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EINLEITUNG * Die heute selten gewordene und f¨ ur weitere Kreise verschollene Geschichte der Al- chemie von Karl Christoph Schmieder (1832) geh¨ ort trotz ihres vielfach veralteten Inhaltes und der mangelhaften Kritik der Quellen zu den dauernd wertvollen Werken des historisch-chemischen Schrifttums, wertvoll immer noch als Quellensammlung, wertvoll als Bekenntnis alchemistischer Weltanschauung und ihres Irrtums, die hier in systematisch klarer und geschichtlich unterbauter Weise vorgetragen werden. In Be- zug auf Eigenart und Materialienreichtum – allerdings die Geschichte der gesamten Chemie betreffend – kann mit diesem Buche nur das alte, heute gleichfalls l¨ angst ver- gessene dreib¨ andige Werk von Johann Friedrich Gmelin, das 1797 bis 1799 erschienen ist, verglichen werden. Schmieders Historie geh¨ ort zu den grundlegenden B¨ uchern der Geschichte der Chemie, die man ihren Klassikern“ zuzuz¨ ahlen Berechtigung hat. Sie war das unentbehrliche Nachschlagewerk f¨ ur den Chemiker, Philosophen, Histo- riker und Antiquar, man hat es unz¨ ahligemale zitiert, verglichen und ausgeschrieben. Der gelehrte Verfasser ist theoretischer Alchemist. Er hat sich nach mancherlei wis- senschaftlichen Entscheidungen und seelischen Konflikten immer wieder zum uralten Irrtum der Alchemisten durchgerungen“ und an ihm eine Welt h¨ oheren Seins erlebt, die ihm zu der großen Illusion einer metaphysischen Grundlegung der Chemie und Lebenswissenschaften wurde. Vielleicht ist Schmieder ¨ uberhaupt der erste Historiker der Naturwissenschaften gewesen, der ¨ uber die Enge seines Stoffes, also weit ¨ uber die Grenzen der Geschichte der Alchemie und Chemie, mit einer inneren Beteili- gung metaphysisch-historischer Art das tote Material anpackt und zu Geschichte und geschichtlichem Bewußtsein steigert. Er sieht die Alchemie in die Entwicklung des inneren Menschen und, lie als geistige Welt phantasievoll und gem¨ uthaft nacherlebend, versucht er es, die ersten ideengeschichtlichen Zusammenh¨ ange zu ertasten, wie sie sich vor allem auch in der mythischen Phantasie und in metaphysischen Spekulationen verbergen. Schmieder glaubte an die Transelementation oder Transmutation, er vertrat als Gelehrtcr und Geschichtsschreiber alchemistisch das Dogma von der Verwandlung des unedlen Metalles in edles, er stak tief in diesem viele Jahrhunderte ¨ uberdauernden Irrtum und gab ihm metaphysische Gr¨ oße. Er sprach ohne mystischen Gr¨ oßenwahn. Er lehnte allen groben Aberglauben ab und verzichtete vor allem auf die vermeintli- chen heilkr¨ aftigen und lebenverl¨ angernden Wirkungen der alchemistischen Zuschl¨ age, Endprodukte, Liquida und Qualit¨ aten. Er glaubt an die ideelle und reale Zerlegung der Dinge. Die erstere ist die metaphysische Methode, die letztere ist die Kunst des Alchemisten. Schmieders Ueberzeugung ist, daß es ein chemisches Pr¨ aparat g¨ abe, durch welches andere Metalle in Gold verwandelt werden k¨ onnen, das in mancherlei Formen und verschiedenen Qualit¨ aten (Vollkommenheitsgraden) darstellbar ist. Aber es g¨ abe auch ein chemisches Pr¨ aparat, durch welches andere Metalle, auch Gold, in Silber verwandelt werden k¨ onnen. Daß diesen gewonnenen Produkten auch eine große Heilkraft innewohne bezweifelt er. Das ist die Tendenz des Buches. An der Geschichte demonstriert er seine alchemistische Weltanschauung. Aus diesem Werke kann man zur Gen ¨ uge ersehen, wie lebensm¨ achtig und geistig aktiv noch die alchemistische Idee zu Schmieders Zeit gewesen ist. Das einst viel gelesene Buch erschien im Todesjahr Goethes! In ihm ist der uralte Gedanke wieder unmittelbar Sch¨ opfung geworden und * Karl Christoph Schmieder, Geschichte der Alchemie, hrsg. und einegeleitet von Franz Strunz, 1927, S. 7 – 28.

Schmieder Geschichte Der Alchemie 1927 [1832] Einleitung

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Einleitung zu Karl Christoph Schmieder, Geschichte der Alchemie, hrsg. und einegeleitet von Franz Strunz, 1927

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EINLEITUNG*

Die heute selten gewordene und fur weitere Kreise verschollene Geschichte der Al­chemie von Karl Christoph Schmieder (1832) gehort trotz ihres vielfach veraltetenInhaltes und der mangelhaften Kritik der Quellen zu den dauernd wertvollen Werkendes historisch­chemischen Schrifttums, wertvoll immer noch als Quellensammlung,wertvoll als Bekenntnis alchemistischer Weltanschauung und ihres Irrtums, die hier insystematisch klarer und geschichtlich unterbauter Weise vorgetragen werden. In Be­zug auf Eigenart und Materialienreichtum – allerdings die Geschichte der gesamtenChemie betreffend – kann mit diesem Buche nur das alte, heute gleichfalls langst ver­gessene dreibandige Werk von Johann Friedrich Gmelin, das 1797 bis 1799 erschienenist, verglichen werden. Schmieders Historie gehort zu den grundlegenden Buchernder Geschichte der Chemie, die man ihren ”Klassikern“ zuzuzahlen Berechtigung hat.Sie war das unentbehrliche Nachschlagewerk fur den Chemiker, Philosophen, Histo­riker und Antiquar, man hat es unzahligemale zitiert, verglichen und ausgeschrieben.Der gelehrte Verfasser ist theoretischer Alchemist. Er hat sich nach mancherlei wis­senschaftlichen Entscheidungen und seelischen Konflikten immer wieder zum uraltenIrrtum der Alchemisten ”durchgerungen“ und an ihm eine Welt hoheren Seins erlebt,die ihm zu der großen Illusion einer metaphysischen Grundlegung der Chemie undLebenswissenschaften wurde. Vielleicht ist Schmieder uberhaupt der erste Historikerder Naturwissenschaften gewesen, der uber die Enge seines Stoffes, also weit uberdie Grenzen der Geschichte der Alchemie und Chemie, mit einer inneren Beteili­gung metaphysisch­historischer Art das tote Material anpackt und zu Geschichte undgeschichtlichem Bewußtsein steigert. Er sieht die Alchemie in die Entwicklung desinneren Menschen und, lie als geistige Welt phantasievoll und gemuthaft nacherlebend,versucht er es, die ersten ideengeschichtlichen Zusammenhange zu ertasten, wie siesich vor allem auch in der mythischen Phantasie und in metaphysischen Spekulationenverbergen. Schmieder glaubte an die Transelementation oder Transmutation, er vertratals Gelehrtcr und Geschichtsschreiber alchemistisch das Dogma von der Verwandlungdes unedlen Metalles in edles, er stak tief in diesem viele Jahrhunderte uberdauerndenIrrtum und gab ihm metaphysische Große. Er sprach ohne mystischen Großenwahn.Er lehnte allen groben Aberglauben ab und verzichtete vor allem auf die vermeintli­chen heilkraftigen und lebenverlangernden Wirkungen der alchemistischen Zuschlage,Endprodukte, Liquida und Qualitaten. Er glaubt an die ideelle und reale Zerlegungder Dinge. Die erstere ist die metaphysische Methode, die letztere ist die Kunst desAlchemisten. Schmieders Ueberzeugung ist, daß es ein chemisches Praparat gabe,durch welches andere Metalle in Gold verwandelt werden konnen, das in mancherleiFormen und verschiedenen Qualitaten (Vollkommenheitsgraden) darstellbar ist. Aberes gabe auch ein chemisches Praparat, durch welches andere Metalle, auch Gold, inSilber verwandelt werden konnen. Daß diesen gewonnenen Produkten auch eine großeHeilkraft innewohne bezweifelt er. Das ist die Tendenz des Buches. An der Geschichtedemonstriert er seine alchemistische Weltanschauung. Aus diesem Werke kann manzur Genuge ersehen, wie lebensmachtig und geistig aktiv noch die alchemistische Ideezu Schmieders Zeit gewesen ist. Das einst viel gelesene Buch erschien im TodesjahrGoethes! In ihm ist der uralte Gedanke wieder unmittelbar Schopfung geworden und

* Karl Christoph Schmieder, Geschichte der Alchemie, hrsg. und einegeleitet von Franz Strunz, 1927,S. 7 – 28.

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gibt dem Lebensgefuhl eines großen, aber wurdevollen Irrtums der vergangenen Wis­senschaft klaren, ja systematisch Ausdruck. Schmieder arbeitet im ubersichtlichen Stildes Enzyklopadisten und Pansophen. Man denkt an die Klarheit der Physica von Joh.Amos Comenius, an naturkundliche und medizinische Lehrbucher einer padagogischund didaktisch gerichteten Zeit. Es sind nicht Gedankensysteme und Gedankenprapara­te, die nur in willkurlichen Ausstellungen und als theoretische Produkte der fubjektivenNeigung bestehen. Man fuhlt bei diesem ernsten Mann, daß es fur ihn die Wahrheit ist.Redlich und rucksichtslos tritt er fur sie mit dem Reichtum seiner Gelehrsamkeit ein.Es ist ferner reizvoll, zu beobachten, wie er seinem Erleben Gestalt gibt und sich muht,Alchemie und chemische Wissenschaft in einer hoheren Einheit zu versohnen.

Wie man uber Religion nur im religiosen Sinne nachdenken und urteilen kann – nurder religiose Mensch vermag fuhlbar zu machen was Religion ist – so ist es vielleichtvon Bedeutung auch uber Alchemie ein altes bewahrtes Buch zu besitzen, das im al­chemistischen Sinne erlebt, nachdenkt und urteilt. Nur so kann man den Irrenden undden Punkt seiner seelischen Blindheit deutlicher sehen. Auch die Alchemie wurzeltmit ihren letzten, feinsten Wurzelfasern im Reiche des Gemutes und Gewissens, in Er­lebnissen, Wertschatzungen und Willensrichtungen, die aus dem inneren Lebendigseinkommen und nicht Gotzendienst toter Begriffe find. Der Alchemist verliert sich amEnde in die schwindelerregende Weite der Umschau, er zerbricht an der Große seinesWollens. Er sieht falsch und hofft Unmogliches, seine Beobachtung ist ungenugend.Vielleicht gehort das zum Gestaltenwandel menschlichen Geistes, vielleicht ist derIrrtum nur die Hulle fur Wahrheiten, die ihrer Auferstehung harren – so wie die Ju­gend eine schicksalgewollte Lebensmacht ist, die irren, verklaren, ahnungsweise dieWahrheit erfuhlen muß. Was umhullt nicht an Geheimnisvollem und Werdendem derGlorienschein der Jugend! Hat doch Friedrich Nietzsche davon gesprochen, daß manin gewissen Jahren des Lebens ein Recht habe, Dinge und Menschen falsch zu sehen– ”Vergroßerungsglaser, welche die Hoffnung uns gibt“. Im Alchemisten, ich meineden philosophischen und metaphysischen Kopf, steckt der Bekenner, der Apostel, oftauch der verborgene oder offene Fanatiker. Auch in den gelehrtesten Vertretern die­ser naturphilosophischen und metallurgischchemischen Kunfr lebten die Sehnsucht undRomantik. Die Alchemie steht in der Geschichte einer enthusiastischen und mystischenBewegung. Erlosung, Erleuchtung, Vergottung, Himmel und Holle sind laut oder leiseumredete oder gefuhlte Zustande der Seele. Den Akzent von Glaubensfanatismus undexklusivem Sektendogmatismus haben alle Gesinnungsgemeinschaften, Zirkel, Logen,Ketzergemeinden religioser Art, die sich zur Alchemie bekannten. Immer war sie aucheine Philosophie des Stoffes und eine phantasievolle Deutung seiner Konfiguration,den Blick auf das letzte große Ziel einer Metaphysik gerichtet, die sich zur Lehre vomZusammenhange des Kosmos, der Planeten und von allem Lebendigem und Unlebendi­gem der Erdoberflache bekannte. Das Weltall ist ein Lebewesen! Auch die Alchemistensind Universalvitalisten. Ihre Lehre ist mehr als die allegorische Verbramung metall­urgischer Technik. Das vom Handwerk und Legierungsverfahren Losgeloste, die vonder Goldmacherkunst abgeloste Idee, ihr eigentlich Transzendentes und metaphysischRichtungweisendes war ihre geistige Macht.

Schmieder’s Werk geben wir unverandert und ohne wissenschaftlich­kritischen Ap­parat wieder. Es vertragt keine ”Verbesserung“. Sie kame einer Zerstorung oder einervollig fremden, neuen Arbeit gleich. Schmieders Geschichte der Alchemie ist furden Historiker der Naturwissenschaften ein Literaturdenkmal. Sie ist eine individu­elle Leistung, ein Bekenntnisbuch mit seiner besonderen personlichen Eigenheit und

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eigentumlichen Struktur des Geistes. Fast wie die wissenschaftliche Autobiographieeines Gelehrten mutet sie uns an, eine Geschichte des Selbstbewußtseins und der Pro­duktion geistiger Kampfe, Irrungen und Ueberzeugungen. Jedes Buch folcher Art istein Rechenschaftsbericht und hat sein personliches Erlebnis. Das Prinzip der geistigenEntwicklung des Verfassers tritt deutlich hervor. Das Buch wird zum Selbstbericht.

Um Schmieders Geschichtswerk auch wissenschaftlich und kritisch verwerten zukonnen bedarf es naturlich des gleichzeitigen Studiums unserer neuen und neuestenchemisch­historischen Arbeiten: allen voran der Forschungen von Edmund O. vonLippmann, dem hervorragendsten Historiker der Chemie uberhaupt, dann der vonHermann Kopp, M. E. Chevreul, Hoder, Marcelin Berthelot; Ruelle, Duval und Houdas(den drei wichtigften Helfern und eigentlichen Forderern Berthelots), Alexander Bauer(Wien), E. Wiedemann, G. W. A. Kahlbaum, Ernst von Meyer, Hermann Diels, KarlSudhoff, E. Reitzenstein, Emanuel Radl (Prag), Ernst Darmstaedter, Julius Ruska,Paul Diergart, G. Lockemann, Rudolf Zaunick, Herbert Silberer, Otto Zekert u. a.Von der alten Literatur bleiben immer noch die reichhaltige Geschichte der Chemievon J. F. Gmelin, die ehrwurdigen Quellenwerke der beiden Scaliger, des Casaubonus,Salmasius (Saumaise), ferner die Bucher von Borrichius, Cardanus, Conring, Joh. AmosComenius, Rulandus, Morhof u. a. unentbehrlich. Sie alle gehoren zum Ruftzeug desHistorikers der Chemie und NaturwssTenschaften uberhaupt.

Es ist nicht Aufgabe dieser einleitenden Worte eine ausfuhrliche Entwicklung derAlchemie und ihrer Probleme im Sinne der heutigen kritisch­vergleichenden Forschungdarzustellen. Nur in wenigen Strichen seien ihre großen Epochen und der Gestalten­wandel ihres ideegeschichtlichen Zusammenhanges angedeutet.1

Das schon fruhzeitig gebrauchte Wort Alchemie geht auf das griechische wgleÏa (che­meia) und das arabische Prafix al zuruck. wgleÏa oder wglÏa wird meist mit demalten Namen Aegypten chemi zusammengebracht und daher auch von einer ”agyp­tischen Kunst“ gesprochen. Eine andere Ableitung ist von dem agyptischen Wortchame ”schwarz“ (schwarze Kunst), wonach Chemie ”Bereitung der Schwarze“ oder

”Beschaftigung mit dem Schwarzen“, ”Verfahren zur Bereitung des Schwarzen“ (einesschwarzen Praparates d. h. des Urstoffes) bedeuten foll. ”Cheme“ ist kein griechischesWort, sondern Fremdwort. Es findet sich das erstemal bei dem griechisch schreibendenZosimos von Panopolis in Aegypten (3. Jahrhundert nach Christus): die Kunst wglÏaoder wgleÏa. Der Versuch das Wort aus wËy, wÓy, we§la, w§la (Schmelzung, Fluß,Metallguß, Kunst des Metallgusses) abzuleiten, ist ebenfalls unternommen worden.Heute gilt als wissenschaftlich richtige Erklarung die folgende: wgleÏa oder wglÏa istein a l c h e m i s t i s c h e r Fachausdruck oder Terminus, der aus den Kreisen helleni­stischer Alchemisten stammt und von hier zu den Syrern und Arabern ubergegangenist. Unter Alchemie verstand man immer schon Goldmacherei und zwar ursprung1ich

1 Vgl. mein demnachst erscheinendes Buch: Astrologie, Alchemie und Mystik. Ein Beitrag zur Ge­schichte der Naturwissenschaften. Munchen­Planegg 1927 (Otto Wilhe1m Barth­Verlag), wo im dasNahere ausgefuhrt und die Literatur ubersichtlich zusammengestellt habe. Auch weise im auf meinefruheren Publikationen, vor allem auf meine Bucher A1bertus Magnus. Weisheit und Naturforschungim Mittelalter, Wien­Leipzig 1926 (Verlag Karl Konig); Paracelsus, Leipzig 1924 (Verlag H. Ha­essel); Die Vergangenheit der Naturforschung, Jena 1913 (Verlag Eugen Diederichs); Geschichteder Naturwissenschaften im Mittelalter, Stuttgatr 1910 (Verlag F. Enke), ferner auf unsere deutscheAusgabe von Marcelin Berthelots Chemie im Altertum und Mittelalter, Wien­Leipzig 1909 (VerlagFranz Deutike).

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die tauschende und betrugerische. Im Worte wgleÏa steckt uberhaupt ein Wortsinn wieFalscherei, sprachlich verbirgt sich, wie bereits erwahnt, in diesem g r i e c h i s c h e nFremdwort die agyptische Wurzel keme oder kemi = das Schwarzerdige, das Schwarz­land, Aegypten. Im Spatlateinischen heißt aegypticum = schwarz. Der Name der alche­mistischen Technik wurde erst spater mit dem anklingenden des Landes Aegypten inVerbindung gebracht.

Fur das Verstandnis der Geschichte der Chemie des Mittelalters und ihre Fortent­wicklung bis in die beginnende Neuzeit ist die aristotelisch­scholastische Lehre von denWandlungen der Materie bedeutsam. Ihre Grunduberzeugung wurzelt nicht in der An­nahme eines außeren synthetischen Aufbaues, sondern in der Existenz einer Mischungvon Stoffen, in welcher dieselben keineswegs mehr in ihren fruheren Eigenschaftenvorhanden sind, sondern uberhaupt neue Stoffe oder substanzielle Formen (die ersteMaterie oder Hyle als Prinzip bleibt allerdings unverandert) geworden sind. Hier liegtauch der Weg zur Entelechie des Goldes, den die Alchemistcn und Naturphilosophenso schicksalsreich gesucht haben. Wie aktiviert man aber diese Entelechie? Darauf hatdie Alchemie mit der Praxis geantwortet: durch Zuschlag oder Zusatz einer farben­den Qualitat (Merkurius der Philosophen, Stein der Weisen, Elixier, rote Tinktur u. a.).Auch sind nach aristotelischer Meinung einige Dinge nicht genau fixiert; sie schwankenzwischen einem Sein hin und her: sie sind kaum bemerkbar mischungsfahig. Das eineist aufnehmender Stoff, das andere Form. Das Zinn verschwindet z. B. in der Kupfer­Zinn­Legierung vollig, gleich einem stofflofen Zustand des Kupfers und entflieht imStadium der Mischung, und zwar dann, nachdem es dem Kupfer nur eine F a r b u n ggegeben hat.

Es kann nicht geleugnet werden, daß auch schon die aristotelischen Theorien uberEntstehen und Vergehen nicht immer frei von inneren und außeren Widerspruchensind, was eine einwandfreie historisch­chemische Deutung wesentlich erschwert. SeineLehre von der Substanz, von den bewegenden und stofflichen Ursachen, vom Artdingund Einzelding u. a. gewinnt dadurch nicht an Einheitlichkeit und Geschlossenheit.

Gibt es ein chemisches golderzeugendes Praparat (sei es nun ein Liquidum oderfester Korper), wodurch andere Metalle in echtes und bestandiges Gold verwandeltwerden konnen? Hat ein folcher ”mercurius philosophorum“, ”Stein der Weisen“,die ”rote Tinktur“, ”die große Panazee“, das ”große Werk“, der ”rote Leu“, ”dasgroße Magisterium“, ”große Elixier“ oder wie man es fonst noch nannte, nicht nurdas Vermogen Gold zu ”tingieren“, sondern auch als eine Wunderarznei, als eine Pa­nazee des Lebens (Universalheilmittel) zu wirken? Gibt es solche Mittel, das Lebenzu verlangern und es zu verjungen? Die inneren Bedingungen dieser Doktrin lagenfreilich auf dem Wege der Praxis, und die aristotelische Fassung siellt in einer ge­wissen Beziehung nur den theoretischen Ausklang vor. Die Geschichte der antikenMetallurgie – insbesondere der Bronzedarstellung – weist auf weit zuruckliegende Zei­ten. Schon um 2500 vor Christus kannte man Bronze. Diese ”theorielose Alchemie“war der Ausdruck eines instinktiven Triebes nach Erzeugung von Edelmetallen. Le­gierungsverfahren und Metallfarbung fuhren die alchemistische Praxis herauf. Gewißdurfte Aristoteles der erste sein, der diese praktischen Interessen theoretisch – und zwarphilosophisch – unterbaut hat. Von hier aus stromten dann die akut alchemistischenBegriffe – in den buntesten Aus­ und Umgestaltungen – uber Stoizismus, Epikureismusund Skeptizismus in die religios intereisserten synkretistischen Systeme, beziehungs­weise in die griechisch­alexandrinische Wissenschaft, an die dann die syrischen undbyzantinischen Alchemisten anschließen. Besonders die syrischen Gelehrten sind dann

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die Lehrmeister fur die spatere arabische Alchemie, welche die Idee der alexandrini­schen Naturforschung erweitert und vertieft. Im 12. und 13. Jahrhundert ubernimmtdas Abendland das Erbe, indem sich in Spanien arabische und christliche Kulturkreiseberuhren. So etwa mochte man die Entwicklung vorlaufig im Schema fellhalten.

Gewiß ist die Alchemie nicht die banale und schwindelhafte Goldmacherkunst, vonder diejenigen sprechen, denen die kritischen Kenntnisse der Geschichte der Chemieschlen. Ist das Wesen der Alchemie wirklich die viel verlasterte Praxis, von der Schar­latane und betrogene Betruger lebten? Liegt nicht der alchemistischen Kernidee etwasganz anderes zugrunde als Spielerei, Dilettantismus und verderbte Wissenschaft? Wersich um diese Probleme historisch bemuht, weiß – im vorhergehenden ist ja davondie Rede gewesen – , wie innig ihre Theorie und Praxis mit der großen Entwicklungder antiken Naturphilosophie und den Stammbaumen gewisser geistiger Ideen vomEntstehen und Vergehen, von der Urmaterie, von Mischung und Ineinanderverwand­lung, Transelementation, von dem aktiven und passiven Charakter der Elemente, demGegensatz von Stoff und Form, kurz von den Metamorphosen des Stoffes zusam­menhangen. Aber das nicht allein, aueh die Idee von dem Keimen und der Zeugung,die Zeugungssymbolik und die Herstellung des sogenannten Homunculus (darstellbarmit Hilfe alchemistischer Kunst) gehoren hierher. Darum spricht diese dunkle Praxisvom ”goldenen Menschlein“, Anthroparion (dem Kupfer­Menschlein, Silber­Menschund Gold­Mensch in den Schriften des Zosimos von Panopolis), mannlichen Prin­zip (Schwefel), weiblichen Prinzip (Quecksilber), dem ”Roten“, dem ”Weißen“, der

”weißen Lilie“, ”weißen Blute“ (Quecksilber), von ”Brautgemachern“ (Destillations­und Sublimationsapparaten), dem ”Magen Vulkans“, ”grunem Leu“ (Eisenvitriol),leo ruber (Gold, das Elixier, rote Lilie) u. a. Leider sind auch diese Kapitel der Ge­schichte der Wisschenschaften mit ”modernen“, aber verworrenen Deutungen der

”Geheimwissenschaften“ unnutzerweise und zum Schaden eines klaren historischenVerstandnisses belastet und verdunkelt worden. Neue Forschungen, ich denke hier be­sonders an die Arbeiten von Edmund O. von Lippmann in Halle, fuhren zu wesentlichenAenderungen des geschichtlichen Bildes und tragen dazu bei, die Geschichte der Alche­mie im G e s a m t z u s a m m e n h a n g e der Geschichte der Wissenschaft und Technikzu begreisen. Diese Ansicht hat auch mich in meinen diesbezuglichen Untersuchungengeleitet.

Die Alchemie und mit ihr die Chemie uberhaupt ist aus der Praxis hervorgegangen,und erst aus ihr enstand eine theoretische Disziplin. Es ist gewiß, daß die Alchemieals Praxis ­ trotz all ihrer mythischen Ursprunge und philosophischen Verkettungen –schon in der prahistorischen Bronzezeit und gelegentlich der Herstellung von glanzen­den, goldahnlichen Legierungen lange existierte, bevor eine Theorie dazu erfundenwar, also die Arbeit, diese machtige Kulturwurzel, war zuerst, und zwar als eine Praxis,die aus taglich gepflogenen Handhabungen und aus der Befriedigung von Bedurfnissenhervorgegangen ist. Alle Anfange dieser chemischen Arbeit und Industrie sind dann aufreligiosem Boden ausgestaltet worden. Bei den Aegyptern, Babyloniern und sogar nochin der Fruhzeit der Griechen waren die, die sich mit chemischen Fragen beschaftigten,Priester und Gelehrte in einer Person. So kam allmahlich eine Theorie auf. Besondersdie griechischen Naturphilosophen und dann Platon und Aristoteles wirkten, wie bereitserwahnt, hier grundlegend. Die Alchemistendoktrin von der gegenseitigen Wandelbar­keit geht auf die beiden zuruck. Als aber dann der eigentliche wissenschaftliche Geistder Antike mit dem romischen Reich – nach der uberaus fruchtbaren Detail­ und Expe­rimentalforschung der hellenistischen Zeit, der Epoche des erweiterten Griechentums

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– abzubluhen begann, da waren es wieder die Bedurfnisse des Lebens, die abermalsdas ”Praktische“ in der Chemie vor der endgultigen Vernichtung und Vergessenheitbewahrten, obwohl die theoretische Lehrmeinung dem Zeitalter aus dem Gedachtnisschwand. Eine neue Epoche geistiger Kultur mußte dann wieder von vorn anfangen,um das Alte ein zweites Mal zum eigenen Lebensbesitz zu machen. Das ist dann dieGeschichte der Alchemie im Mittelalter und bis tief in die Neuzeit.

Die e i g e n t l i c h e alchemistische Lehre von der Moglichkeit, Gold und Silberkunstlich darzusiellen, kommt aus dem Alexandria des Hellenismus und Synkretismusin der Zeit zwischen 150 und 400 nach Christus. Die Voraussetzung sind sakraleTechniken der agyptischen Tempelwerkstatten. Ursprunglich wollte man goldahnlicheKorper darstellen, die das edle Metall e r s e t z e n sollten, spater wahnte man Goldselbst zu e r z e u g e n. Am Ende dieser Entwicklung standen nicht nur Hypothesen,Irrtum und Tauschung, sondern spater auch bewußter Betrug von Priesiern, Gauklernund Zauberern.

Auf zwei Wegen ist die Alchemie als Praxis und Theorie ins Abendland gekommen:Erstens die chemische Technik des alten Orients wurde durch das romische Gewerbenach Europa verpflanzt, und zweitens kamen dann die alchemistischen Theorien durchdie Araber uber Spanien. Den einen Hauptpfad erschloß Byzanz und das mit demgriechischen Kaiserreiche viele Jahrhunderte lang in engstem Verbande stehende Un­teritalien; den anderen eroffnete die Eroberung Aegyptens durch die Araber (um 640)und die Aufrichtung arabischer Reiche in Nordafrika, Sizilien, Spanien und Sudfrank­reich. ”Sicher ist, daß die richtigen, in ihren Einzelheiten bisher noch immer nichtgenugend aufgeklarten Entdeckungen des Alkohols im 12. und der Mineralsauren im13. Jahrhundert n i c h t arabischen oder orientalischen Ursprungs sind, sondern okzi­dentalischen, daß aber der ubergang von der Alchemie zur Chemie, der in ihnen schondeutlich zutage tritt, nur als Ergebnis anhaltender und eifriger Beschaftigung mit al­chemistischen Problemen denkbar ist.“ (E. O. von Lippmann.) Gegen Ende des 13.Jahrhunderts gibt die praktische Alchemie Anlaß zu theoretischen Ideen, die sie aufge­stellt hat. Die Arbeit, die Industrie und das Gewerbe stehen im Anfang der Chemie. Hatman doch zum Beispiel auch den Ursprung der Vorschriften der Goldschmiedekunst inden teils richtigen, teils falschen Theorien der Alchemie zu suchen. Freilich die spatereAlchemie schuf sich auch Gesinnungsgemeinschaften mit kultischen Formeln, Begriffe,hinter denen das innige Suchen und Finden, die Steigerung geistiger Utopien, primitiveEkstasen, die Ueberstiegenheiten einer religiosen Erotik, Bekenntniswissenschaft unddie Wunsche der Traume standen. Schon fruh wurde die Alchemie die ”koniglicheKunst“. Aus ihren Tiefen nahmen die Eingeweihten die Deutungen fur den innerstenMenschen, fur das Geschehen seiner Seele und die Geheimnisse von Zeugung undTod und ewigem Leben. Aber das nicht allein. In den Laboratorien der Alchemistenscharfte steh der Sinn fur sperriipraktische Zerlegung der Naturgegenstande, die denForscher den ideellen Zerlegungen der scholastischen und metaphysischen Methodenimmer mehr entfremdete. Es kam nun auf wirkliehe Zerspaltung, Auseinanderlegungund Analyse an, man suchte an der Hand der chemischen Zerlegung nach den Bestand­teilen der Substanz und nach der Konfiguration der Materie. Langsam dammerte einneues Ziel auf: chemische Forschung an der Hand messender Instrumente, der Wageund der quantitativen Bestimmung.

Zweisellos wurzeln alle diese Ansichten im Tiefsten in Platons Lehre von derVerwandtschaft des Aehnlichen und der vom Kreislauf der Elemente. Bis tief ins

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Mittelalter und in die Neuzeit sogar sagt man in Kreisen von Naturforschern undAlchemisten, daß ”Gleiches das Gleiche sucht, Gleiches das Gleiche anzoge“. Dermenschliche Kreislauf und endlose Zusammenhang der Elemente und das Stromen

”von unten nach oben und von oben nach unten“ fand im Symbol des ”Reisens“ oderdes ”Ringes des Platon“ (annulus Platonis) beziehungsweise in der ”Kette magnetischerRinge“, in der ”goldenen Kette des Zeus“, in der ”catena aurea Homeri“, im ”superiuset inferius Hermetis“ (das hermetische Oben und Unten) seinen Ausdruck. Noch dieRosenkreuzer des 18. Jahrhunderts und auch Schiller und Goethe bedienen sich dieserBilder, um den allgemeinen Zusammenhang und endlosen Kreislauf der Natur und desWeltalls auszudrucken. Alles hangt zusammen. Alchemie ist die Bestatigung der Lehrevon der Lebensverbundenheit und Allverbundenheit der ganzen Welt. Auch der ganzeWirkungszusammenhang des menschlichen Seelenlebens wird in ihr Weltanschauung.

Der Weg von Platon zu den mittelalterlichen Alchemisten fuhrt hauptsachlich uberPseudo­Demokritos, Hermes Trismegistos, den Leidener und Stockholmer Papyrus(Rezepte in griechischer Sprache aus dem 3. Jahrhundert nach Chr.), den Papyrus Ke­nyon, Zosimos, Synesios, Aneas von Gaza, Stephanos, Pelagius und andere Schriften(kunsttechnische Farbereibucher) dieser Gattung. Ihr Grundgedanke ist: die Verwandt­schaft zieht das Gleiche zu den Gleichen, wobei ein Stoff immer in den nachstverwand­ten ubergehe. Das Ende dieses Prozesses sei dann das Gold. Dieses Gold hatte seineKunstregeln der Legierungstechnik und Metallfarbung zur Voraussetzung, aber es warauch eine metaphysische Qualitat und ein Bild des Weltprozesses, ja der Geschichte undGenealogie gottlichen Wesens und Kraft. Aus der monistischen Immanenz der Kraftim Stoff wird eine Religion, eine seltsame, gnostisch gefarbte Biographie Gottes undseines Gestaltenwandels. So wurde die Alchemie zu einer Art illegitimer, verkappterReligion, die das Weltratsel aus der prima materia, aus den Wandlungen des Stoffes unddes Lebens, aus Zeugung und Keimen deuten will. Sie bindet die Genealogie Gottes mitder des Menschen und der Natur zusammen. Ihr ”chymischer Ofen“ wird zum ”Weltei“und ihre trube Werkstatte, die man als das Tor und die geistige Leiter empfand, die indas Vertrauen der verborgendsten Dinge fuhrten, zum laboratorium dei.

Alchemie ist eine Philosophie des Stoffes und der theoretischen Metallurgie. In derHellenistenzeit reifte sie. Sie zog alles an sich, was die griechische Lehre von denElementen und Atomen, dann Ariltoteles und Platon, die jungere Stoa, die Hermesmy­stik, Neuplatonismus und Gnosis, die spatantiken Mysterienkulte und eschatologisch­mystischen Lehren, der Enthusiasmus theosophischer ”Geheimtraditionen“, helleni­sierte Kosmogonien und Mythologien aus dem Osten, Zaubergebete, fruhchrsstlicherDamonenglaube, persische Ueberlieserungen u. a. hervorgebracht haben und damalsum die Palme der Weltreligion kampfte. Schon fruh verbinden sich mit alchemistischenTheorien die Idee von dem Keimen und der Zeugung. Die Techniken der metallurgi­schen Farbeverfahren wurden durch viele Rezeptbucher und Handwerkertraditionenweitergegeben. Fruh schon verbindet sich der Glaube an den Stein der Weisen, diemateria prima (Mercur als Urstoffbegriff), das ”Ferment“, den ”Samen“, die MutterErde, (Urelemente, Urformen, ”die Mutter“) mit der Vorstellung, in diesen urstofflichenWesenheiten auch eine Universalmedizin zu besitzen. Auch die Astrologie mit ihrenPlanetennamen verschwistert sich der Alchemie und beeinflußte ihre Kunstspracheund Zeichensymbolik. Sie wurde die hohe konigliche und auszeichnende Scheidekunstmit metaphysisch­kosmologischer Tendenz, die spagirische Kunst, die Gold und sogarMenschen zu erzeugen vermag.

Page 8: Schmieder Geschichte Der Alchemie 1927 [1832] Einleitung

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So geht die Alchemie durch die Geschichte, ihr Glaube und ihre Praxis. Sie erlebtim Mittelalter und in der Renaissance ihre Glanzzeit. Sie konnte lange nicht sterben. IhrBekenntnis war immer noch: das Universum ist ein geordnetes Ganze, ein Organismus,zusammengehalten von einer geschichtsbildenden Kraft, aus der alle anderen Kraftekommen und die uber allen anderen als leuchtende Wolke Gottes lebt, rot wie vomWiderschein eines fernen Feuers. Man sieht die Welt, den Menschen, die Stufen derZeugung und des Sterbens, Anfang und Ende, die Veredelung und Wiedergeburt, Gott,zusammen, man sieht universal, mit panoramatischen Blick, man empfindet auch alleszusammen, belebt von einem Leben, das alle Begrenzungen durchbricht. Das weit­umhergreifende Bildungsideal der Alchemisten (der wirklichen, nicht der betrogenenBetruger) ist Universalismus und ein enthusiastisches Erfassen der Einheit und Einzig­keit in dem das Ich des Menschen sich zu einem Menschheitsselbst erweitert. Es trittaus seiner kleinen Gebundenheit heraus und verliert sich an das Grenzenlose. In diesemVerlieren liegt ein Verlust der Einheit der Person. Die alchemistische Weltanschauungist religiose Erkenntnis, religioses Wissen als Hervorbringung und Allegorisierung desgriechischen Intellektualismus. Sie ift eine Verfallserscheinung und ein Wahn, wiedie ganze Spatantike und ihre synkretistischen Systeme. Ihre Mystik sind Zerfahren­heit und Unruhe. Alchemie und der Gnostizismus gehoren zusammen, denn auch dieGoldmacherkunst verkundet die Lehre vom Weltzusammenhang und Weltprozeß undzeigt in ihrer bunten Zeichensprache, daß auch sie ihr Naturbild durch die mystischeTheologie von dem Gotteszusammenhang erklart. Auf den Hohepunkten des innerenErlebens fragt sie nicht mehr naturforschend nach dem Sinn der Realitat, nicht nachdem Gesetzeszusammenhang des Wirklichen und seines Stoffes, sondern ist eben nurWeltanschauung: sie will den Sinn der Welt, nicht das Atom, sie will Befriedigung derWeltsehnsucht, nicht das Weltbild des Verstandes, sie will die Krafte der Schauung,das Abgrundig­Irrationale, erfuhlte Gebilde des Herzens, nicht den mathematisch­theoretischen Begriff. Die Alchemie stellt an das Ende ihrer Praxis das Gold. Das istihr tragischer Irrtum und Leidensweg. Ihr Ende ist die Entfremdung vom realen Leben,deren Grade Helligkeitsstufen des Empfindungsvermogens sind, fessellose Willkur undHerrschaft der Phantasie uber das objektive Gesetz der Dinge.

Wien­Dornbach im Herbst 1927.

Franz Strunz.