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Samstag, 11. Mai 2019, 15:59 Uhr ~26 Minuten Lesezeit Die große Heuchelei Jürgen Todenhöfer kritisiert im Rubikon-Exklusiv-Interview die kriegslüsterne und verlogene Machtpolitik des Westens. von Karin Leukefeld Foto: Zsolt Biczo/Shutterstock.com Er sagt von sich, er sei „kein Journalist und kein Diplomat“ und doch tut er genau das, was die Vertreter dieser Berufsgruppen tun sollten: Er reist in Kriegs- und Krisengebiete, in die Medien ihre Korrespondenten schicken sollten, er spricht mit allen Akteuren in Konflikten, wie es die Kunst der Diplomatie lehrt. Seine Erklärung: „Wenn man Frieden will, gibt es keine andere Möglichkeit“. Im Interview mit Rubikon spricht Jürgen Todenhöfer über sein neues Buch „Die Große Heuchelei“. Er spricht über die heutige Politik, die Bürger von jeder demokratischen Willensbildung ausschließt und dadurch die demokratische

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Samstag, 11. Mai 2019, 15:59 Uhr~26 Minuten Lesezeit

Die große HeucheleiJürgen Todenhöfer kritisiert im Rubikon-Exklusiv-Interview die kriegslüsterne undverlogene Machtpolitik des Westens.

von Karin Leukefeld Foto: Zsolt Biczo/Shutterstock.com

Er sagt von sich, er sei „kein Journalist und keinDiplomat“ und doch tut er genau das, was die Vertreterdieser Berufsgruppen tun sollten: Er reist in Kriegs-und Krisengebiete, in die Medien ihre Korrespondentenschicken sollten, er spricht mit allen Akteuren inKonflikten, wie es die Kunst der Diplomatie lehrt. SeineErklärung: „Wenn man Frieden will, gibt es keineandere Möglichkeit“. Im Interview mit Rubikon sprichtJürgen Todenhöfer über sein neues Buch „Die GroßeHeuchelei“. Er spricht über die heutige Politik, dieBürger von jeder demokratischen Willensbildungausschließt und dadurch die demokratische

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Entwicklung untergräbt. Er spricht über die Menschen,die Opfer dieser Politik sind, und er spricht über seineMotivation, in Kriegs- und Krisengebiete zu fahren.

Karin Leukefeld: Ich habe Ihr Buch durchgeblättert, mich aneinigen Texten festgelesen. Es erinnerte mich zunächst an dasBuch „Die offenen Adern Lateinamerikas“ von Eduardo Galeano(2). Kennen Sie das?

Jürgen Todenhöfer: Nein.

Galeano beschreibt in einer ähnlich kurzen Art und Weise,teilweise sehr poetisch, Begebenheiten aus der Geschichte, demLeben des lateinamerikanischen Kontinents. Sie tun das auch inIhrem Buch. Sie berichten aus Ländern der arabisch-muslimischen Welt, die Sie besucht haben. In all diesen Ländernherrscht Krieg. Wollen Sie mit ihrem Buch über Entwicklungenund Schicksale in dieser Kriegsregion berichten?

Seit meinem 18. Lebensjahr bin ich in Krisengebieten unterwegs.

Jürgen Todenhöfer spricht über deutsches Mitläufertum,Auslandseinsätze der Bundeswehr und darüber, was die Medien miteinem Märchen von Hans-Christian Andersen zu tun haben. Erspricht über Feldzüge im Namen westlicher Werte und über denVersuch, die Geschichtsschreibung darüber zu korrigieren. SeinFazit: „Der Westen kämpft um Markt, Macht und Moneten, abernicht für seine Werte.“ Und genau um diese Werte geht es JürgenTodenhöfer. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Demokratie und dieMenschenrechte sind ihm wichtig. Ein Plädoyer für Einmischung.Das Gespräch mit Jürgen Todenhöfer führte Karin Leukefeld.

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Nicht nur im Nahen Osten, ich war auch sehr viel in Lateinamerika,in Kuba, Chile. Ich kenne fast alle lateinamerikanischen Länder,habe mit Rebellen gesprochen. Ich war in den KrisengebietenAsiens, ich war in Vietnam, vor einem Jahr erst war ich inNordkorea. In Afrika habe ich die Befreiungskämpfer inMozambique, Angola, Sambia, Namibia getroffen, habe dieEntwicklung dort miterlebt. Mein neues Buch behandelt also nureinen Teil meiner Reisen und konzentriert sich auf die Region, in derheute Krieg geführt wird. Über die Schicksale anderer Völker undKriege habe ich schon andere Bücher geschrieben.

Ihr Buch ist also ein Buch über die aktuellen Kriege und Krisen ineiner bestimmten Region?

Mein Buch ist auch ein Buch über den Westen. Der Westen hat seit500 Jahren, als sein Aufstieg begann, die Welt brutal erobert. Ichhabe das festgemacht an der so genannten Wiederentdeckung desamerikanischen Kontinents durch Kolumbus 1492. In diesem Jahrfällt auch die letzte Hochburg der islamischen Zivilisation inGrenada, in Spanien. Seitdem hat der Westen die Welt fortwährenddurch grenzenlose Brutalität erobert, die er — und das ist dasBesondere — in edle Worte und Werte gekleidet hat. Es gab auchandere brutale Großmächte in der Weltgeschichte, aber keineandere Großmacht hat so großen Wert darauf gelegt, ihre Morde,Eroberungen, Vergewaltigungen, Zerstörungen immer alshumanitäre Aktion darzustellen.

„Keine andere Großmacht“ — wen meinen Sie, die USA?

Den Westen, ich nenne das bewusst den Westen, denn dieEroberung der Welt begann ja nicht mit den Amerikanern, sondernmit den Europäern, mit unterschiedlichen Europäern. Und Amerika,die USA, übernahm die wirkliche, absolute Führung des Westenseigentlich erst nach dem 2. Weltkrieg. Sie war schon nach dem 1.Weltkrieg international sehr mächtig, hatte sich aber zunächst

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wieder zurückgezogen. Für dieses Buch habe ich eine zweite Reiseunternommen, eine Reise in die Geschichte. Ich habe fast 100Bücher gelesen, teilweise 1000 Seiten lang, über amerikanischeGeschichte, über die europäische Geschichte, über islamischeGeschichte und vieles mehr.

Diese zweite Reise durch die Geschichte hat mir bestätigt, was mirvorher aufgefallen war, wenn ich aus den Ländern zurückkam, indenen der Westen interveniert hatte. In deutschen Medien wardann zu lesen, dass wir das getan haben, um den Leuten Gleichheit,Freiheit und Brüderlichkeit zu bringen. Für diese Werte derFranzösischen Revolution haben wir ihnen Bomben auf den Kopfgeworfen. Die Reise in die Geschichte unserer Zivilisation hatgezeigt, dass das eine durchgängige Strategie ist.

Angeblich haben wir immer für edle Werte gekämpft, abertatsächlich haben wir andere Völker unterdrückt. Es hießChristianisierung und Zivilisierung, tatsächlich war esrücksichtslose, brutale Kolonisierung. Immer haben wir einen edlenMantel umgelegt und das in so einer extremen Form, wie ich sie vonkeiner anderen Zivilisation kenne. Der Westen ist die erfolgreichsteZivilisation aller Zeiten. Aber leider auch die heuchlerischste. Er hatdie Welt in den letzten 500 Jahren nicht durch seine Werte oderseine Genialität erobert, sondern durch seine grenzenloseBrutalität.

Geschickt verpackt und verkauft in schöne Worte und edle Werte.In Wahrheit ging es dem Westen in nicht-westlichen Ländern nieum Freiheit, Gleichheit oder Brüderlichkeit, wie er behauptete.Sondern immer nur um handfeste Interessen. Seine angeblichwerteorientierte Außenpolitik ist seit Jahrhunderten eineMogelpackung, eine große Heuchelei. Mein Buch behauptet dieseHeuchelei nicht nur, es beweist sie. Mit Dutzenden von Recherchenvor Ort, die nicht immer ganz ungefährlich waren. Im Jemen,Afghanistan, Syrien, Irak, Libyen, Gaza, Saudi-Arabien, Iran, bei den

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Rohingya und so weiter.

Diese durchgängige Strategie, mit der jeder Mord als humanitäreAktion dargestellt wird, das ist schon bemerkenswert. Und das istein Markenzeichen der westlichen Zivilisation. Ich sage leider. Denndie westliche Zivilisation hat andere großartige Sachen geschaffenund die Werte, die die westliche Zivilisation vorgibt, um andereVölker zu unterwerfen, zu diesen Werten stehe ich. Mein Buch istein Plädoyer für diese Werte, es ist ein Plädoyer für einehumanistische Revolution. Es ist ein Plädoyer, dass wir die Werte,die wir ständig für die Vergewaltigung anderer Völkermissbrauchen, dass wir diese Werte tatsächlich leben und auchvorleben sollten. Dass wir es ernst meinen mit der Brüderlichkeit,mit den Menschenrechten.

Liegt denn nicht der Kern dieses Verhaltens in diesererfolgreichsten Zivilisation aller Zeiten, wie Sie eben sagten, inuns selber? Müssten wir nicht auch den Blick auf die eigeneGesellschaft richten? Denn das, was man nach außen trägt,reflektiert quasi das, was man in sich trägt.

Ja, aber das wäre ein weiteres Buch. Das ist wirklich ein weites Feld.Ich finde dass das, was der Leser erfährt, wenn er dieses Buch liest,schon so viel ist, dass ich mich nicht noch auf eine Systemkritikeingelassen habe. Die ist am Anfang nur angedeutet.

Meinen Sohn Frédéric, der Ko-Autor des Buches ist, hatte ichgebeten, als ich schon am Buch schrieb, 10 Monate nach derangeblichen Befreiung von Mossul — das wurde ja vom Westen alsBefreiung gefeiert — noch einmal nach Mossul zu fahren, um dieGeschichte einer Familie zu recherchieren, die die Besatzung durchden IS und die so genannte Befreiung durch westliche Bombenerlebt hat. Und Frédéric geht durch die fast völlig zerstörte Altstadt,wo Hunderte von Jahren von Kultur zerstört wurden, und findet inden Trümmern 10 Monate nach der Befreiung tote Frauen, tote

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Männer, denen der IS, als sie noch lebten, die Hände auf demRücken gefesselt hat und die immer noch gefesselt waren, toteKinder. Und ein Bild eines mumifizierten kleinen Kindes, das auf denTrümmern lag, ist für mich das Symbol dieser Heuchelei.

Da hat man angeblich ein Land befreit, eine Stadt befreit und unsereStaatschefs sind alle vor die Mikrophone getreten und haben überdie Befreiung gesprochen — und da liegen Menschen, die vielleichtschwer verwundet waren und tagelang dort lagen und auf Hilfewarteten und nach 10 Monaten liegen ihre Leichen immer noch da.Und wir reden von Befreiung! Das ist für mich pure Heuchelei.Natürlich kann man jetzt sagen, dann hätten die Einwohner vonMossul die Leichen doch wegschaffen sollen. Aber die Einwohnervon Mossul lagen unter den Trümmern. Oder sie waren in LagernHunderte von Kilometern entfernt. Das ist Heuchelei.

Haben Sie Medien die Bilder angeboten, haben die darüberberichtet?

So ein Bild kriege ich nie veröffentlicht. Keine deutsche Zeitungwürde dieses Bild des mumifizierten Kindes, neben dem mein Sohnsitzt, veröffentlichen. Sie sagen, das kann man den Menschen nichtzumuten. Aber den Menschen dort mutet man es zu. Wenn es Bilderwären, für die die Russen verantwortlich gemacht würden, würdeman sie natürlich veröffentlichen.

Aus Ihren Berichten und Büchern geht hervor, dass Sie nicht nurZugang zu allen Teilen der Gesellschaft, den Akteuren in Krisenund Konflikten suchen, sondern auch finden. Sie sprechen mit derbetroffenen Zivilbevölkerung, mit Kämpfern, Rebellen genausowie mit politisch und militärisch Verantwortlichen. Und zwarnicht nur in den betroffenen Ländern, sondern auch im Westen, inden USA und natürlich in Deutschland. Zeigen Sie IhrenGesprächspartnern, den politisch Verantwortlichen, manchmalsolche Fotos?

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Ja, ich spreche immer darüber. Wenn ich in ein Kriegs- oderKrisengebiet gehe, spreche ich mit beiden Kriegsparteien. Voreinem Jahr war ich im Jemen und da war ich mit Sicherheit dereinzige Deutsche — ich bin ja kein Journalist — in Sanaa, das von denHouthis beherrscht wird. Ich habe mit den Houthis gesprochen, die70 Prozent der Bevölkerung beherrschen und das Gebiet, das amdichtesten bevölkert ist. Die Houthis haben einen Präsidentengewählt, mit dem ich gesprochen habe, und ich habe auch mit demMinisterpräsidenten vom Südjemen gesprochen, der vom Westenanerkannt wird. Ich spreche immer mit beiden Seiten.

In Syrien spreche ich mit Rebellen und der Regierung und ichversuche fast immer, die Nummer Eins zu kriegen. Ich konfrontieredie Leute auch mit Bildern und mit Dingen, die ich gesehen habe. Esgibt teilweise auch Videoaufzeichnungen, wo ich wütend auf dieArmlehne meines Sessels einhämmere und meinem Gegenüber sage:Hallo, Sie sind doch der Präsident, Sie können doch da was machen!Machen Sie was!

Die Menschen haben ja nicht wie ich die Möglichkeit, dorthin zufahren und auch nicht jeder Journalist — ich bin kein Journalist —aber nicht jeder Journalist kann überall hinfahren. Das geben dieBudgets der Zeitungen nicht her, auch nicht die Budgets derFernsehanstalten. Ich finde einfach, wenn man in diese Länder geht,dass man offen sein muss, mit beiden Seiten zu sprechen. Und in derRegel werde ich für die Gespräche mit beiden Seiten beschimpft. Ichwerde beschimpft, wenn ich mit Terroristen spreche, ich werdebeschimpft, wenn ich mit Rebellen spreche, ich werde beschimpft,wenn ich mit den jeweiligen Diktatoren spreche. Aber wenn manFrieden will, gibt es keine andere Möglichkeit.

Man wirft Ihnen ja auch vor — beispielsweise im Falle dessyrischen Präsidenten — naiv zu sein, nicht härter zu sprechen …

Ja, aber wenn Sie das Buch lesen, werden Sie sehen, dass der IS

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darüber nachgedacht hat, ob er die Reise meines Sohnes und vonmir nicht gewaltsam beendet. Weil ich ihnen jeden Tag vorgehaltenhabe, welche ihrer Taten nicht mit dem Islam in Übereinstimmungwaren. Und dasselbe mache ich selbstverständlich, wenn ich mitirgendwelchen Staatschefs spreche. Ich sage das auch immervorher, dass das Gespräch nur einen Sinn macht, wenn ich sehroffen sprechen kann. Und mir ist immer wieder vertraulich gesagtworden, dass manche Regierungschefs, mit denen ich gesprochenhabe, so ein Gespräch noch nie geführt haben. Dass noch nie einerso mit ihnen gesprochen hat. Aber sonst macht es für mich keinenSinn. Diplomatische Formeln auszutauschen sollen Diplomatenmachen. Ich bin halt kein Diplomat. Und auch kein Journalist.

Woher kommt denn Ihre Kraft, so etwas zu tun? Man brauchtRückgrat und Sicherheit, verantwortliche Personen mit dem zukonfrontieren, was sie tun oder mit dem, was man sagt, dass sie estun.

Ich nenne das mal Motivation, weil Kraft ist schon wieder einKompliment. Die Motivation, in diese Länder zu reisen, kommtdaher, dass ich als Jugendlicher mit 18, 19 und 20 nach Marokko,nach Tunesien und während des Algerienkrieges auch nach Algeriengefahren bin. Dabei habe ich festgestellt, dass das in Europagezeichnete Bild über islamische/muslimische Länder völlig falschist. Ich hatte dort grauenvolle Kriegserlebnisse und wenn man daseinmal gesehen hat, was Krieg bedeutet und wie die Stärkeren imKrieg mit den Schwächeren umgehen ….

Ich konnte da einfach nicht mehr nicht hingehen. Ich habe michverpflichtet gefühlt, in diese Länder zu gehen, weil man sich durchSchweigen schuldig macht, wenn man etwas gesehen hat. Von NoamChomsky gibt es den berühmten Satz über die Pflicht einesIntellektuellen — ich bin kein Intellektueller — die Pflicht einesIntellektuellen ist es, so Chomsky, die Wahrheit aufzuklären undLügen zu enttarnen. Und wenn man gesehen hat, was eine Lüge in

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einem Land wie Algerien während des Algerienkrieges bedeutet hat,was die Lügen im Vietnamkrieg für die Menschen dort bedeutethaben, oder was die Lügen im Jemenkrieg für die Menschen imJemen bedeuten, dann kann man dazu nicht schweigen, sonstmacht man sich mitschuldig. Und der Preis, den man dafür bezahlt,ist, dass die Mächtigen das nicht gern sehen und dass es in manchenMedien ja auch einen Mainstream gibt, der dann zumacht. Dazukann ich nur sagen: So what! (deutsch: Was soll’s).

Ich habe Ihr Interview mit Herrn Assad gesehen, das Sie für dieARD gemacht haben. Ich war in Damaskus, das war 2012 unddamals konnte man die ARD dort noch im Fernsehen empfangen.Als Journalistin war ich wirklich schockiert, als dann imAnschluss an das Interview zwei Kollegen — vom Spiegel und vomARD-Studio Kairo — Ihr Interview bewertet haben. Heute nenntman das „einordnen“. Wussten Sie vorher, dass das gemacht wird?

Nein. Ich wusste, dass das Interview Teil einer Sendung war. Es gabeine vertragliche Vereinbarung zwischen ARD und der syrischenRegierung, dass die Regierung bestimmte Sachen nicht machenwürde und auch die ARD bestimmte Sachen nicht machen würde.Die ARD war vertragstreu und hat sich daran genau gehalten. Dassman das Interview hinterher auseinandernimmt, war nicht geregelt.Ich kommentiere das jetzt auch nicht mehr. Nur so viel: Ich schauemir Sendungen, in denen ich mitmache, nie an und so haben mirandere hinterher davon berichtet. Diejenigen, die gesagt haben, derMann (gemeint ist Bashar al-Assad, kl) habe — sinngemäß — jedenBezug zur Realität verloren und der sei sowieso bald weg, die habensich total geirrt. Die Geschichte der Syrien-Berichterstattung ist dieGeschichte einer totalen Fehlberichterstattung. Die lagen immerdaneben, alles war falsch.

Die Kollegen haben letztlich nicht nur Ihren Interviewpartner,sondern auch Sie und das Interview niedergemacht.

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Ich muss damit leben. Mir ist natürlich auch gesagt worden, ichhätte noch härter fragen müssen. Und ich weiß, dass das Interviewim syrischen Fernsehen nur in Ausschnitten gezeigt wurde, weileinige Fragen als ungehörig galten. Dass ich ihn beispielsweisefragte, ob er als „Teil des Problems“ nicht bereit sei zurückzutreten.Das gilt in einem arabischen Land gegenüber einem arabischenStaatsoberhaupt als total ungehörig. Aber ich habe mich über dieARD nicht zu beschweren. Dass da eine Sendung hinterher dabeiherauskam, wo man versuchte, das Interview zu konterkarieren, dasmüssen die selber wissen, ob das richtig war.

Auf Ihrer Facebook-Seite (3) sprechen Sie die Leute sehr direkt an,Sie duzen die Leute auch und fordern Sie auf, selber aktiv zuwerden. An wen wenden Sie sich mit Ihrem Buch, wen und waswollen Sie erreichen?

(Pause) Ich erlaube mir, mal kurz nachzudenken. Ja, das ist richtig,ich duze zwar nicht persönlich, aber ich spreche von „Ihr“ und„Euch“ — das ist auch die politische Facebook-Seite mit der größtenReichweite in Deutschland. Das versuche ich auch damit, das istauch ein Ziel.

Wenn Sie die tägliche Berichterstattung einiger großer deutscherMedien verfolgen — ich sage bewusst „einiger“ — weil hier eineVerallgemeinerung gegenüber den deutschen Medien nicht fairwäre. Wir haben teilweise tolle Zeitungen und wir haben tolle Seitenim Internet. Dazu zähle ich den Rubikon, die Nachdenkseiten undwir haben tolle Regionalzeitungen, in denen manchmal wirklichspannende Dinge berichtet werden, die nicht vom Mainstreamgesteuert werden.

Ich lese den Freitag sehr gerne, dessen Herausgeber ich mal kurzsein durfte. Ich lese manche Artikel auch sehr gern in der ZEIT, wirhaben schon einen tollen Journalismus. Aber ein großer Teil desMainstream unterwirft sich bei uns den Mächtigen. Und sie fühlen

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sich — das sage ich nicht für alle, aber für einen großen Teil — siefühlen sich als ein Teil des Systems. Und das hat dazu geführt, dassich in der täglichen Berichterstattung dieselbe Heuchelei lese, dieich den Politikern vorwerfe.

Der Afghanistankrieg war in den ersten Wochen ohne jedes UN-Mandat und hinterher war er immer noch ungerecht, weil dieAfghanen an dem Mordanschlag am 11. September (9/11) gar nichtbeteiligt waren. Und was viele gar nicht wissen ist, dassDeutschland am Syrienkrieg und am Irakkrieg, der übrigens immernoch läuft, beteiligt ist. Deutschland stellt die Aufklärung, dieZielaufklärung zur Verfügung und ist deshalb mitverantwortlich fürdie Zerstörung von Städten wie Mossul oder Rakka. Dafür gibt eskein völkerrechtliches Mandat.

Der Sicherheitsrat der UNO hat nie ein Mandat ausgesprochen, dasdie Gewaltanwendung zulässt. Und der Mann, der 16 Jahre langLeiter der Rechtsabteilung des Verteidigungsministeriums war, ichmeine Dr. Dieter Weingärtner, der hat sinngemäß in der FAZgeschrieben: Die biegen sich das Grundgesetz zurecht (4). Und erschreibt ausdrücklich, dass der Syrieneinsatz und der Irakeinsatzverfassungswidrig sind. Das war allerdings nur einmal, die FAZ hatdas Thema dann nicht weiter verfolgt.

Die Einsätze sind verfassungswidrig und völkerrechtswidrig undtrotzdem sind wir beteiligt. Und wir sind nicht nur beteiligt unddamit mitverantwortlich für den Tod von 20.000 Menschen inMossul, sondern wir nennen das Befreiung, wir nennen das Kampffür unsere Werte. Wenn nun der Leiter der Rechtsabteilung desVerteidigungsministeriums — und er war das bis Ende letzten Jahres— sagt, dass der Krieg verfassungswidrig ist, dann könnte man javon den Medien erwarten, dass die schreiben: Hallo, Ihr führt daeinen verfassungswidrigen Krieg. Der mag ja einiges für Euchbringen und Ihr kämpft ja auch gegen den IS, aber Ihr tötet dabeiauch Zehntausende Menschen, Zivilisten, Kinder, die nach 10

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Monaten noch tot oder mumifiziert auf den Trümmern liegen. Dakönnte man doch erwarten, dass die Medien, die FAZ, dieSüddeutsche, die ZEIT schreiben: Das hat mit unseren Wertennichts zu tun. Aber sie schreiben, das ist ein Kampf für unsereWerte. Das heißt, sie spielen das Spiel mit.

Ich habe bei meiner Lektüre vieler historischer Werke — ich bin keinHistoriker, bin auch da nur ein Amateur — aber ich habe bei meinerLektüre festgestellt, dass das über Jahrhunderte so gemacht wurde.Es ist ja bekannt, dass in der Politik gelegentlich gelogen undgeheuchelt wird. Aber dass es eine durchgängige Strategie derwestlichen Zivilisation gibt, alle ihre Eroberungsfeldzüge in ein edlesKleid zu hüllen, das ist den meisten Menschen nicht bekannt. Diedenken, dass wir ganz edle Eroberungsfeldzüge führen, wo dieMenschen uns zugejubelt haben, als wir ihnen die Köpfeabgeschlagen haben.

Daher auch der Titel Ihres Buches, „Die große Heuchelei“ …

…. die seit mindestens 500 Jahren eine Strategie westlicherAußenpolitik ist. Dieses Buch ist ja kein historisches Buch, es ist einBuch mit 12 Reportagen aus Ländern, in die man nicht leichthineinkommt. Dort habe ich die Beweise gesammelt für das, was ichsage. Um in den Jemen zu kommen, musste ich mich in einen Bussetzen und durch ein Land fahren, das durch den Krieg zerrissenund von hunderten Checkpoints kontrolliert wird. Und umnachzuprüfen, ob man den Rohingya tatsächlich ihre Dörfer inMyanmar abgebrannt hat, musste ich über einen mit Minengeschützten drei Meter hohen Grenzzaun klettern und mir dieKlamotten und die Haut aufreißen und das Risiko aufnehmen, dassder Militärposten, der in dem verbrannten Dorf war, auf michschießen würde. Man muss ja eine ganze Reihe von Dingen tun, umdas dann auch zu beweisen.

Sie wollen Beweise sammeln, sich selbst von einem Geschehen

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und dem, was darüber berichtet wird, überzeugen, warum?

Im Grunde versuche ich eine Korrektur der Geschichtsschreibungüber den Erfolg der westlichen Zivilisation. Die wird gelegentlicherwähnt von Solschenizyn oder gelegentlich erwähnt von VaclavHavel oder gelegentlich erwähnt von Mark Twain. Es ist einedurchgängige Strategie, die bisher vielen nicht so bekannt ist. Umauf Ihre Frage zurückzukommen, warum ich das tue? Ich möchteerreichen, dass in Deutschland und in Europa — wenn Politikerversuchen einen Krieg zu inszenieren und uns in einen Krieghineintreiben wollen und das mit Werten begründen — dass dasPublikum anfängt zu lachen. Und dass das Publikum anfängt, sieauszupfeifen und sagt: Ihr könnt uns alles erzählen, aber sagt nicht,dass Ihr das für unsere Werte tut.

Nehmen wir den Afghanistankrieg. Da hat man uns gesagt, diedeutschen Soldaten würden dahin gehen, um afghanischenMädchen wieder den Schulzugang zu ermöglichen! Und umBrunnen zu bauen! Fragen Sie mal heute einen damals führendenPolitiker, der den Krieg wollte, wie viel Prozent der afghanischenMädchen zur Schule gehen. Das wissen die gar nicht und dasinteressiert sie auch gar nicht. Und wenn man ihnen sagt: Aber daswar doch Euer Kriegsgrund, dann sagen die nur: Ach so!

Und wie viele Mädchen gehen heute in Afghanistan zur Schule?

40 Prozent, für sechs Jahre. Dann ist da auch Schluss.

Was Sie als Ziel formulieren, erinnert mich an das Märchen von„Des Kaisers neue Kleider“...

... genau das, was der Junge ruft, wäre die Aufgabe der Medien, diesie nicht spielen. Anders als in dem wunderbaren Märchen vonHans-Christian Andersen jubeln die Medien nicht dem Jungen zu,der ausspricht, was alle sehen, sondern sie geben ihm kräftig eins

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auf die Mütze. Dieser Kaiser ist nämlich nackt! Der Westen kämpftum Markt, Macht und Moneten aber nicht für seine Werte.

Herr Todenhöfer, wenn man das alles — wie Sie — seitJahrzehnten durchlebt und immer mehr durchschaut, hat man danicht auch den Wunsch, etwas zu verändern? Es gibt ja seit dem 2.Weltkrieg die Vereinten Nationen, die ein Korrektiv sein sollten,die international gültige Regeln und Abkommen aufgestellt haben.Sehen Sie in der UNO eine Alternative?

Ja, das müssten sie sein und wir müssten sie stärken, aber beimIrakkrieg (2003) — an dem Deutschland sich offiziell ja nichtbeteiligt hat, inoffiziell aber schon geholfen hat — da hätte KofiAnnan sein Amt in die Waagschale werfen und sagen müssen: HerrPräsident, Herr Bush, ich trete zurück. Dieser Krieg ist illegal. Erhätte sein Amt in die Waagschale werfen müssen, aber das tun siedann doch nicht. Sie üben Kritik, diplomatisch, vornehm, mehrnicht. Und die Amerikaner durften Deutschland überfliegen, siedurften Ramstein als Flughafen benutzen, sie durften ihreverwundeten Soldaten nach Landstuhl bringen.

Spielt die Bundesregierung also ein doppeltes Spiel? Sagt sie inRichtung Öffentlichkeit das eine und tut was anderes?

Lassen Sie mich etwas zur Rolle Deutschlands sagen. Bei dieserKriegspolitik ist Deutschland nicht der Antreiber, wir sind Mitläufer.Wir laufen sehr häufig mit. In Afghanistan waren wir nicht dieHauptkriegsführer, obwohl wir da auch Unheil angerichtet haben.Im Jemen sind wir nicht der Hauptwaffenlieferant, aber wir liefernWaffen, mit denen getötet wird. Wir sind eben der Mitläufer. Auchdie Kanzlerin unterschätzt völlig die Möglichkeiten der deutschenPolitik. Die Kanzlerin konzentriert sich, was ich als sehrverdienstvoll ansehe, auf Europa. Aber wenn sie meint, dassDeutschland im Fahrersitz sitzt, ist das der totale Irrtum. In all denLändern, die ich im Laufe unseres Gesprächs genannt habe, ob

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lateinamerikanische, afrikanische oder mittelöstliche Staaten, gibtes den Wunsch, Deutschland als Vermittler zu gewinnen, alsehrlichen Makler. Das ist die Rolle, die ich für Deutschland auchsehe. Dass Deutschland sich unabhängiger macht von denVereinigten Staaten und in Konflikten als Vermittler agiert und nichtals Mitläufer und Waffenlieferant.

Sie kennen den Bundestag, Sie kennen Regierungsstellen. Sind sieder Meinung, dass dieses politische System sich frei machen kannvon Verpflichtungen und Zwängen, um tatsächlich als Vermittler,als ehrlicher Makler aktiv zu werden? Dabei denke ich auch anden Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern. Sie waren jaauch im Gazastreifen unter Bomben. PalästinensischeInterviewpartner haben mir mehr als einmal gesagt, Europa,Deutschland kommen hierher und helfen uns und bauen auf unddann kommt Israel und zerstört das wieder. Dann kommenEuropa, Deutschland wieder, um wieder aufzubauen. Wie kann soein Kreislauf durchbrochen werden?

Ja, das ist möglich. Es gibt ja zwei Schlussfolgerungen daraus.Deutschland ist eine starke Wirtschaftsmacht, Deutschland ist einestarke Demokratie, ein starker Rechtsstaat. Der frühereBundespräsident Gauck hat daraus den Schluss gezogen, dass esdeswegen auch mal häufiger zu den Waffen greifen kann. Das halteich für eine fatale Schlussfolgerung, die zu einer heftigenKontroverse zwischen Gauck und mir geführt hat (5).

Die andere Schlussfolgerung aus der Stärke Deutschlands alsWirtschaftsmacht, als Demokratie, als Rechtsstaat ist, dass wirVermittler sein könnten. Natürlich können wir das sein. Aber es gibtganz wenige Politiker, die aus dieser Mitläuferrolle herausfinden.Denn wenn irgendwo die Amerikaner ankündigen, wenn jetztirgendwo irgendwann irgendwelche Waffen eingesetzt werden,dann werden wir zuschlagen, dann melden sich sofort deutscheAbgeordnete die sagen: Wir bitte auch, wir bitte auch!

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Sie sprechen hier von …

... ja, Giftgas in Syrien. Auf die Idee, dass deutsche Politik Vermittlersein könnte, kommen immer weniger. Die haben sich so drangewöhnt, dass der große Bruder in Amerika die Vorgabe macht unddass man dann irgendwie mitschwimmt. Nehmen Sie Trump. Trumpwird in Deutschland sehr kritisch gesehen, auch von Politikernkritisch gesehen. Aber wenn Trump sagt, ihr müsst EureMilitärbudgets drastisch erhöhen, dann erhöhen wir unsereMilitärbudgets drastisch. Nach unserem Grundgesetz ist dieBundeswehr ausschließlich zur Verteidigung da. Und doch hat dasBundesverfassungsgericht in sehr, sehr großzügiger Interpretationgesagt — das Grundgesetz gibt das gar nicht her —, wenn einBeschluss des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vorliegt, dersich auf die UN-Charta, Kapitel 7 bezieht, auf einen Angriff auf denFrieden, dann kann die Bundeswehr sich beteiligen.

Um das deutlich zu sagen: Ich bin für eine starke Bundeswehr, ichbin für eine moderne Bundeswehr, ich bin für eine Bundeswehr, inder die Systeme funktionieren, aber ausschließlich zurVerteidigung. Und das, was Trump von uns will, die Erhöhung desBudgets, das braucht man nur für Auslandseinsätze. UndAuslandseinsätze hat das Grundgesetz nicht vorgesehen.Auslandseinsätze widersprechen dem Friedensgebot desGrundgesetzes. Ein Teil dieser Auslandseinsätze ist laut demehemaligen Abteilungsleiter des Bundesverteidigungsministeriumsverfassungswidrig. Und für weitere Militäreinsätze im Auslandbrauchen wir keine weiteren Milliarden auszugeben. Die werden inder Bildungspolitik, für die der Bund nicht in erster Linie aber auchzuständig ist, viel besser ausgegeben, oder im sozialen Bereich.

Die Bundeswehr soll ja auch gestärkt werden, weil RusslandEuropa angeblich angreifen wolle.

Die Auslandseinsätze der Bundeswehr kosten heute mehr als 40

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Milliarden Euro. Russland, das ja angeblich die große BedrohungEuropas und Amerikas ist, Russlands Militärhaushalt liegt irgendwobei der Größenordnung von 60 Milliarden Euro. Die europäischenNATO-Staaten sind vier- oder fünfmal überlegen, wenn man es amMilitärbudget misst. Die USA geben mehr als zehnmal so viel fürRüstung aus als Russland, das seit Jahren seinen Militärhaushaltreduziert, aus wirtschaftlichen Gründen. Das sind doch Märchen,wenn man den Leuten sagt, wir müssen jetzt mehr Geld gegenRussland ausgeben, um uns gegen Russland verteidigen zu können.Wir sollen mehr ausgeben, um bessere Streitkräfte zu haben fürAuslandseinsätze irgendwo auf der Welt. Die sehe ich in unsererVerfassung nicht und die sehe ich politisch auch nicht als gebotenan.

Wie soll Deutschland sich in der Außenpolitik verhalten. Nähertes sich Russland an, gibt es Druck von den USA, inzwischen jaganz offen, wie der US-Botschafter Grenell es vormacht.

Ich glaube, dass in den letzten 10, 15, 20 Jahren nicht mehrstrategisch gedacht wird. Man denkt einfach in festgefügtenStrukturen. Wir sind Partner der USA und wir haben irgendwiemitzumachen. Und wenn einer übertreibt wie der Trump, dannmachen wir nicht alles mit, aber wir machen das meiste mit.Deshalb habe ich mehrfach vorgeschlagen — ich spreche auch indem Buch darüber — dass man unter Beibehaltung dertransatlantischen Partnerschaft mit den USA natürlich einestrategische Partnerschaft mit Russland aufbauen muss. Dazu mussman ja nur auf die Landkarte schauen.

Ich habe hier neben mir einen Globus stehen, den habe ich zuWeihnachten geschenkt bekommen. Da sehe ich das winzige Europaund daneben ein Russland, das ich weiß gar nicht wie viele Malegrößer ist. Zum strategischen Denken gehört auch ein bisschenGeographie. Und wer dann sagt, aus Menschenrechtsgründen gibtes da Probleme, dann sage ich: bei der Verwirklichung der

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Menschenrechte hat man in einer Partnerschaft viel mehrMöglichkeiten als in einer Feindschaft.

In dem Buch geht es nicht in erster Linie um Fragen der Politik undAußenpolitik. In dem Buch ist jedes zweite Kapitel eine Reportage,die manchmal ganz schwer zu lesen ist, und es war für mich auchnicht leicht, es zu schreiben. Es ist kein theoretisches Buch, dasBuch versucht das, was ich glaube und was ich denke, mit Beispielenzu belegen und zu beweisen. Ich will, dass die Menschen die Weltverstehen und dass sie sehen, wie sie tickt. Und dass sie auch sehen,wie gefährlich das ist, wenn wir weiter so machen.

Sie haben keine Angst, dass die Leser sich am Ende des Buches,gerade wenn sie die erschütternden Reportagen gelesen haben,die Bilder sehen, dass sie sich am Ende machtlos fühlen?Verzweifelt?

Bei meinen Lesungen kommt immer wieder die Frage: Aber waskönnen wir denn machen? Ich habe ein sehr junges Publikum beiden Lesungen und eigentlich dürften junge Leute in einerDemokratie so eine Frage gar nicht stellen. Als erstes sage ich:Informiert Euch. Und man kann sich in Deutschland gutinformieren. Man kann eine gute Zeitung lesen, die gibt es. Da mussman nicht jeden Artikel akzeptieren, sondern man muss eine zweiteStimme dazu lesen. Dann gibt es das Internet, gute Seiten, wo maneine Gegenmeinung bekommt. Ich nenne mal „The Intercept“, dieNachdenkseiten, Rubikon und man kann auch gelegentlich mal eingutes Buch lesen. Da nenne ich Noam Chomsky, Howard Zinn, DieGeschichte des amerikanischen Volkes. Zurzeit lese ich grade dreiBücher, davon will ich eines besonders hervorheben. Das ist vondem Israeli Harari, Eine kurze Geschichte der Menschheit. Davorhabe ich von ihm gelesen 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert (6). Indem Buch setzt er sich auch mit Krieg und Terrorismusauseinander. In Glaubensfragen folge ich ihm dann wieder nicht.Man kann sich also informieren, wenn man will. Und man kann sich

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engagieren.

Es gibt gesellschaftliche Organisationen, man kann auch in einePartei eintreten und dort sagen: Was erzählt Ihr mir da?! Man kannsich politisch engagieren. Diese Welt gehört nicht irgendwelchenPolitikern oder Unternehmern, diese Welt gehört Euch, sie gehörtuns. Weil ich jetzt schon ein bisschen älter bin, sage ich: Das ist EureWelt, macht was daraus!

Ich habe keinerlei offizielle Funktion mehr. Ich bin nicht mehr imVorstand eines Medienunternehmens, ich bin nicht mehrAbgeordneter, ich bin nicht mehr Richter. Dafür habe ichangefangen zu schreiben und erreiche damit relativ viele. In einerDemokratie ist das wichtig, weil Politiker vor nichts mehr Respekthaben als vor der öffentlichen Meinung. Weil sie sie brauchen, wennsie Wahlen gewinnen wollen.

Ein ganz klares Plädoyer von Ihnen zum Lesen, zum Denken, zumEngagement und dazu, sich einzumischen?

Ja, natürlich. Es ist unsere Welt und sie wird so sein, wie wir siegestalten. Wir sollten unsere Werte Freiheit, Gleichheit undBrüderlichkeit, Demokratie und Menschenrechte endlich vorlebenund nicht länger zur Vergewaltigung anderer Völker und Kulturenmissbrauchen. Ich glaube an diese Werte.

Vielen Dank für das Gespräch.

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Quellen und Anmerkungen:

1) Jürgen Todenhöfer, Die große Heuchelei, Wie Politik und Medienunsere Werte verraten. Propyläen Verlag 2019.

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(2) Eduardo Galeano (1940-2015), Schriftsteller aus Uruguay.https://www.peter-hammer-verlag.de/buchdetails/die-offenen-adern-lateinamerikas-broschierte-ausgabe/ (https://www.peter-hammer-verlag.de/buchdetails/die-offenen-adern-lateinamerikas-broschierte-ausgabe/)(3) https://www.facebook.com/JuergenTodenhoefer/(https://www.facebook.com/JuergenTodenhoefer/)(4) Dr. Dieter Weingärtner, FAZ epaper, 22.11.2018, nicht mehraufrufbar: „Die deutsche Sicherheitspolitik tendiert dazu, dieVerfassungslage zu ignorieren. Notfalls biegt die Bundesregierungdie verfassungsrechtlichen Grundlagen eines Einsatzes zurecht —und erhält dazu auch noch die Zustimmung des Bundestages.“(5) https://www.focus.de/politik/deutschland/wuetender-facebook-beitrag-publizist-todenhoefer-zeigt-gauck-als-terroristen_id_3929740.html(https://www.focus.de/politik/deutschland/wuetender-facebook-beitrag-publizist-todenhoefer-zeigt-gauck-als-terroristen_id_3929740.html);https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/ueberdrehter-gotteskrieger-scharfe-kritik-an-todenhoefer-nach-attacke-gegen-gauck-13000177.html(https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/ueberdrehter-gotteskrieger-scharfe-kritik-an-todenhoefer-nach-attacke-gegen-gauck-13000177.html)(6) The Intercept: https://theintercept.com/(https://theintercept.com/); Die Nachdenkseiten:https://www.nachdenkseiten.de/(https://www.nachdenkseiten.de/); Rubikon:https://www.rubikon.news/ (https://www.rubikon.news/);Noam Chomsky: https://chomsky.info/ (https://chomsky.info/)Howard Zinn: https://www.perlentaucher.de/autor/howard-zinn.html (https://www.perlentaucher.de/autor/howard-zinn.html) , Yuval Noah Harari:https://www.randomhouse.de/Paperback/Eine-kurze-Geschichte-der-Menschheit/Yuval-Noah-

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Harari/Pantheon/e441313.rhd(https://www.randomhouse.de/Paperback/Eine-kurze-Geschichte-der-Menschheit/Yuval-Noah-Harari/Pantheon/e441313.rhd);

Karin Leukefeld, Jahrgang 1954, studierte Ethnologie,Islam- und Politikwissenschaften und ist ausgebildeteBuchhändlerin. Sie engagierte sich für die Organisations-und Öffentlichkeitsarbeit unter anderem beimBundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU),Die Grünen (Bundespartei) sowie der InformationsstelleEl Salvador. Seit dem Jahr 2000 ist sie als freieKorrespondentin im Mittleren Osten tätig und seit 2010in Damaskus akkreditiert.

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