschien die erste CD Status geändert im Gonzo Verlag in Mainz. Lukas und Arne über tanzbare Lyrik.

Interview: Stephan Heiden

Würdet ihr kurz erzählen, wie es zum Kommando Elektrolyrik gekommen ist?

Lukas: Ich bin damals in die WG von Arne gezogen und so haben wir uns auch kennen gelernt. Wir haben festgestellt, dass er in einer Literaturgrup-pe ist und ich Musik mache und so sind wir auf die Idee gekommen, beides miteinander zu kombinieren.

Arne: Vor dem Kommando Elektrolyrik gab es zwei oder drei Jahre lang schon

die Autorengruppe Kommando Schreib-maschine. Die wurde 2005 gegründetund ich bin 2006 dazugestoßen. Wir waren öfters auf Tour und haben Texte gelesen und zwischendrin Musik ge-macht. Wir haben dann 2008 einen Slot für ein Literaturfestival in Paderborn bekommen und durften uns da ausprobieren. Dafür haben wir extra ein Programm erarbeitet und unsere Texte mit elektronischer Musik kombiniert – die „Geburtsstunde“ von Kommando Elektrolyrik.

Was hat sich seitdem verändert? Empfinden die Autoren unter euch die Arbeit mit der Musik als erschwerend oder erleichternd?

Arne: Als wir noch mit Kommando Schreibmaschine unterwegs waren, haben

wir ganz anders geschrieben. Kleine Kurzgeschichten und klas-sische Gedichtformen waren unter anderem dabei. Wir haben aber festgestellt, dass reine Prosatexte mit einem treibenden Beat nicht funktionieren. Als wir anfingen,

Texte und Beats zu vermischen, ging das eher in Richtung Hörspiel, was wir aber nicht wollten. Wir verstanden, dass wir anders schreiben müssen, verdichteter und komprimierter.

„Es kann ein Fluch sein, e inen Takt zu haben“

„Prosatexte funktionieren nicht mit einem treibenden Beat“

„Die Musik darf den Text nicht erschlagen“

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„Es kann ein Fluch sein, e inen Takt zu haben“ Im Gespräch mitKommando

Elektrolyrik

Lukas: Das muss musikalisch auch ganz anders produziert werden. Es kann ein Fluch sein, einen Takt zu haben. Wenn der Text beispielsweise kein festes Met-rum besitzt, muss sich die Musik daran anpassen. Die Musik muss sich zurück-nehmen können, damit sich der Text entwickeln kann.

Arne: Die Musik muss aber auch ihren Platz haben, deshalb brauchen wir immer ein Gleichgewicht, bei dem die Musik den Text nicht erschlägt, damit das Publikum mitkommen kann. Es bringt wenig, wenn Text und Beat komplex und vertrackt sind, die Zuhörer dabei aber überfordert. Gleichzeitig be-steht natürlich die Gefahr, dass wir uns textlich zu sehr reduzieren, was nicht unserem Anspruch entspricht.

Auf eurer Facebook-Seite bezeichnet ihr euch selbst als „Gesellschaftskriti-ker und Grenzgänger“. Inwiefern kann der elektronische Beat, der Takt, die kritischen Inhalte eurer Texte unter-stützen?

Lukas: In dem Moment, wenn Men-schen tanzen und eine gute Zeit haben, nehmen sie auch automatisch etwas von den Inhalten mit und dadurch wird auch die Nachricht transportiert und die Botschaft Stück für Stück weiter getragen.

Arne: Natürlich setzen wir uns kritisch mit Themen auseinander und schreiben Tracks darüber, aber der Takt ist immer wichtig, unabhängig vom Thema. Im Idealfall stützen Text und Musik sich. Die Musik kann hierbei helfen, kritische Inhalte eingängiger unter die Leute zu bringen. Wir wollen uns aber nicht auf Partytracks mit subversiven Botschaften beschränken. Das wäre zu einfach.

Mehr über Kommando Elektrolyrik findet ihr auf Facebook und unter

www.elektrolyrik.de.

„Wir wollen keine Par-tytracks mit subversiver Botschaft“

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Martin Piekar

Kanonen & Taiko // Martin Piekar

Hauptwache, Ffm, 04.11.11

I

im See von Menschenjagen die Noten im Tanz Wellenschläge sind

II

ein Brüllen von Dra-chen, gleich einer Parabel

zum Himmel hinan

III

deutsche Kanonenund japanische Trommlerein Taikosutra

IV

verdonnert Taubensie weichen den Schallschlägen

denen wir lauschen

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die Banken verschrecktnichts, denn Yen auch und Eurotreiben unerhört

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VI

ein wenig Nippon –Sittenstrenge bewundern –

die Menschen neben-

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bei bemerkt, man kauftdie Hauptwache strotzt heut vorwerbenden Wandrern

VIII

Trommelgewitterverfließt in meinem Gehör

zu Kult und Kultur

IX

Kanonen schießen,die Trommeln zu begrüßen,die Lauttreffpunkte

X

Wie Wellen – von Stei-nen in Flüsse geworfen –

Durchleben sie mich

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Menetekel // Martin Piekar

Die Wildheit des Entscheidens hat mich infiltriert. AufKredit. Ein Omen im Alkohol. Es beißt. Es beizt gedankentrüb. Ich weiß nicht, wie splittrig ich bin.

Die Nacht eine Wand. Im Lot zwischen Schatten- undWindlandschaft. Der Mond ist eine Uhr. UnpräziseSchimmer. Ich bin ihr Zeiger. Ich weiß nicht, ob ich allein

bin. Vielleicht tickt einer mir nach. Im Takt von Lied zu Lid. Es scherben die Augen der Welt. Sinneseindrücke wie Spinnennetze durch die man barhaupt läuft. Ein Grusel

schwingt mit. Ich weiß nicht, wieso ich hier bin.Es war mir ein Bedürfnis. Auf Kredit ist die Nacht eine Wand. Ich schreibe sie voll.

Martin Piekar, *90, studiert Philosophie und Geschichte an der Goethe Universität Frankfurt am Main. Veröffentlichte

Gedichte in Zeitschriften (z.B. POET, Neue Rundschau, ma-nuskripte, Ort der Augen) und Anthologien (Open Mike & Versnetze sechs). Gewinner des Lyrikpreises beim 20. Open

Mike, 2012 in Berlin und veröffentlicht seinen ersten Gedicht-band beim Verlagshaus J Frank im Frühjahr 2014.

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ZU DEINEN GEZEITEN // Florian Kuhn

Zu deinen Gezeitenwenn die Unruh uns beiden das Fleisch müde gräbtund unsere Wörter die Priele nicht findenum weiteres Leben zu schwemmenlege ich neue Strände ohne Brandungzähme ich die lahmgejagte Welleaus der Flut locke ich sieHerzvoll Mollhinter Deinen Gezeiten.

Florian Kuhn

Florian Kuhn, *1978 in Eutin. Studium der Linguistischen Datenverarbeitung,

Informatik und Phonetik in Trier. Promo-viert derzeit in Computerlinguistik an der

Universität Potsdam. Lebt in Potsdam.

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Léon Giogoli

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Ende

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Ende

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Clemens Schittko

Krossener Straße 12, 3. Etage rechts, linkes Zimmer // Clemens Schittko

nach Joachim Wendel

Vor der Tür stehen Bücher und CDs.Hinter der Tür, an der gegenüberliegenden Wand, steht ein Regal.Im Regal stehen Bücher und CDs.Neben dem Regal steht ein Tisch.Auf dem Tisch liegen Bücher.Unter dem Tisch liegen Bücher und CDs.Neben dem Tisch stehen Bücher und CDs und ein Stuhl.Auf dem Stuhl sitze ich.Unter dem Stuhl liegt Staub.Neben dem Stuhl steht kein Ofen.Vor keinem Ofen stehen Bücher und CDs.In keinem Ofen brennen Bücher.Keinem Ofen gegenüber steht mein Schreibtisch.Auf dem Schreibtisch liegen Bücher.Unter dem Schreibtisch liegen Bücher und CDs.Neben dem Schreibtisch steht mein Bett.Auf dem Bett liegen Bücher und CDs.Unter dem Bett liegen Bücher und CDs.Rechts vom Bett liegen keine Bücher und CDs.Rechts vom Bett stehen Bücher und CDs.Über den Büchern und CDs liegen Bücher und CDs.Unter den Büchern und CDs liegen Bücher und CDs.Neben den Büchern und CDs liegen Bücher und CDs.Bücher und CDs liegen auf dem Fußboden.

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Meeresrauschen nur sind Selbstgespräche // Clemens Schittko

nach Elke Erb

Meeresrauschen nur sind SelbstgesprächeMeeresrauschen, im Teichohr MeeresrauschenAmöbe, die, aus fernem Meergereist mit gleichsam aufsteigenden TeichenAmöbe, die, ein Inbegriff des innersten Gehirnsaus fernem Meer, Amöbe, dieaus fernem Meer, gereist, das Selbstmit gleichsam aufsteigenden Teichengereist, aus fernem MeerOh, Blastula, oh Gastrula, oh Gastaus fernem Meer das Selbstoh Gast aus fernem Meeroh Blastula, oh Gastrula, oh Gastein Inbegriff des innersten Gehirnsdenn das Selbst, wie wir es hattenein Inbegriff des innersten GehirnsInbegriff des innerstenein Inbegriff des innersten Gehirnsdenn das Selbst, das reineMeeresrauschen, Meeresrauschen nursind Selbstgesprächehört ja weder selbst noch sprichtshört ja weder, hört ja weder selbsthört ja weder selbst, noch sprichtsnoch sprichts

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denn das Selbst, wie wir es hattenMeeresrauschen nur sind Selbstgesprächewie es vom Stängel nickt, ScheibenmonstranzScheibenmonstranz, wie es vom Stängel nicktunter Gottes Eifersucht und scheinheiligem LidschlagGolddenn das Selbst, von träger Reaktionleicht mechanisch zu bearbeitenaußerordentlich weich und dehnbarGold, außerordentlich weich und dehnbarleicht mechanisch zu bearbeiten,von träger Reaktion, das reinegeklaubt aus schroffen Quarzendas reine Golddenn das Selbst, geklaubt aus schroffen Quarzenvon unseren Klondike-Klauenund sibirischen, karpatisch ...unter Gottes Eifersucht und scheinheiligem LidschlagGold, das reineunter Gottes Eifersucht und scheinheiligem Lidschlagdenn das Selbst, wie wir es hattenGold, unter Gottes Eifersuchtund scheinheiligem Lidschlagdas reine Gold, wie wir es hattendenn das Selbst, das reinedenn das reine SelbstMeeresrauschen nur sind SelbstgesprächeMeeresrauschen, Meeresrauschen nursind Selbstgespräche

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Wie gehabt // Clemens Schittko

Ich sage: Ich liebe dich. Du sagst: „Ich liebe dich“ zu sagen ist ein Plagiat. Ich sage: Zu sagen, dass etwas ein Plagiat ist, ist ebenfalls ein Plagiat. Und so hassen wir einander schweigend weiter, wie gehabt.

Alles ist an seinem Platz // Clemens Schittko

Alles ist an seinem Platz,da ist der Tisch, der Stuhl, das Bett,die Zeit erschöpft sich in Gebärden,alles ist an seinem Platz,die Welt ist schön, ich bin allein,d.h., ich denke nicht an mich,alles ist an seinem Platz,versuchen die Dinge auszubrechen,fangen die Begriffe die Dinge wieder ein,alles ist an seinem Platz,ist Tisch und Stuhl und Bett.

Clemens Schittko. Geboren 1978 in Ber-lin/DDR. Ausgebildeter Gebäudereiniger und Verlagskaufmann. Arbeitete u. a. als

Fensterputzer und Lektor. lauter niemand preis für politische lyrik 2010. Letzte

Buchveröffentlichung: Und ginge es de-mokratisch zu (SuKuLTuR, Berlin 2011).

Lebt in Berlin(-Friedrichshain).

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Paula und Tom kommen zu Geld // Alexander Kappe

Baby wir haben jetzt Geld.Oh Baby was ist passiert?Großmutter ist tot. Wir haben jetzt ihre Kohle.Oh Baby was werden wir mit dem Geld tun?Ich weiß nicht Baby. Ernsthaft. Ich weiß es nicht.

Es ist Zeit mir meinen großen Traum zu erfüllen! Ich wollte schon immer die Lieder des Vogels lernen! Also kündigte Paula ihren Job und legte sich auf die Wiese und hörte zu. Schnell kannte sie die Melodien, die Intervalle des Gezwit-schers, die verschiedenen Harmonien. Tom, ich kenne die Lieder des Vogels! Ich wollte doch schon immer die Lieder des Vogels lernen! Tom zerdrückte seine Zi-garette und legte den Hörer beiseite. Das ist doch nicht dein Ernst! Wir haben jetzt Geld und das erste woran du denkst sind deine großen Träume! Baby dass wir die Kohle jetzt haben kann kein Zufall sein!

Baby Baby Baby was ist nur mit uns geschehenWohin soll es nur mit uns gehenFrüher war alles einfach und gut

Heute haben wir Geld und nichts ist mehr gut

Das sind Tom und Paula, und dass sie nun „die Kohle“ haben, ist sicherlich kein Zufall. Ich kann dir mit ziemlicher Sicherheit sagen dass diese beiden Leute komplett irre sind. Du magst mir nicht glauben weil ihre Namen „Paula“ und „Tom“ sind, was darauf hindeutet, dass sie Eltern haben, die ihre Kinder sehr liebten, vielleicht ein wenig zu sehr – sie zu ihren kleinen narzisstischen „Kids“ machten, die Sonnenkinder, die jeder mochte – aber trotzdem, sie liebten sie, ergo müssen sie anständige Leute geworden sein. Doch nein, du bist absolut auf dem Holzweg, beide sind komplett irre, durch und durch meschug-ge, sie sind obskur, ihre Revolte ist Idiotie.

„Tom, der kleine, freche, sonnige Junge, sportlich, trägt schon mit 10 die cools-ten Turnschuhe“„Paula, sensibel und intelligent und kreativ, mag Bücher und später Wein und Reisen, insb. Paris“

Nein, du kapierst es nicht. Sie sind irre.

Tom traf den Fremden an einer dunklen Ecke am Hafen. Sie tauschten ein paar kurze Worte aus, Tom gab dem Fremden einen Metallkoffer, und der Fremde gab Tom einen großen Sack, den Tom über seine Schulter warf. Tom?, schrie

Alexander Kappe

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Paula als Tom bei Nacht durch die Tür kam, was hast du getan? Wofür brau-chen wir das? Tom, wie du bisher nicht deutlich hast erkennen können, hatte eine große Menge Geld für eine gute Menge an Waff en ausgegeben. Tom sagte: Wir haben Ideale, meine liebe Paula, und jetzt haben wir endlich die Kohle alles umzusetzen. Du hast dein Singen, und du stellst die Melodie bereit, und ich besetze die Trommel des Krieges und liefere den Rhythmus. Jeder Takt eine Maschinengewehrsalve. Jede Strophe ein Kopf auf dem Bajonette.

Baby Baby Baby was ist nur mit uns geschehenFrüher war alles so bunt und so frei und jetzt ist alles so …

Lass uns einen langen Urlaub machen und fort von hier gehenFrüher lief es bei uns beiden so …

Lass uns in Urlaub und nichts davon sparenBitte lass uns in Urlaub fahren

So können wir uns retten

Baby weißt du noch, wie wir den Kuchen mit zwei Messern essen mussten, weil wir nicht mehr hatten als das? Keine Gabeln und Löff el, nur Messer. Mund auf und HAPPS HAPPS. Damals war uns das alles einfach egal, wir fühlten uns frei. Es schien mir das Paradies. Du solltest nie vergessen, wie wir damals den Kuchen gegessen haben. Paula, ich hatte den Kuchen nur für dich mitgehen lassen. Du solltest nie vergessen, dass wir mal arm waren. Besonders jetzt wo wir Geld haben. Wir müssen mit jedem Blick nach vorn auch einen Blick nach hinten werfen. Paula, vergiss nie immer einen Blick nach hin-ten und einen Blick nach vorn zu werfen. Sonst wirst du es bereuen. Lass uns diesen Satz auf Postkarten drucken und verkaufen. Knüller Idee.

HAPPS HAPPS

In der Folgezeit dieser Unterhaltung geben Tom und Paula eine sehr kleine Menge ihres Geldes aus und drucken Postkarten. Sie verbringen Tage in ihrer selbstgebauten Bude an der Ostsee und verkaufen ihre Karten an Touristen. Wie man sich wohl denken kann, klappt das nicht so gut. Die Stimmung ist angespannt. Das Schlimmste was jedoch passiert ist, dass Tom – übellau-nig wie er manchmal werden kann – eine Postkarte nimmt und sie auf den Rücken eines schlafenden kleinen Kindes legt, so dass man von den Eltern jenes Kindes, als es aufwachte, panische Schreie hört, wer zur Hölle Paula, vergiss nie immer einen Blick nach hinten und einen Blick nach vorn zu werfen. Sonst wirst du es bereuen auf den Rücken ihres kleinen Mädchens geschrieben hatte. Du magst es nicht gewusst haben, aber Tinte hinterlässt Abdrücke auf der Haut, wenn sie heiß wird. Ihre Beziehung litt unter dieser Sache nicht wenig.

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Baby?Ja Baby?Da war ein Mann an der Tür?Aha? Was hat er denn gesagt?Ich weiß nicht? Dass wir verflucht sind wenn wir das Geld behalten?Was? Was hast du ihm gesagt?Nichts? Er sah völlig schräg aus?Aha? War er ein Kobold?Nein? Ich habe keinen Goldtopf gesehen?Ich schau mal kurz raus? Da ist auch kein Regenbogen?Was er hier wohl gewollt hat?Vielleicht hat er sich geirrt? Oder dachte wir haben sein Geld?Ich weiß nicht? Er wollte bestimmt krumme Dinger drehen?Glaubst du Großmutter hat Geschäfte mit diesem Kobold gemacht?Das kann ich mir kaum vorstellen? Großmutter war geizig aber ehrlich?Meinst du er kommt wieder?Ich weiß nicht? Ich hoffe nicht?Dann behalten wir das Geld?Ja? Auf jeden Fall?Hat er noch was gesagt?Nein?

Ich habe dich gewarnt. Irre.

Ich habe eigentlich keine Neigung zur Theatralik … Aber wirklich jetzt, manchmal fühle ich, dass mein innerster Kern zerbrochen wurde … als würde ich rennen, auf der Straße, und versuchen die Münzen, die mir aus den Taschen herausfliegen, einzusammeln, die herumfliegenden Scherben meines kümmerlichen kleinen Egos, wie ein Bettler … es ist das Leben eines Bettlers. Ich sollte das auf ne Postkar-te drucken.Das ist zumindest, was ich meinem Doktor gesagt habe.Er sagte mir mit einem Lächeln: Paula, Sie sollten versuchen weniger in allem nachzubohren und einfach öfter glücklich sein.Süßer Typ eigentlich.

Die Dinge liefen fortan ein wenig aus dem Ruder. Beide hatten sich bis zu diesem Zeit-punkt, da sie zu Geld gekommen waren, noch unter Kontrolle. Doch fortan nicht mehr.

Baby?Ja Baby?Ich muss dich was fragen.Was denn?    Hast du Großmutter umgebracht?Nein.Okay.

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Wirklich nicht?Nein.Okay.

Wer’s glaubt wird selig.

Manchmal fühle ich mich … als wären wir Puppen in einem Spiel … Marionetten an denen irgendein Clown spielt … wenn er das Spielzeug nicht gleich wieder vergisst und in die Ecke fortwirft … irgendwelche zufälligen Ereignisse widerfah-ren uns … der Clown hat das Spielzeug in der Ecke wiederentdeckt und zupft ein bisschen dran … es hätte auch alles Andere sein können wieso genau das Ereignis? … mit Abstand betrachtet gibt es keinen ultimativen Grund wieso dies geschieht und nicht jenes und doch geschieht genau das … die Ereignisse bilden irgendeinen zusammenhangslosen Takt … Paula und ich ich meine wir haben jetzt Geld aber es hätte auch alles andere passieren können weißt du …Der Hund, mit dem er sprach, sagte nichts zu dieser Bemerkung.

Ich erkenne dich nicht wieder. Was ist mit dir los? Du bist entweder total aufge-dreht oder liegst tot in der Ecke. Manchmal denke ich, du bist wahnsinnig gewor-den. Weißt du was sie früher mit den Wahnsinnigen gemacht haben? Sie haben sie auf Schiffe gepackt und losgeschickt auf die große Reise, damit sie eins werden mit der Weite des Meeres. Weißt du, vielleicht sollten wir das auch machen, einfach alles einpacken und losfahren. Wir sollten einen großen Urlaub machen. Vielleicht hilft es uns, wenn wir von all dem einfach wegkommen.Ich weiß von dir und dem Doktor.Es wird wohl nicht schwer sein sich vorzustellen, wie sich an dieser Stelle das Ge-spräch gewendet hat.Ich war auch mal bei ihm. Wahrscheinlich erinnerst du dich nicht. Ich hatte Angst dass wir keine Kinder mehr bekommen können. Mein linker Hoden brannte. Aber seine Hände waren behutsam und sanft.

Was sollen wir mit dem Geld tunWas sollen wir mit dem Geld tunWas sollen wir mit dem Geld tun

Was sollen wir mit dem Geld tun was sollen wir mit dem Geld tun was sollen wir mit dem Geld tun was sollen wir mit dem Geld tun was sollen wir mit dem Geld tun was sollen wir mit dem Geld tun WAS SOLLEN WIR MIT DEM GELD TUN was sollen wir mit dem Geld tun

Was sollen wir mit dem Geld tunWas sollen wir mit dem Geld tunWas sollen wir mit dem Geld tun

Was sollen wir mit dem Geld tun was sollen wir mit dem Geld tun was sollen wir mit dem Geld tun was sollen wir mit dem Geld tun was sollen wir mit dem Geld tun was

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sollen wir mit dem Geld tun WAS SOLLEN WIR MIT DEM GELD TUN was sollen wir mit dem Geld tun

All work and no play makes Jack a dull boy

Wie gesagt, von dort aus ging es abwärts mit Paula und Tom. Paula hatte keine Lust mehr zu kochen und immer öfter Schmerzen an verschiedenen Stellen ihres Körpers. Nicht ganz unzufällig war der passende Experte für die Behandlung dieser verschiede-nen Stellen ihres Körpers ihr lieber Herr Doktor. Tom hörte auf Klarinette zu spielen. Dinge kamen zum Vorschein, die lange verborgen gelegen hatten. Als sie beide unab-hängig voneinander gefragt werden, ob sie glücklicher sind als früher, antworten sie beide: Ich liebe die Verwahrlosung des Reichtums.

Komm, sie hat eh nur draufgesessen wie die Henne auf den Eiern.

Ich sag‘s dir: irre.

Ich sagte: Richter. Er war so während der ganzen Fahrt. Schnarcht die ganze Fahrt durch in der Ecke des Abteils. Dieses Schnarchen war einfach unerträglich. Als würde ein klirrender Wind durch das offene Fenster ins Zimmer heulen, im-mer und immer wieder gegen das Fenster. So ein Schnarchen hatte ich noch nie gehört. Sogar Paulas „Lieder des Vogels“ sind erträglicher als das. Es machte mich verrückt. Schleichend verrückt. Sehen Sie, ich weiß, das ist wie in diesen ganzen Stories, wo wegen irgendwelcher Belanglosigkeiten die ganze teuflische Bosheit des Verbrechers hervorbricht, er plötzlich austickt und einen Mord begeht, aber …Ach halts Maul, sagte der Richter. Was soll der Scheiß denn jetzt mit Steuerbetrug zu tun haben?Was? Alles! Alles!

Sie packen all das Geld auf einen Scheiterhaufen und zünden ihn an. Rauchschwaden steigen auf. Beide setzen ihre Masken ab. „Paula“, sagt Tom. „Tom“, sagt Paula. Das war’s also. Das Geld, die Ereignisse? Es war kein Schicksal. Es war ein Spiel. Sie spran-gen von Leben zu Leben und spielten die Rollen, die ihnen angeboten wurden. Es war wieder eine gute Runde. Sie hatten gut gespielt. Und jetzt ist es vorbei.

Ich weiß, die Kohle ist jetzt weg, aber lass uns einen Urlaub machen, einen großen langen Urlaub und all das hier vergessen.Okay.Ich meine so richtig. Mit nicht wiederkommen und so.Okay.Baby. Denkst du das Geld hat uns verändert?Andere hätte es verändert. Ich weiß, dass es andere verändert hätte, aber nicht uns.Wir sind genau dieselben geblieben. Obskur.

Alexander Kappe, Mittzwanziger, studiert Philosophie in Berlin, dichtet und denkt, war mal hier und mal dort.

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Der Berliner Rapper Kobito studiert Publizistik und Geschichte und macht unter anderem als Teil der Hip-Hop-Crews Ticktickboom, Deine Elstern und Schlagzeiln politischen „Zeckenrap“. Im Inter-view erzählt er, dass Hip Hop eine taktvolle Kunstform sein kann und dass sich Inhalte und gute Flows nicht gegenseitig ausschließen. Kobitos neues Album erscheint im Mai 2014.

Interview: Laura Schlingloff

Wie kamst du zum Hip Hop?

Auf jeden Fall eher über die Kultur – über eine Faszination, über Fan-Sein, über Auch-Wollen-aber-nicht-Wissen-wie. Eine Zeit lang hab ich nur rumgeschrie-ben, die Klamotten getragen und ein bisschen an Häuserwände gemalt, aber ich hatte dazu nicht so eine richtige Connection. Mit 18, vor neun Jahren, hab ich ernsthaft angefangen, Musik zu machen, habe viel ausprobiert, bin auf die Fresse geflogen, habe eine uninteressante erste Platte produziert … aber immerhin eine Platte produziert.

Was fasziniert dich denn daran?

Man muss nicht so viel bildungstechni-sches Know-How mitbringen, sondern kann sich alles selbst erarbeiten. Das war es auch, was für mich so einen Aha-Mo-

ment produziert hat: Beim Freestylen oder beim Schreiben habe ich gemerkt, ich kann meine Gedanken da rausbringen und es hört sich vielleicht nicht so an, wie ich es möchte – am Anfang bleibt man sehr unter seinen Möglichkeiten und ist frustriert davon, dass man eher den Reimen hinterherläuft als dem Inhalt. Aber die Songs werden bei jedem Mal besser. Wie ein süchtig ma-chendes Computerspiel geht es immer ein Level hoch und das fühlt sich ziemlich großartig an. Weil man für Rap nicht viele technische Voraus-setzungen braucht, kann er ein tolles Mittel sein für Leute, die nicht so viel haben – ich glaub wirklich, dass das eine große Kraft hat. Ob und wie diese genutzt wird, ist natürlich noch mal eine andere Frage. Ich versuche auf jeden Fall, dem gerecht zu werden, was Rap kann. Und manchmal kann ich halt auch einfach nur Quatsch erzählen, das steht fest.

Liegt der Fokus für dich eher auf den Texten oder auf der Technik, dem Stil?

Inzwischen auf beidem. Am Anfang habe ich einfach nur gerappt, was mir in den Kopf gekommen ist. Dann habe ich eine Weile lang nur auf den Inhalt geschaut und dabei sind ganz furchtbare Texte rausgekommen, weil die ganz krass politisch waren – aber man konnte sie sich nicht anhören, weil sie keinen ästhetischen

Leichtfüßig über den Beat hüpfen

„Rap ist ein tolles Mittel für Leute, die nicht so viel haben“

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Leichtfüßig über den Beat hüpfen Ein Interview mit dem Berliner Rapper Kobito

Wert hatten. Seitdem ich das Inhaltliche für mich entdeckt habe, versuche ich in jedem Fall, alles zusammenzubringen. So nah wie auf dem neuen Album war ich noch nie an meiner Idealvorstellung von Songs, die einen Inhalt über die Worte transportieren und gleichzeitig technisch anspruchsvoll sind. Kompromisse an einer Ecke zu machen, finde ich als Anspruch ziemlich blöd.

Was ist das Verhältnis von Beat und Text?

Wenn man’s richtig macht, bedingen sich beide auf jeden Fall gegenseitig und haben etwas miteinander zu tun. Die Zeiten sind vorbei, wo ich meine Texte nehmen und irgendeinen 4/4-Takt-Beat darunterle-gen kann, damit es irgendwie passt. Das geht natürlich, aber ich höre inzwischen schon sehr genau hin, wo bei einem Beat vielleicht eine Stelle ist, wo man von On-Time zu Double-Time wechseln könnte, wo man also die Silben doppelt so schnell

passieren lässt. Insofern ist der Beat nicht mehr auswechselbar. Eine ganz typische Hip-Hop-Ge-schwindigkeit ist zum Beispiel 90 bpm. Darauf

kann man ziemlich entspannt seine Geschichten erzählen, das ist aber auch in meinen Augen nicht so interessant. Bei einem Beat von nur 70 bpm, einem richtig langsamen, muss man sich wirk-lich überlegen, ob man da On-Time drauf geht, obwohl man dann wirklich wahn-sinnig langsam reden muss … oder ob

man Double-Time schreibt und sehr, sehr schnell redet. Ein guter Beat ist schlüssig und bringt ein eigenes Stimmungsuniversum mit – gute Produzentin-nen, gute Produzenten machen das so, dass das Gesamtbild einfach passt. Wenn diese Stim-mung mich dann interessiert und mich grade trifft – meinetwegen bin ich ein bisschen wütend und es ist ein Beat, der es zulässt, dass man darauf etwas Wütendes macht – dann ist er in dem Moment per-fekt. Es muss ein Soundtrack für den Film sein, den ich darauf zimmern möchte.

Brauchst du beim Rappen Musik vom Band, oder geht es theoretisch auch ohne einen vorgegebenen Beat?

Klar, es geht auch ohne. Ich finde es zum Beispiel total cool, mich auf einen Beat einzulassen, ihn eine Stunde zu hören, be-vor ich einen Stift in die Hand nehme und mich davon wirklich inspirieren zu lassen. Aber oftmals kommen mir Ideen beim Fahrrad- oder U-Bahn-Fahren, die ich dann schon mal im Kopf takte. Dann gu-cke ich einfach hinterher, was dazu passt. Meine Idealvorstellung ist aber schon: ein Raum, ich alleine, große Lautsprecher, vielleicht ein Glas Whisky, und dann geht’s los. Das macht mehr Spaß.

Was macht einen guten Flow aus?

Abwechslungsreichtum, auf jeden Fall. Einen guten Flow macht aus, dass man

„Ein Raum, ich alleine, große Lautsprecher, vielleicht ein Glas Whiskey“

„Ein guter Beat bringt ein gan-zes Stimmungs-universum mit“

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mit den Silben spielt, dass man leichtfüßig über den Beat hüpft. Wenn ich anfange zu schreiben, mache ich ganz oft Dada-Übun-gen: Ich lasse den Beat laufen und singe erst mal drüber, ohne Worte zu benutzen; einfach mit Da-da oder Du-du. Das nehme ich auch auf und schaue nachher, was mir daran gefällt. Welche Stolperer, welche Pas-sagen mit mehr oder weniger Geschwin-digkeit, Auslassungen. Und dann versuche ich, die richtigen Worte zu finden. So finde ich den richtigen Flow, so arbeite ich. Der Flow ist des Malers Pinselstrich.

Dürfen die Regeln der Sprache beim Rappen gebrochen werden?

Auf jeden Fall, keine Frage! Souveränität zeigt sich dadurch, dass man die Regeln kennt und sie bricht. Wenn man an einen Punkt kommt, an dem die Wörter sich, ohne unnatürlich zu wirken, dir beu-gen – das ist der richtige Punkt. Dann werden Worte einfach so ausgesprochen, wie sie klingen können, damit der Text funktioniert. Gute Rapper reihen Wörter aneinander, die sich nicht reimen; nehmen sich die Sprache und basteln daraus, was sie möchten. Man muss sich davon lösen, zu denken, auf „Rauswurf “ reimt sich nur „Maulwurf “ – das ist Quatsch. Unreine Reime sind in meinen Augen die besten.

Was macht man, wenn man doch mal aus dem Takt kommt und sich verhas-pelt?

Das passiert jedem und jeder von uns. Souverän bleiben, lächeln und … jetzt geb ich’s preis: Ganz oft kommt es,

dass man beim Auftritt eine Silbe zu viel hat oder zu wenig. Dann muss man einfach eine Silbe einfügen, die es nicht gibt. Dann

muss man sagen: dalbprb. Das merkt kaum jemand und ich glaube, es dient der Sache. Ist nicht schlimm. Einfach weitermachen.

Magst du es, wenn Leute bei deinen Konzerten im Takt mitklatschen?

Nee! Wir hatten vor drei Jahren mal einen Auftritt beim Jungen Europäischen Parlament. Da erinnere ich mich: So ein Anzugträger, Anfang 20, hat angefangen im Takt zu klatschen. Ich hab dann den Beat ausgemacht und zu dem Typen gesagt: Alter, wenn du noch einmal mitklatschst, dann fliegst du sofort raus. Ich geb auch heute zu, dass die Aktion ein bisschen pubertär war. Aber das geht überhaupt nicht.

Mit deinen Texten grenzt du dich ja inhaltlich sehr von vielen anderen Rap-perinnen und Rappern ab. Ist Taktge-fühl im Sinne von Political Correctness überhaupt mit Hip Hop vereinbar?

Ich verzichte auf Rassismus, Homopho-bie, Gewaltphantasien, Sexismen einfach deshalb, weil das in meinem sonstigen Vo-kabular und in meinen Umgangsformen mit Menschen keinen Platz hat. Ich weiß gar nicht, ob ich mich

wirklich von anderen abgrenze – meine Idee ist eher ein positiver Gegenent-

wurf und ich lasse die Songs für sich selber sprechen. Ich bin in einer

„Der Flow ist des Malers Pin-selstrich“

„Rap kann eine respektvolle Kunstform sein“

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Künstlerfamilie aufgewachsen, wo Leute aus verschiedensten Ländern, Schwule, Lesben, Transsexuelle, alles durcheinan-der, eine verdammt kreative, liebevolle Umgebung geschaffen haben. Daher weiß

ich: Jemanden wegen solcher Sachen zu beleidigen ist einfach scheiße.

Das Argument „Ja, aber das ist halt Rap. Da kann man auch mal ,Schlampe‘ sagen, weil das

ja nicht so gemeint ist“ ist in mei-nen Augen vollkommener Quatsch. Die Leute untergraben sich selbst, indem sie sagen: Wir können nicht anders, der Beat hat’s uns geflüstert. Ich glaube, Rap kann total gut eine respektvolle Kunstform sein – sogar Battlerap.

Rap war doch aber ursprünglich auch eine Taktlosigkeit gegenüber Autoritä-ten und deshalb bewusst provokant.

Das ist ja auch auf jeden Fall eine große Qualität. Allerdings geht heutiger Rap ja meistens nicht gegen Autoritäten, sondern bedient Vorurteile in allen Ausprägungen. Insofern: Klar, ich hab nichts gegen eine starke, auch schimpfwortstarke Sprachkultur. Hip Hop kann eine rotzige, revoltierende Subkultur sein – so wünsche ich mir das eigentlich. Aber es gibt für mich keinen Konflikt zwischen Ästhetik und Respekt. Naja, man ändert sich ja auch. Manchmal sind das auch einfach Gewohnheiten: Ich bin ja nicht im luft-leeren Raum aufgewachsen, sondern im Schöneberg der 90er Jahre. Vor ein paar Jahren hätte ich noch ohne Probleme geschrieben, „fick die Bullen“. Inzwischen denke ich über das Wort „ficken“ im Sin-

ne von Angriff, Beschädigung, noch mal ein bisschen anders nach und würde das jetzt nicht mehr so schreiben. Ich beiße mir aber deshalb nicht auf die Zunge.

Hast du das Gefühl, dass Musik wie dei-ne in der Gesellschaft oder in der Szene den Takt angeben kann?

Also, für den Mainstream sind ich und viele, mit denen ich zusammenarbeite, einfach zu kompromisslos und das ist auch total okay. Ich hab keine Träume von krassem Fame oder Reichtum. Ich würde mich einfach freuen, wenn es so weiter-geht wie jetzt, wenn die Aufmerksamkeit steigt und man das Gefühl hat, dass die Inhalte und die Mühe, die man verpackt, auch ankommen. Aber ich glaube, es be-wegt sich wirklich viel. Das sieht man an Facebookklicks, am Interesse von Labels, an Kollaborationen mit anderen Künstle-rinnen und Künstlern. Hip Hop wird zwar allgemein noch dominiert von sehr, sehr rückschrittlichen und blöden Inhalten. Aber unser Zeckenrap muss sich nicht

mehr verstecken. Vor fünf, sechs Jahren hatten wir noch keine Platt-form bei Rap-Redaktionen, weil die Musik technisch nicht so gut gemacht war. Aber inzwischen sind wir an einem Punkt, wo man uns

nicht mehr ignorieren kann in der Szene. Die Beats, die Produktionen, die Flows, die Inhalte: Das ist alles mittlerweile ganz schön gut. Ich bin schon stolz, ein Teil da-von zu sein – das lässt mich optimistisch in die Zukunft schauen.

Weitere Informationen über Kobito gibt es unter www.kobi.to.

„Ich beiße mir nicht auf die Zunge – aber Re-spekt ist wichtig“

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Regina Nowacki

Regina Nowacki, 1962 in Berlin geboren, studierte an der UdK Berlin Kunst. Es folgten zahlreiche Gruppen-und Einzelausstellungen und Stipendien; seit 1988 experimentiert

sie mit Text-Bild-Kompositionen. Sie lebt als Künstlerin und Lehrerin in Neukölln.

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Die Tiere // David Jasper

In den Farben die der Tag nicht kennt strahlt die Welt und leuchten die Häuser am Deich Ich steh im Unterholz Du bist im Herzen längst nicht fort Der Wald voll schwarzer FahnenHalt mich, gib mir Geschichten Bin nur einer von Vielen Wanderer auf deinen Wegen Ich lebe in der Vielzahl deiner Geräusche Auf die eine oder andere Art bist du das ewige Wesen in mir Ständige Sehnsucht, letztes HeimWie konnten wir nur vergessen so zu leben, wie es uns zusteht Den Schuh dicht am Stein wildes Flackern, Silhouetten Melancholie, Regen am Morgen halbe Bücher, Schuhe, Wiesen Brief, dein Name

David Jasper

David Jasper verbrachte seine Kindheit und Jugend in Berlin und dem Wend-

land. Städtische Momentaufnahmen und naturnahe Elemente mischen sich

gleichermaßen in seinen Texten. Ähnlich wie die ‚imagistes‘, die er im Studium der amerikanischen Literatur kennenlernte, verwendet er eine bildreiche, ausdrucks-

starke Sprache. Er selbst erlebt sein Schreiben als Fotografie mit Worten.

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Werkheim // Mathias Pfeiffer

Würden Sie, Miss,Ihre Verlockungen aus meinemGesicht nehmen, während ich dieLöcher bohre? Das kann unterUmständen Kunst werdenund der Nachbar zum Poltergeisthinter der Wand.Gardinen brauchen wir nicht,ich weiß, meine Miss Mutig,dort auf der Leiterkriecht der frühe Morgen zwischen IhreSchultern, näher,rieselt hinabaufs Gesäß.Ich weiß, Miss, Sie holen nurLuft, um die Dübel einzuschlagen,will auch gar nicht nachbohren.Unter anderen Umständen– aufs Herz angelegt –stünde hier alles unter Strom,die Worte und die Augenvertauschtkann das Leben tödlich sein.Aber Sie, meine Miss Mutig,scheinen mir im Schatten Ihresvon der Leiter empor gehobenen Busensnach anderen Umständen zu jagen.In dem Putz verschraubt schonein zerknirschter Rhythmuswerde ich Sie (leider) in den nächsten Abend schicken,Miss, und schalte dieSicherung wieder ein.

Mathias Pfeiffer

Mathias Pfeiffer, Jahrgang 1979, arbeitet als freier Autor und Texter in

Berlin. Ausstellungen fotografischer Arbeiten und Veröffentlichungen von

Prosa und Lyrik, zuletzt Das Leuchten in den Randprovinzen (Gedichte), Edition Art Science, 2012. Blog auf

www.somabeat.com. Wortgeschichten für kleine und große Leute auf

www.wortikon.de.

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Etiketten für Etikette

Kolumne und Illustration: Theresa Lienau

Die längste Zeit meines Lebens war ich ein Chormädchen. Wenn ich dort eins ge-lernt habe, dann, dass Stimmübungen nie dämlich genug aussehen können. Im normalen Leben mag es einem seltsam vorkommen, in endlosen Reihen p, t, k – p, t, k – p, t, k zu wiederholen, doch im Chorkosmos gelten da andere Regeln („Alles für das Zwerchfell!“). Seit dem ersten Semester Sprachwissenschaft weiß ich, dass [p], [t] und [k] alles stimm-lose Plosivlaute sind (bilabial, alveolar und velar – es hat sich herausgestellt, dass dies durchaus geeignetes Partywissen ist, ebenso sozialtauglich, wie die Fähigkeit, in Laut-schrift zu schreiben). Das Wort „Takt“ ist nun ein eigenartiges mit seinen drei stimmlo-sen Plosivlauten, die sich um einen einzigen, einsamen Vokal scharren. Denn was pas-siert, wenn man „Takt“ RICHTIG ausspricht, also ohne die Hälfte zu verschlucken? Aha! Dann klingt es nämlich wie eine Maschinengewehrsalve aus höchstplosiven Konsonanten, die, etwas in die Länge gezogen (ta – kә – tә), doch sehr an das ewige p, t, k von damals erinnern. „Plosiv“ bedeutet seiner Wortherkunft nach im Übrigen „klatschen“ oder „klat-schend schlagen“ – kein Wunder also, dass so viele Plosivlaute im Wort „Takt“ sind, welches selbst an das Klatschgeräusch erinnert. Aber „Takt“ ist nicht nur ein lautmalerisches Wort, sondern auch ein metrummalerisches, oder wie man das auch immer nennen mag:

Vielleicht diskriminiert „Takt“ ja auf völlig taktlose Art alle anderen Taktarten, weil das Wort selbst einem ¾-Takt folgt? Was sagt der ⅝-Takt dazu? Egal. Natürlich ist es auch Quatsch, so zu tun, als hätte das Wort „Takt“ drei Silben statt nur einer. Auf Wikipedia habe ich gelernt,

ta kә tә ta kә tә ta kә tә

Was | im | Takt | ist | ist | intakt

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Was | im | Takt | ist | ist | intaktdass diese Silbe jedoch eine besonders schwere ist: Misst man sie in Moren, der Maßeinheit für das Silbengewicht, handelt es sich um eine dreimorige Silbe. Es ist also der besonders hohen Morigkeit (!) des Wortes „Takt“ zu verschulden, dass man solchen ¾-Unfug mit ihm anstellen kann. Und was steckt noch dahinter? Dass der Mensch den Takt liebt. Weil wir gerne

ordnen, was chaotisch erscheint. Was gleichmäßig funktioniert, funktioniert gut: Das Herz, der Schritt, der Herzschrittmacher. Beim wüsten Rumgoogeln (genauer gesagt auf gedichte-hoch-drei.de) stieß ich auf den Satz: „Der Rhythmus ist Ästhetik für die Ohren“ – der Grund, weshalb wir bis in alle Ewigkeit Goethe lieben werden. Weil seine präzise Metrik uns an unser gesundes Herz erinnert. Oder so ähnlich.

Wie kommt man jetzt von Takt/ Rhythmus zu Taktgefühl? Über die gemeinsame Wortherkunft: tactus = Berühung, Stoß. Und womit berührt man? Mit den Fingerspit-zen. Dass Fingerspitzengefühl in der Regel als eine positive Tugend gilt, braucht nicht weiter ausgeführt zu werden. Doch Wikipedia mahnte mich: Das ist eine Methode zur Manipulation von Menschen! Es steht im Gegensatz zur Ehrlichkeit! Huch, dachte ich, und weiter: Vielleicht ist Taktgefühl in Wirklichkeit gar nicht taktvoll. Wer besonderen Zartsinn pflegt, geht wohlmöglich davon aus, dass das Gegenüber auch zart besaitet ist. Und wer will schon als Mimöschen gelten? Vielleicht sollte man auch mal alle Saiten des Gesprächpartners gleichzeitig anschlagen und sagen: Siehste, für wie dickhäutig ich dich halte! Oder auch, wenn alle brav p, t, k vor sich hin zwerchfellen, einfach b, d, g singen, wenn einem grad mehr nach Stimmhaftigkeit statt Stimmlosigkeit ist. Wild und gefährlich.

t a k t

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100 Wörter zum Thema: Jesse Cobum

The streets are the veins and the utility boxes are the small muscles that squeeze them, moving things along. If you get close you can hear them click – directives from the pacesetter somewhere, in the biggest and most important utility box of all. And they stand there on their little concre-te podiums, thousands of subordinates, counting off time. I’ve seen them open exactly twice. Once a mailman threw a box of letters into one. Ano-ther time a man was working a giant control panel. Valves, knobs, and switches from floor to ceiling, and tubes boring down into the earth.

Die Straßen sind Adern und die grauen Kästen am Straßenrand sind kleine Muskeln, die sich zusammen-ziehen und dabei ihren Inhalt wei-terbewegen. Wenn du ganz nah an sie herantrittst, kannst du es klicken hören – Impulse von einem Schritt-macher, in dem größten und bedeu-tendsten aller Kästen. Und sie stehen da, auf ihren kleinen Betonpodesten, Tausende von Befehlsempfängern und zählen die Zeit ab. Genau zwei Mal habe ich einen offenen gesehen. Das eine Mal stellte ein Postbote eine Kiste mit Briefen hinein. Ein anderes Mal arbeitete ein Mann an einem giganti-schen Schaltbrett; Drehknöpfe, Hebel und Schalter von oben bis unten und Kabel, die sich in die Erde bohrten. (Übersetzung: Anneke Lubkowitz)

Jesse Coburn, Autor und Redakti-onsassistent bei der Architekturzeit-schrift ARCH+.

Kleingedrucktes: Zuletzt noch eine Einsendung eines Autors mit dem beeindruckenden Namen Der Sauron von Neukölln, die uns viel Freude bereitet hat.Wie taktlos wäre es, sie dem geneigten Leser vorzuenthalten.„Taktlos tapern Takerlaken über Laken. Wenn man drauf tritt bleiben Takerlaken-Lachen. Zum Lachen ist das nicht. Denn über Takerlaken-Lachen lachen, das wär taktlos.“

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Impressum

Herausgabe, Redaktion und Vertrieb: Anneke LubkowitzTheresa Lienau

Kontakt: Theresa Lienau, Flughafenstraße 65, 12049 BerlineMail: [email protected]

Illustration: Petrus Akkordeon, Léon Giogoli und Theresa LienauLayout: Theresa LienauDruck: Metropol Druck BerlinAuflage: 500 Exemplare

Alle Rechte an den abgedruckten Texten liegen bei den Autoren.

Ausgabe 03, Oktober 2013

Unterstützt von:

Think Big ist ein Programm der Fundación Telefónica und der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung gemein-sam mit o2.

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Jahreszeiten, Tageszeiten, Leben und Schick-sale sind alle, merkwürdig genug, durchaus rhythmisch, metrisch, taktmäßig. In allen Handwerken und Künsten, allen Maschinen, den organischen Körpern, unsren täglichen Verrichtungen, überall: Rhythmus, Metrum, Taktschlag, Melodie. Alles, was wir mit einer gewissen Fertigkeit tun, machen mir unver-merkt rhythmisch. Rhythmus findet sich über-all, schleicht sich überall ein. Aller Mechanis-mus ist metrisch, rhythmisch. Hier muß noch mehr drin liegen. – Sollte es bloß Einfluß der Trägheit sein? (Fragmente // Novalis)

Im Hexameter steigt des Springquells flüssige Säule,im Pentameter drauf fällt sie melodisch herab.(Das Distichon // Friedrich von Schiller)

Was das für Menschen sind, deren ganze Seele auf dem Zere-moniell ruht, deren Dichten und Trachten jahrelang dahin geht, wie sie um einen Stuhl weiter hinauf bei Tische Angelegenheit hätten.(Die Leiden des jun-gen Werther // Johann Wolfgang von Goethe)

„Ob der Philipp heute stillWohl bei Tische sitzen will?"Also sprach in ernstem TonDer Papa zu seinem Sohn,Und die Mutter blickte stummAuf dem ganzen Tisch herum.Doch der Philipp hörte nicht,Was zu ihm der Vater spricht.Er gaukeltUnd schaukelt,Er trappeltUnd zappeltAuf dem Stuhle hin und her."Philipp, das mißfällt mir sehr!“(Der Struwwelpeter // Heinrich Hoffmann)

Die besten Umgangsformen sind wertlos, wenn es an Takt und Herzensbildung fehlt(Adolph Freiherr von Knigge)

Now I am getting his beat into my brain (the rhythm is the main thing in writing). Now, without pausing I will begin, on the very lilt of the stroke--. (The Waves // Virginia Woolf)

ZARTSINN

F I NG E RS P IT Z E

D R E IV I E R

T E L

BEAT

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David Jasper // Alexander Kappe // Mena Koller // Florian Kuhn // Nora Lau // Regina Nowacki // Mathias Pfeiffer // Martin Pie-kar // Arno Schlick // Clemens Schittko // Rabea Senftenberg