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02/10 BERICHTE AUS WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT Zukunft im Blick Wenn Firmenchefs einen Nachfolger für ihr Unternehmen suchen Seite 16

sam. Sachsen-Anhalt-Magazin, Ausgabe Juli 2010

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sam. Sachsen-Anhalt-Magazin, Ausgabe Juli 2010

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02/10

BERICHTE AUS WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT

Zukunft im BlickWenn Firmenchefs einen Nachfolger für ihr Unternehmen suchen Seite 16

Das Jahr 2010 ist das Jahr der Internationalen Bauausstellung (IBA) Stadtumbau Sachsen-Anhalt. 19 Städte unseres Bundeslandes zeigen, wie sie ausgewählte Quartiere entwickelt haben, damit sie lebenswert und gut gerüstet für die Zukunft sind. Das Magdeburger IBA-Thema „Leben an und mit der Elbe“ verdeutlicht, wie wichtig der Fluss für die Stadt und ihre weitere Entwicklung ist. Brachflächen entlang der Elbe werden reaktiviert, Räume zum Wohnen und Arbeiten entstehen.

Stadt und Fluss rücken wieder zusammen. Der Magdeburger IBA-Beitrag präsentiert sich mit den Ausstellungen „IBA 2010 Magdeburg“ und „Kulturlandschaft Elbe“ seit 20. April im IBA-Shop in der Regierungsstraße 37. Am 24. April wurde am Petriförder der IBA-Pfad mit zahlrei-chen Stationen im Umfeld der Elbe eröffnet. Der IBA-Pfad zeigt beeindruckend, wie positiv sich Magdeburg in den vergangenen Jahren an seinem Fluss entwickelt hat.

seit fünf Jahren klingelt bei landesbewussten Sachsen-Anhaltern punkt 6.38 Uhr der Wecker. Eine ausgeschlafene Werbeagentur hatte eine Studie herausgekramt, wonach die Landeskinder zwi-schen Arendsee und Zeitz von allen Bundesbürgern am frühsten aus den Federn krabbeln. „Sachsen-Anhalt – Land der Frühaufsteher“, so heißt es seitdem in Broschüren, auf Autobahnschildern und Plakaten bundesweit. Der Slogan, von Anfang an nicht unumstritten und zuweilen mit bitterer Ironie kommentiert: Früh aufstehen, weil der Arbeitsweg in den Westen so lang ist? Pünktlich zum „Geburtstag“ entbrann-te die (Un-)Sinn-Diskussion jetzt erneut. Sogar die Forderung wurde laut, das Motto abzuschaffen und ein neues zu erfinden. Was Besseres viel den Kritikern aber auch nicht ein.Mal ehrlich: Wäre es besser, die Studie hätte seinerzeit ergeben, dass die Sachsen-Anhalter bundesweit die meisten Leberwurst-brötchen verputzen oder den meisten Pfefferminztee schlürfen? Sachsen-Anhalt – Land der Leberwurstbrötchenesser! – Wie hört sich das denn an? Und „Land der Pfefferminzteetrinker“ klingt auch nicht gerade sexy. Allenfalls der Slogan „Sachsen-Anhalt – Alles Pfeffi, oder was!“ hätte einen gewissen Charme.

Aber auch dieser Spruch wird wohl kaum das neue Sachsen-Anhalt-Motto werden, denn die Frühaufsteherkampagne läuft und läuft und läuft. Mittlerweile hat sie nicht nur gekostet, son-dern auch Wirkung gezeigt. In Sachsen-Anhalt kennt fast jeder den Frühaufsteher-Slogan und bundesweit ist es nach Baden-Württembergs „Wir können alles. Außer Hochdeutsch“ das wohl bekannteste Landesmotto überhaupt. Warum also abschaffen, was doch eigentlich ganz gut funktioniert?Denn selbst wer den Claim nicht mag, hat sich mit der doppel-deutigen Frühaufsteherei auseinandergesetzt. Ziel erreicht! Also bleibt es vorerst dabei: Sachsen-Anhalt steht weiter früher auf. Wer sich darüber aufregt, kann sich ja auch wieder hinlegen oder ein Tässchen Pfefferminztee trinken. Das soll beruhigen.

Christian Wohlt, Redakteur

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SACHSEN-ANHALT-MAGAZIN 02/10

Aus meiner Sicht

Interview

Bewusstsein muss das Sein bestimmenIm Gespräch mit Prof. Ulrich Blum...…………………….. 6

Technik

Fußball auf dem MarktplatzMagdeburger Unternehmen Screen Rent ist„Erfinder“ des Public Viewing.......……………………...10

Portrait

„Da muss sich was drehen“Prof. Dr. Omar Akbar gab den Anstoß zur Internationalen Bauausstellung 2010……………….. 13

Unternehmensnachfolge

Zukunft der Firma im BlickInhaber und Nachfolger erhalten fundierte Unterstützung.……..........……………………..16

Forschung

Mut im Herzen und Sonne im TankSachsen-Anhalt ist bei Entwicklung von alternativen Antrieben ganz vorn…………………….20

Stadtentwicklung

Stadtumbau in Aschersleben und MagdeburgBeide Städte zeigen die Ergebnisse zur Internationalen Bauausstellung...……………………22

Demographischer Wandel

Schleier über der WirklichkeitBevölkerungsentwicklung stellt Wohnungs-unternehmen vor Herausforderungen.......….....28

Logistik

Eine seetüchtige Dreiecksbeziehung Magdeburgs Hafen will Hinterlanddrehscheibe für Seehäfen werden………………………………..…………30

Fortbildung

Gute Verbindungen Schweißtechnische Lehranstalt Magdeburg ist gefragter Partner………………….…………………………37

Ernährungswirtschaft

Lust und Liebe für Hopfen und MalzColbitzer Heidebrauerei bringt neues Bier auf den Markt………..….........……………………………….....34

Dreiklang: IBA, Landesgartenschau und Neo Rauch Seite 22

Sachsen-Anhalts Städte wandeln sich. Einst grau und vom Zahn der Zeit angenagt, präsentieren sich derzeit Aschersleben und Magdeburg neben 17 anderen im Rahmen der Internationalen Bauausstellung (IBA) Stadtumbau Sachsen-Anhalt 2010 mit überraschend neuem Gesicht, neuem Selbstbewusstsein und neuem Image. Dass dabei auch erstaunliche Dinge passieren können, beweist das Engagement des international derzeit interessantesten deutschen Gegenwartsmalers Neo Rauch, hier auf dem Bild mit Oberbürgermeister Andreas Michelmann (links) und Architekt Prof. Arno Lederer (Mitte). Rauch will jetzt in Aschersleben dauerhaft seine Werke aus-stellen. Eine IBA-Spurensuche.

Der Konsolidierung folgt die Aufholjagd Seite 6

Die Krise haben Sachsen-Anhalts Unternehmen verhältnismäßig glimpflich über-standen. Dennoch werde ein schmerzlicher Konsolidierungsprozess folgen, erwar-tet Prof. Ulrich Blum, Chef des Institutes für Wirtschaftsforschung Halle (IWH). In einigen Branchen, wie dem Maschinenbau oder der Solarbranche, müssten vollkommen neue Geschäftsmodelle entwickelt werden, um im internationalen Wettbewerb zu bestehen. Insgesamt sieht der Wissenschaftler Sachsen-Anhalts Wirtschaft für die Zukunft gut aufgestellt. Sie werde in absehbarer Zeit nicht nur die Leistungskraft westlicher Bundesländer erreichen, sondern diese überflügeln.Womit er diese Zuversicht begründet, erläutert Blum im Interview mit dem Sach-sen-Anhalt-Magazin.

4 In diesem Heft

Projekte

Fifty-fifty-Taxi – Fahrschein ins LebenVerkehrsicherheitsaktion hat Zahl tödlicher Disko-Unfälle erheblich gesenkt……………….........40

Spezialitäten

Lebendiger Trüffel unter den KäsesortenHelmut Pöschel aus Würchwitz verhilft Milben zu Weltruhm………....……….…………......……….42

Impressum:

HERAUSGEBERSAM. Sachsen-Anhalt-Magazin Verlag GbRGeschäftsführer: Michael Scholz, Wolfgang Preuß

KONTAKTSAM. Sachsen-Anhalt-Magazin Verlag GbRSchilfbreite 3, 39120 MagdeburgTel. 0391 63136-45, Fax 0391 63136-47

[email protected]

REDAKTIONSLEITUNGUte Semkat, Christian [email protected]

ANZEIGENRalf Harms Tel. 03943 [email protected]

FOTOGRAFIE Michael Uhlmann

DRUCK Harzdruckerei GmbH, Wernigerode

Schutzgebühr: 4,00 EUR

Das Magazin und alle darin enthaltenen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Der Nachdruck – auch auszugsweise – ist nur mit schriftlicher Genehmigung und Quellenangabe gestattet. Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Bilder wird keinerlei Gewähr übernommen. Die namentlich gekennzeichneten Beiträge stehen in der Verantwortung des jeweiligen Autors.

2. Jahrgang 2010

ISSN 1868-9639

Briefe an die Redaktion

Leserzuschriften…………………………………………………….46

Biertradition mit Charakter Seite 34

Colbitzer Bier hat einen guten Namen in der Re-gion. Seit fast 140 Jahren wird es am selben Stand-ort gebraut. Sein Mar-kenzeichen: würzig und charaktervoll. 50 000 Hek-toliter verlassen jährlich die Colbitzer Heidebraue-rei. In diesem Jahr soll es noch ein bisschen mehr werden. Denn die Brauerei ist mit einem neuen Bier am Markt. Das „Colbitzer Hell“ ist eine Traditions-marke des Hauses, die jetzt neu belebt wurde. Christian August steht seit 2001 an der Spitze der Firma und will dafür sor-gen, dass der Name „Col-bitzer“ auch in 140 Jahren noch einen guten Klang hat.

Eine seetüchtige Dreiecksbeziehung Seite 30

Hafendirektor Karl-Heinz Ehrhardt will den größten mitteldeutschen Binnen-hafen Magdeburg zum Mittelpunkt einer Hinterlanddrehscheibe für den See-verkehr entwickeln. Wenn er von einem „Duisburg des Ostens“ spricht, klingt das vielleicht nach Größenwahn. Aber der Mann weiß, wovon er spricht.

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SACHSEN-ANHALT-MAGAZIN 02/10

In diesem Heft

6 Interview

Die meisten Sachsen-Anhalter spüren die Auswirkungen der Kri-se nicht direkt. Der Arbeitsmarkt erscheint relativ stabil. Handelt es sich nur um eine virtuelle Krise?

Ulrich Blum: In einigen Teilen Deutschlands, besonders in den stark auf Export orientierten Regionen im Südosten, ist die Krise hautnah spürbar. Die Nachteile der Wirtschaftsstruktur in Mitteldeutschland, also die geringere Exportorientierung, die Ausrichtung auf Vorleistungen für andere Produktionen, haben dazu geführt, dass die Region von der Krise später er-wischt worden ist. Eine große Rolle spielt zudem, insbeson-dere in Sachsen-Anhalt, dass das Ernährungsgewerbe von der Krise verschont blieb und sogar Vorteile nutzen konnte. So sind zum Beispiel die Energie- und Rohstoffpreise gesunken. Es ist also anfangs kaum etwas von der Krise angekommen, weil der Übertragungsmechanismus nicht gegriffen hat. Es war nichts zu übertragen da. Zum anderen hat eine unerwar-tete Psychologie gewirkt: Obwohl die Mittel aus dem Kon-junkturprogramm der Bundesregierung nur sehr schleppend fließen, hat es bei den Unternehmen das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates bestärkt und so Hoffnungenauf eine baldige Bewältigung der Krise geweckt. Hysterie wur-de so verhindert.

Also hat das Konjunkturpaket anders gewirkt als es sollte?

Ulrich Blum: Es hat nicht real, sondern eher virtuell gewirkt. Das Konjunkturpaket II ist jetzt etwa eineinhalb Jahre alt. Bis Som-mer vorigen Jahres waren von den 70 Milliarden Euro höchstens zehn Milliarden Euro im Markt angekommen. Inzwischen ist es allenfalls ein Drittel. Ein Großteil wird dieses Jahr wirksam wer-den. Ob es dann tatsächlich zu mehr Investitionen führt, wage ich zu bezweifeln.

Hat sich der Abstand zu den westlichen Ländern verringert und Sachsen-Anhalt von der Krise sogar profitiert?

Ulrich Blum: Das hieße ja: Die Armut geht zurück, wenn die Reichen weniger werden. Das sehe ich kritisch, denn wir sind durchaus von den Wohlstandszahlern in Bayern oder Baden-Württemberg abhängig. Sachsen-Anhalts Wirtschaft ist in etwa so geschrumpft wie der Bundesdurchschnitt.

Wenn sich die Nachteile der hiesigen Wirtschaft günstig ausge-wirkt haben, sollte man sich dann diese vermeintlichen Schwä-chen nicht eher als Stärken sehen und sich darauf besinnen?

Ulrich Blum: Natürlich bringen diese Faktoren eine hohe Flexi-bilität mit sich. Damit ist die hiesige Wirtschaft nicht so schock-empfindlich. Andererseits wirken sie nicht gerade wohlstands-steigernd. Wenn wir das Wohlstandsniveau vergleichbarer westlicher Länder erreichen wollen, muss die Wirtschaft Sach-sen-Anhalts verstärkt auf den Endverbraucher und den Export ausgerichtet werden. Die erfolgreichen Unternehmen Sachsen-Anhalts, die sich von vergleichbaren westlichen Firmen nicht mehr unterscheiden, sind sehr stark export- und endkunden-orientiert. Dazu zählen beispielsweise Kathi Halle, Rotkäppchen Freyburg oder Teile der Solarindustrie.

Steht das „dicke Ende“ also erst noch bevor? Anders gefragt: Welche Konsequenzen wird die Krise haben?

Ulrich Blum: Die Krise bringt einen enormen Konsolidierungs-zwang mit sich. Wirtschaftskrisen führen entweder dazu, dass der Staat die Wirtschaft einmottet und der Krach danach kommt,oder die Folge ist ein beschleunigter Wandel. Der wird schmerz-lich sein. Im Maschinenbau beispielsweise – da darf man nichts beschönigen – werden etwa 30 Prozent der Unternehmen in den nächsten Jahren eingehen. Das heißt nicht, dass die Produkti-onskapazität wegfällt. Die Frage ist: Wer übernimmt wen? Die Solarbranche ist bisher auf deutsche Verhältnisse ausgerichtet. Für Chinesen allerdings ist das ein Klacks. Die brauchen eine Lupe, um überhaupt zu erkennen, was hier im Hinblick auf die Größe einzelner Unternehmen läuft. Hier gilt es, das Geschäfts-modell zu überdenken. Individuelle Lösungen sind gefragt. Mit Standardprodukten kann man zwar eine Technologie aufbauen. Sie sind aber nie Garant für wirtschaftlichen Erfolg auf Dauer. Dabei handelt es sich stets um eine Einstiegs-, nie um eine Auf-stiegstechnologie.

Bleibt es das Schicksal Sachsen-Anhalts, immer auf Anschluss-jagd zu sein?

Ulrich Blum: So pauschal kann man das nicht sagen, aber Sach-sen-Anhalt hat es in der Tat nicht einfach. Das Problem sind die

„Das Bewusstsein muss das Sein bestimmen“Prof. Ulrich Blum, Chef des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle, sieht Sachsen-Anhalt auf der Überholspur

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Interview

Altlasten. Die bestehen hauptsächlich in der sehr schwierigen Industriestruktur als Hinterlassenschaft der DDR. Die Chemie-kombinate beispielsweise, waren zur Wende in einem verhee-renden Zustand und hatten einen enormen Mitarbeiterbe-stand. Der Rationalisierungseffekt war gerade in dieser Branche enorm. Im Jahr 2004 wurde hier mit weniger als zehn Prozent der Mitarbeiter das Produktionsvolumen der DDR wieder er-reicht. Aber: Die Produktivität hatte sich allenfalls vervierfacht – nicht verzehnfacht. Allein daran sieht man die schwierige Aus-gangslage. Der Großmaschinenbau, Stichwort SKET, ist zusam-mengebrochen. Der nahtlose Anschluss war in Sachsen-Anhalt an vielen Stellen viel schwieriger als in Sachsen oder Thüringen.

Welche Branchen werden mittel- und langfristig vom Struktur-wandel profitieren und welche werden weiter Federn lassen?

Ulrich Blum: Es gibt eine Reihe von Gütern, die besonders trans-portintensiv sind und daher in der Region produziert werden müssen. Das gilt zum Beispiel für Baustoffe. Diese Branche halte ich in Deutschland und in Sachsen-Anhalt für stabil. Auch Pharmazie und Chemieindustrie werden ihre Leistungs-

fähigkeit beweisen. Diese stützt sich nicht zuletzt auf das hier im Land vorhandene Fachkräftepotenzial. Das ist ein wichtiger Standortvor-teil. Und auch die Innovationsdichte der hiesigen Chemie ist höher als in Westdeutschland. Sachsen-Anhalt ist darin das dominierende Land. Im Ernährungsgewerbe kann eigentlich fast nichts schief gehen, weil hier Lo-kalkolorit und Markenbewusstsein eine große Rolle spielen.

Ostprodukte haben also das Negativimage der Billigmarke verloren?

Ulrich Blum: Das gibt es längst nicht mehr. Mit dem Anspruch von „Rotkäppchen“ kann kein Sekt aus dem Ausland mithal-ten, unser „Back-Pabst“ aus Halle hat sich mit Kathi bundes-weites Renommee erworben, die Halloren Schokoladenfabrik beliefert jetzt sogar das schwedische Königshaus, um nur einige zu nennen. Man muss bedenken, dass es in Ostdeutsch-land ein zurückgestautes Unternehmertum gab. Normaler-weise macht sich kein 55-Jähriger selbständig. Erst mit der Wende konnte eine ganze Generation von 30- bis 55-Jährigen aus dem System ausbrechen und sich selbständig machen. Der Effekt wurde nach zehn Jahren spürbar, wenn auch oft noch in kleinem Maßstab. Das beste Beispiel für innovative Ideen ist die Halloren Schokoladenfabrik, die ihre Expansion mit Finanzierungen „an den Banken vorbei“ organisierte. Viele Westdeutsche würden nie darauf kommen, in welchen Berei-chen ostdeutsche Firmen inzwischen engagiert sind. Mozart-kugeln, die man in ganz Deutschland kauft, werden zum Bei-spiel auch im Halloren-Stammwerk in Halle produziert. Und Mumm-Sekt gehört zu Rotkäppchen.

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Die Halloren Schokoladenfabrik aus Halle kreierte eine spezielle Pralinenkollektion anlässlich der Hochzeit der schwedischen Kron-prinzessin Viktoria.

8 Interview

Welchen Einfluss kann in Zeiten der Globalisierung eine Landes-regierung auf die wirtschaftliche Entwicklung ausüben?

Ulrich Blum: Es war das Menetekel kurz nach der Wende, nicht nur in Sachsen-Anhalt, sondern in allen ostdeutschen Ländern, dass Landesregierungen angesichts der Fülle der Herausforderungen eher Unruhe säten statt konstante In-vestitionsbedingungen zu bieten. Lediglich in Sachsen wurde damals unter Kurt Biedenkopf solide, langfristige Wirtschaftspolitik gemacht. Erst seit dem Amtsantritt von Ministerpräsident Wolfgang Böhmer ist auch in Sachsen-Anhalt die notwendige Verlässlichkeit eingekehrt. Das liegt nicht nur an ihm persönlich, sondern auch daran, dass das System gereift war. Inzwischen verzeichnete Sachsen-An-halt zahlreiche Unternehmensansiedlungen. Das zeigt die Bedeutung langfristig orientierter Wirtschaftspolitik. Ein zweiter Punkt: Unternehmer wollen geliebt werden und nicht stets Prügelknaben sein. Dieser positive Effekt ist in Sachsen-Anhalt augenscheinlich.

Wurden die Weichen in Sachsen-Anhalt also richtig gestellt?

Ulrich Blum: Im Vergleich der mitteldeutschen Länder steht Sachsen-Anhalt in Sachen Wirtschafts- und Finanzkompetenz sehr gut da. Seitdem sich Kurt Biedenkopf von der politischen Bühne zurückgezogen hat, ist Wolfgang Böhmer nicht nur der beliebteste ostdeutsche Ministerpräsident. Er ist auch eine der bekanntesten Persönlichkeiten bundesweit und trägt dadurch nicht unwesentlich zur inzwischen positiveren Wahrnehmung des Landes bei.

Stichwort Wahrnehmung: Im Land wird zuweilen heftig über den Frühaufsteher-Slogan diskutiert. Sehen Sie sich als Frühaufsteher?

Ulrich Blum: Ich halte den Spruch zumindest für witzig. Die wichtige Frage bei einer Imagekampagne lautet aber: Wo hat das Land Nachholbedarf? Hier geht es darum, deutlich zu ma-chen, welche reiche Kulturlandschaft Sachsen-Anhalt darstellt. Wir sind ja steinreich, nicht nur an Burgen und Schlössern. Das Image als Kulturland spielt für die Ansiedlung bestimmter Füh-rungspersönlichkeiten eine ganz wichtige Rolle. Das Bewusst-sein als historisches Zentrum des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation und in jüngster Geschichte der drei Landesbe-reiche, des sächsischen, des anhaltischen und des preußischen, müsste kulturell noch viel besser vermarktet werden. Das Kul-turbewusstsein der eigenen Bevölkerung ist oft noch zu wenig ausgeprägt. Die Sachsen sind da anders. Die wissen, was sie ha-ben und verkörpern es auch.

Und wie kann man das ändern?

Ulrich Blum: Es würde schon reichen, die regionalen Highlights herauszuheben. Ein Beispiel: In Sachsen-Anhalt gibt es eine De-signschmiede ersten Ranges und keiner weiß es. Das Zentrum des Designs in Deutschland ist seit rund 100 Jahren die Burg Giebichenstein in Halle. Wer vermarktet Giebichenstein als bun-desweite Marke? Das Design bestimmt etwa zehn bis 20 Pro-zent des Marktwertes eines Produktes. Dieses Bewusstsein für die eigenen Stärken gilt es zu entwickeln. Karl Marx sagte: „Das Sein bestimmt das Bewusstsein:“ Ich drehe das um: In Sachsen-Anhalt wie in Ostdeutschland insgesamt muss das Bewusst-sein das Sein bestimmen. Grundlage dafür sind entsprechendes Selbstbewusstsein und das Besinnen auf die eigenen Stärken.

Alle reden derzeit von den Veränderungen der vergangenen 20 Jahre. Wo sehen Sie Sachsen-Anhalt in 20 Jahren? Wird es das Land dann überhaupt noch geben?

Ulrich Blum: Ich halte nichts von der „Aktion Bürgerferne“. Vor-teile der Zentralisierung lassen sich nutzen, ohne dass Länder aufgelöst werden. In der langfristigen Entwicklung gibt es stets Aufstieg und Niedergang. Wenn wir die Chancen nutzen, wird sich in diesem Landesteil eine sehr wohlhabende Struktur entwickeln. Das reiche Bayern war nach dem Zweiten Weltkrieg noch bitter-arm. Die Menschen gingen in andere Regionen wie das Ruhrge-biet, um dort ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Erst durch die Unterstützung der anderen Länder kam das Land auf die Beine und hängte schließlich die anderen ab. Jetzt geht es Sachsen-Anhalt ähnlich. Viele junge Leute arbeiten im Westen. Das ist zunächst nichts Schlechtes. Wichtig ist, dass sie irgendwann die Chance er-halten, wieder hierher zurückzukehren. Gewaltige Binnenmigrati-onen sind in Deutschland nichts Ungewöhnliches. Allein Bayern hat seit dem Krieg über drei Millionen Einwohner gewonnen.

Sie fürchten also nicht, dass Sachsen-Anhalt zum Altersheim der Republik wird, wie eine Zeitung jüngst titelte?

Ulrich Blum: In den nächsten Jahren ist der Abwanderungstrend sicher nicht zu stoppen. Man muss besonnen und klug damit um-gehen, den Prozess kreativ gestalten. Wenn aber die Zukunftstech-nologien hier eine breitere Basis haben und andere Regionen ihren Vorsprung darin verlieren, wird er sich umkehren. Bayern ist derzeit auf der Spitze der Leistungsfähigkeit, aber das kann in 20 Jahren längst vorbei sein. Regionen machen Aufstieg und Abstieg mit. Und in einem bin ich mir sicher: Sachsen-Anhalt ist im Aufstieg.

Das Gespräch führte Christian Wohlt.

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Interview

Ein Sieger der Fußball-WM stand bereits am 10. Oktober 2009 fest. „An diesem Tag wusste ich, dass wir die Wirtschaftskrise überstehen werden“, atmet der Magdeburger Unternehmer Dirk Roswandowicz noch einmal tief durch. Es war der Tag, an dem sich die deutsche Elf mit einem 1:0 gegen Russland ihr Ticket für Südafrika erspielte. „90 Minuten lang habe ich gebangt“, erinnert sich der 38-Jährige im schwarzen Kapuzen-shirt und streicht wie fröstelnd über seine Arme: „Ich kriege jetzt noch Gänsehaut.“ Neun Monate später stehen die Videobildwände der Magde-burger Firma Screen Rent in Städten Deutschlands und der Schweiz. Vor den Riesenfernsehern unter freiem Himmel ju-belt, stöhnt, schreit die Gemeinde der Fußballbesessenen. Wie ein Virus infiziert Public Viewing selbst ganz abgeklärte und Gelegenheits-Fans. Südafrika ist neuntausend Kilometer weit, aber die Champions erscheinen ganz nah und ganz groß.

Public Viewing ist der Sommersport dieses Jahres, und die Fir-ma Screen Rent bereitet die Schau-Plätze für die schweißfreie Massenbewegung mitten in den Städten vor. Die Magdebur-ger sind nicht die einzigen Vermieter von Videowänden mit einer gestochen scharfen Bilderübertragung, aber sie besitzen die Markenrechte am Begriff Public Viewing. Diesen vermoch-te kaum jemand in Deutschland unfallfrei zu buchstabieren, als kurz vor der Jahrtausendwende BWL-Student Roswando-wicz seiner „Intuition“ folgte, wie er es nennt, und bereits in seine erste Videowand investierte. Zuvor hatte er mit einer mobilen Bildwand aus mehreren „auf Pump“ gekauften Fern-sehmonitoren auf der Grünen Woche in Berlin für einen Aus-steller geworben. Von seinem Schreibtisch in einem schmucklosen Büro im Mag-deburger Gewerbegebiet Ölmühle hat der längst diplomierte Betriebswirt immer die Wandtafel mit den aktuellen Einsatz-orten im Blick. „23 Veranstaltungen an fünf WM-Tagen sind schon eine Herausforderung“, meint er gelassen und checkt nebenbei die E-Mails. In der letzten Maiwoche war er noch selbst in Hongkong, um eine mit 130 Quadratmeter Bildfläche „besonders große und besonders leichte“ Videowand direkt aus dem Werk zu kaufen. China soll inzwischen der bedeu-tendste Hersteller von Großbildwänden sein. Zehn Tage vor dem Anpfiff der WM landete der supermoderne Neuerwerb auf dem Frankfurter Flughafen.

Fußball auf dem MarktplatzScreen Rent: „Erfinder“ des Public Viewing

Von Ute Semkat

10 Technik

Bevor die Zuschauer den Ball übers Fußballfeld rollen sehen, haben die Techniker von Screen Rent bereits Berge versetzt. Bis zu 100 Kilogramm wiegt ein Bildschirmmodul von einem Quadratmeter Größe, und zwischen 20 und 100 solcher Teile – je nach gewünschter Wandgröße – müssen aus den Trans-portkisten gepackt werden. Ein Kran hievt die Module aufein-ander, und dann werden sie von den Männern – immer Helm auf, Sicherheitsgurt um – in bis zu sieben Meter luftiger Höhe miteinander verkabelt. Zuvor hat das Team für den Unterbau gesorgt. Die Wassertanks zwischen den Metallgerüsten sind kein Feuerlöschteich-Ersatz, sondern das Gewicht von bis zu 20 000 Liter Wasser stabilisiert zusätzlich die Bildwand. Denn schlimmstenfalls könnte außer den Begeisterungsstürmen der Zuschauer ein echter Gewittersturm aufkommen.

Loses Kabel, blanke Nerven

Das Wetter ist ein unberechenbares Risiko für jeden Open-Air-Veranstalter, dagegen überlässt Screen Rent bei der Vorberei-tung nichts dem Zufall. „Die Jungs arbeiten ganz schön unter Druck“, bestätigt Roswandowicz, der bis vor einigen Jahren noch selbst jede Wand mit aufbaute. Ein möglicher Ausfall der Technik mitten im Spiel ist die Horrorvision für Zuschauer wie Verleihfirma. „Zum Glück hatten wir das noch nicht.“ Dennoch vermag der ehemalige Fußballer des 1. FC Magdeburg in diesen Tagen die Pässe und Tore nicht restlos entspannt zu genießen. Einmal war es verdammt eng: „Zur WM 2006 ruft mich eine Stunde vor dem Spielanpfiff unser Techniker aus Neuss an und sagt: Der Bildschirm bleibt schwarz. Bei der Probe hatte alles prima funktioniert.“ Eigentlich ist Roswandowicz eher der Typ, der die Ruhe zu behalten versteht. Aber damals hätten die Ner-ven blank gelegen, weil es eine gefühlte Ewigkeit dauerte, den Fehler zu lokalisieren. „Und die Polizei wollte schon die Veran-staltung absagen.“ Wie sich schließlich herausstellte, hatte sich nur ein Kabel gelockert – ein einziges von etwa 400. Zehn Minuten vor dem Anpfiff lief die Videowand wieder.

Screen Rent kann gleichzeitig bis zu 30 transportable Videobild-wände mit insgesamt 400 Quadratmeter Sichtfläche aufbauen. 2005 übersprang das Unternehmen erstmals die Umsatzmilli-on und verdoppelte sie im Jahr vor Beginn der Wirtschaftskrise.

„Wer mit uns Public Viewing macht, soll einfach ein gutes Gefühl haben.“ Firmenchef Dirk Roswandowicz, ehemaliger Fußballer mit BWL-Diplom, hat den Erfolg im Blick. Gegen Billiganbieter tritt Screen Rent „mit dem besten Produkt und dem besten Service“ an.

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SACHSEN-ANHALT-MAGAZIN 02/10

Technik

Allerdings – seit viele Wettbewerber in das Geschäft eingestiegen sind, haben sich die Vermietungspreise halbiert. Um weiterhin loh-nenswerte Margen zu erreichen, arbeiten die Magdeburger zielstre-big am Markenaufbau. Gegen Billiganbieter treten sie „mit dem bes-ten Produkt und dem besten Service“ an: „Unsere Kunden müssen sich um nichts kümmern, wir organisieren den Transport, bestellen den Autokran am Aufbauort, notfalls sorgen wir auch für den Strom-anschluss. Und wir bringen eine eigene, bei uns gut ausgebildete Mannschaft und die Erfahrungen aus mittlerweile 2 000 Veranstal-tungen mit“, zählt der Unternehmer auf und fügt hinzu: „Wer mit uns Public Viewing macht, soll einfach ein gutes Gefühl haben.“

In die Wüste geschickt

Ein gutes Gefühl haben auch Eventmanager im Nahen Osten, wenn sie den Namen Screen Rent hören. Seit dem ersten Auf-trag für ein Autorennen in Dubai vor fünf Jahren schickt die Magdeburger Firma jeden Winter einen Teil ihrer Ausrüstung und einen Mann in die Wüste. Im Vorjahr wurde das Unterneh-men vom Könighaus Bahrain für die Live-Übertragung einer Militärparade zum zehnjährigen Jubiläum des Staatsober-haupts engagiert. Dorthin waren die beiden 40-Tonnen-Lkw von Dubai aus acht Tage unterwegs. Eigentlich seien es nur etwa 600 Kilometer Entfernung, aber die Grenzabfertigung gestalte sich mit-unter etwas abenteuerlich, grient Roswandowicz. Vier seiner Leute saßen in der Wartezeit untätig im Hotel. Nach der Technikprobe ließ König Hamad bin Isa Al Khalifa den Deutschen von einem Abgesandten seinen Dank übermitteln. „Mit der Bitte, das Bild sollte noch etwas heller sein.“ Roswandowicz schmunzelt: „Unsere Wände sind auch bei stärkstem Sonnenlicht taghell. Aber natürlich war der Wunsch seiner Majestät am nächs-ten Tag erfüllt.“

Die Lust am kollektiven Schauerlebnis hat Public Viewing zum festen Bestandteil vieler Großveranstaltungen über den Sport hinaus bis in Kultur und Politik gemacht. Screen Rent war schon bei der Wok-WM von Stefan Raab und im Wahlkampf von Guido Westerwelle dabei,beim Papstbesuch 2005 in Bayern und bei der Berlinale. Was muss das für ein tolles Gefühl sein für Roswandowicz` vornehmlich junge Mitarbeiter, wenn unmittelbar vor der Videowand Madonna über den roten Teppich schreitet? Oder wenn sie mit dem „All-Area-Pass“ bei der Bühnenshow von Robbie Williams oder Kylie Minogue je-den Bodyguard abtreten lassen können? Der Firmenchef zuckt mit den Schultern: „Zur Professionalität von Screen Rent-Mitarbeitern gehört, dass sie ihren Job machen und das auch den VIPs ermögli-chen.“ Unauffällig, hinter der Wand.

www.screenrent.de

Wie für ein Bühnenbild spannen sich die alten Platanen entlang des Berliner Ku’damms. Als ich den Mann in der Ferne der Stra-ße ausmachen kann, ist der Platanenrahmen noch groß. Als er mich erreicht, hat er den Rahmen locker gesprengt: Omar Akbar, Professor an der Hochschule Anhalt, Stadtforscher nennen ihn andere, Urbanist sei er, sagt er von sich selbst. Der bis zum Jahr 2009 amtierende Direktor der Stiftung Bauhaus Dessau und Geschäftsführer der IBA Stadtumbau 2010 liebt Berlin, braucht diesen Ort, wie er sagt, für seine Geschichte, seine Identität.

Dabei entlehnt sich für mich sein Name mit dem elegischen O eher aus den Scheherazaden aus Tausendundeiner Nacht, ich denke an Omar Sharif, der als Kapitän Nemo mein Mädchenherz bewohnte, und höre das Allah akbar, das fünfmal des Tags gen Mekka die arabische Welt durchhallt. Der Omar Akbar hier am Tisch dieser Berliner Eckkneipe, der Deutsche im nadelstreifen-grauen Anzug und mit ebenso grauem, langem Haar, der Mann mit den afghanischen Wurzeln, der bescheiden ein stilles Wasser ordert und in dessen lebendigem Gesicht ich die Spuren seiner Geschichte suche, hat mit seinen Ideen ein ganzes Land verän-dert.

Es war ein Satz, der 2001 den Anstoß für eine Internationale Bauausstellung in Sachsen-Anhalt gab, in diesem Bundesland mit dem, ach, so schlechten Image, das sich bis dato die rote La-terne für die höchsten Arbeitslosenzahlen in Deutschland mit Mecklenburg-Vorpommern teilte, das kaum fassbare 13 Prozent Bevölkerungsverluste seit der Wende verzeichnete, auszublu-ten drohte. Omar Akbar entwarf damals Visionen, die sicherlich manchem zu verspinnert klangen und eher synonym für noch Unbekanntes in sich leerenden Großsiedlungen standen. Aber er sagte damals auch „Da muss sich was drehen“, und machte diese inzwischen legendäre Handbewegung mit Daumen und Zeigefinger. Der Satz und die Handbewegung sind dieser Tage oft bemüht worden. Ob beim feierlichen Eröffnungsakt der IBA in der Johanniskirche in Magdeburg, den Stadtpräsentationen von Aschersleben bis Weißenfels, der Eröffnung der Überblicks-ausstellung in Dessau. Sie sind jetzt auch Teil seiner Geschichte. Sie beginnt in Afghanistan.

„Wir sind in der großen Villa meines Großvaters aufgewachsen, der Akbar hieß…“, erzählt er in seinem leichten, kaum hörbaren

Daumen und Zeigefinger: „Da muss sich was drehen“Prof. Dr. Omar Akbar nennt sich selbst einen „aggressiven Optimisten“ und gab den Anstoß zur IBA Stadtumbau 2010

Von Cornelia Heller

12 Technik

Daumen und Zeigefinger: „Da muss sich was drehen“Prof. Dr. Omar Akbar nennt sich selbst einen „aggressiven Optimisten“ und gab den Anstoß zur IBA Stadtumbau 2010

Akzent, entwirft, entführt in eine fremde Welt, die ferner der meinen kaum sein kann, in ein Haus mit unzähligen Zimmern, in dem die Familie mit Onkels und Tanten lebte, und einen Gar-ten, in dem die Wasser plätscherten und die Cousinen lachend glucksten. Er erzählt von einem Afghanistan, das modern und frei war, dessen König in den 1920er-Jahren zu einer Europarei-se aufbrach, nach seiner Rückkehr das Tragen von Schleiern verbot und den Stadtteil Darulaman – hier wurde Omar Akbar geboren – nach Vorbild deutscher Stadtanlagen baute. Und er erzählt von seinem Großvater, der Minister, Botschafter und Berater des Königs Nadir Shah war, in dessen Haus Politiker, Intellektuelle, Wissenschaftler, Künstler ein- und ausgingen, in dem man Goethe kannte, zitierte, man weltoffen, aufge-klärt und modern war. „Das war der Ort, an dem ich 1948 zur Welt kam und die Atmosphäre, in der ich aufwuchs“, endet er schließlich, legt die dunkel geränderte Brille vor sich auf den Tisch und reibt die Augen, als würde dadurch die Rückkehr in die Gegenwart leichter. Die Wärme des Hauses scheint bis heute und bis hierher zu rei-chen, sie umfing ihn auch, als die Mutter starb und der Vater, ein Chemiker, 1957 nach Deutschland geht, um zu promovieren. Drei Jahre später holte er seine drei Söhne nach. Das schwäbische Fellbach wurde neue Heimat, im Haus einer Frau, die seine Mut-ter wurde, so gut, wie es die eigene kaum besser hätte sein kön-nen, in einer Stadt, in der er sich zu keiner Zeit als Fremder fühlt. Ganz im Gegenteil. Nach der Schule beginnt er eine Bauzeich-nerlehre in einem Architekturbüro. „Ich konnte wahnsinnig gut zeichnen, durfte im 2. Lehrjahr sogar entwerfen.“ Parallel macht er Musik, spielt Bassgitarre in einer Band, geht zur Schauspiel-, schließlich Abendschule. 1968, mitten in die Studentenunruhen der sich aufbäumenden Nachkriegsgeneration, kommt Omar Akbar nach Berlin, beginnt an der Bauakademie, dann an der Technischen Universität Berlin Architektur zu studieren. Schon im Studium sind es die sozial aufgeladenen Gebiete der Städte, die ihn als Planer fesseln. Einen Slum im iranischen Teheran sucht er sich als Ausgangspunkt seiner Promotion. Kör-perlich will er die Armut spüren, die hinter den Häusermauern wohnt, schläft dort sogar auf der Straße, denkt sich hinein in fremde Strukturen, politische Verhältnisse, entgeht dort nur knapp während der politischen Unruhen 1980 einer verirrten Pis-tolenkugel. „Wie zu Zeiten der französischen Revolution“, lacht er heute, irgendwie auch stolz, so etwas miterlebt zu haben.

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Portrait

Der Kosmopolit Akbar kommt durch die Welt. Auf den Iran fol-gen Irak, Gambia, Jemen, Ägypten. Er arbeitet für die Gesell-schaft für Technische Zusammenarbeit GTZ als Städteplaner, Städtesanierer, scheint als Mann mit dem „anderen Hinter-grund“ der ideale Mittler zwischen den Kulturen, als Begleiter von Prozessen, von beiden Seiten geschätzt. Und dann 1993 Sachsen-Anhalt? „Ein Kollege rief mich an. Er sagte, eine Stelle ist ausgeschrieben, die Hochschule Anhalt sucht einen Profes-sor.“ Er überlegt, zählt die Kilometer zwischen Berlin, wo die Familie lebt, und Dessau, bewirbt sich schließlich. „Die Grün-dung der Hochschule war für mich das interessantere Thema, nicht Dessau und das Bauhaus.“ Noch. Denn dann passiert gleiches wieder. Jemand spricht ihn an, die Stelle des Direktors sei vakant. Er ringt mit sich, durchwacht Nächte, zweifelt, zö-gert, noch drei Tage bis Bewerbungsschluss. Entschließt sich und wartet. Der wissenschaftliche Beirat der Stiftung hat Vorbehalte: Bauzeichner, Schauspieler, Stadtplaner. Zu wenig Reputation? Akbars Bruder, ein Psychoanalytiker, sagt weise: „Wirst Du genommen, ist es okay. Wirst du nicht genommen, hast du einen schönen Feierabend.“ Mit dem ist es vorbei, als der Anruf mit der Zusage kommt und sein Name von 1998 an in einer Reihe mit den Bauhausdirektoren Gropius, Meyer, van der Rohe mithin genannt werden wird.

Er sieht sich von Stund an als Motor, als Ermutiger für die Mit-arbeiter, die eigenen Potenziale zu entdecken und an sie zu glauben, schafft Möglichkeiten für Synergien, Netzwerke, für Forschung, Lehre und Gestaltung, für Publikation, schickt die Mitarbeiter hinaus in die Welt, fördert Begabte. Trotzdem: „Das Bauhaus zum Zentrum der Diskussion und des Erfahrungs-austausches zu profilieren, ist uns nur rudimentär gelungen“, räumt er ein, wissend um die Problematik, dass das Bauhaus als die legendäre, weltberühmte Hochschule für Gestaltung heute „lediglich“ Ort der Stiftung Bauhaus ist – ein Umstand, der Fachleute und Besucher aus aller Welt jeden Tag aufs Neue verwirrt.

2001 ist das Jahr mit dem Zitat und der Handbewegung. Der „aggressive Optimist“ Akbar, durchaus auch streit-bar und hart in der Auseinandersetzung, prägt den Satz „Da muss sich was drehen“ und setzt auf Wachstum in der Krise. Fortan suchen 19 sachsen-anhaltische IBA-Städte nach exemplarischen Lösungen in schwierigen Zeiten von Schrumpfung und demografischem Wandel. Neun Jahre später, seit April 2010, zeigt Sachsen-Anhalt die Ergebnis-se dieses Stadtumbaus, dieser „20 Jahre Transformation eines Landes“, eine Erfolgsstory für eine ganze Reihe von Klein- und Mittelstädten, in denen man flüsternde Gärten,

befahrbare Galerien, Kumpelplätze und Bildungszentren, Campusideen und Bibliotheken für sich erfunden und so man-ches „zum Drehen“ gebracht hat. Omar Akbar hat die IBA nicht mehr als Direktor der Stiftung und Geschäftsführer über die Ziel-linie getragen. 2009 hat ein Wechsel stattgefunden. Und trotz-dem ist sein Name dieser Tage so präsent wie kaum ein anderer.

14 Portrait

Wir reden über seine jüngste Reise. Gerade ist er von einem internationalen Kongress aus Togliatti, einer einst 800 000-Einwohner-Satellitenstadt an der Wolga, zurückgekehrt. Er erzählt von seinem Vortrag, in dem er über die Erfahrungen in Sachsen-Anhalt gesprochen und die Kollegen aus den Niederlanden, Itali-en, Amerika, Russland begeistert hat. „Ich schwöre ihnen,“ erzählt

er lachend, „noch nie bin ich so oft zitiert worden. Ein Kollege sag-te, ich hätte ihnen mit meiner Rede eine Vorlage wie beim Fußball geliefert.“ Und auf einmal ist es da, was kaum einer zu denken gewagt hatte: Sachsen-Anhalt wird mit seinen Stadtumbauideen zum Vorreiter und sich so auch auf der 12. Internationalen Archi-tektur-Biennale im August in Venedig präsentieren. Genial.

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Portrait

Andreas Heckel ist die Ruhe selbst. Ein Okular vor sein Auge ge-klemmt, prüft er das Zusammenspiel von Rädchen, Federn und Sperrklinken eines Pendeluhrwerks. Nur wenn alle Teile perfekt ineinandergreifen, kann das mechanische Wunderwerk funkti-onieren.

Uhren sind Andreas Heckels Welt, seit er denken kann. In der Werkstatt seines Vaters im halleschen Steinweg ist er groß ge-worden. „Vieles hier und im Büro stammt noch von meinem Urgroßvater“, verrät der 42-Jährige und deutet auf Werkzeuge, Möbel und Accessoires aus der Gründerzeit.

Stabübergabe: Die Zukunft der Firma fest im BlickFür 1 500 Unternehmen steht ein Generationswechsel an – Inhaber und Nachfolger erhalten fundierte Unterstützung

Von Frank Pollack

16 Unternehmensnachfolge

Seit 1892 steht das „Uhren- und Schmuckgeschäft August He-ckel“ in Halles südlicher Innenstadt für bleibende Werte und Kontinuität: Im Nachbarhaus eröffnet und 1910 in die heutigen Geschäftsräume eingezogen, blieb es stets mit seinem Standort verwachsen, firmierte immer unter dem Namen seines Grün-ders und befand sich ununterbrochen im Besitz von dessen Nachfahren. Um diese Traditionen zu bewahren, musste Andreas Heckel in den zurückliegenden Monaten Mut zur Veränderung beweisen. Denn der plötzliche Tod seines Vaters im September 2009 und die fast gleichzeitige Erkrankung seiner Tante Edelgard Kowal-ski, die seit fast drei Jahrzehnten das Ladengeschäft eigenstän-

dig führte, verlangten von dem bisherigen Angestellten nun schnelle, fundierte Entscheidungen: Wie sollte es weitergehen mit dem Betrieb? Eine Frage, mit der sich viele Familienunternehmen konfrontiert sehen, wie Achim Schaarschmidt von der IHK Halle-Dessau be-richtet. „Allein in Sachsen-Anhalt steht derzeit bei rund 1 500 Firmen pro Jahr ein Generationswechsel bevor“, schätzt der Referent für Wirtschaftsförderung. Für ganz Deutschland geht das Institut für Mittelstandsforschung (IfM) von etwa 71 000 „übergabereifen Betrieben“ pro Jahr aus. Bei jedem elften davon rechnen die Bonner Wissenschaftler mit einer „geplanten oder erzwungenen Schließung“ aufgrund gescheiterter Nachfolger-suche. Dadurch drohten jährlich etwa 33 000 Arbeitsplätze ver-loren zu gehen.

Wie mühsam der Weg zu einer erfolgreichen Firmenübergabe sein kann, weiß auch Antje Leuoth, Betriebsberaterin der Hand-werkskammer Halle, aus der Zusammenarbeit mit ausstiegs-willigen Unternehmern und potenziellen Nachfolgern. Dass beide Seiten überhaupt zueinander finden, alle juristischen, steuerlichen und fachlichen Probleme einvernehmlich aus dem Weg räumen, sich auf einen Kaufpreis einigen und auch noch die notwendige Finanzierung sicherstellen, sei „nie ein glückli-cher Zufall“, sondern „das Ergebnis eines langen und oft auch schmerzhaften Prozesses“, sagt die Diplom-Ökonomin. „Um ein optimales Ergebnis zu erzielen, sollte man dafür zwei bis fünf Jahre einplanen.“

Die größten Hürden aber lägen nicht etwa auf der sachlichen, sondern auf der emotionalen Ebene, beobachtet die Beraterin: „Vielen Unternehmern fällt es schwer, loszulassen“. Rund die Hälfte der Firmeninhaber schiebe das Thema zu lange vor sich her. „Viele werden erst wenige Monate oder gar Wochen vor ih-rem geplanten Ausstieg aktiv“, erklärt sie. Manche verdrängten das Thema sogar noch „lange nach ihrem Eintritt ins Rentenal-ter“ und gefährdeten damit nicht selten ihr Lebenswerk.Dass Andreas Heckel das Uhren- und Schmuckgeschäft eines Tages übernehmen würde, galt in der Familie als ausgemacht. „Meine beiden Brüder und auch die Töchter meiner Tante ar-beiten in anderen Berufen“, erklärt der gelernte Uhrmacher, der während und nach seiner Ausbildung Erfahrungen in ins-gesamt drei Fachbetrieben sammelte, bevor er 1995 in das einst vom Urgroßvater gegründete Unternehmen zurückkehrte. „Mit meinem Vater hatte ich in den vergangenen Jahren des Öfteren über eine Nachfolgeregelung gesprochen, allerdings blieben unsere Pläne im Ungefähren“, bedauert der Jungunternehmer heute und fügt hinzu: „Wir hätten uns schon viel früher exter-nen Rat holen sollen.“

Die erfolgreiche Unter-nehmensübergabe ist kein Zufall. Bis zu fünf Jahre dauert es oft, bis die Verhältnisse zwischen Alt-Inhaber und neuem Firmenchef geordnet sind.

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Unternehmensnachfolge

„Das Thema Nachfolge war bis vor etwa fünf, sechs Jahren in der öffentlichen Diskussion praktisch nicht präsent“, erinnert sich Achim Schaarschmidt, „So gab es 2005 bei uns kaum Bera-tungen auf diesem Gebiet“. Erst durch gezielte Öffentlichkeits-arbeit von Kammern und Verbänden wurde das Problem von vielen wahrgenommen. „Relativ schnell entstanden daraufhin Angebote zur Unterstützung, und sie werden von Firmen zu-nehmend genutzt“, resümiert der Wirtschaftsförderer. Allein bei den Kammern Sachsen-Anhalts ließen sich im vergangenen Jahr rund 600 Firmen zum Thema Nachfolge beraten. Andreas Heckel suchte im Frühjahr 2009 erstmals den Kontakt zu Antje Leuoth und Achim Schaarschmidt. Auf ihre Empfeh-lung hin lernte er bei einer Berufsfindungsmesse den Nachfol-gerclub Sachsen-Anhalt kennen, „eine Art Partnervermittlung für Firmenübergaben“, wie Sebastian Baum, Chef des vom Wirtschaftsministerium und dem Europäischen Sozialfonds ge-förderten ego-Projektes erklärt: „Wir stellen Kontakte zwischen Firmeninhabern und potenziellen Übernehmern her und be-gleiten Übergabeprozesse mit individueller Beratung und prak-tischer Hilfe.“Für Andreas Heckel sollte sich die Klubmitgliedschaft besonders nach dem plötzlichen Tod seines Vaters als wertvoll erweisen. Mit einem Unternehmensberater des Netzwerks sowie der Unterstützung von IHK und Handwerkskammer erarbeitete er

binnen weniger Wochen einen tragfähigen Businessplan. „Vie-le Details, die vorher nur vage Vorstellungen waren, fügten sich dabei Schritt für Schritt zu einem funktionierenden Ganzen“, freut sich der Existenzgründer, der seine Tante ebenso für das Konzept gewinnen konnte wie später seine Hausbank. Dabei wurde vereinbart, dass der Uhrmacher nicht nur die väter-liche Werkstatt, sondern auch das Ladengeschäft übernimmt. „Beide Bereiche sind heute wieder zu einer Firma verschmol-zen“, erklärt Edelgard Kowalski, die den Uhren- und Schmuck-verkauf seit DDR-Zeiten als eigenständiges Unternehmen be-trieben hatte. Was die 60-Jährige dabei besonders freut: „Für die Kunden wird sich dadurch nicht viel ändern. Denn ich stehe, ebenso wie unsere langjährige Verkäuferin, weiterhin hinterm Ladentisch. Und auch am Namen über unserer Eingangstür wird sich nichts ändern.“„Bei der Preisfindung für die Übernahme half uns die Hand-werkskammer durch eine unabhängige Unternehmensbewer-tung,“ berichtet Andreas Heckel, „und auch bei der Finanzie-rung unterstützten uns die Kammern, zum Beispiel mit einer Fördermittelberatung oder einer Stellungnahme für die Bürg-schaftsbank.“Die solide Finanzierung und das fundierte Konzept lassen den verheirateten Vater von zwei Söhnen auch als Selbständigen ruhig schlafen. „Durch die intensive Beschäftigung mit dem

Antje Leuoth (Hand-werkskammer Halle) und Achim Schaar-schmidt (IHK Halle-Dessau, r.) standen Uhrmachermeister Andreas Heckel bei der Firmenübernahme mit Rat und Tat zur Seite.

18 Unternehmensnachfolge

Unternehmen und seinem Marktumfeld habe ich sogar viele neue Informationen gewonnen, die mir zusätzlich Mut ma-chen“, erklärt der Firmenchef. So sei er von dem „hohen Anteil an Stammkunden überrascht, die uns die Treue halten, selbst wenn sie nicht mehr in Halle wohnen.“ Doch Heckel möchte auch um neue Kunden werben. Als jüngst zum Beispiel ein La-

Beratung, Kontakte, Finanzierungen

Scheidende Firmenchefs und ihre Nachfolger finden in Sachsen-Anhalt umfangreiche Unterstützung. Hier einige Beispiele:

– Industrie- und Handelskammern, Handwerkskam-mern. Sie sind der Anlaufpunkt für eine Erstberatung, für die Vermittlung von Kontakten zu Netzwerkpartnern, für eine Fördermittelberatung, für Unternehmensbewertun-gen usw.

www.halle.ihk.de, www.magdeburg.ihk.de,

www.hwk-halle.de, www.hwk-magdeburg.de

– Nachfolger-Club Sachsen-Anhalt. Erfolgreiche „Part-nervermittlung“ für potenzielle Nachfolger und ausstiegs-bereite Unternehmer. Bietet darüber hinaus Gründungs-begleitung und Lotsendienst zu einem umfangreichem regionalem Experten-Netzwerk.

www.nachfolger-club.eu

– ego.-PilotenNetzwerk. Kostenfreie Beratung für Nach-folger oder Gründer, unter anderem zu Geschäftsidee und Businessplan, Risikoabwägung und Qualifizierung, Finanzierung und Förderung. Landesweites Netzwerk aus 25 Beratern.

www.ego-pilotennetzwerk.de

– Beratungshilfeprogramm des Landes Sachsen-Anhalt. Die kofinanzierte Beratung kann dabei helfen, Firmen für Nachfolger attraktiv zu machen, zum Beispiel durch Identi-fizierung von Innovations- und Rationalisierungspotenzia-len oder die Verbesserung interner Abläufe. 75-prozentige Förderung von bis zu 30 Beratertagen à maximal 800 Euro.

www.ib-sachsen-anhalt.de

– Gründercoaching. Beratungsprogramm der KfW-Mittel-standsbank für Jungunternehmer (auch Nachfolger) bis

maximal fünf Jahre nach Firmenübernahme/Firmengründung. Der Zuschuss beträgt in Sachsen-Anhalt bis zu 75 Prozent,

bei Gründung aus Arbeitslosigkeit bis zu 90 Prozent. www.ib-sachsen-anhalt.de

– Ausfallbürgschaften. Wenn bankübliche Sicherheiten fehlen, können Firmeninhaber, Nachfolger und Gründer Finanzierungen bis zu 80 Prozent der Darlehenssumme durch Landesbürgschaften absichern. Voraussetzung ist die Stellungnahme einer fachkundigen Stelle (z. B. IHK).

www.bb-sachsen-anhalt.de

– Darlehen der Investitionsbank. Ein überzeugendes Firmenkonzept vorausgesetzt, springt das Landesinstitut auch dann ein, wenn andere Banken abwinken. Dabei können die Mittel bei Bedarf sogar ohne Hausbank ausge-reicht werden. Es gibt verschiedene Darlehensprogramme wie IMPULS (für Gründer und Nachfolger), IDEE (für Inno-vationsprojekte) oder WACHSTUM (Mezzanine-Darlehen).

www.ib-sachsen-anhalt.de

– Hilfen für Hochschulabsolventen. Mit dem Programm ego.-Start erhalten Hochschulabsolventen oder wissen-

schaftliche Mitarbeiter, die sich zum Beispiel als Nach-folger selbständig machen, Hilfen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Die Förderung ist mit Darlehen aus dem Programm ego.-Plus kombinierbar.

www.ib-sachsen-anhalt.de

– Stille Beteiligung. Mit 25 000 bis 1 Million Euro enga-giert sich die Mitteldeutsche Beteiligungsgesellschaft als stille Teilhaberin. Voraussetzungen: Überzeugendes Unternehmenskonzept, solide Bilanz- und Ertragsverhält-nisse. Kostenvorteile: Verbesserte Eigenkapital-Situation. Entscheidungshoheit bleibt beim Unternehmer.

www.mbg-sachsen-anhalt.de

denlokal in unmittelbarer Nachbarschaft frei wurde, gewann der Uhrmacher einen Friseur als Nachmieter, der sich auf jun-ge Kunden spezialisiert hat. „Das stärkt den Branchenmix in unserer Straße und bringt uns interessante Zielgruppen“, ist er überzeugt. Das sei nicht anders als bei einer Uhr: „Ein Rädchen muss ins andere greifen.“

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Unternehmensnachfolge

Platt wie eine Maischolle glitzert das seltsame Gefährt strah-lend weiß in der Junisonne. Ein paar Studenten der Hochschule Anhalt (FH) am Standort Köthen bleiben irritiert stehen, stau-nen über das unbekannte Objekt, das auf dem Campus gelan-det ist. Grüße aus der Galaxis?

Keine Panik. Die beiden Studenten, die den Boliden hinter sich herziehen, kommen in friedlicher Absicht. Und sie sind auch nicht vom Mars. Das, was André Herzberg und Torsten Glä-ßer da aus einem Schuppen rollen, ist ein Stück Zukunft. Aber ganz irdischer Natur. Fünf Meter lang und 1,80 Meter breit ist das flunderflache Solarauto. Das erste in Sachsen-Anhalt. Noch hat es die Sonne nicht im Tank, denn die Solarzellen fehlen. Pi-lotenkanzel, Lenkung, Fahrersitz und einige Elektrokomponen-ten warten ebenfalls auf ihren Einbau. Für Aufsehen hat das Köthener Solarmobil dennoch schon gesorgt: Anfang Juni auf der Intersolar in München, der weltweit größten Fachmesse der Solarwirtschaft.

Rund 30 Studenten des Fachbereiches Elektrotechnik, Maschi-nenbau und Wirtschaftsingenieurwesen an der Köthener Fach-hochschule arbeiten seit fünf Jahren an ihrem „Lightrider“, so der Name des Rennautos. „Als wir anfingen, steckte die Solar-technik in Sachsen-Anhalt noch in den Kinderschuhen“, erzählt Professor Ulrich-Michael Eisentraut, der das Projekt leitet. Einer seiner Studenten hat den Prodekan damals mit dem Solarvirus infiziert. „Er hatte eine Reportage über das Solarauto-Rennen in Australien gesehen, die World Solar Challenge. Und da wollte er unbedingt mal dabei sein. So ging’s los.“ Die Studenten bauten zunächst einen 70 Zentimeter langen und 30 Zentimeter brei-ten Prototyp. „Da haben wir festgestellt, dass wir das können.“ Jahrelange Studien am Computer folgten. Und ganz wichtig: die Gruppe hat sich Unterstützung gesucht. Vor zwei Jahren grün-deten die Köthener gemeinsam mit Q-Cells aus dem Thalhei-mer Solar Valley und dem Fraunhofer-Institut den Studiengang Solartechnik. „Der Schulterschluss hat sich bewährt“, resümiert der Professor. Der „Lightrider“ hat gewaltig Schub bekommen.

Mit viel Mut im Herzen und reichlich Sonne im TankSachsen-Anhalt ist bei der Entwicklung von alternativen Antriebstechnologien ganz vorn mit dabei

Von Sabine Tacke

Stolze Crew: die Studenten André Herzberg, Torsten Gläßer (rechts) mit ihrem Professor Ulrich-Michael Ei-sentraut. Fünf Jahre Arbeit stecken in ihrem „Lightrider“.

20 Forschung

Seit einem dreiviertel Jahr tüfteln die Studenten nicht nur am Computer, sondern auch in der Werkstatt an ihrem Renner. Pro-bleme gibt’s immer. „Uns fehlen zum Beispiel die geeigneten Solarzellen. Die stellt auch Q-Cells nicht her. Das sind Hochleis-tungszellen, wie sie in der Raumfahrt verwendet werden. Aber da kostet eine rund 250 Euro. Und wir brauchen 2 500. Das Geld haben wir nicht“, sagt Torsten Gläßer, der die Entwicklung koor-diniert. Also werden erstmal herkömmliche Zellen benutzt und so eingepackt, dass sie zur Not dem australischen Wüstensturm trotzen könnten. Denn im nächsten Jahr wollen die Köthener Studenten bei der „World Solar Challenge“ auf jeden Fall star-ten. 3 021 Kilometer durch glühende Hitze.

Auf 150 Stundenkilometer Spitzengeschwindigkeit bringt es der dreirädrige, 250 Kilo schwere „Lightrider“. Die besten Solar-boliden fahren auf der Strecke Durchschnittsgeschwindigkei-ten zwischen 90 und 100 Kilometer pro Stunde. Doch die aus-tralische Weltmeisterschaft ist nicht nur das leiseste, sondern auch eines der härtesten Rennen der Welt. „Voriges Jahr sind 30 Teams gestartet, nur 15 kamen ins Ziel“, weiß André Herzberg, Teamleiter für die Elektrotechnik.

So exotisch das alles klingt, die Köthener sind nicht die einzigen in Sachsen-Anhalt, die sich mit alternativen Antriebstechniken beschäftigen. Gerade hat die Firma Krebs und Aulich aus De-renburg im Harz einen Audi A2 erfolgreich auf Elektroantrieb umgerüstet. Die Harzer sind Mitglied im Harz.EE-Mobility-Kon-sortium, zu dem sich mehrere Firmen, Hochschulen und Institu-te zusammengeschlossen haben. Harz.EE-Mobility untersucht zum Beispiel, wie regional erzeugte erneuerbare Energien opti-mal für Elektroautos genutzt werden können.

Der Audi hat nach der Umrüstung eine maximale Reichweite von 120 Kilometern und kann an jeder Steckdose aufgeladen werden. In Magdeburg gibt’s seit kurzem sogar kostenlose Stromstöße für Elektromobile. Der ADAC hat gemeinsam mit dem Ingenieur-büro Lindow am Magdeburger Ring (Thietmarstraße, Abfahrt Ol-venstedt) eine Stromtankstelle in Betrieb genommen. „Wir sind davon überzeugt, dass Elektroautos als Batterie-, Hybrid- oder Brennstoffzellenfahrzeug eine vielversprechende Perspektive zu Er-haltung der Mobilität darstellen“, sagt ADAC-Präsident Peter Meyer.Der Automobilclub will in den nächsten Jahren zusammen mit dem Energieversorger RWE ein Netz von Ladestationen in ganz Deutschland schaffen. „Das ist die Voraussetzung für das Wachs-tum in dieser Mobilitätssparte“, ist Meyer überzeugt. Im Moment sind bereits 30 Stromsäulen am Netz, 20 weitere sol-len dieses Jahr noch hinzukommen. Damit es sich auch lohnt, ins umweltbewusste E-Mobil umzusteigen, gibt’s den Saft aus den Säulen bis Ende 2011 gratis.

Experten rechnen damit, dass schon im Jahr 2020 rund eine Mil-lion dieser umweltfreundlichen Fahrzeuge auf Deutschlands Straßen unterwegs sind. Die Autohersteller scheinen endlich aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht zu sein. Die Branche hat ihre Forschungsinvestitionen im Bereich der alternativen Antriebe seit 2006 mehr als verdreifacht.

Trotzdem wird das Solar-Team von der Köthener FH manchmal noch belächelt: Solartechnik im sonnenarmen Deutschland, was für ein Quatsch! Professor Eisentraut nimmt’s gelassen und kontert mit einer überzeugenden Feststellung: „Wir zeigen doch, dass es geht.“

www.hs-anhalt.de

Reinhard Manlik, Vor-sitzender des Regional-clubs Niedersachsen/Sachsen-Anhalt (von links), ADAC-Präsident Peter Meyer und Ulrich Krämer (ADAC Nieder-sachsen/Sachsen-Anhalt)weihen die Strom-Zapf-säule in Magdeburg ein.

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Forschung

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Aschersleben und Magdeburg – zwei Städte in Sachsen-Anhalt. Die eine eher klein, gerade zählt man wieder 28 000 Einwohner, die andere mit fast zehn Mal so vielen Menschen. Die eine im hügligen idyllischen Vorharz gelegen, die andere auf dem glatten Tablett der Magdeburger Börde. Beide sind mehr als 1 200 Jahre alt, beide haben in der Region des heutigen Sachsen-Anhalts – die eine mit Albrecht dem Bären, die andere mit Otto dem Großen – deutsche Geschichte geschrieben. Und beide haben sich vor acht Jahren neben 17 anderen Städten für eine Teilnahme an der Internationalen Bauausstellung (IBA) Stadtumbau Sachsen-Anhalt 2010 beworben, wurden nominiert und zeigen in diesem Jahr noch bis Oktober die Ergebnisse dieser Arbeit. Jede fand dabei ihren ganz eigenen Weg, um das Weniger an Bevölkerung mit einem Mehr an Stadt- und Lebensqualität auszugleichen. Eine Spurensuche.

„In Aschersleben tut sich gar nichts!“, erinnert sich Wolfgang Adam noch gut an die Aussprüche jener, die noch vor wenigen Jahren die Stadt auf den drei Bundesstraßen querten und ganz schnell weiterfuhren. Grau und schmutzig hat auch er seine Ge-burtsstadt in Erinnerung. Jetzt sind zwar immer noch unzähli-ge Laster und Pkws unterwegs – bis zu 18 000 Durchfahrende lassen sich hier an einem Tag locker zählen. Und doch ist alles anders. In der Straße Hinter dem Zoll, einer engen Schlucht zwi-schen dem sanierten Gebäude der ehemaligen Werkzeugfabrik und gegenüberliegenden kleineren Wohnhäusern, öffnet sich

der Blick auf ein Teilstück der weltweit ersten Durchfahrgalerie – auf gut Englisch DRIVE THRU gallery – mit haushohen, großen bunten Kunstwerken. Zur Zeit stellt der Berliner Maler Andree Volkmann hier seine Bilder aus, es sind fünf aus dem Zyklus „Feierabend“. Bunt und schrill schieben sie sich subtil und doch unausweichlich ins Blickfeld der Autofahrer, die bremsen, anhal-ten und gucken sollen. Aschersleben macht dieser Tage Furore mit seiner neuen Ga-lerie. Sie ist mit ihren Bildern, Fotos und künstlerischen In-stallationen entlang der Durchfahrtsstraßen ein Baustein im

„Provinz ist eine Sache der Landkarte, nicht des Kopfes“IBA, Landesgartenschau und Neo Rauch – Aschersleben zeigt, wie Imagewandel heute funktionieren kann

Von Cornelia Heller

Bremsen, anhalten, gucken: Aschersleben zeigt in der weltweit ersten DRIVE THRU gallery derzeit Bilder des Berliners Andree Volkmann aus dem Zyklus „Feierabend“.

22 Stadtentwicklung

Zurück in die Mitte: AGW-Geschäftsführer Wolfgang Adam vor dem städtebaulich wichtigen Projekt Hopfenmarkt und Ritterstraße.

Umbauprozess der Stadt im Rahmen der IBA 2010 und lässt außerdem die inzwischen 200 000 Besucher der in diesem Jahr zeitgleich ausgerichteten 3. Landesgartenschau staunen. Mit ihrem Konzept „Von außen nach innen – Konzentration auf den Kern“ gelang der alten Stadt nicht nur mit der Idee einer Galerie der große Wurf. „ ‚Ab in die Mitte’, hieß das zu Beginn“, erklärt der Geschäftsführer der Ascherslebener Gebäude- und Wohnungsgesellschaft mbH AGW Wolfgang Adam, als wir über die IBA und das reden, was sie in der Stadt verändert hat. Die erklärte Stadtpolitik im Dreiklang von Bildung, Wirtschaft und Stadtumbau setzte den Mut voraus, am Stadtrand massiv abzu-reißen. „Den haben wir als Wohnungsgesellschaft aufgebracht.“ Adam, „Herr“ über heute 3 200 Wohnungen, hat den Bestand der AGW in den zurückliegenden 20 Jahren halbiert – halbie-ren müssen. Anfang 2000 standen weit über 25 Prozent der Wohnungen in Aschersleben leer. „So wurde entschieden, 800 Wohnungen abzureißen, nicht nur, aber vor allem am Rand“, zeigt er in Richtung Norden und meint das Wohnge-biet Helmut-Welz-Straße. „Hier fuhr kein Bus mehr hoch, kein Bus mehr runter. Und nur ‚Opa Paul‘ hatte einen Führerschein, Oma nicht. So gestaltete sich für viele ein einfacher Weg in die Altstadt zum Tagesausflug.“

„Beim Stadtumbau muss man übergreifend arbeiten. Und denken“, meint Wolfgang Adam, Geschäftsführer der Ascherslebener Gebäude- und Wohnungsgesell-schaft.

Adam beschreibt Realitäten, die nicht nur für Aschersleben ty-pisch sind. Sachsen-Anhalts Städte schrumpfen wie andere eu-ropäische Orte in Italien, den Niederlanden oder in Russland. Sie

alle suchen einen Weg, die zu weit gewordenen Kleider „abzunä-hen“. Sich dabei vom Rande aus auf die alte Mitte zu bewegen, scheint naheliegend und sinnvoll. Doch die Schwierigkeit beim Umbau schlummert im Detail. Die Bewohner der Helmut-Welz-Straße schätzten ihre Wohnlage, die Ruhe, ein bisschen auch die Abgeschiedenheit. „Wir haben versprochen, unsere Häuser in der Innenstadt schnell zu sanieren, um allen, die aus der Peri-pherie rein in die Stadt umziehen sollen und wollen, eine Woh-nung anzubieten. Und wir haben unser Versprechen gehalten“, blickt Wolfgang Adam zurück. Beim Stadtumbau, sagt er, müsse man übergreifend arbeiten. Und denken. Das ist im Stadtbild der ältesten Stadt Sachsen-Anhalts heute gut ablesbar. So hat die Stadt die riesige Schmuddelbrache der alten Beste-hornschen Papier- und Kartonagenfabrik, besser bekannt noch als „VEB Optima“, mitten in der Stadt zu einem „Bildungszent-rum Bestehornpark“ umgebaut. Mehrere frei agierende Schul-träger verwirklichen heute genau dort die Vision der Stadt, ein begehrter Wohn- weil Bildungsstandort zu sein. Es ist über-haupt das Prestigeprojekt Ascherslebens im Rahmen der Inter-nationalen Bauausstellung und Schauplatz der aktuellen Stadt-entwicklung, Schnittpunkt von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Im Erdgeschoss des hellen, neu angebauten Riegels, der später als Kreativwerkstatt für die Schüler der ganzen Stadt genutzt werden soll, setzen versierte Gärtner Blütenträume in verzückende Hallenschauen der Landesgartenschau um. Aschersleben blüht und grünt dieser Tage im Wechselflor der Jahreszeiten, und „Natur findet Stadt“. Es war die Idee der Ber-liner Landschaftsarchitekten Faust, Schroll und Schwarz vom Büro sinai, die Geschichte des 1599 in Aschersleben geborenen Universalgelehrten Adam Olearius und seine große, sechs Jahre währende Expedition zum russischen Zarenhof nach Moskau

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Stadtentwicklung

und Isfahan im Orient, seine „Große moskowitische und persische Reise“, mitten in die alte Stadt hinein zu komponieren. Ein Hauch der großen weiten Welt weht seither durch Herrenbreite, Stadt-park und den Promenadenring, auf dem man der Geschichte der Stadt entlang der mittelalterlichen Befestigungsanlage mit noch immerhin 15 erhaltenen Türmen ganz nah sein kann.Aschersleben hat irgendwie alles richtig gemacht. Und wird at-traktiv, für jeden der hierherkommt. Gerade hat die AGW in der Herrenbreite mit dem besten Blick auf die blühenden Wiesen der Landesgartenschau eine sanierte Villa mit sechs Wohnungen an die neuen Mieter übergeben. Die Warteliste war lang. Ein neues Projekt direkt am Promenadenring in der Wilhelmstraße, Ecke Liebenwahnscher Plan, für das man Fördermittel des Landes in einem Wettbewerb für innovative Projekte gewann, wird dieser Tage nach der Planungs- in die Ausschreibungsphase gehen. Auch für diese Wohnungen gibt es bereits jede Menge Interessenten. Wie auch für die im Umbau befindlichen Häuser der Staßfurter Höhe, wo man aus schwer vermietbaren Fünfgeschossern at-traktive Dreigeschosser macht. „Der hohe Standard“, sagt Adam, „animiert die Leute, zurück in die Stadt zu ziehen.“

Der Imagewandel der Stadt macht aber noch anderes möglich. Denn Aschersleben hat seit Juni mit München und Leipzig ein gewichtiges Faustpfand gemein. In allen drei Städten ist gegen-wärtig der Name des international renommierten Malers Neo Rauch präsent. Die beiden Metropolen zeigen die Ausstellungs-teile seiner Retrospektive „Begleiter“. In Aschersleben sind die Werke seiner Meisterschüler mit dem Titel „Von Vorn“ zu sehen. Höchstselbst kam der Künstler dieser Tage in die Stadt seiner Kindheit und Jugend zur Vernissage und ließ am Bekenntnis zu seiner Heimatstadt keinen Zweifel aufkommen. Er prägte gar das Wort „mini-MoMA“ in Anlehnung an das weltberühmte Museum of Modern Art in New York im Hinblick auf die Ausstellungsräume im neuen Gebäudeanbau des Bestehornparks. Hier, so meinte er, könnte er sich vorstellen, in Zukunft auch selbst auszustellen. Das wäre für die kleine Stadt zweifellos ein neuerlicher Zugewinn. Und so beweist sich die Wahrheit der Eröffnungsworte von Prof. Arno Lederer zu Vernissage, übrigens seines Zeichens Architekt des Be-stehornparks. Er sagte: „Provinz ist eine Sache der Landkarte und nicht des Kopfes“.

Stark: Der Hallenser Künstler Moritz Götze vor seinem Werk „Mond“, zu sehen auf dem Landesgartenschaugelände.

24 Stadtentwicklung

„Die Treppe geht ja ins Wasser“, ruft die Kleine mit den bun-ten Zopfhaltern ihrer Mutter hinterher und erntet allseits Schmunzeln. Heute, an einem Bilderbuch-Sommertag, ist kaum ein Platz frei auf den vom Wasser umspülten breiten Sitzstufen am Domfelsen. Kollektives Schauen, gewisserma-ßen Public Viewing, auf Magdeburgs großen Fluss, die Elbe. Die Treppe ist fast neu. Ihre Stufen säumen seit vorigem Som-mer die Wasserkante. Je nach Pegelstand gibt es mal mehr, mal weniger von ihnen. Magdeburg, auf halbem Wege zwischen Quelle und Mündung auf Elbkilometer 326, übte sich für die Internationale Bauaus-stellung im „Leben an und mit der Elbe“. Es ist das Thema, un-ter dem die Stadt acht Jahre lang den Fluss und die Stadt einander näher zu bringen ver-suchte.

Heute radelt man entlang der Elbe, skatet, joggt am Ufer, sitzt in flussnahen Cafés und Restau-rants, auf wassernahen Stufen oder picknickt bei Sommerwetter auf den weiten Elbwiesen. Doch das war nicht immer so. Es war gar schlichtweg nicht möglich. „Der Stadtkörper“, sagt Dr. Dieter Scheidemann, Beigeordneter für Stadtentwicklung, Bau und Ver-kehr der Stadt Magdeburg, „wie eine Spindel längs der Elbe gezo-gen und in ihrem Kern verdickt, findet im Fluss ein ganz besonde-res Merkmal. Die Elbe war Furt, war als Abgrenzung eingebunden in die Festungsanlagen, war Umschlagplatz für die wachsende Industrie.“

Ganze Areale waren vor allem durch elbnahe Industrieansiedlun-gen über Jahrzehnte unzugänglich. Erst der wirtschaftliche Nie-dergang vieler Betriebe nach der politischen Wende 1989 mach-te es im Umkehrschluss möglich, dass sich die Stadt dieser nun

brachliegenden Flächen annehmen konnte und im IBA-Prozess die einmalige Gelegenheit für ein Heranrücken an den Fluss ver-stand. „Die IBA war und ist die große Chance für Magdeburgs Stadtentwicklung, die Stadt wieder an die Elbe heranzuführen“, sagt Scheidemann und weiß, dass die alte Kaiserstadt neue Ak-zente sucht und braucht, um nach wirtschaftlichem Umbruch und hoher Bevölkerungsabwanderung im Ranking der Städte wie-

der aufzuholen. Man könnte meinen, eine Renaissance hat mit der IBA eingesetzt. Entlang der Elbe reihen sich heute Schauplätze, die diesen Wandel erlebbar machen. Schauplatz eins: der alte Handelshafen im Norden der Stadt. Hier schwappt Elbewasser in ein selten schönes Hafenbecken, und die alten roten Speicherhäuser lassen an Hamburg und deren Spei-cherstadt denken. So weit entfernt sind die Magdeburger Ideen von eben jener hanseatischen Nachnutzung nicht. Die creative class, die klugen Köpfe, will man in das Quartier locken, ihre Han-

Überraschende Renaissance auf Elbkilometer 326Die alte Kaiserstadt Magdeburg übte sich für die IBA im „Leben an und mit der Elbe“

Die Stadt am Fluss im Blick: Dr. Dieter Scheidemann, Magdeburgs Beigeordneter für Stadtentwicklung, und Rainer Nitsche, Beigeordneter für Wirtschaft, Tourismus und regionale Zusammenarbeit.

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Stadtentwicklung

delsware: Wissenschaft. Das Fraunhofer Institut hat sich bereits angesiedelt, die „Denkfabrik“ entstand aus zwei alten Speichern, im „Elbe-Office“ ziehen die nächsten Mieter ein. Der „Wissen-schaftshafen“ ist im Wachsen und soll in Zukunft auch städtebau-lich noch enger an die Stadt und den Campus der Otto-von-Gue-ricke-Universität heranrücken. Eingebunden in ein europäisches Projekt, das dem Austausch von Erfahrungen bei der Entwicklung von Wissenschaftsquartieren dient, hat Magdeburg hier eine Vorreiterrolle übernommen. Auch das steht der Elbestadt gut. Wilhelm van Winden, der EU-Koordinator eben jenes Projektes, sagt: „Wissenschaftshafen, Campus und Elbe liegen in Magde-burg so eng beieinander, und man ist nicht weit von der Innen-stadt entfernt. Das ist eine Kombination, die nicht viele Städte aufweisen.“

Schauplatz zwei macht anderen vor, wie das mit dem „Stadt rückt näher an den Fluss“ gehen kann. Seit der Öffnung des alten Elbebahnhofs, der seit der Wende ohne Nutzung war, kann man auf einer durchgängigen Uferpromenade auf einer Länge von 2,5 Kilometern der Elbe folgen. Der Bahnhof mit sei-nen rund elf Hektar mitten in der Stadt war früher das Synonym für hektischen Warenumschlag, hier dampften die Lokomoti-ven, quietschten die Güterwaggons, standen ungezählte Lager-schuppen dicht an dicht. Und er grenzte direkt an das Wasser.

„Die IBA hat Prozesse in Gang gesetzt, die wir weiter-führen werden“, sagt Dr. Dieter Scheidemann, Magde-burgs Beigeordneter für Stadtentwicklung.

Jetzt sind die Bauflächen neu geordnet. Die Klaviatur des klassi-schen Flächenmanagements wurde dafür von den Fachleuten der Stadt bedient. Entlang dieses Wegs ist eine ganze Reihe weiterer flussnaher Projekte erlebbar, beginnend beim Um- und Neubau der Lukasklause zum Otto-von-Guericke-Zentrum oder der neu-en Brücke und Treppenanlage am Domfelsen, vorbei am Stadtbal-kon als Ausguck hinüber zur Stadthalle oder der ausgegrabenen Bastion Cleve, die Einblicke in die Geschichte Magdeburgs als Festungsstadt gibt. „Da ist wirklich viel passiert“, freut sich Dieter Scheidemann und ist sich sicher, dass Besucher, die lange nicht hier waren, überrascht sein werden, wie die Elbestadt sich verändert hat.

Schauplatz Nummer drei hat gerade mal wieder international von sich reden gemacht. Mit dem „European Prize für Urban Space 2010“ wurde in Salbke, einem südlichen Stadtteil Mag-deburgs, die „Freiluftbibliothek Lesezeichen“ ausgezeichnet. Die ist zwar kein IBA-Projekt, darf aber wohl als ein Effekt der Internationalen Bauausstellung angesehen werden. Was 2004

mit einer legendären Bierkistenaktion auf einer brachliegen-den Fläche im von Arbeitslosigkeit, Wegzug und Leerstand gezeichneten Stadtteil Salbke begann, erntete als Bürger-bibliothek der besonderen Art bereits auf der 11. Architektur-Biennale in Venedig 2008 Aufmerksamkeit und Anerkennung. In Salbke, in dessen Ortsmitte bis zu 80 Prozent der Gebäude leer stehen und das, wie ein Journalist schrieb, „als Sinnbild eines postindustriellen Pompeji“ gilt, planten Architekten und Bürger gemeinsam in mehreren Workshops eine einzigartige Bibliothek: Ihre Regale sind nicht verschlossen und ihre Bücher zu jeder Tages- und Nachtzeit von jedermann ausleihbar. Das „Lesezeichen“ ist zum Freizeittreff und Veranstaltungsort des Stadtteils avanciert und zeugt von Phantasie und Mut, auch in schwierigen Zeiten zu neuen Ufern aufzubrechen. „Die IBA“, sagt Scheidemann, „ist kein Tag X, an dem alles fertig ist. Die IBA hat Prozesse in Gang gesetzt, die wir weiterführen und be-gleiten werden.“

So zieht sich die Spur des Wandels in Magdeburg ganz nah der Elbe. Die alte Kaiserstadt am Fluss zeigt sich dort von ihrer schönsten und vielleicht ehrlichsten Seite. Schauen und gucken

lohnt auf Elbkilometer 326.

Der Uferbereich präsentiert sich heute als Promenade mit

vielfältigen Möglichkeiten, sich dem Strom zu nähern.

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Stadtentwicklung

Die Anrufe von Lieselotte Schmidt (Name geändert) bei der Woh-nungsbaugenossenschaft Sangerhausen haben sich gehäuft in den vergangenen Monaten. Regelmäßig berichtet die 81-Jährige am Telefon von ihrer kaputten Heizung, die dringend repariert wer-den müsse. Und jedes Mal stellt der herbei geeilte Monteur dann fest, dass mit der Heizung alles in Ordnung ist und die alte Dame sich nicht erinnern kann, den Notdienst gerufen zu haben.

Erfahrungen wie diese sind kein Einzelfall. Nach Schätzungen von Experten wird für 1,2 Millionen Menschen die Bewältigung eines normalen Alltagslebens schwerer und schwerer, wenn Ge-dächtnis und Orientierung nachlassen, sich über das Denken, das Urteilsvermögen und die eigene Wirklichkeit ein Schleier zu legen beginnt. Mit der Diagnose Demenz beginnt sich für viele der Betroffenen ein soziales Problem aufzutun.

„Wie geht man richtig damit um?“, fragt Karina Kaiser, die Vor-standssprecherin der Sangerhäuser Wohnungsbaugenossen-schaft. „Wir sind meist die ersten Ansprechpartner der Mieter, weil man uns ja anrufen kann, wenn sonst niemand mehr da

ist. Zu DDR-Zeiten seien viele der jetzigen Mieter so genannte Erstbezieher der neuen Wohnungen in den Plattenbausiedlun-gen gewesen. Altern war ein Thema, das noch Lichtjahre entfernt schien. Aber nach der Wende sind in Sangerhausen, einer Stadt mit rund 30 000 Einwohnern im südlichen Sachsen-Anhalt, mehr als 90 Prozent der Arbeitsplätze weggebrochen. Die Kinder sind der Arbeit nachgezogen, die Eltern blieben zurück.

Der demographische Wandel ist inzwischen auch bei den Woh-nungsgesellschaften angekommen. Jost Riecke, Verbandsdirektor der Wohnungswirtschaft in Sachsen-Anhalt, nennt Zahlen: „Allein für den Zeitraum 2010 bis 2025 wird die Zahl der Haushalte in Sach-sen-Anhalt voraussichtlich um 140 000 sinken. Zugleich verschiebt sich die Alterspyramide. Im Vergleich zu heute wird sich die Zahl der 20- bis 65-Jährigen um 29 Prozent verringern, während die Zahl der über 65-Jährigen bis 2025 um 13 Prozent auf rund 600 000 steigt.“Prof. Dr. Reimer Gronemeyer, Altersforscher, Theologe und Soziolo-ge der Justus-Liebig-Universität Gießen, beschreibt die Situation in Deutschland ganz nüchtern: „Bereits heute lebt jeder zweite über 85-Jährige allein. Kann man sich eigentlich wundern, dass diese

Wenn sich ein Schleier über die Wirklichkeit legtBevölkerungsentwicklung stellt Wohnungsunternehmen vor bislang unbekannte Herausforderungen

Von Petra Uhlmann

Generationenhaus der Wohnungsbau-genossenschaft Sangerhausen:Die Bewohner ge-nießen gemeinsam das Miteinander.

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alten Menschen es schwerer und schwerer haben, sich im Alltag zurechtzufinden? Die wichtigste Prävention dürfte eine wärmende, akzeptierende Gemeinschaft sein.“

Als erstes Bundesland versucht nun Sachsen-Anhalt, mit der Inter-nationalen Bauausstellung (IBA) „Stadtumbau 2010“ neue Lösungs-ansätze für den Umgang mit dem demographischen Wandel zu entwickeln. Auch die Wohnungsunternehmen im Land sind daran beteiligt und müssen sich der Herausforderung stellen. Sie betreten Neuland damit, denn das Leitbild stetigen Wachstums gilt nicht mehr. Mieter werden weniger und älter. Alterserkrankungen wie Demenz bekommen plötzlich auch eine wohnungspolitische Di-mension. Und nicht nur für Jost Riecke ist klar: „Es müssen neue Wege gefunden werden, um die Selbsthilfe zu fördern, Netzwerke zu bilden und die Übernahme von Verantwortung zu stärken.“ Die Wohnungsbaugenossenschaft in Sangerhausen hat es verstan-den, schon frühzeitig die Zusammenarbeit mit sozialen Dienstleis-tern zu suchen, damit Mieter möglichst lange in ihren Wohnungen selbstbestimmt leben können. Sowohl im von der WGS neu erbau-ten Generationenhaus im Stadtteil Süd, als auch im Mai 2009 er-öffneten Mieterzentrum (MIETZ) im Wohngebiet Othaler Weg sind Vereine und soziale Dienstleister gemeinsam Nutzer und Betreiber. Durch die Kooperation der WGS mit „projekt 3 e. V.“ und „MitBürger e. V.“ wird ein breites Spektrum der sozialen Beratung und Betreu-ung abgedeckt. „Unsere Absicht ist es, erst einmal in den Köpfen der Mieter etwas zu verändern, sie zum Mitgestalten und Mitreden an-zuregen“, sagt Dieter Klein von projekt 3 e. V.. „Und wenn sie selbst-bestimmt agieren, vielleicht sogar selbst Hilfe anbieten, sind das die besten Voraussetzungen für gute Nachbarschaft und würdevolles Altern“, fügt René Pischel hinzu.

Die Geschäftsführerin der Städtischen Wohnungsbau GmbH Schö-nebeck, Sigrid Meyer, sieht den demographischen Wandel auch als Chance. „Wir sind gezwungen, völlig neue Konzepte zu entwickeln“, sagt sie. Gemeinsam mit anderen Vermietern hat ihr Unternehmen im Jahr 2003 den Verein „Selbstbestimmt Wohnen e. V.“ gegründet.

Schönebeck liegt an der Elbe, unweit der Landeshauptstadt Mag-deburg – eine adrette Kleinstadt, in der es sich eigentlich gut leben lässt. Doch die Idylle ist trügerisch, wie Sigrid Meyer berichtet: „Rund 20 Prozent unserer Wohnungen standen über acht Jahre leer. Mehr als 40 Prozent unserer Mieter sind inzwischen über 60 Jahre.“

Die Schönebecker Wohnungsbaugesellschaft hat sich auf die Her-ausforderungen eingestellt, die mit der veränderten Bevölkerungs-struktur einhergehen. „Wir möchten unsere älter werdenden Mieter auch in Zukunft halten, ihnen ein lebens- und liebenswertes Umfeld bieten“, nennt sie die Zielstellung.

Die städtische Gesellschaft war eines der ersten Wohnungsunter-nehmen in Sachsen Anhalt, die das Thema Demenz in ihre Ent-wicklungskonzepte integriert haben. Der Kerngedanke dabei: Die Mieter sollen so lange wie möglich in ihrem Stadtteil und dem vertrauten sozialen Umfeld leben können, auch mit Demenz. Die Mietkosten dürfen die oft begrenzten finanziellen Möglichkeiten der Mieter nicht übersteigen. Es galt also, eine gute Balance zu fin-den zwischen notwendigen Umbau- und Sanierungsmaßnahmen, bezahlbaren Mieten, aber der Wohnungsgesellschaft zugleich die wirtschaftliche Grundlage zu sichern.

In Schönebeck ist diese Gratwanderung gelungen: Bei einer Größe von 21 Quadratmetern pro Mieter im eigenen Wohnbereich der Demenz-WG und fünf Euro Kaltmiete pro Quadratmeter beträgt die monatliche Miete mit Nebenkosten maximal dreihundert Euro. „Wir haben im Innenbereich nur so viel sanieren lassen, wie für die veränderte Nutzung notwendig war und uns erst einmal entschlossen, die Fassade nicht anzufassen“, erinnertsich Sigrid Meyer. „Was nutzen uns strahlende Schmuckschatullen, wenn der Mieter zum Beispiel die Pflegekosten nicht mehr bezahlen kann?“.

Viel wird heute geredet über dringend nötige Integration, die Ge-fahren sozialer Entmischung oder Nachbarschaftskonflikte. Und doch bedurfte es einer gehörigen Portion Mutes, vor fünf Jahren mit einem Thema, über das nicht nur kaum gesprochen wurde, sondern das auch sehr angstbesetzt war, in ein gewachsenes Wohnquartier hineinzugehen. Die komplette Etage eines „norma-len“ Wohnblockes in eine Wohngemeinschaft für Menschen mit Demenz umbauen? „Wir wussten, dass vieles auf dem Spiel stand, dass wir Vertrauen und einen langen Atem brauchen“, blickt Si-grid Meyer zurück. „Neun Monate nach der WG-Eröffnung gab es die ersten drei Anmeldungen. Dann sprach es sich herum. Inzwi-schen haben wir eine lange Warteliste.“

www.swb-schoenebeck.de

Warteliste für die WG: Sigrid Meyer, Geschäftsführerin der SWB Städtische Wohnungsbau GmbH Schönebeck.

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Demographischer Wandel

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Staub steigt auf und bleibt pelzig auf Haut und Zunge haften, als sich die Wolke längst aufgelöst hat. Nur noch als graubrauner Schleier flimmert sie über der Ladung auf dem Lastkahn, in dessen Bauch sie gerutscht und gerollt ist. Die Schute ist zu gut zwei Drit-teln gefüllt, schätzt Rene Pusch mit einem kurzen Blick ein und winkt dem LKW-Fahrer zu, der bereits von der Kaimauer wegrollt. „Das war heute schon seine vierte Fahrt“, sagt der Vorarbeiter, „das Boot muss bis zum Abend raus.“ Tausend Tonnen der stauben-den Rübenpellets aus der 70 Kilometer entfernten Zuckerfabrik Könnern passen hinein, das Futtermittel wird bis nach Belgien verschifft.Hier draußen am Terminal am sogenannten Trennungsdamm floriert der Schüttgutumschlag, das traditionelle Hafengeschäft. Etwa ein Drittel der Umschlagmenge bringt es dem Magdebur-ger Hafen heute noch. In der Sonne prahlen glitzernde Hügel von Buntmetallschrott und lassen die Nachbarberge mit unver-brauchtem Roheisen aus Brasilien und Russland finster aussehen. Im Rücken des Trennungsdamms strömt die Elbe vorbei, vor die-ser langgestreckten Insel liegt der Kanalhafen mit der Einfahrt in die Hafenbereiche weiter stadteinwärts. In Gegenrichtung glei-ten Schubverbände mit frischer Fracht aus Magdeburg hinaus, das Ruhrgebiet und die Niederlande im Westen oder Polen oder Tschechien im Osten als Ziel. Pusch lächelt amüsiert auf die Frage, ob er beim Anblick eines vorbeiziehenden Schiffes etwas Sehn-sucht nach dem weiten Meer verspürte. „Bin jahrelang auf einem Hochseeschiff gefahren“, erzählt der gebürtige Mecklenburger. Und dann? „Dann habe ich meine Frau kennengelernt, die war Schiffsstewardess.“ Und stammte aus dem Binnenland an der Elbe, wohin das Paar später zog. Jetzt arbeitet Pusch inzwischen seit 25 Jahren im Magdeburger Hafen. Die Anfänge des größten Hafens in Mitteldeutschland reichen bis in 19. Jahrhundert zurück, als zunächst das Westufer der Elbe mit einer Kaimauer befestigt wurde. Als die Frachtschifffahrt immer mehr Dampf machte, wurden größere Umschlagkapazitäten be-nötigt. So entstanden im Norden Magdeburgs mehrere Hafenbe-reiche. Die alten Pläne für ein Wasserstraßenkreuz von Elbe und

Mittellandkanal wurden nach 1990 wieder hervorgeholt und das fehlende Verbindungsstück zwischen Mitteland- und Elbe-Havel-Kanal im Jahr 2003 mit einer Trogbrücke geschlossen, Teil des Ver-kehrsprojektes „Deutsche Einheit“ Nummer 17.

Seit vor drei Jahren das neue Containerterminal fertig geworden ist, verfügt der Magdeburger Hafen über insgesamt sechs Kilome-ter Kailänge und 115 Hektar Ansiedlungsfläche. Der Jahresumschlag wuchs bis 2008 auf drei Millionen Tonnen – allerdings wurde diese Marke im Krisenjahr 2009 wieder unterschritten. Hafendirektor Karl-Heinz Ehrhardt sieht die Entwicklungschancen dennoch vollerOptimismus. Er will Magdeburg zum Mittelpunkt einer Hinter-landdrehscheibe für die Häfen an Nord- und Ostsee entwickeln: „Für die Warenströme Richtung europäischer Osten und Süd-osten bietet sich die Zwischenlagerung in unserem Binnenhafen doch regelrecht an“, sagt Ehrhardt. Wenn er von einem „Duisburg des Ostens“ spricht, klingt das vielleicht nach Größenwahn. Aber der Mann hat in Hamburg gearbeitet und weiß, wovon er – sehr nüchtern und kein Wort zuviel – spricht. Davon später noch.

Rückgrat für die Großen

Zunächst verbessert Ehrhardt den Begriff Hafen in Logistikstand-ort: „Denn mit dem reinen Hafengeschäft können Sie heute gar nichts mehr erreichen. Wir haben unser Geschäft von den Um-schlagzahlen abgekoppelt und leben heute mit drei Standbeinen: Umschlag, Speditionsgeschäft, logistikrelevante Ansiedlungen. Die Mischung bringt es.“ Dazu gehört auch, dass das Schiff nicht das einzige Transportmittel und die Wasserstraßen nicht der al-leinige Weg geblieben sind, mit dem der Hafen Geld verdient. „Früher haben die Hafendirektoren ihre ganze Arbeitszeit aufs Wasser gesehen. Heute drehen wir uns schon mal die Hälfte der Zeit um und gucken uns einen LKW oder einen Zug an.“ Die Wirbelsäule muss sich Magdeburgs Hafenchef dabei nicht verrenken. Wie auf Bestellung rollt die Hafenbahn vorüber. Ihre Gleise führen vom öffentlichen Bahnnetz in alle Hafenbereiche. Wenige hundert Meter weiter rauscht der Autoverkehr auf der A2 vorbei. „Alle drei Verkehrsträger lassen sich in einem Radius von nur einem Kilometer miteinander verbinden“, erklärt Ehrhardt eine Dreierbeziehung, die bei den Logistikern „trimodaler Stand-ort“ genannt wird, und legt nun doch mit unverkennbarem Ehr-geiz nach: „Wir sehen uns in der Rolle des Generalunternehmers,

Eine seetüchtige Dreiecksbeziehung Magdeburgs Hafen will Mittelpunkt einer Hinterlanddrehscheibe für die großen Seehäfen werden

Von Ute Semkat

Der beste Platz im Magdeburger Hafen liegt weit über der Elbe und den Schiffen. Von der Plattform des 50-Tonnen-Krans erschließt sich das geäderte Netz von Wasserstraßen und Hafenteilen – vorausgesetzt, der Betrachter ist schwindelfrei.

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Logistik

der den besten Weg für seinen Kunden selbst wählt. Der muss uns nur sagen, wann die Fracht abgeholt werden muss und wann sie wo sein soll.“ Als Beispiel erzählt der Hafenchef von einem Unternehmen, das Ware aus Marokko benötigt. „Wir machen für diesen Kunden die Seeschifffahrt bis Hamburg, schlagen dort im Überseehafen um und transportieren per Binnenschiff nach Magdeburg weiter. Hier lagern wir die Ware auf unseren eigenen Flächen und belie-fern das Unternehmen dann in den Mengen, die es abruft. Also wir bedienen die ganze Logistikkette.“

Als der alte Handelshafen ausgedient hatte und die Stadt Magde-burg dort in Citynähe einen Wissenschaftshafen entwickelte, übertrug sie ihrem Hafenbetrieb 40 Hektar Ersatzflächen im nördlichen Industriegebiet Magdeburg-Rothensee, die bis zum Rothenseer Verbindungskanal (dem Anschlussstück zwischen Mittellandkanal, Häfen und Elbe) reichen. In diesem so genann-ten Hansehafen verpachtet Ehrhardt jetzt Gewerbeimmobilien. „In der ersten Reihe an Unternehmen, die ständig die Kaikante brauchen, die anderen siedeln wir weiter hinten an. Und die letz-ten 50 Meter vorm Kai behalten wir als Hafengelände dauerhaft in unserem Zugriff.“ Auf der knapp zehnminütigen Autofahrt vom Verwaltungssitz zum Hansehafen kann Ehrhardt jedes Unternehmen beim Na-men nennen. „Dort baut Enercon gerade eine Windradanlage mit 7,5 Megawatt.“ Der Hersteller von Windenergieanlagen aus dem ostfriesischen Aurich produziert in Magdeburg an zwei Stand-orten Teile, in Rothensee sind es Turmsegmente und Rotoren-blätter, die als schweres Stückgut oder per Container in die Welt verschickt werden. Gegenüber vom Ölhafen hat der Hafenchef zuvor auf ein hohes Gebäude mit der weithin lesbaren Aufschrift „Beiselen“ gezeigt: „Die sitzen in Ulm und erweitern hier jetzt ihr Saatgutlager“. Fast andächtig fügt er hinzu: „Mit dem Inhaber habe ich schon vor zwanzig Jahren Geschäfte gemacht.“ Nachdem der in diesem Jahr 60-Jährige etliche Jahre für die Me-tallgesellschaft Frankfurt um den Globus gereist war, ging er zur Hamburger Reederei und war wieder „bis zu 200 Tage im Jahr in der Luft unterwegs – oder in China“. Der norddeutsche Dialekt ist erkennbar, aber geboren wurde Karl-Heinz-Ehrhardt in Dresden. Als er neun war, verließ seine Familie die DDR und wurde in Bayern heimisch. Doch dann lernte der junge Ehrhardt in Ham-burg an der Elbe den Beruf eines Reedereikaufmanns. Seit 2002 Hafendirektor in Magdeburg, ist er wieder an seinem Heimat-fluss gelandet. „Man muss schon 20, 30 Jahre in dem Metier gewesen sein, um da erfolgreich mitmischen zu können“, sagt er mit unverkenn-barem Stolz. Und so lässt er jetzt auch „die alten Verbindungen spielen“, um Magdeburg als Hinterlandterminal für die Seehäfen

von Bremerhaven bis Stettin eine prosperierende Entwicklung zu sichern – so wie es dem Binnenhafen Duisburg als Rückgrat für Rotterdam, Amsterdam, Antwerpen gelang. Seit 2008 ist Magde-burg ein Kooperationspartner von Europas führender Seehafen-logistik-Gruppe Eurogate, die ein Inland-Container-Netzwerk zur Entlastung der Seeterminals aufbaut. Die weltweite Krise habe zwar die Verlagerung von Seehafenumschlag vorerst ausgebremst, erklärt ein Sprecher bei Eurogate. Aber der Hansehafen in Magde-burg eigne sich wegen seiner Infrastruktur für „eine stärkere Rolle im Hinterlandverkehr. Insbesondere für das System Wasserstraße bietet Magdeburg durch die Anbindung an das Wasserstraßen-kreuz, die Elbe und den Mittellandkanal ein hohes Potenzial.“

Neue Schleuse wird nächsten Sommer fertig

Wer in Magdeburg anlegt, kann den Binnenhafen als Zollamtsplatz nutzen. Das spart den Schiffseignern Zeit und Geld, weiß Ina Schulle, zuständig für die Infrastrukturentwicklung des Hafens und für Ar-beitssicherheit. Auch in der Sicherheit sei der Hafen Spitze, zeigt sie auf die weitläufige Abstellfläche für Gefahrengut am Hanseterminal. „Das ist nicht einfach Betonboden. Der ist wasserundurchlässig.

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gonnen. Zuerst drüben am Trennungsdamm, zeigt er schräg übers Wasser in den Hafenteil, wo sein Vorarbeiter Pusch mit den Rüben-pellets beschäftigt ist. „Dort haben wir früher manchmal knietief im Schlamm gestanden und Kohle entladen. Heute gibt es weniger Kraftarbeit, weniger Dreck. Macht mehr Spaß.“ Schwindelfreien Mitmenschen bietet die oberste Plattform des Hafenkrans den besten Überblick: Die Hafenbereiche und die Elbe, die mehrfach ausgestülpte Kanalverbindung und die Trogbrücke –dieses am Boden unüberschaubare Puzzle geht aus der Vogel-perspektive endlich eine geordnete Beziehung ein. Im Verbin-dungskanal liegt eine Baustelle bloß. Dort wachsen die Wände einer Niedrigwasserschleuse aus dem Wasser. Wenn in trockenen Sommern mit der Elbe bisher auch das Wasser im Kanal sinkt, müssen voll beladene Schiffe um ein oder zwei Containerlagen geleichtert werden. Aber sobald im Sommer 2011 die neue Schleu-se fertig sein wird, bleibt der Wasserstand im Kanal ganzjährig auf vier Metern. Dann ist auch der letzte Schönheitsfehler im ausge-feilten „System Hafen“ beseitigt.

www.magdeburg-hafen.de

Magdeburger Hafen GmbH

– 3 Hafengebiete (Kanalhafen, Güterverkehrs-

zentrum Hansehafen, Industriehafen)

– KV-/Containerterminal

– Gesamtfläche einschließlich Wasser ca. 655 Hektar

– Kailänge 6 490 Meter

– 6 Krananlagen bis 50 Tonnen

– 8 180 Quadratmeter gedeckte Lagerfläche

– 172 500 Quadratmeter befestige Lagerfläche

– Hafenbahn mit eigenen Triebfahrzeugen

– 54 Kilometer Gleisnetz mit Anliegeranschlüssen

Hafenmeister Klaus Kürfke arbeitet seit 1987 im Magdeburger Hafen und „macht alles“. Auch von seinen Mitarbeitern verlangt er viel Flexibilität.

Und die Fläche hat ein separates Absperrsystem, damit können wir einzelne Sektionen abschiebern, wenn ein Container leckt.“ Damit könne kein Umweltgift in den Wasserkreislauf oder die Elbe gelangen. Am Kai herrscht kurz vor dem Pfingstwochenende mäßiger Betrieb, aber noch am Tag zuvor „brummte es“, sagt Karl-Heinz Ehrhardt. Sorgenfalten bekam er nur im vergangenen Winter, als gleich meh-rere Wochen lang gar nichts mehr ging. Doch jetzt ertönt ein Signal, und der 50-Tonnen-Portalkran setzt sich langsam in Bewegung und greift den ersten Container vom Schiff. Routine. Schwerer hat es in diesem Moment der Fahrer des Reach-Stackers – eine Art Gabelsta-bler mit 100 Tonnen Eigenmasse – der eine wandgroße Stahlplatte von der Waggonfläche der Hafenbahn zentimetergenau auf der La-defläche eines LKW absetzen muss. Der Mann in der roten Warn-weste, der den Fahrer einwinkt, ist Klaus Kürfke, der Hafenmeister. Kürfke hat 21 Leute unter sich. Warum er dann selbst den Einwinker macht? „Ich mache alles. Sonst könnte mir ja jeder erzählen, dies und das geht nicht.“ Auch seine Leute machen „alle alles“, fügt er hinzu. Wer den Kran steuert, muss auch die Hafenbahn fahren kön-nen. 1987 hatte der gelernte Stahlbauschlosser mit der Aussicht auf bessere Verdienstmöglichkeiten im Vierschichtsystem im Hafen be-

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Logistik

Smalltalk ist nicht sein Ding. Er kommt lieber gleich zur Sache. Und seine Sache ist das Bier. Im Dezember 2001 übernahm Christian August die Geschäfts-führung der Colbitzer Heidebrauerei. Es sollte nur ein kleiner Flirt werden. „So zwei bis drei Monate wollte ich bleiben. Inzwi-schen sind daraus neun Jahre geworden“, erzählt der Jurist. Und ans Weggehen denkt der gebürtige Niedersachse längst nicht mehr, die Region ist ihm ans Herz gewachsen, der Geschmack seines Bieres sowieso. Eigentlich ist August ein unruhiger Geist. Jahrzehntelang trieb es ihn durch Deutschland. Er beriet Unter-nehmen, dann zog er weiter. Ausgerechnet das kleine Colbitz mit seinen 3 300 Einwohnern sollte die längste und wohl auch letzte Station im Berufsleben des 61-Jährigen werden. Darüber staunt er selbst ein wenig. Aber er ist ein Unternehmer, der mit Lust und Liebe Bier braut.

„Ein würziges, charaktervolles Bier. Das ist der Geschmack der Menschen hier.“ Das „Colbitzer“ hat es geschafft, zum Wahr-zeichen einer Region zu werden. „Dabei sah es nach der Wende gar nicht gut aus. Das Colbitzer war vom Markt verschwun-den. Die Leute probierten erstmal die Marken aus dem Westen aus.“ Doch jetzt schäumt es wieder. Die Colbitzer Heidebraue-rei ist nach der Hasseröder die größte in Sachsen-Anhalt. Rund 50 000 Hektoliter verlassen jährlich das 9 000 Quadratmeter große Betriebsgelände an der Brauereistraße. 2,8 Millionen Euro setzten die 18 Beschäftigten im vergangenen Jahr um.

Auch wenn es nicht in aller Munde ist. Wer einmal Colbitzer getrunken hat, bleibt meist dabei. Es ist ein Traditionsbier, das die Torheiten der Mode an sich vorbeiziehen lässt. August: „Der gute Geschmack liegt bei uns in Frauenhänden. Zwei Braumeis-terinnen kümmern sich bei uns um Kunst und Wissenschaft des Bierbrauens. Das ist eines unserer Erfolgsgeheimnisse. Dazu kommt das wunderbare Heidewasser – ein Gottesgeschenk.“

Am Rezept des „Colbitzers“ soll sich auch in Zukunft nichts ändern. Modisches Schnick-Schnack-Bier wird nicht in den zwölf Tanks der Brauerei brodeln. „Sicherlich kann man mit den Trendbieren Geld verdienen. Und wer will das nicht. Aber wir sind eine kleine Brau-erei und können uns solche Experimente nicht erlauben.“

Die großen Brauereien hoffen, mit peppigen Geschmacksstof-fen einen Weg aus der Krise zu finden. Der Bierkonsum hat im vergangenen Jahr seinen Tiefstand seit der Wende erreicht. 100 Millionen Hektoliter Bier verkauften die Brauereien im Jahr 2009, ein Rückgang von 2,8 Prozent.

Die Branche stöhnt. Doch die Bierflaute hinterlässt bei Christian August keinen schalen Geschmack. Nicht nachgeben, lautet sein Motto – privat wie beruflich. Noch dieses Jahr soll ein neues Sud-haus gebaut werden. Mitte des Jahres bringt die Heidebrauerei ein neues Bier auf den Markt: das „Colbitzer Hell“. „Ende Juni steht das „Helle“ in den Läden, ein mildes, spritziges Bier. Eine Marke, die in unserem Haus Tradition hat. Wir beleben sie jetzt wieder.“ Gut ein halbes Jahr hat die Entwicklung des „Hellen“ gedauert. Pünktlich zur Fußball-WM konnten Fans sich damit zuprosten.

Gutes Timing, das sicherlich kein Zufall ist. Fußball und Bier, das gehört auch für Christian August zusammen. Die Wände sei-nes holzgetäfelten Büros, in dem schon 1906 der Firmenchef residierte, sind geschmückt mit Fußballwimpeln, Mannschafts-fotos, Autogrammen. Augusts besonderer Stolz: ein Wimpel mit Unterschriften der legendären 74er-FCM-Mannschaft, die im Europapokal-Endspiel den AC Mailand auskickte. Auf einem wuchtigen Eichenholzschrank thront ein abgewetzter Fußball, der 1980 bei den Olympischen Spielen auf dem Rasen war. Sol-che Raritäten kommen nicht von ungefähr in die Hände des Brauerei-Chefs. Er liebt den Sport nicht nur, er fördert ihn, unter-stützt 259 Sportvereine der Region.„Das ist ein Pfund, mit dem wir hier viel mehr wuchern sollten. Keine andere Stadt in Deutschland hat so viele Olympiasieger und Weltmeister hervorgebracht wie Magdeburg. Aber das weiß kaum jemand. Die Leistungen der Menschen hier sollten viel mehr gewürdigt werden.“

Ebenso die regionalen Produkte, die Landschaft und die Sehens-würdigkeiten. August ist ein leidenschaftlicher Botschafter für die Region. „Man braucht etwas Zeit, um die Kleinodien hier zu finden. Aber sie sind da. Zum Beispiel das Jagdschloss in Letz-lingen oder die Wolmirstedter Schlossdomäne.“ Als Christian August vor neun Jahren in Colbitz ankam, hat er die zauberhaf-

Guter Geschmack mit 140 Jahren TraditionColbitzer Heidebrauerei bringt ein neues Bier auf den Markt – würzig, charaktervoll und regional verwurzelt

Von Sabine Tacke

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ten Ecken für sich entdeckt. Jetzt will er sie auch anderen zeigen. Deshalb ist er neben seinem 12-Stunden-Job auch noch Vorsitzender des Touris-musverbandes geworden.

Man sieht: Für Smalltalk hat August wirklich keine Zeit. Stillstand gibt es für ihn nicht. 70- bis 80 000 Hekto-liter Bier pro Jahr sollen künftig in den Kesseln sieden. Der Firmenchef hat ein klares Ziel vor Augen: „2012 wird die Colbitzer Heidebrauerei 140 Jahre alt. Wir müssen sie jetzt so aufstellen, dass sie weitere 140 Jahre Bestand hat.“

www.colbitzer-heidebrauerei.de

Gutes Bier braucht gute Zutaten,weiß Christian August. Und es braucht die Leidenschaft, einen Geschmack zu kreieren, den die Konsumenten für sich entdecken können.

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Ernährungswirtschaft

Guten Morgen SAW-Land.

Alle 15 Minuten: Eure News. Euer Verkehr. Euer Wetter.

Konzentriert und vertieft – gestandene Männer ziehen hinter sich den Vorhang ihrer Kabinen zu und rücken an die Werkbank heran. Die Arbeiter klappen die Visiere ihrer Helme herunter, führen die Elektrode gefühlvoll an das Metall. Dann blitzt und zischt es vor ihnen auf. Stahl schmilzt. Funken sprühen. Flackernder Rauch steigt aus den Boxen, verschwindet in Absaugtrichtern an der Wand.

Für die 14 Arbeiter aus dem Norden Sachsen-Anhalts ist das Licht-bogenschweißen eigentlich Alltag. Doch hier in der Schweißtech-nischen Lehranstalt Magdeburg (SLM) schauen ihnen Lehrer auf die Finger und auf die Naht – und das macht auch alte Hasen schon mal unruhig. Doch das Gesetz verlangt, dass ein Schwei-ßer die Prüfung in dieser Fügetechnik aller zwei Jahre aufs Neue

ablegen muss. So hat die hoch spezialisierte und vom Deutschen Verband für Schweißen und verwandte Verfahren (DVS) zuge-lassene Magdeburger Bildungsstätte in den 20 Jahren ihrer Ge-schichte schon mehrere Tausend Schweißer qualifiziert und geprüft. Allein am Standort Barleben vor den Toren Magdeburgs sind die vier Werkstätten mit insgesamt 60 Schweißkabinen gut ausge-lastet. Rund 70 weitere Plätze für das Training der verschieden Schweißverfahren stehen in Außenstellen in Dardesheim am Harz und Gardelegen in der Altmark zur Verfügung. In Barleben ließ sichdie Lehranstalt 1995 im Technologiepark Ostfalen nieder. SLM-Geschäftsführer Jürgen Bendler schwärmt von diesem Standort. „Das Umfeld ist modern. Hier wimmelt es von innovativen Firmen.

Gute Verbindungen – gesetzt für die EwigkeitSchweißtechnische Lehranstalt Magdeburg ist gefragter Partner der Industrie und des Handwerks

Von Andreas Müller

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Fortbildung

Hier haben wir beste Bedingungen bis hin zu den Grünanlagen ringsum und sogar einen Biberteich für die Pause.“

Beim Rundgang durch die Lehranstalt wird deutlich, dass auch der großzügige Neubau modernsten Ansprüchen genügt. Die Ein-gangshalle mit einer gläsernen Kuppel und einer knallroten Treppe ähnelt einem luftigen Atrium. Von hier geht es in die hellen Büros und zu den Seminarräumen oder in die Werkstätten und Labors. Selbst über einen modern ausgestatteten Hörsaal verfügt die An-stalt. Das Motto in Großbuchstaben an seiner Stirnseite spricht für sich: „Schweißen will gelernt sein“.

Allgegenwärtig auf Plakaten im Haus ist auch ein Spruch des Fach-verbandes: „Ohne Schweißen ist nix mit schönem Leben“. Jürgen Bendler zitiert ihn immer wieder, wenn er die Bedeutung der Bil-dungsstätte mit 35 Beschäftigten betonen möchte. Konkret heißt das: Kaum ein Auto, eine Brücke, ein Herzschrittmacher oder eine Rakete ist ohne die Schweißtechnik denkbar. Allein für den Bau eines Kreuzfahrtschiffes müssen hunderte Kilometer Schweiß-nähte gezogen werden. Entsprechend hoch ist der Bedarf der In-dustrie und des Handwerks an gut geschulten Fachkräften. 2009 wurden an der SLM 1 100 Teilnehmer aus- oder weitergebildet. Das war das höchste Ergebnis der vergangenen 20 Jahre.

Werkstoffprüfer Heiko Ludewig vermisst

sogenannte Biege-proben für einen Auftraggeber der

Industrie. Zahlreiche Unternehmen nutzen

das akkreditierte Werkstofflabor in Barleben, um ihre

Produkte von unab-hängigen Experten

beurteilen zu lassen.

38 Fortbildung

Absolventen der Lehranstalt haben am größten mitteleuro-päischen Wasserstraßenkreuz von Magdeburg mitgebaut, sie schweißen Stahl im Hafen von Rotterdam, auf norwegischen Bohrinseln, an Seilbahnen in den Alpen oder für die Türme von Windkraftanlagen aus Sachsen-Anhalt. Damit sie höchsten An-forderungen gewachsen sind, stützt sich der Unterricht auf mo-dernste Übungs- und Prüfgeräte. Jeder Kurs beginnt mit einem Leistungstest zur Ermittlung der vorhandenen Handfertigkeiten und Fachkenntnisse, und dann werden die Teilnehmer in Theorie und Praxis auf den neuesten Stand gebracht.

„Priorität haben bei uns die Qualität der Schweißverbindung und die Sicherheit“, sagt Geschäftsführer Bendler. Er hat am Eingang des Instituts mehrere bei einem Unglück in einem Unternehmen explodierte Gasflaschen aufstellen lassen. Die Behälter hatten sich dabei in gefährliche Raketen verwandelt und hohen Sachschaden angerichtet. Die zerfransten Flaschen mahnen zur äußersten Vorsicht im Umgang mit gefährlichen Schweißgasen. Respekt statt Routine. Erfahrene Lehrer stehen den Kursteilnehmern zur Seite, um deren Schwächen festzustellen und zu überwinden. „Beim Schweißen kommt es nicht allein darauf an, dass eine Naht schön und glatt geformt ist, sagt Jürgen Bendler. Die inneren Werte zählen. Die Lehranstalt hat eine der modernsten digi-talen Röntgenanlagen in Deutschland, um die Qualität der Nähte sichtbar zu machen. Das Bild auf dem Monitor zeigt mit absoluter Gewissheit, wie gut ein Facharbeiter sein Handwerk versteht. Im Angesicht des Schweißers wird unter Umständen auch das Urteil „NE“ für „nicht erfüllt“ vergeben. Er bekommt eine neue Chance.

Mit ihrer Laborausstattung hat sich die Magdeburger Lehran-stalt zu einem gefragten Prüflabor der Industrie entwickelt. Sie ist in mehrere Forschungsprojekte von Universitäten und Hochschulen einbezogen und zertifiziert im Auftrag der Staat-lichen Bauaufsicht Metallbaufirmen.Das Niveau der Magdeburger Schweißtechnikexperten hat sich inzwischen herumgesprochen. In Bosnien-Herzegowina wurde im Juli 2005 in der Stadt Tuzla ein Institut für Schweiß-technik eröffnet. Hauptgesellschafter ist die Schweißtechni-sche Lehranstalt Magdeburg.

Schweißtechnische Lehranstalt Magdeburg gGmbHGeschäftsführer: Dipl.-Ing. Jürgen BendlerAn der Sülze 7, 39179 Barleben, Tel. 039203 761-0Fax 039203 761-55, [email protected]

www.sl-magdeburg.de

Schweißtechnische Lehranstalt Magdeburg

SLM wurde im September 1990 als gemeinnützige

GmbH gegründet. Sie ist eine 100prozentige Tochter

der Handwerkskammer Magdeburg. 2009 realisierte

sie mit der Aus- und Weiterbildung von Schweißern

sowie als Dienstleister mit der Materialprüfung und

mit der Zertifizierung von Firmen einen Umsatz von

5,1 Millionen Euro. Damit wurde das Ergebnis von

2008 um 45 Prozent übertroffen. Die Lehranstalt mit

ihrem Hauptsitz in Barleben sowie Außenstellen in

Dardesheim und Gardelegen und einem Tochterinsti-

tut in Bosnien-Herzegowina gehört zu den leistungs-

fähigsten in Deutschland. Sie hat 35 Mitarbeiter. 2010

will sie in Gardelegen einen kompletten Neubau

errichten. Der „Geschäftsbereich Gardelegen“ wird

mit 25 Ausbildungsplätzen das modernste Bildungs-

zentrum für Schweißtechnik in der Altmark sein. Er

kostet rund 1,5 Millionen Euro.

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SACHSEN-ANHALT-MAGAZIN 02/10

Fortbildung

Der Tod lauerte auf dem Asphalt. Drei junge Männer trifft das Verhängnis in den frühen Morgenstunden des 4. März. Nach einem Disko-Besuch schießt ihr VW Passat von der Landstra-ße 43 bei Flechtingen und kracht gegen einen Baum. Die drei Flechtinger sind auf der Stelle tot. Im Unfallprotokoll wird spä-ter vermerkt sein: Der Todesfahrer, gerade einmal 25 Jahre alt, hatte getrunken.

Nach Angaben der Polizei in Sachsen-Anhalt verunglückten im vergangenen Jahr 263 15- bis 25-Jährige in Disko-Nächten. Die Fahrer: meist unter Alkoholeinfluss. Und viel zu oft sind es Suff-Fahrten in den Tod. 37 Jugendliche starben 2009 auf den Straßen. Für diese jungen Menschen stehen als traurige Mahnung blu-menbekränzte Kreuze an den Straßenrändern. 37 Tote. 37 Fami-lientragödien. 37-faches Leid, das niemand jemals lindern kann.

Trotz all der Dramatik gibt die Statistik Anlass zur Hoffnung. Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Hövelmann vergleicht die Werte: „Im Jahr 2000 gab es noch 951 Unfallopfer in Dis-ko-Nächten. Beinahe vier Mal mehr als heute.“ Der Rückgang der Unfallzahlen kommt nicht von ungefähr. 1999 wurde in Sachsen-Anhalt das „Fifty-fifty-Taxi“ eingeführt. Ein Projekt, das Leben rettet. Ein einfacher und genialer Gedanke: Statt im Al-koholrausch über die Landstraßen zu brettern, können sich die 16- bis 26-Jährigen einfach ins Taxi setzen und mit einem spezi-ellen Fahrschein nach Hause fahren. Endstation ist dann nicht der Straßengraben, sondern das heimische Bett. Im schlimms-ten Fall droht am nächsten Morgen ein dicker Kater.

Die Taxis stehen zum Teil sogar vor den Diskotheken oder kön-nen ganz normal gerufen werden. Der Service erstreckt sich über das Wochenende von Feitag, 22 Uhr, bis 6 Uhr Sonntag früh. Für den Fahrschein ins Leben zahlen die Jugendlichen nur die Hälfte des regulären Taxi-Preises.

Die andere Hälfte übernimmt eine Sponsorengemeinschaft, die diese Verkehrssicherheitsaktion seit elf Jahren unterstützt. Rund 100 000 Euro haben die Partner 2009 zu der Aktion bei-gesteuert. „Und wir werden sie auch weiterhin fördern. Denn wenn man ein Leben retten kann, spielt Geld keine Rolle“, sagt der Geschäftsführer des Ostdeutschen Sparkassenverbandes Wolfgang Zender.

Das Engagement hat sich gelohnt, die Botschaft ist bei der Bevölkerung angekommen. Mit 5 000 „Fifty-fifty-Tickets“ hat es 1999 angefangen. 2009 konnten 38 000 verkauft werden. Zender: „Das bisher beste Ergebnis.“ Das waren 5 000 Tickets mehr als 2008. Und auch dieses Jahr lässt sich die Aktion gut an. Rund 30 000 der „Fifty-fifty-Fahrscheine“ sind bereits un-ter die Leute gebracht.

Insgesamt gingen seit Beginn der Aktion 400 000 Tickets über die Theken der Verkaufsstellen. Das sind alle Sparkassen im Land, die ÖSA-Agenturen oder AOK-Kundencenter. Für 1,25 Euro können Jugendliche oder Ihre Eltern und Großeltern die Taxi-Scheine kaufen. Das Ticket ist aber 2,50 Euro wert. Ganz logisch: Je mehr Scheine, desto länger darf die Fahrstrecke sein. „Ein besseres Geschenk kann man seinen Kindern doch gar nicht machen“, wirbt der Innenminister, der Schirmherr des Projekts ist. Knapp 140 Taxi-Unternehmen mit 320 Fahrzeugen machen mit. Zwar gibt es noch weiße Flecken auf der Landkarte, aber auch die sollen in den nächsten Jahren verschwinden.

Und die Taxifahrer mussten nicht erst mühsam überzeugt werden. Der Vorsitzende des Landesverbandes Taxi und Miet-

Lukas Uhlmann zeigt das Ticket ins Leben. Er

und seine Freunde Jessica Klafke und Toni

Petersen lassen sich nach einer Strandbar-Party

am Petriförder sicher mit dem Fifty-fifty-Taxi von

Bernd Jentschke nach Hause bringen.

Fifty-fifty-Taxi – Fahrschein ins LebenVerkehrssicherheitsaktion hat Zahl tödlicher Disko-Unfälle erheblich gesenkt

Von Sabine Tacke

40 Projekte

wagen, Wolfgang Bahls, war mit seinem Unternehmen von Anfang an dabei. „Wir haben doch selbst alle Kinder und Angst, wenn sie nachts unterwegs sind. Mein Sohn ist heu-te 25, und auch er fährt mit dem Fifty-fifty-Taxi. Das ist eine wirklich gute Sache.“

Der Verband zahlt seinen Kollegen seit drei Jahren fünf Euro pro Auto und Jahr. Ein kleiner Anreiz, sich an einer großen Aktion zu beteiligen. Allein die Magdeburger „Fifty-fifty-Taxis“ sind 30 bis 40 Mal monatlich auf Disko-Tour.

www.fifty-fifty-taxi.de

Innenminister Holger Hövelmann (2. v. r.) und der Chef des Ostdeut-schen Sparkassenverbandes Wolf-gang Zender (3. v. r.) wollen Leben retten. Hövelmann ist Schirmherr der Fifty-fifty-Taxi-Aktion, Zender einer der wichtigen Sponsoren.

41

SACHSEN-ANHALT-MAGAZIN 02/10

Projekte

Helmut Pöschel ist „Milbionär“. Das sagt er mit stolzgeschwell-ter Brust. Der 65-Jährige lässt sich das Leben gut gehen. Die Milben arbeiten für ihn. Tagtäglich. Auch nachts. Die winzigen Tierchen haben jetzt im Sommer ihre „Hoch“zeit. Holunderblü-ten reicht Pöschel seinem Volk als Aphrodisiaka, damit es sich freudig vermehre. Dazu Quark, mager und gut abgetropft. Die Milben fressen genüsslich – das 40-fache ihres Körpergewichts. Pöschel erklärt und fühlt sich in seinem Element. Schließlich war der 65-Jährige Lehrer für Biologie und Chemie, bis er sich

vor fünf Jahren von seinen Schülern verabschiedete, um das Volk der Käsemilben uneingeschränkt zu regieren.

Jetzt also noch mal langsam zum Mitschreiben: „Die Milben set-zen bei der Verdauung Enzyme frei, die den Quark fermentieren. Nach einem Monat ist daraus würziger Käse geworden, nach drei Monaten haben die bernsteinfarbenen Röllchen die richtige Konsistenz. Ein Jahr später sind sie so trocken, dass man sie nur noch mit der Muskatreibe bearbeiten kann.“ Seine Oma habe mit

Der lebendige Trüffel unter den KäsesortenHelmut Pöschel aus dem kleinen Würchwitz im Süden Sachsen-Anhalts verhilft Milben zu Weltruhm

Von Kirsten Hoffmann

42 Spezialitäten

diesem Pulver Butter gewürzt, schwärmt Helmut Pöschel und nimmt die Besucher mit auf einen anschaulichen Ausflug in die Tradition der Milbenkäseherstellung hier im kleinen Dörfchen Würchwitz im Burgenlandkreis ganz im Süden Sachsen-Anhalts.

Der Milbionär ist ein unterhaltsamer Erzähler. Da lässt sich gut vorstellen, wie sich früher die Generationen – bis zu 14 Fa-milienmitglieder lebten hier unter einem Dach – abends am Küchentisch neben dem Herd versammelten. Mit den Produk-ten vom Bauernhof, den Früchten von der Plantage und den Dingen aus dem Kolonialwarenladen, den seine Vorfahren betrieben, wurden auch die Erlebnisse des Tages auf dem Tisch ausgebreitet. Unter der Zimmerdecke baumelte ein gro-ßes Stück Schinkenspeck und verströmte seinen würzigen Duft. An den Wochenenden wurden riesige Blechkuchen ge-

backen. „So haben wir alle Krisen überstanden“, sagt Pöschel. Der Milbenkäse aber war zu allen Zeiten etwas ganz Delika-tes. Der kommt nur zu besonderen Anlässen auf den Tisch.

In der Neuzeit gehören die Verkostungen für Gäste dazu. Dann heißt es „Milbenkäse trifft Wein“. Die beiden regionalen Pro-dukte kurbeln den Fremdenverkehr an. Oft parken Reisebusse vor dem wildromantischen Hof in der Sporaer Straße, der bis in die 1970er Jahren landwirtschaftlich betrieben wurde.

Pöschel hat frisches Brot vom Bäcker geholt, beschmiert es mit Butter, legt Käsescheiben darauf aus. Der Schalk in seinen Au-gen spricht mit, wenn er darauf aufmerksam macht: „Mit einem Biss wandern etwa 100 Käsemilbchen in den menschlichen Verdauungstrakt.“ Aha. Jene, die sich vorher schon die 300fach vergrößerten Milben unter dem Mikroskop angeschaut haben, üben zunächst Zurückhaltung. Dem Pöschel, der auch noch Chef des „Filmstudios Wörchlitz“ ist, kommt da eine verlocken-de Idee: „Ich könnte die Milben unter einem Rasterelektronen-mikroskop filmen – Jurassic Park ist nichts dagegen.“ Doch das könnte geschäftsschädigende Wirkung zeigen. Da lenkt er schnell ab auf einen anderen Film. Der legendäre Egon mit sei-ner Olsenbande hat in Würchwitz einen „Käse-Coup“ gelandet. Natürlich geht es in dem zwölfminütigen Streifen um die De-likatesse aus der Region. Sämtliche Filme, die der umtriebige Pöschel seit Jahrzehnten dreht, haben Heimatbezug. Nicht nur thematisch. Die meisten Darsteller kommen aus der Bevölke-rung im nahen Umkreis. Viele sind wie er mittlerweile Rentner und haben nun erst recht einen vollen Terminkalender.

„Es war sicher eine Zufallsentdeckung“, vermutet Pöschel, „dass Milben den Quark zu Käse und damit haltbar machen.“ Genial für Zeiten, in denen der Kühlschrank noch nicht erfunden war. Fortan übten sich die bäuerlichen Vorfahren im Altenburger Land erfolgreich in der Milbenzucht. Und das nun schon seit etwa 500 Jahren. Erstaunlich dabei ist: Über einen Umkreis von etwa 20 Ki-lometern hinaus war der Milbenkäse schon nicht mehr bekannt. Vielleicht wollte jede Familie dieses kulinarische Unikum als Ge-heimnis hüten? Einem Nachfahren wie Pöschel fällt Verschwie-genheit allerdings schwer. Er ist der geborene Werbestratege, macht sich auch die modernen Medien zunutze. Vom Milbenkä-se aus Würchwitz weiß inzwischen die ganze Welt. Die wissen-schaftliche Beweisführung darüber, dass die Enzyme der Milben entzündungshemmend wirken, sei zwar noch nicht abgeschlos-sen, aber bei vielen stelle sich gesundheitliches Wohlbefinden nach dem Genuss des „lebenden“ Käses ein, weiß Pöschel. Und: „Nach dem ersten Bissen ist beinahe jeder Skeptiker überzeugt: Das ist der Trüffel unter den Käsesorten.“

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SACHSEN-ANHALT-MAGAZIN 02/10

Spezialitäten

Großmeister der kleinen Krabbler: Helmut Pöschel aus Würchwitz führt eine

500 Jahre alte regionale Tradition fort und stellt

Milbenkäse her.

Anett und Uwe Schneider haben von Chemnitz aus eine Auto-stunde unter die Räder genommen, um zu sehen, wo der Milben-käse herkommt. Zwei Zuhörer mehr in der Runde, die sich von den Geschichten des Milbionärs erheitern lassen. Dichtung und Wahrheit liegen hier eng beieinander. Letztere ist dokumentiert durch „Zeitzeugen“ aus der Geschichte der Milbenkäseherstel-lung. Die liebenswürdige Sammlung präsentiert Pöschel im Vor-raum seiner Küche. Da „nur“ noch der Sohn mit Frau und Kind mit im Hause wohnen, sei hier allemal noch Platz für ein kleines Milbenmuseum, meinte Pöschel vor fünf Jahren.Prominenten Zeitgenossen kann man hier begegnen. Siegmund Jähn ist vom Milbenkäse so begeistert, dass er seinem russischen Kosmonauten-Kollegen Juri Malentschenko einen mit auf den Weg (ins All?) gab. Auf dem Foto jedenfalls, aufgenommen in einer Raumkapsel, hält Malentschenko den Milbenkäse in der Hand.

Unzählige Bilder zeigen Helmut Pöschel auf internationalen Ta-gungen und Kongressen. Als Botschafter für den Milbenkäse wird er von „Slow Food“ dort hin geschickt. Die weltweite Vereinigung hat es sich zur Aufgabe gemacht, das traditionelle Lebensmittel-handwerk und die regionale Geschmacksvielfalt zu bewahren. Sie bringt Produzenten, Händler und Verbraucher zusammen. Das gefällt dem Milbionär aus Würchwitz. Er sammelt Kontakte welt-weit. Von Indianern zum Beispiel weiß er, dass auch im feucht-warmen Urwald-Klima Milbenkäse-Spezialitäten „gedeihen“.

Just an diesem Tag sogar erwartet Pöschel Gäste, die er auf ei-nem Kongress kennen lernte. Pünktlich stehen seine Freunde aus Kuba auf dem Hof. Gemeinsam wollen sie ins Erdbeerfeld. Auch ein Spargelessen mit Schnitzel hat der Gastgeber in Aus-sicht gestellt. Traditionell, regional typisch – und sehr lecker. Das kennt man auf Kuba nicht.

Doch vorher ist für Ehepaar Schneider aus Chemnitz der Tisch gedeckt. Anett und Uwe dürfen einen saisonalen Leckerbissen verkosten, den Käse mit Holunderblüte. Am liebsten würden sie an Ort und Stelle einen Großeinkauf ordern. Aber die in aufwän-diger Handarbeit hergestellten Röllchen werden nur als eine Art Eintrittskarte verkauft. Nun denken die Schneiders über eine ei-gene Herstellung nach. Doch Käsemilben am Leben zu halten, ist eine große Kunst. Zum Glück ist Pöschel kein Egoist. Gern führt er die Besucher in seine Schatzkammer und gibt ab von seinem Reichtum an Zuchterfahrung. Wer noch dazu in Sandsteinmauern wohnt, es immer um die 30 Grad warm hat bei einer Luftfeuchtigkeit von 100 Prozent, der hat die besten Startbedingungen.

www.milbenkaese.de

www.mibenkaesemueseum.de

44 Spezialitäten

Eine Gemeinschaftsaktion von Sachsen-Anhalt-Magazin und radio SAW.

www.sachsen-anhalt-magazin-verlag.dewww.radiosaw.dewww.wir-sind-sachsen-anhalt.de

Andreas Michelmann (50) ist seit 1994 Oberbürgermeister

Ascherslebens. Der ältesten Stadt Sachsen-Anhalts ge-

lang in dieser Zeit ein bemerkenswerter Wandel von

der einst grauen Durchfahrtsstadt zu einem lebens- und

liebenswerten Ort. Besucher können sich dieser Tage

davon überzeugen: bei der Internationalen Bauausstel-

lung Stadtumbau 2010 und der 3. Landesgartenschau

„Natur findet Stadt“. In einer aktuellen Umfrage unter

den Gästen gaben übrigens 97 Prozent von ihnen der

Stadt im Vorharz die Prädikate „Gut” und „Sehr gut”.

„Was ich an Sachsen-Anhalt und seiner ältesten Stadt besonders schätze? Beide sind eine ganz schöne Herausforderung.”

Wir sindSachsen-Anhalt

Hervorragende Visitenkartefür Sachsen-AnhaltDas Sachsen-Anhalt-Magazin ist eine hervorragende Visitenkarte, stellen Sie doch in dieser Zeitschrift die vielfältigen Facetten Sachsen-Anhalts in themati-scher Breite vor. Wir haben die Publika-tion mit Interesse gelesen. Die Artikel sind sehr ansprechend geschrieben und gestaltet, hilfreiche Links am Schluss, gute Fotos und Zusammenfassungen. Mir gefällt insbesondere der Mix von kulturellen und historischen Themen sowie innovativen Akzenten.Vielleicht stellen Sie in einer der nächsten Ausgaben die Arbeit der Landesvertretung Sachsen-Anhalts in Brüssel vor.

n Thomas Krings, Kabinett von EU-Kommissar Olli Rehn, Brüssel

Daumen hoch undweiter soIch muss der Redaktion an dieser Stelle mal ein dickes Lob für das Sachsen-Anhalt-Magazin aussprechen! Informative Beiträge aus der heimi-schen Wirtschaft, keine Überfrachtung mit unsäglicher Werbung und ein hoch-wertiges Papier – da macht das Lesen Spaß. Wie wäre es mal mit einer freund-lich-frechen (Sachsen-)Anhalterin auf der Titelseite?! Daumen hoch und wei-ter so!

n Frank Heinzl, MAROundPARTNER GmbHMünchen

Besonders IT-Sektor weiterempfohlenSchön, dass man im Magazin auch von weiter weg interessante Themen vertie-fen kann, die im sonstigen Medienalltag weniger beachtet werden. Gerade die Berichte über wirtschaftliche und wis-senschaftliche Impulse aus der Region, insbesondere über den IT-Sektor, habe ich weiterempfohlen und damit auch bei nicht „sachsen-anhalt-affinen“ Ge-sprächspartnern Interesse ausgelöst.

n Adrian Teetz, München

Titelgeschichte hat Interesse geweckt Das neue Wirtschafts- und Gesellschaftsma-gazin füllt eine Lücke in der Berichterstattungund lenkt neue Aufmerksamkeit auf die vielfältigen wirtschaftlichen Aktivi-täten in Sachsen-Anhalt. Als begeisterte Radfahrerin hat die Titelgeschichte der März-Ausgabe *Fest im Sattel* gleich mein Interesse geweckt.

n Katherine Brucker, Generalkonsulin der Vereinigten Staaten von Amerika, Leipzig

Vieles aus Sachsen-Anhalt unbekanntMehr zufällig fiel mir das Sachsen-Anhalt-Magazin in die Hände. Ein schönes, an-spruchsvolles Magazin, das Sachsen-Anhalt schon lange braucht. Wer weiß denn da draußen schon, was für tolle Ideen hier ent-stehen, welche interessanten Menschen und Unternehmen das Land gestalten. Und das alles eingebettet in großartige europä-

ische Geschichte, der man auf Schritt und Tritt in Bau- und Kunstwerken nachspüren kann? Sie bringen das prima rüber, die Fotos sind ausdrucksstark, manchmal zu statisch, die Beiträge wie die aus Wissenschaft und Forschung spannend geschrieben und in-teressant. In den nächsten Ausgaben freue ich mich schon jetzt, auch über die x-tau-send kleineren Unternehmen im Land zu lesen. Doch wie wird aus dem Zufall ein Zu-stand? Wie kann man das Sachsen-Anhalt-Magazin erwerben?

n Manuela Perlberg, mp-werbung Magdeburg

Schwerpunkte setzenSie vermitteln im Sachsen-Anhalt-Magazin ein zukunftsorientiertes, vielseitiges und lie-benswertes Bild von Sachsen-Anhalt und sei-nen Bewohnern. Eine Schwerpunktsetzung würde es erlauben, einzelne Aspekte, z. B. der Wirtschaft, näher zu beleuchten. Bleiben Sie bei der professionellen Darstellung der The-men, die Bilder und Texte haben eine hervor-ragende Qualität.

n Michael Krüger, Geschäftsführer GISA GmbH , Halle/Saale

Die veröffentlichten Meinungen müssen nicht die Meinung der Redaktion wieder-geben. Die Redaktion behält sich vor, Zu-schriften – bitte stets mit Namen und An-schrift – gekürzt und auch elektronisch zu veröffentlichen. Die Leserzuschriften können per Post oder elektronisch [email protected] übermittelt werden.

[email protected]@[email protected]@[email protected]@[email protected]@[email protected]@st-magazin.deStimmen zum Sachsen-Anhalt-Magazin an:

46 Briefe an die Redaktion

STANDORTPOLITIK STARTHILFE UND UNTERNEHMENSFÖRDERUNGAUS- UND WEITERBILDUNGINNOVATION UND UMWELTINTERNATIONALRECHT UND FAIR PLAY

Unternehmen brauchenoptimale Bedingungen

IHK: Die erste Adresse.IHK Halle-Dessau, Franckestraße 5, 06110 HalleTel.: 0345 2126-0, Internet: www.halle.ihk.de

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