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1 gabrieli nate e canzoni er concertar con l'organo oncertino Palatino ce Dickey . Charles Toet Giovanni Gabrieli war ohne Zweifel der bedeutendste Komponist der venezianischen Schule in der Zeit der Hochrenaissance. Von seinem erfolgreichen Probespiel im Jahr 1585 bis zu seinem Tod im Jahr 1612 hatte er das Amt des ersten Organisten der Basilika San Marco in Venedig inne, das er von seinem Onkel und Lehrer Andrea Gabrieli übernommen hatte. Dar- über hinaus war Giovanni nach dem Tod seines Onkels im Jahr 1587 hauptverantwortlicher Komponist der geistlichen Festmusik für San Marco und hatte in dieser Eigenschaft auch für die Auswahl und Verpflichtung der an hohen Festtagen zusätzlich erforderlichen Sänger und Instrumentalisten zu sorgen. Die ihm zur Verfügung stehenden Musiker, insbesondere die Zinkenisten und Posaunisten, waren die besten weit und breit, und die Musik, die er für sie schrieb, zeugt von ihrer Virtuosität. Musikgeschichtlich wirkte vor allem seine konzertierende geistliche Musik schulebildend, von höchstem künstlerischen Rang aber war die für diese Musiker komponierte Instrumentalmusik, und sie ist es auch, die auf das Publikum von heute den größten Eindruck macht. Das ist eine erstaunliche Leistung für eine Zeit, in der nahezu die gesamte “ernsthafte” Musik Vokalmusik war. Gabrieli war der erste Komponist, der die Gattungen der Kanzone und der Sonate künstlerisch vollgültig und der besten Vokalmusik seiner Zeit ebenbürtig ausgeprägt hat. Man hat (teilweise zu Unrecht) viel Aufhebens von den Neuerungen Giovanni Gabrielis gemacht (dynamische Zeichen, genaue Besetzungsangaben, Echoeffekte, etc.), das eigentlich Revolutionäre seiner Instrumentalmusik sind aber nicht die von ihm verwen- deten Stilmittel im einzelnen, sondern die durchgehend bemerkenswert hohe Qualität dieser Musik. Die hier eingespielten Kanzonen und Sonaten für Instrumentalensemble sind alle den beiden großen im Druck erschienenen Sammlungen Sacrae Symphoniae (1597) und den posthumen Canzoni e Sonate (1615) entnommen. Bei allen Unterschieden – denn zwischen den beiden Sammlungen hat der Komponist eine erhebliche stilistische und technische Entwicklung durchgemacht, sind auch die früheren Werke bereits unvergleichlich in ihrer differenzierten Affektdarstellung – der abwechslungsreichen Satztechnik, der Verwendung ausgeschriebe- ner virtuoser Verzierungen und dem sehr wirkungsvollen Einsatz der instrumentalen Farben. In der späteren Sammlung sind diese Merkmale noch stärker ausgeprägt, und es ist eine neue Eigenständigkeit des Basso continuo zu erkennen, eine modernere Auffassung von der Ornamentik und größere Unabhängigkeit vom Vorbild der vokalen Chanson. Die Kom- plexität einiger dieser späteren Kanzonen ist atemberaubend, merkwürdigerweise bilden sie dennoch das Ende einer Entwicklung. Kein Komponist hat je die Form der Kanzone über den Stand hinaus weiterentwickelt, auf den Giovanni Gabrieli sie gebracht hatte. Sie sind bis heute einzigartige Denkmäler der Instrumentalmusik eines genialen Komponisten der Hochrenaissance, die zu einer Zeit entstanden, als die Modeströmungen insgesamt längst in eine andere Richtung gingen. HMA 1951688 GABRIELI sonate e canzoni per concertar con l'organo Concertino Palatino Bruce Dickey . Charles Toet

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gabrielisonate e canzoni

per concertar con l'organo

Concertino PalatinoBruce Dickey . Charles Toet

Giovanni Gabrieli war ohne Zweifel der bedeutendste Komponist der venezianischen Schule in der Zeit der Hochrenaissance. Von seinem erfolgreichen Probespiel im Jahr 1585 bis zu seinem Tod im Jahr 1612 hatte er das Amt des ersten Organisten der Basilika San Marco in Venedig inne, das er von seinem Onkel und Lehrer Andrea Gabrieli übernommen hatte. Dar-über hinaus war Giovanni nach dem Tod seines Onkels im Jahr 1587 hauptverantwortlicher Komponist der geistlichen Festmusik für San Marco und hatte in dieser Eigenschaft auch für die Auswahl und Verpflichtung der an hohen Festtagen zusätzlich erforderlichen Sänger und Instrumentalisten zu sorgen. Die ihm zur Verfügung stehenden Musiker, insbesondere die Zinkenisten und Posaunisten, waren die besten weit und breit, und die Musik, die er für sie schrieb, zeugt von ihrer Virtuosität. Musikgeschichtlich wirkte vor allem seine konzertierende geistliche Musik schulebildend, von höchstem künstlerischen Rang aber war die für diese Musiker komponierte Instrumentalmusik, und sie ist es auch, die auf das Publikum von heute den größten Eindruck macht.Das ist eine erstaunliche Leistung für eine Zeit, in der nahezu die gesamte “ernsthafte” Musik Vokalmusik war. Gabrieli war der erste Komponist, der die Gattungen der Kanzone und der Sonate künstlerisch vollgültig und der besten Vokalmusik seiner Zeit ebenbürtig ausgeprägt hat. Man hat (teilweise zu Unrecht) viel Aufhebens von den Neuerungen Giovanni Gabrielis gemacht (dynamische Zeichen, genaue Besetzungsangaben, Echoeffekte, etc.), das eigentlich Revolutionäre seiner Instrumentalmusik sind aber nicht die von ihm verwen-deten Stilmittel im einzelnen, sondern die durchgehend bemerkenswert hohe Qualität dieser Musik.Die hier eingespielten Kanzonen und Sonaten für Instrumentalensemble sind alle den beiden großen im Druck erschienenen Sammlungen Sacrae Symphoniae (1597) und den posthumen Canzoni e Sonate (1615) entnommen. Bei allen Unterschieden – denn zwischen den beiden Sammlungen hat der Komponist eine erhebliche stilistische und technische Entwicklung durchgemacht, sind auch die früheren Werke bereits unvergleichlich in ihrer differenzierten Affektdarstellung – der abwechslungsreichen Satztechnik, der Verwendung ausgeschriebe-ner virtuoser Verzierungen und dem sehr wirkungsvollen Einsatz der instrumentalen Farben. In der späteren Sammlung sind diese Merkmale noch stärker ausgeprägt, und es ist eine neue Eigenständigkeit des Basso continuo zu erkennen, eine modernere Auffassung von der Ornamentik und größere Unabhängigkeit vom Vorbild der vokalen Chanson. Die Kom-plexität einiger dieser späteren Kanzonen ist atemberaubend, merkwürdigerweise bilden sie dennoch das Ende einer Entwicklung. Kein Komponist hat je die Form der Kanzone über den Stand hinaus weiterentwickelt, auf den Giovanni Gabrieli sie gebracht hatte. Sie sind bis heute einzigartige Denkmäler der Instrumentalmusik eines genialen Komponisten der Hochrenaissance, die zu einer Zeit entstanden, als die Modeströmungen insgesamt längst in eine andere Richtung gingen.

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GABRIELIsonate e canzoniper concertar con l'organo

Concertino PalatinoBruce Dickey . Charles Toet

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gabrielisonate e canzoni

per concertar con l'organo

Concertino PalatinoBruce Dickey . Charles Toet

Concertar con l’organoDie Sonaten und Kanzonen Gabrielis sind musikwissenschaftlich umfassend erforscht und gehören heute zum Standardrepertoire der Blechbläserensembles, der herkömmlichen ebenso wie der “historisierenden”. Trotz der gewaltigen Fortschritte, die in den letzten Jahren auf dem Gebiet der historischen Aufführungspraxis und der Kenntnis dieser Musik gemacht worden sind, steht der historisch genauen Wiedergabe dieser Musik, wie sie einst an San Marco erklang, immer noch beharrlich ein Hindernis entgegen: die Orgeln. Wie der englische Chronist John Evelyn berichtet, war der Zink das Instrument, das “die Orgel mit Leben erfüllte”, und tatsächlich war es meist so, daß die Instrumentalisten auf der Orgelempore spielten oder “in der Orgel” (nell’organo), wie die Italiener sich ausdrückten. Der Ensembleklang war also eine Mischung aus der charakteristischen lieblichen Klangfarbe der italienischen Orgeln des 16. Jahrhunderts und dem sehr viel durchdringenderen, wenn auch immer noch vokalen Klang der Zinken, Violinen und Posaunen.Bedauerlicherweise existieren die beiden Orgeln, für die San Marco zu Lebzeiten Gabrielis berühmt war, schon lange nicht mehr. Die beiden großen Orgeln, die einander gegenüber auf beiden Seiten des Chors untergebracht waren, schilderte Banchieri als Instrumente “von höchster Vollkommenheit”. Das traditionell als “erste Orgel” bezeichnete, von Giovanni Gabrieli gespielte Instrument war das größere von beiden; die etwas kleinere “zweite Orgel” wurde als “lieblicher” in der Klangfarbe beschrieben, ja als “überaus lieblich, namentlich wenn sie von dem besten derzeit in Italien lebenden Organisten gespielt wird, von Giovanni Gabrieli…” 1 Eigentlich waren die Orgeln gar nicht so groß, zumindest im Vergleich zu den Instrumenten nördlich der Alpen, sie waren aber typisch für den nord-italienischen Orgel-bau der damaligen Zeit. Nach zeitgenössischen Beschreibungen wie auch nach erhaltenen Instrumenten zu urteilen, waren diese Instrumente zugleich hell und lieblich im Ton und besaßen in bemerkenswert hohem Maße “vokale” Eigenschaften. Glücklicherweise sind die beiden zwischen 1974 und 1982 restaurierten wundervollen Orgeln der Basilika San Petronio in Bologna ein genaues Gegenstück der Orgeln von San Marco. Die erste Orgel in San Marco ist 1489 von Fra Urbano gebaut worden, die ältere der beiden Orgeln von Bologna erbaute zwischen 1471 und 1475 Lorenzo da Prato. Beide Orgeln hatten Prinzipale zu 24’, nur ein Manual und angehängtes Pedal. Die Orgel von Fra Urbano hatte sieben Register, die von Lorenzo da Prato zehn, wobei diese größere Anzahl von Registern aber teilweise auf den geteilten Prospekt zurückzuführen ist mit dem Prinzipal 24’ in der Front und einer Oktave 12’ im Rückpositiv. Die 1596 von Baldassare Malamini als Pendant zur Lorenzo da Prato-Orgel erbaute zweite Orgel von San Petronio ist ein Instrument zu 16’ mit einem geteilten Prospekt und 10 Registern. Die Orgeln von San Petronio stehen bei einer Temperatur 1/4 Komma mitteltönig in der Stimmung einen Halbton über a=440. Über die Stimmung der Orgeln von San Marco ist nichts Genaues bekannt, es gibt aber Hinweise, daß sie sehr hoch und höchst-wahrscheinlich mitteltönig gestimmt waren. Die beiden Orgeln in Bologna sind zusammen also hervorragend für die Wiedergabe der mehrchörigen Musik für Instrumentalensemble von Giovanni Gabrieli geeignet, und auch gegen die Akustik von San Petronio ist nichts ein-zuwenden: obwohl sie sehr viel halliger ist als die von San Marco, wird sie unserer Ansicht nach dieser wundervollen Musik, die für die mit Mosaiken überzogenen Gewölbe der Basilika in Venedig komponiert war, durchaus gerecht.Wir hoffen, daß diese Aufnahme dazu beiträgt, das Klangbild der Musik für Instrumentalensemble von Giovanni Gabrieli wieder zu vervollständigen und in unsere Hörgewohnheiten zu übernehmen, denn der Klang der italienischen Orgel des 16. Jahrhunderts ist ein wesentlicher Teil dieses Klangbildes. Wir hoffen auch, auf diese Weise einer Musik, die allzu häufig allein mit klanglicher Brillanz gleichgesetzt wird, zu neuer Farbigkeit verholfen und ihren vokalen Charakter wieder deutlich gemacht zu haben.

Bruce Dickey

Übersetzung Heidi Fritz

1. “soavissimo; e tanto più è soave, quanto viene dal più eccellente organista, c’habbia ogg di la nostra Italia sonata; e questi-è Giovanni Gabrieli…”