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Schelling W.E. Ehrhardt Sie widmen in dieser Vortragsreihe ihre Aufinerksamkeit vorziiglich der Jahreszahl 1800. Dieses Datum ist auch Or die Schellingforschung ein aulerordentlich wichtiges Datum, denn als Goethe uberlegte, wen er wurdigen wolle, mit ihm in die erste Stunde des Neuen Jahrhunderts zu treten, wdhlte er auler Schiller nur Schelling. Schelling war damals noch nicht 25 Jahre alt, aber Goethe war nicht der einzige, der ihn als das neue Gestirn betrachtete, um das sich die philosophische Diskussion bewegte. Am 27. Januar 1775 in Leonberg geboren, gehdrt Schelling wohl zu den markantesten Glucksfallen, in denen ungew6hnliche Begabung dank vaterlicher Friihausbildung sich ungehemmt vom Bildungssystem entfal- ten konnte. Seit September 1792 bereits fanden Verdffentlichungen von Schelling grol3e wissenschaftliche Beachtung, and manche Interpreten sehen Schelling 1800 bereits auf dem H6hepunkt seines Ruhmes. Aber Schelling lebte and arbeitete bis er am 20. August 1854 in Bad Ragaz in der Schweiz starb. Dort lies ihm der Bayerische K6nig 1856 ein schdnes Grabmal setzen mit der Widmung: Dem Ersten Denker Deutschlands. Des- wegen macht mir das zweite Datum, das Sie fur den Rahmen dieser Vor- tragsreihe bestimmten, 1821, grole Probleme, denn ich gehore nicht zu jenen Interpreten, die den fro hen Schelling vom sp°ten scheiden wollen. Meine These ist vielmehr: Nur ein Schelling.') Obwohl ich gerade infolge dieser These es nicht n6tig hitte, auch Texte heranzuziehen, die nach 1821 geschrieben sind, will ich dies trotzdem tun, um verbreitetem Vor- urteil entgegenzuwirken. Denn noch immer wuchert in sekundarer Phi- losophiegeschichtsschreibung die Vorstellung, Schelling babe als'genialer Mitstreiter' Fichtes begonnen, die damaligen Wandlungen der Natur- wissenschaften rezipiert, dann unter dem Einflul des gerade nach Jena gekommenen Hegel ein spinozistisches Identitatssystem2) entworfen and sei dann in Folge von Einflussen von Bbhme, Oettinger and Baader ins Dunkel von GrS1 a and Verhangnis geraten, wie es ein Jasper'scher Buch- 45

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SchellingW.E. Ehrhardt

Sie widmen in dieser Vortragsreihe ihre Aufinerksamkeit vorziiglich derJahreszahl 1800. Dieses Datum ist auch Or die Schellingforschung einaulerordentlich wichtiges Datum, denn als Goethe uberlegte, wen erwurdigen wolle, mit ihm in die erste Stunde des Neuen Jahrhunderts zutreten, wdhlte er auler Schiller nur Schelling. Schelling war damals nochnicht 25 Jahre alt, aber Goethe war nicht der einzige, der ihn als dasneue Gestirn betrachtete, um das sich die philosophische Diskussionbewegte.

Am 27. Januar 1775 in Leonberg geboren, gehdrt Schelling wohl zu denmarkantesten Glucksfallen, in denen ungew6hnliche Begabung dankvaterlicher Friihausbildung sich ungehemmt vom Bildungssystem entfal-ten konnte. Seit September 1792 bereits fanden Verdffentlichungen vonSchelling grol3e wissenschaftliche Beachtung, and manche Interpretensehen Schelling 1800 bereits auf dem H6hepunkt seines Ruhmes. AberSchelling lebte and arbeitete bis er am 20. August 1854 in Bad Ragaz inder Schweiz starb. Dort lies ihm der Bayerische K6nig 1856 ein schdnesGrabmal setzen mit der Widmung: Dem Ersten Denker Deutschlands. Des-wegen macht mir das zweite Datum, das Sie fur den Rahmen dieser Vor-tragsreihe bestimmten, 1821, grole Probleme, denn ich gehore nicht zujenen Interpreten, die den fro hen Schelling vom sp°ten scheiden wollen.Meine These ist vielmehr: Nur ein Schelling.') Obwohl ich gerade infolgedieser These es nicht n6tig hitte, auch Texte heranzuziehen, die nach1821 geschrieben sind, will ich dies trotzdem tun, um verbreitetem Vor-urteil entgegenzuwirken. Denn noch immer wuchert in sekundarer Phi-losophiegeschichtsschreibung die Vorstellung, Schelling babe als'genialerMitstreiter' Fichtes begonnen, die damaligen Wandlungen der Natur-wissenschaften rezipiert, dann unter dem Einflul des gerade nach Jenagekommenen Hegel ein spinozistisches Identitatssystem2) entworfen andsei dann in Folge von Einflussen von Bbhme, Oettinger and Baader insDunkel von GrS1 a and Verhangnis geraten, wie es ein Jasper'scher Buch-

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titel suggeriert. Nichts ist falscher. - Oder besser: nichts war falscher,denn durch die Aufarbeitung der Quellen der Tiibinger Studienzeit durchW.G. Jacobs') and meine eigene Erschlielung der Dokumente des philo-sophischen Gesprdchs von Maximilian II. and Schelling°) ist sicher, daBSchelling sowohl von Anfang an als eigenst'ndiger Philosoph betrachtetwerden muB, als such bis ins hdchste Alter der rationales Darstellungseines Prinzips gewidmet blieb. Dies bezeugen auch die inzwischen vor-liegenden ersten Bande der historisch-kritischen Ausgabe der Werke5) andder ji ngst durch Sandkuhlers Edition des Tagebuchs 18486) gewonneneEinblick in die Arbeitsweise Schellings. Das Modell vom epigonenhaftenAnfang bei der Wissenschaftslehre, der durch naturphilosophischeSchwhrmerei und'dunkle Gefi hle' zum systematischen Scheitern fi hrt7),dieses Modell, das ja auch Richard Kroner nooh benutzte, ist von derquellenorientierten Forschung einfach i berholt. Man kann fiber seineBerechtigung nicht mehr disputieren, hf chstens noch dari ber, wie seineEntstehung sich historisch erklaren lasse. Dies letztere kann allerdingseine sinnvolle Aufgabe sein, zumal fast alle Vorwurfe gegen Schellingschon zu dessen Lebzeiten vorgebracht wurden. Seltsam mutet es an, daBgegen Schelling der Vorwurf des Sansculottentums, des Materialismus andAtheismus and auch der des Idealismus and katholisierender, reaktionarerGesinnung erhoben wurde, ja, daB an ihm kritisiert wurde, er sei "nurWissenschaft and sonst gar nichts" and auch, er sei von "esoterischemMystizismus" geprligt von Jugend auf. Ich kann these divergierendenUrteile in der bier gebotenen Ki rze nur nennen - nicht bewerten. Abertraut man ihnen uberhaupt zu, ein fundamentum in re zu haben, so bietetsich ein hi bsches Argument dar, um zur These Nur ein Schelling zuruck-zuleiten. Schelling selbst benutzte es einmal, um die Divergenz der Be-richte uber Sokrates zu erklaren: daB eben "Sokrates der Mann war, gro/genug, um die ganze Distanz der Xenophontischen and Platonischen Dar-stellung auszujullen." (XIV, 325) (Ein anderes Argument, das Schellingzur Rechtfertigung von Widerspri chen im Werke Platos selbst einfi hrte,- jemand, den man seit 2000 Jahren den 'Gbttlichen' nenne, di rfe manauch zutrauen, sich selbst zu widersprechen, - mSchte ich allerdings nichtauf Schelling selbst zuruckwenden, denn 'g6ttlich' hat Schelling nochniemand genannt.)9)

Das grole Prinzip, das der Philosophie Schellings Einheit gibt, heistFreiheit. "Das A and O der Philosophie ist Freiheit," schreibt Schelling am4.2.95 an Hegel and nie ist Schelling davon abgewichen, dal Freiheitunser Hochstes sei. Aber was ist Freiheit? Schelling war, wie Sandki hlerschreibt, "Zeitzeuge des gesamten europaischen revolutionaren and gegen-

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revolution) ren Prozesses".10) Ihm war also der Mil3brauch, der mit demNamen der Freiheit getrieben werden kann, doch schon ebenso bewuft,wie uns heute. Das A and O der Philosophie ist Freiheit? - Hatte nichtKant gerade erst den ganzen Streit um die Thesen: es gibt Freiheit oderalles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur, in denAbgrund der unbeweisbaren Antinomien geworfen?" ) Als "frisch vonKant hergekommener", wie Schelling sich einmal nannte, kann Schellingunmoglich die Philsophie an das Prinzip einer seienden Freiheit gebundenhaben. Ob Freiheit ist oder nicht ist, kann reine Vernunft niemals ent-scheiden, wohl aber, daB sie sein soll. Allein die deontische Wende, diedurch Kant's Entdeckung des 'Kategorischen Imperativs', - des Factumseines Sittengesetzes aus refiner Vernunft, eingeleitet wurde, erlaubt zusagen, daB Freiheit uberall das Prinzip sein soll. Das "BewuJtsein derFreiheit", Kant wtrtlich, "ist uns nicht vorher gegeben".12) Schellings For-mulierung, 'das A and O der Philosophie ist Freiheit', nennt also eineForderung, ein Postulat: 'ist' oder 'sein soil' (XIII, 247) gilt hier gleich, -etwa so, wie wir sagen, die H6chstgeschwindigkeit auf Autobahnen ist120 and meinen:'soll 120 km/h sein. Wenn das A and O der PhilosophieFreiheit sein soll, geht es in der Wissenschaft darum, die Wirklichkeit derFreiheit uberall zur Darstellung zu bringen." ) Diese Aufgabe, die Fichtenur fur die Wissenschaftslehre ergriffen hatte, trugt Schelling in. alleGegenstandsgebiete: z.B. in das Reich der Natur. Wenn durch Kant imsittlichen Bereich die Autonomie als Voraussetzung allgemein verbind-licher Gesetze erwiesen wurde, wenn nach Fichte das Wissen uberhauptnur in seinem Streben nach Unbedingtheit dem Vergehen in der Par-teilichkeit and subjektiven Meinung widersteht, dann kann die allesumfassende Natur nicht etwas sein, was uberall keine Freiheit zulaf3t. EinDualismus, - wie etwa: im Geist gibt es Freiheit in der Natur aber nicht -oder, wie Schelling es Fichte vorwarf, ein "Hinwegschelteni14) der Naturzu einem nicht zu wollenden Gegensatz der Freiheit kommt for Schellingnicht in Betracht. Fur ihn gilt vielmehr: "Welcher Gegenstand Objekt derPhilosophie sein loll, derselbe mu.3 auch als schlechthin unbedingt ange-sehen werden." (III, 11.) Freiheit soll uberall sein.

Schelling schuf daher einen neuen Begriff der Natur, der die Natur nichtmehr nur natura naturata, sondern natura naturans sein liel3. ... Nachallgemeiner Ubereinstimmung ist die Natur selbst nichts anderes als derInbegri f f alles Seins; es ware daher unmoglich die Natur als ein Un-bedingtes anzusehen, wenn nicht im Begri f f des Seins selbst die verbor-gene Spur der Freiheit entdeckbar ware. Darum behaupten wir: Alles Ein-

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Philipp Otto Runge (1777-1810), Der Morgen, 1808.Oel auf Leinwand, 109 85,5 cm - Photo: Kleinhempel, Hamburg.Hamburger Kunsthalle/Freunde der Kunsthalle E.V.

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zelne (in der Natur) sei nur eine Form des Seins selbst, das Sein selbstaber = absoluter Tatigkeit. (111, 13).

Der anschaulichste Begriff for die sich selbst bedingende Produktivitatist for Schelling der Organismus, denn dieser bezeichne "eine Sukzession,die innerhalb gewisser Grenzen eingeschlossen, in sich selbst zuruckflieJt."(II, 349).

Mit der These des allgemeinen Organismus in der Natur tritt Schellingdem 'alten Wahn' entgegen, daB Organisation and Leben, aus Naturprin-zipien unerklarbar seien. Ja, Schelling stand nicht ab, these Erklarungsartauch for das Denken als Teil der Natur for mdglich zu halten, denn,schreibt er, "da alles Denken zuletzt auf ein Produzieren and Reproduzie-ren zuruckkommt, so ist nichts Unmogliches in dem Gedanken, daf3 dieselbe Tatigkeit, durch die die Natur in jedem Moment sich neu reprodu-ziert im Denken nur durch das Mittelglied des Organismus reproduktivsei." (111, 274).

Ohne mich auf veraltete Terminologien aus der Naturwissenschaft ein-zulassen, kann ich Schellings Deutung der Natur als eines tatigen Pro-zesses am einfachsten anschaulich machen, indem ich ein einziges Ge-malde, durch Schellingzitate erlautere. Es ist Philipp Otto Runges KleinerMorgen von 1808. Runge war durch Steffens and Perthes sehr forSchelling gewonnen and teilte diesem sogar brieflich seine "Uberein-stimmung" mit: "Sie werden these Ubereinstimmung der Vorstellungen mitJhnen gewiJ nicht fur anma, end von meiner Seite halten, and sich schondenken konnen, wie ich dieses verstehe", schrieb er an Schelling am1.10.181025) In dem Kleinen Morgen von 1808 gibt es zwei Aussage-formen: die des Rahmens and die des inneren Bildes. Die des Rahmenskann man in der von Schelling exakt eingefohrten Begrifflichkeit (V,407) allegorisch nennen: d.h. das Besondere, Dargestellte verweist auf einAllgemeines. Die Aussageform des inneren Bildes dagegen ist symbolischzu nennen, weil Besonderes and Allgemeines hier in vdlliger Indifferenzerscheinen. Gemaf Schellings Naturphilosophie ist unten im Rahmen daserste Existierende als Indifferenz von Licht and Schwere abgebildet. Sieist der Grund der bestimmten Verhaltnisse der Materie, wo Ad- andKohasionskrafte Grund bestimmter Raumlichkeit werden. Daher sindals nachste Allegorie Mineralien abgebildet, die aber ihrerseits als Grundder Existenz pflanzlicher Selbstheit in das Dunkel zurocktreten. Dal hiertatige Verhaltnisse gemeint sind, deuten die verbindenden Putten an,polar sich als Geschlechter trennend. Die im Licht sich zuerst zeigende

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Freiheit, sich seinem Grunde entgegenzusetzen, tritt im Pflanzenreichnoch in relativer Gebundenheit hervor. "Es muffle", schreibt Schelling,"ein solcher Moment kommen, wo die im Innern, im Prinzip der Materieselbst durch die hohere Potenz erregten Bewegungen zum freien Spielwurden. Dieser Moment konnte nur der der organischen Natur sein." (X,379). "In den ersten freiwilligen Bewegungen des Tieres of fenbart sich das... eigentliche Geheimnis des Vorgangs, in welchem das Leben entsteht....Nicht meter, wie die Sterne, einer unablassigen Bewegung hingegeben,sondern dieses Prinzip unablf ssiger Bewegung in sich besiegt enthaltend,sind die Tiere nichts anderes, als das vollig iiberwundene Gestirn." (X,384). Der Blutkreislauf ahme zwar noch den astralen Stiftekreislauf derPflanzen nach, schreibt Schelling, and es mag dem entsprechen, dalRunge das Rot einer Amaryllisblute als den allegorischen Grund desLeibes wahlte. Noch weniger an seinen Grund gefesselt, freier, tritt derGeist im Menschen hervor, allegorisch: die sich aus dem Kopf windende,fast kaum noch mit ihm als Grund verbundene Lilie. Schelling: "Wie diePflanze in der Blute sick schlieft, so die ganze Erde im Gehirn desMenschen, welches die hochste Bliite der ganzen organischen Meta-morphose ist." (IV, 210f). Die rich frei bewegende Form des Geistes istder Gedanke, allegorisch: der Engel, neigt rich, noch durch Wolken andNebel getrennt, vor der Klarheit ewiger Wahrheiten, die hier bildlich alsmathematisch regelmABig geordneter Chor der denkenden KSpfe erschei-nen. Die allegorische Anspielung auf die Mathematik ist durch die Kreiseand Sinuswellen betont. Das Ideal Mathematik, allegorisch: die bildlicheScheidung der Klarheit von den Gedankenwolken and Nebeln, ist gera-dezu ein Beispiel, mit dem uns Schelling immer wieder das freie Verhalt-nis des Existierenden zu seinem dunklen Grunde 'menschlich nahezu-bringen' versucht, etwa, wenn er sagt: "So wie im Menschen in die dunkleSehnsucht, etwas zu schaffen, dadurch ans Licht tritt, daft in dem chaoti-schen Gemenge der Gedanken, die alle zusammenhangen, jeder aber denanderen hindert hervorzutreten, die Gedanken sich scheiden and nun dieim Grunde verborgen liegende, alle unter sich befassende Einheit sich er-hebt." (VII, 361).

In der inneren, nach der oben gegebenen Definition Schellings symbolischzu nennenden Dimension des Bildes ist es gar nicht mehr notig, die In-differenz des Lichtes and der Schwere blof3 zu allegorisieren. Sie ist inder Natur wirklich. Der Morgenstern ist these Indifferenz selbst. Vor demLichte des Morgens tritt die Schwere in die Nacht zuruck. An die Stelledes allegorisch angedeuteten Mineralreiches, als dem bestimmten VerhAlt-nis der Krdite, treten wirkliche Felsen and Meere, and inmitten der

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pflanzlichen Natur symbolisiert das Menschenkind selbst als hochste Stufeder Indifferenz des Lichtes and des dunklen Grundes den Ort, auf denalle geistigen Erscheinungen bezogen sind. Aber die Deutung der schwe-benden Gestalten des inneren Bildes wurde den gegenwartig intendiertenZusammenhang verlassen. Es ging nur darum, an der bildlichen Dar-stellung anschaulich mitparaphrasierenden Schelling-Zitaten darzustellen,dal Schellings Naturphilosophie aufgebaut ist als eine Stufenfolge derimmer neu rich stellenden Alternative des relativ dunklen Grundes anddes Lichtblicks der Freiheit.

Mit der These des allgemeinen Organismus hat Schelling die Begeis-terung, mit der sich die Jugend der Romantik um 1800 dem Studium derNatur zuwandte, entscheidend befliigelt. Wer hatte es in jener Zeit ertra-gen, mit der Erforschung der Gesetze der Natur zugleich an der Ver-nichtung der eigenen Freiheit zu arbeiten? In der Kunst schien die Nach-ahmung der Natur nur dann eine mit der Freiheit vertragliche Forderung,wenn sie als Nachahmung der freien Produktivitat der Natur verstandenwurde, and eben dies lehrte Schelling.16)

Schelling hat sogar versucht, den enzyklophdischen Zusammenhang derWissenschaften selbst als eine Darstellung der Wirklichkeit der Freiheitzu begreifen. In den Vorlesungen uber die Methode (Lehrart) des akade-mischen Studiums zeigt Schelling den Weg, wie auf einer Universitatgelehrt werden kann, ohne dal der Studierende mit der Erwerbung seinerSpezialkenntnisse zugleich das Gefiihl erhalt, an der Vernichtung dereigenen Freiheit zu arbeiten. Aus diesen Vorlesungen hat Wilhelm vonHumboldt sein Konzept einer autonomen Universitat gewonnen.l'n

Schelling sagte in diesen Vorlesungen, (die mit meiner Einleitung andKommentierung gerade in der zweiten Auflage wieder erschienen sind):"Die Universitdten, da sie nur Verbindungen fur die Wissenschaften sind,brauchen auJer dem, was der Staat freiwillig and seines eigenen Vorteilswegen fur ihre au, ere Existenz tun muf, keine andern Veranstaltungen furdas Reale, als welche aus der Idee selbst fliefien.a18) Ihre Autonomie zusichern, sei das Einzige, was der Staat tun kdnne. "Lerne nur um selbstzu schaf fen!i19 ist die zentrale Stud ienempfehlung Schellings, and in ihrerProduktivitat erscheint ihm die Kunst als das wahre Organon der Wissen-schaft and Philosophie.

Auch dem realen Begriff der Freiheit, "da,6 sie ein Vermogen des Gutenand Men" sei, wandte sich Schelling in einer Schrift zu. Sie trhgt denTitel: Vom Wesen der menschlichen Freiheit, - aber auch dies ist ihm nur

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ein Gegenstandsbereich, in dem sich die Wirklichkeit der Freiheit dar-stellt. Diese Schrift IABt, um die Freiheit als Hochstes zu retten, die Ver-antwortlichkeit der Persbnlichkeit eines Menschen, bereits beginnen inder "anfdnglichen Handlung, durch welche er dieser and kein anderer ist".(VII, 389) "Wollen ist Ursein" wird hier formuliert (VII, 350), wobei na-tiirlich nicht, wie in der mit Schopenhauer verbundenen Entwicklung oftgeschehen, vergessen werden darf, dal das Sein selbst von Schelling alsFreiheit bestimmt wurde. Spinoza, nicht Schelling, kann vorgehaltenwerden, er behandle "auch den Willen als eine Sache" (VII, 349).

Am schwierigsten ist es aber, das Prinzip, das A and O sei Freiheit, auchim Gebiet der Religion darzustellen, scheint doch alles, von den friihe-sten Kultstatten bis zu den letzten Domen, eher auf Abh5ngigkeit zuverweisen als auf Freiheit. Dieses Thema hat Schelling lebenslang nichtruhen lassen. Er war durch friihe Kenntnis orientalischer Sprachen andalter Literatur, wie niemand je, fur these Aufgabe in der Philosophiegeriistet. Aber das Gebiet ist so umfangreich and wohl auch die Editionseiner Werke in diesem Bereiche so irref0hrend, dal ich fast das Gefiihlhabe, Neues zu behaupten, wenn ich Ihnen nun vortrage, wie Schellingauch in der Religion, in Mythologie and Offenbarung, die Darstellungder Wirklichkeit der Freiheit gesucht habe and dal meine These von derEinheit der Philosophie Schellings auch fur diesen Bereich in Anspruchgenommen werden darf.

Wenn Freiheit unser HSchstes sein soll, wenn das A and O der Philoso-phie Freiheit ist, dann muff in bezug auf die Religion Freiheit auchGottheit genannt werden kdnnen. In der Tat findet sich bei Schelling dieFormulierung: "Freiheit ist unser Hbchstes, unsere Gottheit, these wollenwir als hochste Ursache aller Dinge." (XIII, 256).Es ist keineswegs nur eine gelegenheitliche Formulierung Schellings. Erhat sie vielmehr wiederholt benutzt, normativ verwandt and dazu nochmit der rhetorischen Anspielung auf Anselmus Versehen, dal dieser"Gedanke erst alle Gefd,6e unseres Denkens and Erkennens so ausdehnt,daf3 wir fuhlen, wir rind nun bei dem Hochsten, wir haben dasjenige er-reicht, woruber nichts Hoheres gedacht werden kann". (ebd.). Damit sindwir also mindestens experimentell berechtigt den Ausspruch "Freiheit istunsere Gottheit" einmal nicht metaphorisch zu lesen, sondern ganz wSrt-lich zu verstehen. Schelling hat die seine Zeit beherrschende Religionselbst eine Religion der Freiheit genannt. Auch dieses wurde uns berech-tigen, den Versuch zu wagen, Freiheit einmal nicht anders zu denken alsandere Gotter: 'Freiheit ist unsere Gottheit'.

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Schellings Methode verlangt ja, i berall die Wirklichkeit der Freiheit zurDarstellung zu bringen. In Schellings Methode kommt es i berhaupt nichtin Betracht, Religion in die Abhfingigkeit von logischen, psychologischen,gesellschaftlichen oder sonstigen Beziigen zu stellen: Religion soil i berallnur durch Religion bestimmt sein and i bt auf das Denken so nur eineAutoritat aus, wie jeder Gegenstand, der denkend betrachtet werden soil(vgl. XIII, 139). Das Erfassen z.B. der Autonomie des Gegensatzes vonMythologie and Offenbarung ist in dieser Methode geradezu die Gewahr,daf3 ein Student der Theologie sich gegenuber seiner Wissenschaft als einFreier fi hlen kann, and nicht, (wie Schelling sagte), durch sein Studiuman seiner eigenen Vernichtung" arbeitet (vgl. V, 213 and I, 339). Aber

nicht nur der grof3e Gegensatz der symbolischen and allegorischen Reli-gionsform, der antiken and der christlichen Welt, soil als ein autonomerbegriffen werden, sondern fur alle Stufen der Evolution der Mythologieand Offenbarung weist Schelling nach, da13 ein Gott nur durch einenGott begrenzt wird. Das Material der Mythographen and auch dieQuellenkenntnis der Offenbarung ist seit Schellings Arbeiten erheblichangewachsen. Eine kritische Edition der Philosophie der Mythologie andder Philosophie der Offenbarung wird nicht weniger historische Quellen-kommentare benbtigen als die Edition der Naturphilosophie. Fur meinehier vertretene These ist es aber ganz irrelevant, zu fragen, inwieweit esSchelling im einzelnen gelungen ist, zu zeigen, daf Glitter nur durchGbtter bestimmt werden and gar welche durch welche. Fur meine biervertretene These geniigt es, daf3 Schellings Methode die Aufgabe stellt,Gottheiten ausschlieflich durch ihr Verhaltnis zueinander zu charakteri-sieren. Mein Ziel ist hier nur, die Moglichkeit zu zeigen, die vonSchelling konstruierte Evolution von Mythologie and Offenbarung aufneue Gottheiten zu erweitern: Freiheit ist unsere Gottheit.

Die Mythologie bietet, da GStter als Gdtter autonom sein miissen, furden Ubergang von einem zum anderen einzig das Verhaltnis der Zeugungan (vgl. XIII, 312 and V, 405). Dionysos, der z.B. verschiedenen StufenGrenzen setzt, wird daher gleich dreimal gezeugt, Christus nati rlich nureinmal. Sogleich erhebt sich fur uns die Frage nach Herkunft der Frei-heit. Die Antwort ist einfach, denn das Ereignis ist noch nahe genug: sonahe, daJ3 wir uns scheuen, in mythologiegemaf3er Bildlichkeit davon zureden: Die Freiheit, die Gottheit genannt wird, ist im Kaschubenland20)geboren, Konigsberg, dort stand ihre Wiege. Und wenn die verkurzendeBildlichkeit doch einer Rechtfertigung bedarf, so weise ich darauf hin,da13 auch Schelling nicht abstand, die Wanne, in der Dionysos lag, mit derKrippe in Bethlehem zu vergleichen (vgl. XIII, 518).

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Im Schote der praktischen Vernunft oder genauer: als refine Vernunftselbst ein Sollen setzte, fist die Gottheit Freiheit erzeugt worden; denn dasBewuf3tsein der Freiheit, so sagte ja Kant, "ist uns nicht vorher gegeben"(Kpr. V., S. 56).21)

Keine Schwierigkeit sehe ich, historisch zu belegen, data auch die zeu-gende Vernunft selbst schon Gottheit genannt wurde. Sie wurde alsGottheit gezeugt, als der Gott der Gnade rich auf das Gebet einlief, sozu sein, wie wir ihn denken: das, uber dem Grbt eres nicht gedacht wer-den kann, was er freilich, ohne ins Hypothetische zu geraten, in einerReligion tun konnte, in der er bereits mit dem Pfingstwunder als HeiligerGeist in das subjektive Bewul3tsein der Gemeinde getreten war. DaB einneuer Gott sich zur Herrschaft erhoben hatte im ego cogito, der substan-tia causa sui oder in dem, was notwendig existiert, wenn seine Existenzmoglich ist, - ein neuer Gott, der nicht mehr dem Willen des GottesAbrahams, Isaaks usw. untersteht, das wurde ja splitestens von Pascalgeahnt (vgl. Memorial v. 23/24. Nov. 1654). Als die 'grof3machtigen'Prinzipe der Vernunft eine ht here Ewigkeit beanspruchten, als der WilleGottes, war es unvermeidlich, daB reine Vernunft den existierenden Gottder Gnade in den Tartaros der Unbeweisbarkeit stiet3 and selbst allesSein an rich zog. Vdlker and Staaten gibt es erst mit ihren Gottheiten,and so fehlte auch nicht der Versuch, ein Volk in seinem Wesen mit derGottheit Vernunft zu verkniipfen. Auch auf die von Herder aus Jenaberichtete Prognose Fichtes, daB die Herrschaft der Vernunft spatestensin 5 Jahren alle Kirchen i berflussig machen werde, kann verwiesen wer-den, wenn es gilt, historisch zu belegen, daf Freiheit als Gottheit voneiner anderen Gottheit gezeugt wurde, die Vernunft heist. (vgl. XI,266f).

Die Konigsberger Geburt der Gottheit Freiheit gibt dieser aber ein be-sonderes Geprfige: mag es sein, daf3 die Gottheit Vernunft sich als Seien-des zeigt, uber dem HSheres nicht gedacht werden kann, - mag es sein,daB ein aufklarerischer Streit moglich ist, ob die Vernunft Gottheit oderob Gott unmittelbar ist: die Gottheit Freiheit gerat in solche Alternativendank ihrer Herkunft prinzipiell nicht. Ob Freiheit oder Vernunft dashbchste Seiende ist, kann niemals Streit sein, denn eine seiende Freiheitals gSttliches Kind hatte die Gottheit Vernunft langst in Antinomienzermalmt and verschlungen wie Kronos seine Kinder.Allein die List der praktischen Vernunft rettete. Ihr Interesse fuhrt denPrimat. Mythologiegemat gesprochen, ist sie das Bewu(tsein der Ver-nunft and miif3te in Schellingscher Begrifflichkeit die relativ-weiblich

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gewordene Gottheit (vgl. XIII, 411) genannt werden. Sie, die praktischeVernunft, schutzt die Freiheit, entzieht sie der Alternative von Sein andNichtsein.Die Freiheit, in K6nigsberg geboren, ist ein deontisches Prinzip. Sie istnicht, sondern sie soil sein. Wenn i berhaupt reine Vernunft sich auf einSollen einlaft, Normen setzt, wird als Seinsollendes Freiheit gezeugt.''')Freiheit wollen wir als letzte Ursache aller Dinge. Als die gewollteGottheit ist Freiheit von Anfang an nicht eine Seiende, wie alle vonUranos bis Zeus, vom Gesetzgeber Israels bis zur Vernunft es waren.

Das Experiment, die Rede von Freiheit als Gottheit nicht metaphorisch,sondern w6rtlich zu nehmen, and die Religion der Freiheit in den Kon-text der Religionen zu stellen, kann aber fiber die Geburt der Freiheithinausgefi hrt werden, denn Freiheit als Gottheit zu wollen, dehnt dieGefhfe unseres Denkens so aus (s.o.), daB sie die ganze Evolution vonMythologie and Offenbarung umfassen, wie sie Schelling beschreibt.Freiheit ist das eigentlich gewollte in alien Stufen des Prozesses. Kurzzi)skizziert: 'als Gottheit von Gottheit gezeugt, reicht eine Gottheit in denAnfang, wie spat sie such erscheint' (vgl. z.B. XIII, 383).20)Nicht anders die Freiheit. Schellings gewaltiger Versuch, die ungeheureMasse an Dokumenten der religi6sen Entwicklung der Menschheit nichtals einen zusammenhanglosen Haufen zufalliger Abhangigkeiten liegenzu lassen, sondern als einen ebenso autonomen and in alien seinen Teilennotwendigen Zusammenhang zu beschreiben, als es die Natur ist, - diesergewaltige Versuch erweist Freiheit als Anfang and Ende. Was wir wollenvor allem Seienden ist Freiheit, sein K6nnen, das des Seins Machtige.Dieses ist aber als Seiendes nicht zu wollen, weil Freiheit eben vor allemSeienden gewollt sein soil. Nicht was ist, sondern was sein soll, wirdgewollt. Freiheit kann nur umschreibend Reinseiendes genannt werden,wenn sie als h6chste Ursache aller Dinge gewollt sein soll. Aber auchdavon, da( sie Freiheit bleiben mu(, soll Freiheit frei sein (vgl. XIII,305). Sie ist seinsollende Gottheit, - das, was sie sein will. Als Freiheit zusein, als Seinsollendes zu sein, bedarf es der Tat), der Schopfung, dieauf den Menschen angelegt ist, auf das Bewuf3tsein, das Freiheit, Sein-sollendes, als H6chstes will and somit gottsetzendes Bewuf3tsein genanntwerden kann (vgl. XII, 118). Der Mensch, der eine Mensch, der in unsalien fortlebt (vgl. XIII, 352) reicht somit in den Anfang der Sch6pfungder Gottheit Freiheit; denn "der Mensch ist nur in dem Male Mensch, alser eines uber seine Einzelheit hinausgehenden, allgemeinen Bewuj3tseinsfl hig ist" (XI, 114). Diese Stellung des Menschen, der, Freiheit als H6ch-stes zu wollen, g6ttlich umhegt war (vgl. XIII, 348), birgt aber die M6g-

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lichkeit der Katastrophe, eben der Tat des Menschen, die anderes alsHbchstes setzt. Mit dieser Katastrophe, dem Siindenfall, den Schelling inder Mythologie nicht weniger belegen kann als in der Offenbarung, be-ginnt der Theogonie erzeugende ProzeB. WAhrend im mythologischenProzeB Seiendes als Hbchstes genommen wird, ringt die Offenbarungdamit, den seienden Willen des Gottes als Hbchstes zu nehmen. Von derStufe des Zabismus, die unbestimmtes Seiendes verehrt, befreit Dionysos,den Schelling, durch Herodot gestiitzt (vgl. XIII, 391), gleich am Anfangals befreiendes Prinzip in der Mythologie erkennt. Die erste Befreiungvom unbestimmt-realen Gott ist die Verehrung bestimmter Sterner danndie der zerreil3baren Gottheiten, der Agyptische Typhon z.B. oder die dersich wandelnden Gottheiten, wie der phbnizische Melkarth oder Hera-kles. Im Polytheismus der griechischen Mythologie triumphiert der be-freiende Gott, der in den Mysterien sogar von diesem Polytheismus durcheinen Ausblick auf einen zukiinftigen Dionysos befreit, der freilich ge-heim bleiben multe: "Nirgends," schreibt Schelling, "war weniger reli-gidser Zwang als in Griechenland. Frei auf3erte sich der Grieche fiber dieVerhaltnisse, fiber die Eigenschaften, besonders die moralischen seinerGotter; niemand ist zu den Mysterien gendtigt ... und nichts wehrt selbstdeco den Mysterien Abgeneigten these Abneigung zu l ufiern und, wenn nurdas eigentliche Geheimnis nicht entweiht wird, fiber die bekannten Einzel-heiten derselben sogar zu spotten. Nur im Angesicht der noch waltendenund gegenwlrtigen Gotter durfte die zukfinftige absolut befreiende Reli-gion nicht ausgesprochen, nicht gegeniiber vom d f fentlichen Leben berfihrtoder geltend gemacht werden; denn dieses und mit ihm die ganze Existenzdes Staates beruhte auf der fur die Gegenwart unantastbaren Realitat derangenommenen Cotter. Aus diesem Grunde wurde die Verdffenilichungdes Mysteriengeheimnisses als ein Angriff auf den Staat selbst an-gesehen." (XIII, 512).Freiheit ist unsere Gottheit. - Niemand unter Schellings Horern konntedenken, dal die bffentliche Rede von der Ankunft dieses Gottes nichtauch von dem Staat als Angriff empfunden werde, dessen Thron formellnoch der Gott der Gnade stbtzte, real aber in den konstitutionellen Re-formen bereits bei der Gottheit Vernunft eine Begriindung suchte.

Der mythologische ProzeI3, der in der Mysterienlehre mit dem Ausblickauf einen zukiinftigen Gott sich von den herrschenden Gbttern befreite,war nur das Wiedergewinnen der Freiheit als Hbchstem, soweit dieses vonseiten des menschlichen Bewuf3tseins in der Verehrung real seienderGottheiten mbglich ist (vgl. XIII, 378). Die wahre Mbglichkeit erbffnetrich daher erst mit einer neuen gbttlichen Tat in der Geschichte der

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Offenbarung. Diese Tat findet als wesentliches Ereignis in einer zu-falligen Welt statt, die nicht weniger unter die Aulerlichkeit des seiendenGesetzes sich gebeugt f0hlt als das Heidentum unter die reale Machtseiner Glitter (vgl. XIV, 89). Mit der Erscheinung Christi enden Heiden-und Judentum. Christus ist als vollkommener Mensch das, was in derSchopfung sein sollte. Der selbst sein Leben zu verlieren and es wiederzu nehmen Macht habende, will den Willen des Vaters, will eben dieGottheit als Freiheit and erlt st so von der in Mythologie and Judentumnachgewiesenen Katastrophe, anderem als Gottheit zu verfallen. "DasEvangelium ... ist das vollkommene Gesetz der Freiheit ... In Christo starbdie ganze kosmische Religion." (XIV, 239). Das Christentum nenntSchelling eine Sache (vgl. X, 197). Eine Sache bleibt, wie immer dieLehre sich wandelt (vgl. XII, 648). Mit dem Christentum, der Sache dieChristus zum Inhalt hat, ist dem Menschen wieder die Freiheit erworben,die Moglichkeit eines unmittelbaren Bezugs zu der Gottheit, die rein soll(vgl. XIV, 205): Freiheit; aber eben nur die Moglichkeit, die in die Welttritt and in den Stufen der Kirchengeschichte existiert, als deren ZielSchelling angibt, die "Zeit, wo das Christentum Gegenstand allgemeinerErkenntnis geworden, wo es ... nicht als Staatsreligion, ..., sondern alsReligion des Menschengeschlechts [ist], das in ihm zugleich die hochsteWissenschaft besitzt (XIV, 328). "Anders", schreibt Schelling, "anders alsso kann das Christentum nicht mehr des Deutschen sein...wir konnen es nurso oder gar nicht mehr als unser achten." (ebda.). Das ist ein eindeutigerAusblick auf gewollte wissenschaftliche Religion, die nicht existiert, abersein soll. Trotzdem spricht Schelling am Ende der Philosophie der Offen-barung konsequent nur von Johanneischer Kirche, eben weil die nach-geschichtliche Kirche nur als Zukunft in den Aon fallt, den die Philoso-phie der Offenbarung zu begreifen hat. (vgl. XIV, 298 and 321). Aberwie die Philosophie der Mythologie die Geburt des befreienden Gottes,des dritten Dionysos, als Zukunft in den Mysterien nachweist, ist in derPhilosophie der Offenbarung der Gott zukiinftig, der in einem Sollengesetzt ist, das nur allgemeines sein kann: "Freiheit ist unser Hochstes,unsere Gottheit, these wollen wir als letzte Ursache aller Dinge", also auchals Ursache der Mythologie and der Offenbarung (vgl. XI, 260). Keineandere Gottheit kann gemeint sein, wenn Schelling am 30. Dez. 1849 anMaximilian 11. von Bayern schreibt: "Nicht: die Republik - oder: die kon-stitutionelle Monarchie - sondern - Dein Reich komme! ist das Gebet desDeutschen".'b)Wenn Schelling die Religion seiner Epoche schon eine Religion der Frei-heit nennt, ist ihm das allein durch den wissenschaftlich-allgemeingulti-gen Nachweis gestiitzt, da( die von ihm historisch nachgewiesene Evolu-

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tion von Mythologie and Offenbarung, Freiheit, die seinsollendeGottheit, als Anfang and Ende verbiirgt. Die positive Philosophie, die dasgewollte Hdchste per posterius erweist, umgreift insofern Mythologie andOffenbarung, will Freiheit als Anfang and Ende.

Schellings Sohn hat es zu verantworten, dat noch immer viele27) lesen'dasChristentum ist die freie Religion, die Religion des Geistes', wo Schellingden historischen Proze8 betonend schrieb, "aber auch nur vermittelt istdurch das Christentum die freie Religion, nicht unmittelbar durch dasselbegesetzt." Durch these Verwechselung haben Vorstellungen, die anderes alsFreiheit mit dem Namen Gottes verbanden and ein Christentum, das "soalt als die Welt" ist (XIII, 136), nicht denken wollten, schismatische Pro-bleme in der Schellinginterpretation geschaffen. Am Ende einer Tradi-tion, die gewohnt war, nur an seiendes oder allenfalls noch nicht seiendesAbsolutes bei dem Wort Gott zu denken, - am Ende einer allegorischeEpoche -28) war die Versuchung freilich grot, den Satz: "Freiheit ist unserHochstes, unsere Gottheit", nur als eine Metapher zu lesen. Gemeint istvon Schelling aber eindeutig die "freie Religion, die Religion des Geistes,die, weil es ihre Natur ist nur mit Freiheit gesucht and mil Freiheit gefun-den zu werden, nur als philosophische sich vollkommen verwirklichenkann." (vgl. XIII, Einl., S. XI and XI, 258, 255, auch XIII, 194). Freiheit,unsere Gottheit, wird also nicht nur durch ihre Zeugung aus reiner Ver-nunft gerechtfertigt, sondern auch dadurch, data sie alle fr0herenGottheiten in ihre historische Stelle weist. "Freiheit ist unser and derGottheit Hochstes," heist es in der Urfassung, die ich in Kiirze heraus-geben werde.29) Freiheit ist die deontische Materie, die erlaubt, den realenhistorischen Erscheinungen der Religion Einheit zu geben, zusammenzu-fassen - eben die neue Gottheit, die sein soil, 'Existenz' wdre hier wohlein zu geringes Pr$dikat. 1830, in der Einleitung in die Philosophie, for-mulierte Schelling: "Ich bin, der ich sein will, kann nur der sagen, der auchvon seiner Gottheit frei ist." Zum Erschrecken seiner Zuhorer30), setzteSchelling hinzu: "In dem zuerst angenommenen Sein, ist nun Gott freilichnicht als Gott; indessen konnen wir dennoch auch nicht sagen er ist nichtin dernselben, so ist auch Brutus, in der Verstellung, gegen die Tyrannenseines Vaterlandes, freilich nicht als Brutus.i32). Nichtsosehr das blasphe-mische dieses durch Bezug auf Freiheit reizvollen Vergleichs, als viel-mehr die These verwunderte wohl, daf Gott im Prozef von Mythologieand Offenbarung per contrarium erscheint, denn Schelling betonte in derfolgenden Vorlesung ausdriicklich: "Dieser Gedanke ist der einzig wahr-haft erkldrende" (S. 113). Er erklart aber wohl nur, wenn Freiheit alsGottheit gewollt ist. Auch der L bergang in die positive Philosophie, das

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Ziel einer philosophischen Religion, huldigt also der aufrichtigen Ju-gendthese Schellings: Das A and O aller Philosophie ist Freiheit - demneuen a est et . "Gottes Werke", sagt Schelling in der zitierten Urfassung,"sind in ihrer Intention and in ihrer ersten Anlage nicht von der Art, dafter ihrer vergessen konnte. Was Gott im Anfange wollte, will er auch amEnde," 33> and in dieser Hinsicht ware wohl auch Schelling 'gdttlich' zunennen.

Abschlielend mdchte ich Worte von Thorbecke hinzufugen, derenKenntnis ich Ihrer freundlichen Einladung and der Aufmerksamkeit vonWim van Dooren verdanke. Fur Thorbecke war die von mir eingangsignorierte Jahreszahl 1821 wohl ein sehr wichtiges Datum, denn er no-tierte im August 1821: "De dag van heden heeft mij en genot gegeven, alsweinige. Heden morgen leerde ik Schelling kennen. Dit is genoeg ge-zegd ."3a>

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Anmerkungen

1. Vergl. Ehrhardt, W.E., 'Nur ein Schelling', in: Studi Urbinati, 51 B 1977.

2. Vergl. Kroner, R., Yon Kant bis Hegel. Tubingen 1921-24, Bd. IT. S. 464.

3. Vergl. Jacobs, W.G., Zwischen Revolution and Orthodoxie? Stuttgart1989.

4. Vergl. Ehrhardt, W.E., Schelling Leonbergensis and Maximilian II. vonBayern, Schellingiana Bd. 2, Stuttgart 1989.

5. Stuttgart, 1976 f.

6. Schelling, F.W.J.,Das Tagebuch 1848, hrg. v. H.-J.Sandkuhler, Hamburg1990.

7. Kroner, R., a.a.O. Bd. I, S. 535.

8. Schelling, F.W.J., Sammtliche Werke. Hrg. v. K.F.A. Schelling, Stuttgart1856-61, werden wie ublich hier verki rzt zitiert als I-XIV, n. arab.,wobei die 2. Abt. I-IV als XI-XIV gezahlt wird.

9. Vergl. l.c. Ann. 29, S. NN.

10. l.c. Anm. 6, Einleitung S. XXXIII.

11. Vergl. Kant, I., Kr.r.V., A 445.

12. Kr.pr.V., S.56.

13. Vergl. hierzu: Ehrhardt, W.E., 'F.W.J. Schelling: Die Wirklichkeit derFreiheit'. In: Grundprobleme der groflen Philosophen - Philosophie derNeuzeit H. Hrsg. v. J. Speck, G6ttingen, 3. Aufl., 1988, S.116 ff.

14. Vergl. X, 93.

15. Runge, Ph.O., Hinterlassene Schriften, Gbttingen 1865, Bd. I, S.157.

16. Schelling, F.W.J., Ober das Verhaltnis der bildenden Kiinste zu der Natur.Hrsg. v. L. Siborsky Hamburg 1983. Vergl. auch l.c. Anm. 13. S.122 f.

17. Vergl. Einl. des Hrsg. S.VII, in: Schelling, F.W.J., Vorlesungen fiber dieMethode (Lehrart) des akademischen Studiums. Hrsg. v. W.E. Ehrhardt,Hamburg, 2. Aufl., 1990. H. Glockner editierte 1954 these Vorlesungenunter dem Titel: Studium generale.

18. a.o.O., S.128 (=V, 235).

19. a.o.O., S.127 (=V, 241).

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20. Die im deutschsprachigen Raum wohl unvermeidliche Assoziation zuWerner Bergengruen's Gedicht Kaschubisches Weihnachtslied bietet Ge-legenheit, die Distanz des mit Kant beginnenden von alien biirgerlichenFreiheitsvorstellungen zu betonen. Eine Philosophie, die Freiheit alsHochstes will, kann nicht von beschrankenden Definitionen der Frei-heit ausgehen, z.B. republikanischen. Schelling betont: "bis zur Ent-deckung des Idealismus fehlt der eigentliche Begriff der Freiheit in alienneuern Systemen, im Leibnizischen so gut wie im Spinozischen; and eineFreiheit, wie sie viele unter uns gedacht haben, die sich noch dazu deslebendigsten Gefiihls derselben ruhmen, wonach sie ndmlich in der blo-Ben Herrschaft des intelligenten Prinzips uber das sinnliche and dieBegierden besteht, eine solche Freiheit liele rich, ..., auch aus demSpinoza noch herleiten." (VII, 345).

21. Ob das Tatsachliche der Pflicht oder die rich als urspri nglich gesetz-gebend ankiindigende Vernunft die Geburt einleitete, mag bezogen aufKant offen bleiben. L ber die Akzentuierung in der mit Fichte einsetzen-den Tradition, die Schelling als Revolution (vgl. I, 400) empfand, bestehtindes kein Zweifel. Wie sehr das Ereignis der Freiheit von Kbnigsbergand Paris identifiziert werden konnte, hat J. Manninen sehrliberzeugend an der Rezeption in Schweden dokumentiert.

22. Daher "liegt in dem Idealismus selbst etwas Weltveranderndes" (XI,466), - ein Sachverhalt, den Schelling der Logik and alien negativen oderregressiven Ansdtzen abspricht (vgl. X, 153 and XIII, 26). Zu dempostulativen des Prinzips ist such an I, 448f zu erinnern.

23. Ausf0hrliche Skizzen gibt Xavier Tilliette, La mythologie comprise,Napoli 1984. Vgl. auch Schellingiana Bd. 2, S. 34ff. (1.cAnm. 4), wo einvon Schelling selbst revidiertes Resumme seiner Philosophie ver6ffent-licht wurde.

24. Die wichtige Frage nach der zeitlichen Reihenfolge oder Trennbarkeitvon Vernunft and Freiheit, beantwortet rich hier schon dadurch, dag furden theogonischen ProzeR iiberall die Aufgabe besteht, die Ewigkeit derGottheiten mit ihrer Reihenfolge zusammenzudenken. Auch for dieOffenbarung betont Schelling das Hinaufreichen des Sohnes in den An-fang (vgl. XIV, 48).

25. " ... der Gott einer wahrhaft geschichtlichen and positiven Philosophiebewegt sich nicht, er handelt." (XIII, 125).

26. Schellingiana Bd. 2, S.86. (1.cAnm.4). Vgl. a. XI, 260.

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27. So ist z.B. die Formulierung "Diese Philosophie wollte religidse, wolltechristliche Philosophie rein" in unserer Zeit eher geeignet, Vorurteile zuerzeugen oder zu erhalten, als den Zugang zu Schellings Philosophie zueroffnen. (vgl. H. Fuhrmans, 'Einleitung', S.49, in: Schelling, F.WJ.,Grundlegung der positiven Philosophie, hrsg. v. H. Fuhrmans, Torino,1972). Vgl. XIII, XI u. XI, 258.

28. Zu Schellings Er1 tuterung dieses Begriffes vgl. V, 407.

29. Schelling, F.W.J., Urfassung der Philosophie der Offenbarung, Hamburg1992, Vorl. 83.

30. Schelling, F.W.J., Einleitung in die Philosophie. Hrsg. v. W.E. Ehrhardt.Schellingiana Bd. I, Stuttgart 1989, S.106.

31. Vergl. Tilliette, Xavier, Schelling im Spiegel seiner Zeitgenossen. Torino1974f. Bd. I, S.336ff.

32. 1.cAnm. 30, S.107.

33. 1.cAnm. 29, S. NN.

34. Thorbecke op de romantische tour. Samenstelling en toelichting: G.J.Hooykaas, Amsterdam 1991, S.35.

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