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schmitz katze Das Lesemagazin.

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Das Lesemagazin der Buchhandlung schmitz - Ausgabe 13 - 05/2011

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schmitzkatzeDas Lesemagazin.

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Editorial 03

13-Bücher-Fragen an… 04

...Rotraut Susanne Berner

...Armin AbmeierKolumne Buchholz: Bullshit! 06

Vagabundenherzoder Vom Eingestehen einer zweiten Liebe 08

10 x Musik 10

Ein Foto und seine Geschichte 12

Ein Foto und meine Geschichte 13

Lemonfish 14

Die Tollen Hefte 16

9 Bücher, die aus dem Rahmen fallen 18

Satt durch alle Semester - Kochversuch 20

Eierschneider-Blues 22

Kunden-Info 24

schmitzkatze 13Mai 2011 / Auflage 5.000 Stück

Cartoons: Thomas Plassmann

Verantwortlich für den Inhalt:

Thomas Schmitz

Herstellung:Druckerei & Verlag Steinmeier GmbH, Deiningen

Gestaltung:ersteliga_büro für gestaltung,

Dirk Uhlenbrock, www.ersteliga.de

Schutzgebühr 3.- Euro

schmitz. Die Buchhandlung.

Grafenstraße 44 · 45239 Essen-Werden

[email protected]

www.schmitzbuch.de

schmitz. Die Buchhandlung.

Steile Straße 48 · 45149 Essen-Margarethenhöhe

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schmitz junior. Die Buchhandlung für Kinder.

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inhalt

impressum

Amazonien - Das Ende der Bescheidenheit 26

Persönliche Buchempfehlungen von... Sascha Eckart 28

... Anika Neuwald 30

... Felix Peretzke 32

... Daniela Renz 34

... Mechthild Römer 36

... Sandra Rudel 38

... Kathrin Schwamborn 30

... Annika Wessel 42

... Thomas Schmitz 44

Hervé Tullet - The Game of… 46

schmitzkatze-Rätsel 47

Impressum 2

cartoon

www.rowohlt-berlin.de

Andere nennen es Alltag.

Horst Eversnennt es Schikane.

224 Seiten. Gebunden€ 14,95 (D) / € 15,40 (A) / sFr. 23,50 (UVP)

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Es ist nicht die erste schmitzkatze-Ausgabe, die Sie eher zu lesen bekommen als ich. Buchstäblich in letzter Minute schreibe ich ein paar Zeilen zum Einstimmen auf unser Lesemagazin. In keiner anderen Arbeitsphase bin ich glücklicher. Lange vorher tasten wir uns an die Ausgabe heran, diskutieren, planen, verteilen Aufgaben. Je näher der definitive Abgabetermin rückt, umso angespannter wird die Situation unter allen Beteiligten. Wer jetzt noch nicht seine Texte abgeliefert hat (und das bin zum Beispiel immer ich), hat kaum noch Zeit, muss quasi auf Kommando schreiben. Sie können sich vorstellen, das fällt einem Nichtprofi nicht leicht. Dann reiht sich ein Text an den nächsten, die Noch-Bearbeiten-Liste wird immer kürzer. Dirk, der Graphiker, schickt einen Entwurf nach dem anderen. Das Heft nimmt Gestalt an. Was übrig bleibt ist das Editorial. Noch eine Stunde, vielleicht zwei, dann ist es geschafft. Ein großartiger Mo-ment. Habe ich das fertige Heft in der Hand, freue ich mich selbstverständlich auch, aber da kenne ich es mittlerweile in- und auswendig.

Und diesmal werden sogar einige Wochen ins Land gehen, bevor ich die Ausgabe überhaupt zu sehen bekomme. Meinen Arbeitsalltag tausche ich ein gegen eine lange Wanderung über die Alpen, nicht die Gipfel-Variante, aber immerhin 500 Kilometer zu Fuß.

Dass ich gerne reise, haben Sie längst schon lesen können, und auch für schmitzkatze war ich wieder unterwegs und habe äußerst interessante Begegnungen gehabt.

In München verbrachte ich einen Nachmittag mit einem ehemaligen Verlagsvertre-ter, der seit zwanzig Jahren Herausgeber einer ziemlich schrägen »Heftchen«-Reihe ist (Seite 16).

In einem Ort mit dem witzigen Namen Plüderhausen lernte ich zwei Designerinnen kennen, die im Knast ein- und ausgehen (Seite 14).

Im neuen Thyssen-Krupp-Quartier drehte für mich ein Polizist mit seinem Motorrad seine Runden und zog sofort die Aufmerksamkeit der Dame für Öffentlichkeitsarbeit und des Herrn von der Security auf sich (Seite 22). Sie beruhigten sich aber schnell wieder, als ich versprach, ihnen ein Exemplar der katze zu schicken.

Und einmal sogar traf ich mich mit dem kleinen Jungen in mir, das kommt nicht so häufig vor (Seite 13).

Eine besondere Freude machte mir dieses Mal die Jüngste der »Truppe«, unsere Praktikantin Annika Wessel. Nicht nur ihre Buchbesprechungen, auch ihre beiden kleinen Reportagen haben mir ausgesprochen gut gefallen (Seite 8 und 20). Da ist es doch gut, dass sie im August eine Ausbildung bei uns beginnt und Ihnen noch etliche schmitzkatze-Ausgaben erhalten bleibt. Ich sage besten Dank und herzlich Willkom-men im Team.

Außerdem entschlossen wir uns, über das Ende der Bescheidenheit zu schreiben (Seite 26). Zu entscheiden, ob der Ton angemessen ist, überlassen wir dabei getrost Ihnen.

Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen und einen schönen Sommer, und wenn Sie Meinungen oder Anregungen haben, freue ich mich über Ihre Post.

IhrThomas Schmitz

Vom Ende der Bescheidenheit

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cartoon

Aus dem Englischen von Karen NölleDeutsche Erstausgabe_ premium 500 Seiten ¤ 14,90ISBN 978-3-423-24861-7

Aus dem Englischen

Money does the talking, but love makes

the world go round

»Lebendig, subversiv und provokant: eine rasante Auseinandersetzung mit der Wahrheit hinter globalen e-mail-Betrügereien.«

The Washington Post

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Rotraut Susanne BernerWas war Ihr Lieblingsbuch als Kind?

»Die Zauberlaterne« von Wolfheinrich von der Mülbe, ein ironischerRitterroman – eigentlich für Erwachsene – aus der Bibliothek meines Vaters,

geschrieben 1936. Das habe ich unzählige Male gelesen und vor einigen Jahren mit meiner Schwester Konstanze Berner neu herausgegeben und illustriert.

Wie heißt Ihr Lieblingsbuch heute?Da würde ich lieber einige Lieblingsschriftsteller nennen: Philip Roth,

Italo Calvino, Natalia Günzburg, Joseph Roth, Ernst Jandl.

Gibt es ein Buch, von dem Sie sagen können,es hat Ihr Leben mit geprägt?

Ganz sicher die Bibel und da vor allem das Alte Testament.

Welches Buch steht auf Ihrer»Hab-ich-noch-immer-nicht-gelesen-Liste« ganz oben?

»Moby Dick«.

Welches Buch oder welche Bücher halten Sie für völlig überflüssig?So genannte Erst-Lese-Bücher für Kinder.

Gibt es ein Buch, das Sie immer wieder verschenken möchten?»Über das Halten von Eichhörnchen« von Axel Scheffler.

Welches Buch lesen Sie gerade?

»Die Kuh aus dem Meer« von Keto von Waberer,weil ich das gerade mit großem Vergnügen illustriere.

Mit welcher Romanfigur möchten Sie am liebsteneinen Tag den Platz tauschen?

Mit Cosimo, dem Baron: einen Tag in den Bäumen.

Wo lesen Sie am liebsten?Auf der Terrasse am Meer, im Halbschatten.

Haben Sie schon einmal bei einem Buch weinen müssen –und wenn ja, bei welchem?

Ich erinnere mich, dass ich als Kind bei »Heidi« immeran der gleichen Stelle weinen musste.

Welches Buch kann Sie trösten?Eine gute Gedicht-Anthologie.

Was ist Ihr Lebensmotto?

Akzeptieren oder verändern.

Welches Buch würden Sie Ihrem Mann Armin Abmeier empfehlen?»Radetzkymarsch« von Joseph Roth.

Rotraut Susanne Berner ist gelern-te Graphikdesignerin, Buchgestalte-rin, Illustratorin und freischaffende Künstlerin in einer Person. In erster Linie beschäftigt sie sich mit Kinder-büchern, die sie vornehmlich illust-riert, manchmal auch selbst schreibt. Ihre berühmten Wimmelbilderbücher kommen allerdings gänzlich ohne Text aus. Für ihr Gesamtwerk erhielt sie 2006 den Deutschen Kinder- und Ju-gendliteraturpreis.Ihr Mann Armin Abmeier, Jahrgang 1940, war seit 1966 Buchhändler, spä-ter Verlagsvertreter für renommierte Literaturverlage wie Hanser, Greno, Steidl oder Wagenbach. Heute ist er Herausgeber der »Tollen Hefte« und Galerist in München ( s. Seite 16). Die beiden sind seit mehr als 30 Jah-ren ein Paar, und Armin Abmeier ist nach eigenem Bekunden immer noch der absolut größte Bewunderer seiner Frau.

Die beiden stellten sich für die 13. schmitzkatze den obligatorischen Bü-cherfragen und fanden hinterher, es hätte ja noch nicht einmal wehgetan.

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Armin AbmeierWas war Ihr Lieblingsbuch als Kind?»Robinson Crusoe« in einer verstümmelten, miserabelillustrierten Ausgabe »für die Jugend«, deren Bilder mir unvergesslich sind. Wie heißt Ihr Lieblingsbuch heute?Die Bücher von Philip Roth und von W. G. Sebald undimmer noch »Die Tigerin« von Walter Serner. Gibt es ein Buch, von dem Sie sagen können,es hat Ihr Leben mit geprägt?Albert Camus, »Der Fremde«. Welches Buch steht auf Ihrer»Hab-ich-noch-immer-nicht gelesen-Liste« ganz oben?Romane von Dostojewski. Welches Buch oder welche Bücher halten Sie fürvöllig überflüssig?Bücher à la Coelho. Gibt es ein Buch, das Sie immer wieder verschenken möchten?»Der beste Hund der Welt« von Sharon Creech. Welches Buch lesen Sie gerade?David Grossman, »Eine Frau flieht vor einer Nachricht«. Mit welcher Romanfigur möchten Sieam liebsten einen Tag den Platz tauschen?Des Esseintes in Joris-Carl Huysmans »Gegen den Strich«. Wo lesen Sie am liebsten?Auf Formentera, ohne Brille (dank des hellen Lichts)und insular entspannt. Haben Sie schon einmal bei einem Buch weinen müssen –und wenn ja, bei welchem? Bei der Lektüre von »Der beste Hund der Welt«. Welches Buch kann Sie trösten?Tragische Bücher: Ich bin noch einmal davongekommen. Was ist Ihr Lebensmotto?»Es muss im Leben mehr als alles geben« (Maurice Sendak). Welches Buch würden Sie Ihrer FrauRotraut Susanne Berner empfehlen?»Moby Dick«.

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Eigentlich träumt Matti nur vom

Urlaub in Papas Heimat Finnland.

Doch dann kündigt Papa an, dass sie

bald alle in die Schweiz umziehen –

und zwar in ein eigenes Haus am

See. Matti freut sich riesig. Endlich

raus aus dem blöden Hochhaus!

Stolz erzählt er es überall herum

– und ahnt nicht, dass Papa nur

bei Onkel Jussi angeben wollte.

Aber Matti gibt nicht auf. Mit

einem faustdicken Schwindel

erreicht er seinen Traum.

Doch auf eine Lüge folgt die

nächste… und so finden sich

Matti, sein Bruder Sami und

die Eltern auf einmal ohne

Bleibe, Geld und Auto mitten

in der Einöde wieder.

Nur ein Wunder kann

sie noch retten…

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aber man kommt verdammt

weit damit!

Lügen haben kurze Beine...

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lzDa wurde der Referent aus Berlin heftig: »Lasst die Finger von Kolumnen, die davon handeln, dass die deutsche Spra-che überfremdet sei«, befahl er uns jungen Journalisten. Es langweile ihn und wahrscheinlich jeden, zum tausends-ten Mal zu lesen, dass die Deutsche Bahn pausenlos mit »park + ride« werbe. Als wir widersprachen und sich ein Kollege der Frankfurter Rundschau sogar erdreistete zu fragen, ob unser Referent zufällig in der Marketingabtei-lung der Bahn arbeite, nannte er unsere Argumente erregt »Bullshit«. Aber nur einer von uns lachte lauthals auf. Wir anderen blamierten uns und bemerkten den entlarvenden Lapsus erst nach und nach.

Wobei mir gerade auffällt: Lapsus ist ein Schnitzer, und der Schnitzer hat genauso viele Silben wie Lapsus und klingt obendrein noch viel besser.

Aber schließlich lebt die deutsche Sprache, und die Welt wird internationaler. Trotzdem schmeißen wir unsere Spra-che oftmals einfach zum Fenster hinaus. Sogar die am we-nigsten Verdächtigen tun es: Als die »Deutsche Gesellschaft für Sprachwissenschaft« vor vier Jahren in Siegen tagte, tru-gen elf der dreizehn Arbeitsgruppen einen englischen Namen, und von den 180 Vorträgen wurden 152 in Englisch gehalten; und das, obwohl gerade die zahlreich vertretenen Zuhörer aus Osteuropa mehr Deutsch als Englisch konnten.

Diese köstliche Absurdität bringt der 86-jährige Sprachkri-tiker Wolf Schneider vor, der an verschiedenen Fronten für ein gutes Deutsch kämpft. Er deckt noch weitere Kuriositäten auf: Da lernen bei der Goethe-Gesellschaft die Fremdsprach-ler als erstes deutsches Wort »Mülldeponie«, um dann als zweites »Recycling« zu benötigen. Oder finden Sie es nicht auch erwähnenswert, dass VW seine Luxuskarosse internati-onal vermarkten will und ihm den Namen Phaeton gegeben hat? Wohl ohne zu berücksichtigen, dass der Sohn des Son-nengottes mit seinem Sonnenwagen abgestürzt ist und die Erde fast zerstört hat?

Genauso neben der Spur sind aber auch jene, die der globa-lisierten Welt in schlechtem Englisch Wichtiges oder Kom-pliziertes sagen wollen: Deutsche Wissenschaftler tragen auf Kongressen ihre Eigenübersetzungen mit Schulenglisch vor. Da fasst sich doch jeder englische Muttersprachler an den Kopf. Unterdessen könnten doch wartende Übersetzer für Abhilfe sorgen.

Zwischenfrage: Haben Sie mitgezählt, wie viele Fremdwör-ter ich schon gebraucht habe (Latein, Griechisch, Französisch nicht vergessen), und haben Sie überprüft, ob ich sie wirklich benötigt habe? Schauen Sie besser nicht!

Wenn ich für jedes überflüssige englische Wort in einer Überschrift der Werdener Nachrichten eine Deutsche Mark bezahlt hätte, wäre ich nicht pleite, jedoch um einiges ärmer. Wenn ich aber für jedes unnötige Fremdwort in meinen Artikeln einen Tacken hätte bezahlen müssen, würde ich am Hungertuch nagen. (Ein schönes deutsches Sprachbild.)

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Wissen Sie noch, was zu DM-Zeiten (für die Jüngeren: Ge-meint ist nicht der Drogerie-Markt) im Schatten der Zechen ein Tacken war? Klar, es war das Zehnpfennigstück. Genauso wie das Fünfzigpfennigstück Fuchs genannt wurde und der Heiermann das Fünfmarkstück war. Wo kamen diese herr-lichen Wörter eigentlich her? Waren es überhaupt deutsche Wörter? Mein Kumpel Uli behauptete immer, der Heiermann sei nach Gustav Heinemann benannt, der sei schließlich auf einem solchen abgebildet gewesen. Stimmt aber gar nicht, der Begriff kommt wohl aus Norddeutschland.

Ist aber eigentlich egal; diese Begriffe waren einfach geil, was zu meiner Jugendzeit noch fast das bedeutete, wovon meine Eltern angeblich nicht einmal wussten, was es heißt.

Damals, als ich noch lange auf dieses große silberne Geld-stück sparen musste, gingen die meisten von uns Jungen breitbeinig wie John Wayne, und unsere älteren Brüder rauchten – aber keine Ernte 23 sondern echte Camel.

Wir waren ja so sehr anglophil, also amerikageil oder kor-rekt übersetzt »Englisch liebend«. Jeder englische Begriff war ein Hit, also ein Treffer. Unsere Generation hat das cool von den wirklich coolen Jazzern ins Deutsche geholt; und damals war ein Cooler ein noch richtig gelassener Mensch.

Wenn unsere Eltern dagegen das Deutsch anmahnten, dann kamen wir mit einem Spruch um die Ecke, den nur wir damals wirklich cool fanden: »Das Wetterrr muss wiederrr teutsch werden.« Damit scherten wir alle über einen Kamm, die vor den Dreißigern geboren waren. Das sollte die Alten in die Schranken ihrer Jugend im Faschismus zurückweisen. Wer uns nichts aus Russland erzählen wollte, konnte doch nicht die Sprache der Befreier verteufeln.

Seltsamerweise riefen kurze Zeit später unsere alles ameri-kanische wiederkäuenden älteren Geschwister, diese wilden Noch-68er: »Ami go home«; was der Amerikaner nun wieder-um nicht verstehen konnte und wollte.

Zerstörerisch sind wohl nicht die einzelnen Wörter, die wir einführen, eher die schönen kraftvollen Wörter, die wir ohne Not eintauschen: Der Rechner ist kürzer als der Computer; und mit dem Rechner fing es auch an. Noch bedauerlicher ist das Vergessen. Unsere Schlampigkeit, unsere eigene Sprache auf einen kleinen Wortschatz zu reduzieren.

Wir sollten nicht mit vorauseilendem Englisch-Gehorsam unsere Möglichkeiten einschränken, sich sehr genau auszu-drücken. Wir haben so wunderbare Verben, wie die mit über einhundert mit »zer-« davor, mit denen wir jede Anbiederung zerlegen, jedes unnötige Manuskript in Schulenglisch zer-knüllen und auch mal ein Thema genüsslich zerreden könne. In diesem Sinne: Es darf ruhig ein Wettstreit sein, in dem die deutsche Sprache sich verändern wird und ihre Stärken einbringen kann; solange wir Deutsch mögen.

Ich weiß, unser Referent aus Berlin würde das alles »Bull-shit« nennen. Und unter uns: Bullshit ist nicht appetitlicher als Rinderkacke; aber das merkt man eben nicht so schnell.

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Manche Menschen sagen, die unerfüllten Lieben seien die größten Lieben im Leben.

Ich weiß nur, dass die Sehnsucht uns manchmal den Ver-stand rauben und manchmal Flügel verleihen kann.

Es ist wie der Wunsch, so schnell zu rennen, dass man abhebt und davonfliegen kann, oder das Bedürfnis, bei Anblick eines Sonnenaufgangs die Hand auszustrecken, um nur einmal das Orangerot mit dem Weiß zu verwischen.

Meine Sehnsucht ist das Fernweh.Hinauszugehen, einzutauchen in Metropolen, von weit oben

Landschaften zu überblicken und mich treiben zu lassen in Menschenströmen durch Bahnhöfe und Gassen, über Stra-ßenmärkte oder still und leise zu beobachten, ihnen zuzuhö-ren und sie zu entdecken.

Denn dort draußen lernt man erst, wie phantastisch vieles aus den wahren Geschichten ist und wie viel Wahres in den Phantastischen steckt.

Doch was tue ich mit einem solchen Vagabundenherz, wenn meine Reise unter der Woche meist doch nur bis Essen-Wer-den geht?

Nun, an manchem freien Tag lasse ich mich gehen und gebe mich völlig hin: Ich betreibe exzessives Zugfahren.

Zug fahren sicherlich viele Menschen, jeden Morgen steige ich in die meist verspätete S-Bahn und zähle die drei Stationen ab, während um mich herum viele andere Halbschlafende, aus dem Fenster starrende MP3-Player-Verstöpselte genau dassel-be tun.

Möchte man aber die Reiselust ein wenig befriedigen, so gilt es, die Fahrt zu zelebrieren und das ursprüngliche Gefühl von grenzenloser Freiheit heraufzubeschwören. So wie sich die Passagiere der ersten Eisenbahn zwischen Nürnberg und Fürth 1835 gefühlt haben müssen…

Meinen grünen Jack-Wolfskin-Rucksack bestücke ich nur mit dem Nötigsten: Proviant, etwas zu schreiben, ein Buch und mein Ticket zum Glück, das Young Ticket Plus.

Zunächst geht es zum Essener Hauptbahnhof, doch von da an bestimmt allein die große Anzeigentafel in der Schalter-halle über meine Route. Alles im VRR-Gebiet ist erlaubt und zwischen der holländischen Grenze und Dortmund, vom süd-lichen Münsterland bis vor Leverkusen gibt es mehr zu entde-cken als man glaubt. Den nächsten abfahrenden Zug meist ge-rade noch erwischend, mache ich den entscheidenden Schritt vom Bahnsteig in den Wagon und lasse mich auf einen noch freien Sitz fallen.

Vagabundenherzoder Vom Eingestehen einer zweiten Liebe

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Dann geht es los: Das leichte Zurücksetzen, gefolgt von ei-nem abrupten Schub nach vorne, der einen sanft, aber be-stimmt in den Sitz drückt. Das anfängliche, seltsam hohe Dröhnen wird bald vom regelmäßige Klackern der Schienen abgelöst, welches mit dem Pfeifen des Fahrtwindes eine ganz eigene, beruhigende Melodie erzeugt.

Zwar hole ich das mitgenommene Buch aus der Tasche, doch eigentlich bin ich viel zu sehr an dem interessiert, was um mich herum passiert. Die beiden jungen Frauen mit ihren Hartschalenkoffern, in deren Augen ich das Reisefieber auf-blitzen sehe, die Familie, Mutter, Vater und die beiden klei-nen Jungen...Während der Kleine zufrieden seinen Butterkeks lutscht, löchert der Ältere die Eltern mit Fragen: Wann steigen wir aus? Wer ist der Lokführer? Und warum guckt die Frau so?

Auch die Gruppendynamik in so einem Zugabteil ist erstaun-lich. Als ich mich auf dem Weg nach Düsseldorf plötzlich in ei-nem Zug voll mit oberbayrischen Eishockeyfans wiederfände, glaube ich am Zielbahnhof nicht nur wie ein Eishockeyfan zu riechen, sondern muss mich zusammenreißen, nicht auch ihre an jeder vorherigen Haltestelle ausgestoßene Parole »Ober-bayern raus!« mitzugröhlen.

Vagabundenherzoder Vom Eingestehen einer zweiten Liebe

Ich entdecke aber auch den altbekannten Passagier, der mit der Aktentasche unterm Arm und dem gehetzten Blick auf die Armbanduhr schaut. Ja, der Zug ist zu spät, doch diesmal muss mich das nicht kümmern, kein Anschlussbus wartet, kei-ne Arbeit.

Das ist mein kleines Stück Freiheit, aussteigen kann ich nach Belieben, sogar spontane Einladungen zu einem Kaffee müs-sen zumindest nicht an Zeitgründen scheitern.

Irgendwann komme ich auf diesen Fahrten auch immer bei mir selbst an. Eingehüllt in Schienenrattern und die vorbei-ziehende Landschaft vor Augen, hänge ich plötzlich längst vergessenen Gedanken nach, finde vielleicht sogar ein wenig Schlaf .

Mit dem Weg als Ziel intransit oder auf Achse zu sein, lindert kurzzeitig das Sehnen nach der Ferne und der Freiheit.

Eines Tages steige ich vielleicht in einen Zug, der mich weiter raus trägt oder weiter hinein in die Welt, ohne eine geplante Rückfahrt.

Aber im Moment geht es am nächsten Tag immer wieder auf den alten Pfaden nach Werden. Die Bücher rufen und ich muss gestehen, dem kann auch mein Vagabundenherz nicht wider-stehen.

Annika Wessel

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Kristof Kryszinski ist mit seinem Kumpel Scuzzi ins sonnige Spanien unterwegs. Sie wollen einen Ort finden, an dem ihr Bikerklub die Stormfuckers-Ranch eröffnen kann. Noch während der Fahrt begeg net ihnen jedoch alles andere als Sommer, Sand und Meer: eine verdorrte Stein- und Staub-wüste, die erbarmungslos sengende Sonne und Banden verwahrloster Kinder. Dazu ist Schisser, der bereits eine entsprechende Immobilie gefunden hatte, verschwunden – ebenso die 180 000 Euro, mit denen er das Objekt erstehen sollte. Auf der Suche nach Freund und Geld stoßen die beiden auf ein Aussteigerdorf voller zugekiffter Hippies.

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Joan Armatrading / This Charming LifeHypertension, 19,90 Euro

Es gibt Künstler die haben einen Vertrauensvorschuss. Oft kaufe ich ihre CDs aus alter Verbundenheit, haben mich ihre Lieder doch ins Erwachsenwerden hinein begleitet. Da bleiben Ent-täuschungen nicht aus. Aber auch nicht immer. Die Platte der mittlerweile 60-jährigen Joan Armatrading war ein Volltreffer. Kennen- und lieben gelernt habe ich die Multi-Instrumentalistin in alten Rockpalast-Zeiten. Dryland oder Love and Effection waren einfach großartig.Anders als bei ihrem letzten Album »Into the Blues« (da gab’s auch wirklich nichts anderes als eben Besagtes) hat sie jetzt elf Lieder eingespielt, die endlich wieder dem Rock zuzuordnen sind. Das Album ist zudem – abgesehen vom Schlagzeug – quasi im Alleingang entstanden. Alle Lieder selbst geschrieben, aufge-nommen und arrangiert. Gitarre spielt sie und Keyboard. Dass sie selbst singt versteht sich von alleine – und zwar richtig gut!· · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · ·

Amos Lee / Mission BellBlue Note Records, 19,90 Euro

Seine Musik ist eine Mischung aus Folk, Soul und Jazz. Er tritt gemeinsam mit Norah Jones, Bob Dylan oder Elvis Costello auf und trotz dreier Vorgänger-Alben ist er immer noch ein Geheim-tipp.Ich kenne alle vier CDs und stelle fest, Lee wird vielseitiger. Dominieren in den ersten Aufnahmen Lee und seine Gitarre, ist Mission Bell ein ordentlicher Schritt nach vorne: Stilrichtungen variieren, andere Künstler erweitern seinen Horizont – ein wun-derbares ausgereiftes Album. Ob im Auto als Schallwand oder zu Hause als leise Untermalung: Amos Lee passt immer.· · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · ·

Renaud Garcia-Fons / MediteranneesEnya Records, 19,90 Euro

Renaud Garcia-Fons ist ein Ausnahmekünstler. Bereits mit 21 Jahren in Frankreich zum Professor für Kontrabass ernannt, spielt er mit Vorliebe die ungewöhnliche Variante, nämlich den 5-saitigen Bass.Diese CD ist das Projekt einer Reise rund ums Mittelmeer. Schritt für Schritt. Die musikalische Reise beginnt im Süden Spaniens, führt die Mittelmeerküste entlang zum Bosporus, in den Libanon, nach Ägypten bis zur nordafrikanischen Seite von Gibraltar. Kein Ethno- oder Touristenkitsch auf der Strecke, nur authentische Musik, immer erst einfache Melodien – ernsthaft, fröhlich, beruhigend. Auf jeder Etappe aber ein neuer Rhythmus, eine neue Instrumentalisierung. Spannend und ungewöhnlich.· · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · ·

Jessica Pilnäs / Bitter and SweetACT, 19,90 Euro

Zuletzt gesehen habe ich sie auf dem Landgren-Konzert »Christ-mas with Friends« in der Christuskirche in Bochum. Jessica Pilnäs, die Sängerin mit der souligen, warmen Stimme, die über Umwege zum Jazz gekommen ist. Gesungen hat sie wohl schon immer und nahm sogar 1995 mit erst 16 Jahren an der Vorauswahl zum Eurovision Song Contest teil. Man bot ihr einen Plattenvertrag, sie wollte sich aber nicht als Pop-Sternchen vermarkten lassen. Also beendete sie zuerst ihre Schule, um anschließend mit großem Erfolg ein Medizinstu-dium zu absolvieren. Vielleicht wäre Frau Pilnäs heute eine prak-tizierende Ärztin, hätte sie nicht zwei Musiker kennen gelernt, die ihren Rückzug aus der Musik für einen schweren Verlust für den Jazz hielten: Nils Landgren und der Gitarrist Johan Norr-berg holten sie zurück auf die Bühne.»Bitter and Sweet« ist ihr erstes Album mit unter anderem einer jazzigen Coverversion des Eurythmics-Hits There Must Be An Angel oder einer großartigen Interpretation von The Winner Takes It All.

Bohuslän Big Band & Nils Landgren / Don’t Fence me inACT, 19,90 Euro

Zwei »Kapellen« stelle ich auf dieser Seite vor. Hier ist die erste: Mit der Bohuslän Big Band unter der Leitung von Colin Towns spielte Nils Landgren vor ein paar Monaten zwölf Cole Porter-Stücke ein. Es sind außergewöhnlich vielschichtige Interpretatio-nen, und selbst bei vermeintlich ruhigen Balladen entwickeln die fast zwanzig Bläser einen ungeheuren Druck.Ich bin immer wieder beeindruckt von der Vielschichtigkeit des Mannes mit der roten Posaune, vielleicht ist auch deshalb der Ti-tel der CD Schlüssel zu seiner Musik: Don’t Fence me in. Ich lasse mich nicht einschränken.· · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · ··

Nils Wülker / 6Ear Treat Music, 19,90 Euro

Sechs Alben hat Nils Wülker bereits eingespielt, sechs Musiker wirken am neuesten mit und ob folgerichtig oder nicht, »6« ist auch der Titel des neuen Werks. Der 34-jährige Jazztrompeter, der von Miles Davis geprägt wurde, verlässt mit »6« die klassi-sche Linie seiner Vorgängeralben. Hier groovt und funkt und rockt es. Alles ist eine Mischung aus Leichtigkeit und Kraft, immer getragen von seiner Trompete. An zwei Stellen weichen die Instrumentalstücke sogar »echten« Songs. Er, der als Song-writer unter den Jazzmusiker gilt, debütiert bei zwei Stücken als Sänger.· · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · ·

Zaz / ZazSony Music, 19,90 Euro

So ist das. Da wird man auf eine Musikerin aufmerksam und denkt sofort an eine kurze schmitzkatze-Besprechung, und plötzlich bekommt die Dame rechts und links hymnische Be-sprechungen. Der Spiegel ist voll des Lobes, Die Zeit erst recht, in jeder zweiten Late-Night-Show habe ich sie in den vergangenen Wochen gesehen und im Radio höre ich sie bald täglich. Lohnt sich da noch ein Hinweis? Warum nicht!Das Rolling Stone Magazin brachte es auf den Punkt:»Wie eine ‘Piaf des Blues’, aufgejazzt von Django Reinhardt, schwebt Zazs Stimme über den Gypsy-Jazz-Beats ihres Gitarris-ten Guillaume Juhel…«Gleich mit einem Debüt-Album soviel Aufmerksamkeit erlan-gen, das schaffen nicht viele. Wenn Sie Zaz noch nicht kennen (was ich mir fast nicht vorstellen kann), diese CD lege ich Ihnen wärmstens ans Herz.

10 x MusikBevor es an die echten CDs geht, ein kleiner Tipp vorab:

Sie waren relativ unbekannt in den Siebzigern, andere Musiker

waren einfach populärer und wurden häufiger gespielt. Außer-

dem machte der Leadsänger Dave Stewart erst später zusammen

mit Annie Lennox richtig Karriere. Als Popduo Eurythmics ver-

kauften sie an die 80 Millionen Tonträger. Irgendwie gelangte

die Schallplatte 1975 in meinen Besitz. Es muss eine der ersten

Scheiben gewesen sein, die mir gehörte: Das 1973 erschie-

nene Album »If It Was So Simple« der englischen Popgruppe

Longdancer. Eingängige Singer-Songwriter-Musik, guter Chor,

vielstimmige Arrangements.Als CD ist die Platte bis heute nicht erschienen, nur hier und

da kann man das ein oder andere gebrauchte Exemplar ergat-

tern. Aber auf der Homepage von Dave Stewart* ist die Musik

der Longdancer immer noch abzurufen. »If It Was So Simple«

muss ihm also einiges bedeutet haben. Hören Sie mal rein.

* www.davestewart.com

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Amsterdam Klezmer Band / RemixedEssay Recordings, 19,90 Euro

Hier ist die zweite »Kapelle« in dieser Ausgabe: Das niederländi-sche Balkan- und Klezmer-Orchester Amsterdam Klezmer Band. Klezmer, Punk und alle möglichen Balkan-Spielarten in einem Mix aus Respektlosigkeit, Tempo, Elektronik und Tradition. So bringen die sieben Musiker jeden Saal zum Kochen und ein Pu-blikum zum Tanzen, das sich anschließend schweißüberströmt bedankt.Der Titel der CD ist Programm. 13 ihrer bekanntesten Songs zerlegt und neu zusammengefügt von herausragenden DJs der Szene. Schon beim ersten Lied, dem stampfenden Sadagora Hot Dub ist Gänsehaut garantiert. · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · ·

Viktoria Tolstoy / Signature Edition 5ACT, 19,90 Euro

ACT hat es sich zum Ziel gesetzt, die Arbeit seiner herausra-gendsten Musiker zu dokumentieren und in einer einheitlichen Reihe zu präsentieren. Die ACT-Signature Edition, jeweils zwei CDs, 120 Minuten Musik. Nummer 5 in der Reihe ist Victoria Tolstoy, vielleicht die brillanteste Stimme der skandinavischen Jazz-Frauen. Ihre erste Platte produzierte die Ururenkelin des russischen Dichters bereits mit zwanzig. Ihre Stimme ist klar, dynamisch, wild und vibrierend, trotzdem aber sehr bodenstän-dig. Egal ob es Jazz-Standards sind die sie singt oder Adaptionen von Popklassikern, ob skandinavische oder russische Folklore, nach wenigen Noten ist jedem klar, das kann nur die unverwech-selbare Stimme von Viktoria Tolstoy sein.· · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · ·

J. Mascis / Several Shades of WhySubpop, 19,90 Euro

Vor 25 Jahren gründete er die Gruppe Dinosaur Jr. und das Ge-töse und Gedröhne von Schlagzeug, Gitarre und Gesang ertrage ich keine zwei Minuten. Jetzt hat J. Masics aber eine Unplugged-CD herausgebracht, die ich herausragend finde. Sein erstes Solo-Album ist unglaublich schön, komplett akustisch und wenn man seine heisere, gebro-chene Stimme nicht hören würde, käme niemand auf die Idee, Mr. Mascis stünde dahinter.· · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · ·

Bonus Track:

Marc Cohn / Listening Booth: 1970Membran Music, 19,90 Euro

Im allerletzten Moment erreicht mich noch eine CD, eine ver-spätetes Geburtstagsgeschenk, die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte. Den US-Singer Songwriter kennt jeder durch sein 1991 erschie-nenes zeitloses Lied Walking in Memphis. Im letzten Jahr erarbei-tete er eine ganz besondere Hommage an seine Lieblingsstücke aus dem Jahr 1970 – offenbar dem Jahr, das ihn in seiner Kar-riere am meisten inspirierte. So entstand eine sehr persönliche CD mit Titeln von Cat Stevens, Paul McCartney, Van Morrison, Redende Clearwater Revival und anderen. Eine schöne und leise Reise in die musikalische Vergangenheit.

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Ein Buch mit lauter alten Kinderfotos, dazu Texte, die Alltagssituationen be-schreiben – hat so ein Buch überhaupt eine Relevanz für heutige Kinder? Es hat! Denn dieses wunderbare Buch lädt die ganze Familie zum Gucken und Erzählen und Erinnern ein.

Zunächst lagen die Bilder vor. Sie stammen von Karl Heinz Mai, einem Leip-ziger Fotografen, der als Soldat so schwer verwundet wurde, dass er beide Beine verlor. In seinem selbst gebauten Rollstuhl fuhr er durch Leipzig und hielt mit der Kamera das Leben fest. Er fotografierte alles, was ihm vor die Linse kam – zurückkehrende Soldaten, das Handeln auf dem Schwarzmarkt, die Gesichter der Trümmerfrauen. Doch besonders gerne fotografierte er Kinder in Alltags-situationen – über 1.000 Kinderbilder hat er aufgenommen, 130 davon können in diesem Buch bestaunt werden. Die meisten wurden in Leipzig aufgenommen, könnten aber aus jeder anderen Region stammen, unterschieden sich die Kinder doch nicht großartig in ihren Spielen, ihrem Alltag, ihren Wünschen und Sorgen.

So echt die Fotos sind, so erfunden sind die Geschichten dazu. Der Autor Her-bert Günther, selbst ein Nachkriegskind, vermischt seine eigenen Erinnerungen mit der Vorstellung, was die Kinder auf den Bildern gerade bewegt haben könnte. Er erzählt vom Schonzimmer, dem Wohnzimmer, das immer nur an Sonn- und Feiertagen benutzt wurde und in dem sich ausgerechnet an einem Sonntag eine kleine Maus reingeschlichen hat. Von Onkel Bernhards Hochzeit, bei der der Bräutigam sich übergeben musste, weil er so reichhaltiges Essen gar nicht ge-wohnt war. Von Frieder, der seine »Gefüllten Tomaten« nicht essen wollte und da er dann auch nicht vom Tisch aufstehen durfte, vor seinem Teller einfach einschlief – die Tomaten natürlich unangerührt…

Und Herbert Günther berichtet auch von den Sorgen in Zeiten, in denen es nicht alles in Geschäften zu kaufen gab und das Gemüse im Garten und die Schweine im Stall gut bewacht werden mussten. Für die Kinder heute sicherlich unvorstellbar, aber viele Großeltern werden bestätigen können, dass es wirklich zu ihrer Kindheit so war, wie es hier erzählt wird. Und beim Lesen oder besser noch beim Vorlesen riecht man förmlich Bohnerwachs und Kamillentee, hört den Kohlewagen, wie er gerade um die Ecke biegt – so lebhaft und warmherzig erzählt Herbert Günther von der Kinderzeit im Nachkriegsdeutschland. Manche Beobachtungen sind traurig, über andere muss man lachen, hier ist eben das ganze Kinderleben versammelt – so wie es damals war und auch heute noch ist…

Die Augen manch einer Großmutter oder eines Großvaters werden beim An-blick der Fotos oder beim Lesen der Geschichten garantiert leuchten, es wird Erinnerungen wecken und sicherlich werden sie ihren Enkeln noch von Aben-teuern aus ihrer eigenen Kindheit als Zugabe erzählen.

„Übrigens“, so schrieb uns Monika Osberghaus vom Klett Kinderbuchverlag, „haben sich schon ein paar Leipziger »Kinder von früher« wiedererkannt. Die Leipziger Bildzeitung hat nämlich Fotos aus dem Buch abgebildet und gefragt, ob jemand diese Kinder kennt, und dann hat sich ein Mann gemeldet, der sich noch genau erinnern konnte. Er hat den Bild-Fotografen an die Stelle geführt, wo das Foto damals entstanden ist, und es wurde ein neues Foto gemacht, mit dem inzwischen 66 Jahre alten Kind von früher. Seine »echte« Geschichte hat er gleich auch noch erzählt – sie ist ähnlich anrührend wie im Buch.“

Sandra Rudel

Ein Foto und seine Geschichte

Karl Heinz Mai (Fotos) /Herbert Günther (Text)Wir Kinder von früher.Bilder und Geschichten auseiner anderen Zeit.Klett Kinderbuchverlag19,90 Euro

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Vor einigen Tagen bekam ich eine kleine schwarze Kiste. Der Inhalt: Bilder aus längst vergangenen Tagen. Sie mir richtig anzuschauen, dazu fehlt mir bis heute Zeit und vor allem Ruhe. Schließlich sind da Erinnerungen, die hochkochen, und wer weiß, was da plötzlich ins Bewusstsein gespült wird. Darauf sollte man ein klein wenig vorbereitet sein.

Ein Bild aber habe ich gleich herausgepickt, wurde es doch zu einer Zeit ge-macht, als meine kleine Welt noch in Ordnung war. So echt das Foto auch ist, so subjektiv sind meine Betrachtungen dazu.

Von »Schnappschuss« kann wohl keine Rede sein im Jahre 1967. Es war der Tag meiner ersten Kommunion und die Ansage des Fotografen war klar: „Stellt euch mal alle dahin, dieses Bild ist für die Familienchronik.“ Der Blitzwürfel ist aufgesteckt, der Hintergrund ist nicht unter ästhetischen Gesichtspunkten ge-wählt und dass mein Vater den halben Schädel wegrasiert bekam, spielt heute auch keine Rolle mehr. Die klassische Familie in den 60er Jahren. Vater, Mutter, vier Kinder. In der Mitte, der Stolze, das bin ich. Nicht, dass das meine vor-nehmliche Eigenschaft war damals, aber an diesem Tag hatte ich allen Grund zur Freude, es war schließlich mein Ehrentag.

Eine Hitze wie im Sommer beherrschte die Tage vor dem Weißen Sonntag. An all die Vorbereitungen, an denen so ein Siebenjähriger beteiligt ist, kann ich mich nur noch blass erinnern. Den Kommunionanzug schneiderte meine Mut-ter, Jacke, lange Hose, kurze Hose – sie hatte alle Kapriolen, die ein Aprilwetter schlagen konnte, bedacht. Sicherlich werde ich vier, fünfmal die halbfertigen Hosen anprobiert haben müssen, eine Prozedur, die ich meine ganze Kindheit über verabscheut habe, hielt sie mich doch von wesentlicheren Dingen des Tages ab. Außerdem wurden die Säume immer mit Stecknadeln provisorisch justiert. Beim Anprobieren musste ich jedesmal höllisch aufpassen, dass keine Nadeln in meinen Waden landeten. Und dann waren da die fast täglichen Gänge zur Niko-lauskirche. Die erste Beichte wurde mir abgenommen. Auf dem Weg dorthin ver-suchte ich mir meinen Sündenkatalog einzuprägen, sehr schematisch: Zuhause (nicht auf die Eltern gehört und den Bruder geärgert), in der Schule (nicht auf-gepasst und Kalla ein Bein gestellt), auf der Straße (den Nachbarn geärgert), in der Kirche (in der Bank getuschelt und nicht an Gott gedacht). Als Buße musste ich doch tatsächlich ganz klassisch dreimal ein »Ave Maria« beten, dann durfte ich wieder hinaus in die Sonne.

Die eigentliche Zeremonie musste selbstverständlich auch eingeübt werden. Zur vereinbarten Zeit raus aus der Bankreihe, hintereinander aufgestellt und ab nach vorne. Hostie empfangen (das war eine Luftübung) und dann rechts rum wieder in die Bank. Und prägt euch bloß eure Bankreihe ein! Am Kommuniontag ging aber dann doch so manches schief…

Ich war ziemlich aufgeregt. Am Morgen – lange bevor der erste Erwachsene überhaupt wach war – erklärte mein Bruder mir nämlich, dass es zum Nach-tisch eine Eisbombe geben würde. Ich überlegte den ganzen Weg zur Kirche, wie danach wohl unser Wohnzimmer aussehen würde, und so begann der Tag mit einem mulmigen Gefühl. In der Kirche war ich nicht in der Lage, dem alten De-chant Bollig auch nur ansatzweise zu folgen. Zum einen war er ein bereits sehr alter Mann und nuschelte; überhaupt sprach er mehr mit den Erwachsenen als mit uns Zweitklässlern. Zum anderen rief ich mir aber permanent die Schritt-folge ins Gedächtnis, „damit gleich auch ja nichts schief geht“. Plötzlich ging alles ganz schnell. Ich stand vor Dechant Bollig, wartete ein »Der Leib Christi« ab, bevor ich »Amen« sagte und meinen Mund öffnete. Die Hand des Priesters zitterte, als er mir die Hostie auf die Zunge legte. Legen sollte, denn eigentlich drückte er mir das Heilige Brot an den Gaumen. Da klebte es nun und ich ver-suchte mit der Zunge die breiige, kitzelige Platte zu lösen. Eine kompliziertes Unterfangen, dabei vergaß ich gleich die Marschrichtung und drehte mich in die falsche Richtung, um vom Altar abzutreten. Ein riesengroßer Messdiener (wahrscheinlich war der damals auch nicht älter als elf oder zwölf) brachte mich mit einem geraunten »da lang« und einem kräftigen Schubser auf den richtigen Weg. Zurück in der Kirchenbank war das meiste überstanden, ich hatte es ge-schafft. Der Rest war sozusagen die Kür: Alle Tanten umarmten mich, alle Onkel drückten mir anerkennend die Hand, zu Hause gab es Suppe, Braten und die zu Unrecht gefürchtete Eisbombe und den ganzen Tag über klingelte es an der Haustür. Alle Nachbarn gratulierten, die meisten mit einer Schachtel Pralinen. Ich hatte in meinem ganzen Leben nie wieder so viele Pralinenschachteln auf einmal besessen. Sie lagen auf dem Bücherschrank und aufgestapelt reichten sie mir bis zur Schulter. Das war aber nicht sonderlich schwer, war ich doch ein sehr, sehr kleiner Junge damals…

Thomas Schmitz

P.S.: Ein Foto und seine Geschichte ist eine wöchentliche Kolumne auf www.schmitzbuch.de

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Ein Foto undmeine Geschichte

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Sie heißen Luise, Sissi, Heidi, Poldi oder ganz einfach Unsere Kameraden. Sie sind aus robustem Seesackmaterial, auf denen das Leben bereits seine Spuren hinterlassen hat. Sie sind alle-samt Designertaschen, ihr Material stammt aus alten Wehr-machtsbeständen und wenn das alles wäre, könnte ich die Ge-schichte beenden, bevor sie begonnen hat.

So aber weiß ich gar nicht recht, wie und wo ich anfangen soll. Im Frauenknast von Schwäbisch-Gmünd oder doch bei zwei Designerinnen, die es leid waren, für ihre Auftraggeber um die halbe Welt zu reisen.

Bettina Burchard und Alexandra Dittrich lernten sich wäh-rend ihres Industriedesign-Studiums in Schwäbisch-Gmünd kennen, gemeinsam gründeten sie im Jahre 2001 das Design-büro lemonfish und entwickelten für Auftraggeber wie zum Beispiel Metabo oder Kärcher Funktionstaschen für deren Werkzeuge. Dabei gingen sie den Weg, den viele ihrer Kolle-gen gegangen sind: Planung und Fertigungsvorbereitung in Deutschland, die Fertigung selbst erledigten dann Firmen in Billiglohn-Ländern wie China oder Thailand. Neben der gan-zen Reiserei, die sehr kräftezehrend war, stellte sich immer noch ein mulmiges Gefühl ein, wenn man die Arbeitsbedin-gungen der Menschen vor Ort beobachtete. Als sie ihre Kinder bekamen, machten sie Schluss damit.

Für einen Designauftrag recherchierten Sie im Bereich Bun-deswehr. »Da haben wir uns erst einmal alle verfügbaren Ta-schenmodelle der Bundeswehr kommen lassen«, sagt Bettina Burchard. »Als wir uns mal genauer das Material angeschaut haben, waren wir begeistert und wussten, das ist genau der Stoff, aus dem wir Taschen produzieren wollen: gebraucht, mit Patina, unverwüstlich und das Material hat uns sofort Ge-schichten erzählt.«

So entstanden schnell Prototypen von Taschen, die aus See-säcken gefertigt wurden, die von Bundeswehrsoldaten aus den 60er Jahren stammten. Es wurden Applikationen aufge-näht, die Taschen wurden mit traditionellen farbenprächtigen Baumwollborten einer alten Wuppertaler Bandweberei verse-hen und so zu einem einmaligen Unikat, einem angesagten Accessoire für die Frau. Schließlich war ihnen klar, dass ihre Produkte auf diese Art unverwechselbar werden.

»Wir haben den Zeitgeist getroffen, denn der Trend, dass man was Gebrauchtes wiederbenutzt, hält bereits mehrere Jahre an. Unsere extrem unterschiedlichen Materialien bilden einen starken Kontrast zueinander und das macht unsere Pro-dukte so besonders.«

Nur, wo sollte man produzieren lassen? Doch wieder in Fernost? Auf keinen Fall! Bettina Burchard hatte die Idee. Sie kommt aus Schwäbisch-Gmünd und wusste natürlich von dem dortigen Frauengefängnis. Ein Kontakt war schnell hergestellt und die erste Voraussetzung war gegeben: die Strafanstalt ver-fügte über eine anstaltseigene Näherei. Doch die Werkstatt-leiterin dämpfte die Euphorie des lemonfish-Duos: »Erwarten Sie bitte nicht zu viel!«, mahnte sie. »Sie brauchen sehr viel Geduld und ich kann für eine konstante und gute Produktion Ihrer Entwürfe nicht garantieren.«

Dennoch sorgte sie dafür, dass die Näherei so umgerüstet wurde, dass mit der Produktion der Taschen begonnen werden konnte. Und der Umbau war auch nötig, stellte man doch fort-an nicht mehr Handtücher her, sondern arbeitete mit äußerst schweren und widerspenstigen Stoffen.

»Wir haben schwieriges Rohmaterial. Einen Seesack zu rei-nigen und zu zerlegen – das ist die erste Arbeit – ihn aufzu-schneiden und aufzutrennen ist Schwerstarbeit«, erklärt mir Bettina Burchard, als sie meinen etwas ungläubigen Blick wahrnimmt. »Die werden in Schraubstöcke eingespannt. Oft muss man zu zweit daran arbeiten, um Nähte zu öffnen oder Ösen zu entfernen.«

Danach wird zugeschnitten, genäht und – Originalgurte, Schließen und Ösen – alles vom Seesack wird verarbeitet.

»Eigentlich bin ich jeden zweiten Tag im Gefängnis und be-spreche die laufenden Kundenbestellungen und neue Modelle. Das ist ein großer Vorteil. Ich bin in der Werkstatt und spre-che mit den Frauen die für uns fertigen, geschäftlich selbstver-ständlich – aber eben häufig auch privat.«

Frau Burchard erklärt mir die Besonderheit ihres Engage-ments. »Für den Häftling ist es ein großes Privileg, zu arbei-ten. Sonst geht die Haftzeit ja überhaupt nicht vorbei. Es gibt aber klare und enge Regeln. Wenn die Insassen gegen diese Regeln verstoßen, wird ihnen das Privileg der Arbeit wieder genommen. Nimmt aber alles seinen normalen Gang, verdie-nen sie sogar etwas Geld. Nicht viel und nicht alles können sie

Lemonfish

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ausgeben. Ein Teil wird angespart für die Zeit nach der Haft, und nur der kleinere Teil steht als Taschengeld zur Verfügung. Außerdem finanzieren sie so zumindest zum Teil auch ihren Haftplatz. Die Frauen erfahren, dass ihre Arbeit geschätzt wird, sie produzieren Dinge, die gefragt und beliebt sind. Sie werden zu einem Teil dieses Erfolges und das macht sie stolz und gibt ihnen Mut für die Zukunft.«

Während Bettina Burchard häufig Außentermine wahr-nimmt, kümmert sich ihre Partnerin Alexandra Dittrich da-rum, dass in der Firma alles funktioniert. Die Zusammenar-beit mit dem Frauengefängnis beschränkt sich nicht nur auf die Haftzeit. Drei der inzwischen zehn Mitarbeiterinnen bei lemonfish in Plüderhausen sind ehemalige Inhaftierte.

»Unsere Frauen identifizieren sich mit unseren Produkten und dem gesamten Projekt, schließlich sind es ja Taschen, die sie produzieren – ein Frauenthema, oder?«

Ich weiß nicht genau, ob der Satz etwas ironisch gemeint war, aber im Hintergrund, in der Näherei, höre ich lautes Lachen: die Frauen haben großen Spaß bei ihrer Arbeit und miteinan-der. Sie werden in viele Entscheidungen eingebunden und sind hoch motiviert.

»Als wir die erste Musternäherin eingestellt haben und uns zum ersten Mal für eine Inhaftierte entschieden haben, wuss-ten wir nicht, wie intensiv die Zusammenarbeit wird und was dies für uns als Arbeitgeber bedeutet. Wir haben zum Beispiel die Drogenproblematik unterschätzt. Und von offizieller Stelle gibt es leider keine Unterstützung für Resozialisierungspro-jekte wie das unsere.«

Sie haben dann viele Dinge selbst in die Hand genommen, waren bei der Wohnungssuche behilflich, haben Möbel be-sorgt, anders ist so etwas nicht zu realisieren. Die erste Nähe-rin aus der JVA ist inzwischen seit fast 3 Jahren bei lemonfish und dieser Erfolg macht ihnen Mut für die Zukunft und zeigt, dass es möglich ist.

»Wir haben uns besondere Produktionsstätten ausgesucht, wir verarbeiten besondere Materialien, die alle ihre Eigenhei-ten haben, aber am Ende lohnt sich die Arbeit und wir halten ein besonderes Produkt in der Hand. Ein Unikat, gefertigt von Unikaten.«

Nach dem gemeinsamen Mittagessen (auch da habe ich nicht schlecht gestaunt, als ich sah, wie der einzige Mann begann, Essen für die komplette Belegschaft zu kochen) bekam ich all das Engagement von Bettina Burchard und Alexandra Dittrich noch einmal bestätigt. Bei dieser Gelegenheit werden Projek-te besprochen, private Dinge diskutiert wie bei einer großen Familie.

Ein gemischtes Team von Angestellten trägt die Ideen der Designerinnen mit und lässt sich von deren Begeisterung an-stecken.

Mit mir am Tisch sitzen blieb nach dem Essen Tina W. Die gelernte Konditorin ist 37 Jahre alt und verbüßte eine mehr-jährige Haftstrafe. Ich frage vorsichtig warum und die Antwort ist so einleuchtend wie überraschend: »Man hat uns halt ver-pfiffen.«

»Ich habe anderthalb Jahre Handtücher genäht, danach kam ich in den lemonfish-Zuschnitt. Mein Vorteil war wohl, dass

Lemonfishich in der Zelle aus lauter Langeweile immer gestickt habe. Ich konnte nicht nähen, aber ich war ja lernfähig. Außerdem gab’s in der Näherei ein bisschen mehr Geld. 1,53 in der Stunde und 3/7 davon – das ist die Regel – durfte ich sofort behalten.«

Seit einem Jahr ist sie draußen und kämpft mit den Schwie-rigkeiten, im Knast gewesen zu sein. Aber immerhin habe sie einen Job und gleichzeitig eine neue Heimat. Alles andere wird sich geben.

»Ich werde das schaffen, ein Schritt nach dem anderen!«20.000 Taschen stellt lemonfish mittlerweile jährlich her. Das

machen sie mit zehn Mitarbeitern und etlichen Dutzend Ex-ternen. Nicht mehr nur in der Haftanstalt Schwäbisch Gmünd, sondern noch in drei weiteren, außerdem werden einige Arbei-ten in Behindertenwerkstätten erledigt und in einem Berufs-förderungswerk, in dem unter anderem nicht vermittelbare jugendliche Schulabgängerinnen zu Näherinnen ausgebildet werden. Ein reichlich großes Beschäftigungsfeld für eine Fir-ma, die doch eigentlich nur Taschen herstellen möchte.

Thomas Schmitz

Selbstverständlich können Sie sich eine ordentliche Auswahl dieser Taschen in unserem Laden anschauen. Die meisten sind einmalige Unikate. Lemonfish-Taschen kosten in der Regel zwischen 80 und 180 Euro.Und, ein kleiner Tipp am Rande:Sie eignen sich auch hervorragend als Schultaschen.

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Jahrelang habe ich einigermaßen erfolgreich verhindert, dass das Wort toll allzu häufig in Buchbesprechungen aufgetaucht ist. Bemühe ich ein Synonymenwörterbuch oder einfacher noch die Thesaurus-Funktion meines Rechners, ist auch relativ schnell klar warum: von über-mütig ist die Rede, von fidel oder verwegen. Selbstherrlich taucht als Begriff auf genauso wie zünftig oder wild. Alles Attribute, mit denen man in aller Regel keine Bücher beschreiben sollte. Und kaum ist das letzte toll aus dem Vokabular der schmitzkatzen-Schreiber gestrichen, dringt eine Reihe in unser Bewusstsein, die doch tatsächlich Die Tollen Hefte heißt.

Ich möchte versuchen diese Reihe zu beschreiben, es wird mir nicht leicht fallen. 32 Seiten Um-fang haben sie alle. Den Heften ist gemeinsam, dass sie im Originalflachdruck gedruckt und fa-dengeheftet sind. Manche enthalten Gedichte, andere Erzählungen, und ein Heft widmet sich Palindromen. Dieses Wort musste ich erst einmal nachschlagen; es bedeutet, dass man Wörter und Sätze vorwärts und rückwärts lesen kann. Mehrere Hefte sind spezielle Lexika (es gibt da zum Beispiel das »Festliche Lexikon«, in dem ein Autor seinen Ärger über Feste zum Ausdruck bringt). Manche Hefte bestehen nur aus Zeichnungen. Die ersten Hefte sind zunächst in einer ganz kleinen Auflage in einem ganz kleinen Verlag erschienen. Mittlerweile sind sie geadelt und erscheinen bereits seit Jahren in der literarischen Büchergilde Gutenberg.

Die Hefte haben alle eines gemeinsam: sie lassen sich nicht einordnen, sie lassen zunächst keinen roten Faden erkennen. Von Oskar Pastior erschien zum Beispiel »Urologe küsst Nabel-strang«, Rotraut Susanne Berner steuerte die »Nudelsuppe« bei. Von T.C. Boyle erschien »Hard-rock-Himmel« und mit dem »Skizzen-und Fratzenbuch« von Volker Pfüller oder »Der letzte Ritt von Billy the Kid« von Michael Ondaatje, weiß man auch erst einmal wenig anzufangen.

Gemein haben alle Hefte allenfalls, dass sie sehr aufwändig produziert werden und dass das Text-Bild-Verhältnis ein absolut gleichberechtigtes ist. Bei der oft störrischen Aufmachung der Hefte fallen einem spontan der Surrealismus und der Dadaismus ein. Die Gestaltung ist in ih-rer Radikalität mehr als schwierig, manches scheint auf den ersten Blick unverkäuflich. Als ob jemand seine Liebe zu den Comics bis ins Erwachsenenalter hinübergerettet hat.

München. Zwischen Schlachthof, Großmarkt und der Isar befindet sich ein Altbauviertel, das einen erstaunlich dörflichen Charakter bewahrt hat. Als ich meinen Wagen in der Dreimüh-lenstraße abstelle, stoppen kleine Kinder auf ihren Rollern und schauen, wer da gekommen ist. Ein Essener Kennzeichen in dieser Gegend ist nicht üblich. Hier lebt und arbeitet Armin Abmeier gemeinsam mit seiner Frau, der Illustratorin Rotraut Susanne Berner. Wohnung und Galerie sind eine Einheit. Die Tür steht auf, Abmeier winkt mich herein und empfängt mich wie einen alten Freund. Der weißhaarige, drahtige Mann ist 71 Jahre alt und seit 20 Jahren der Herausgeber der Tollen Hefte. Seit 1966 ist er Buchhändler und arbeitete über 25 Jahre als Verlagsvertreter, unter anderem für renommierte Literaturverlage wie Hanser, Greno, Steidl und Wagenbach.

Etwas provokant und den Blick auf die vordergründig wenig verkäuflichen Hefte gerichtet, frage ich ihn, für wen er diese Reihe eigentlich ediere.

Die Antwort kommt spontan, ist kurz und knapp und eigentlich hätte ich sie mir denken können:

»Für mich, selbstverständlich!«Dann beginnt er zu erzählen, wie er Herausgeber der Tollen Hefte wurde. Ich merke, wie es

ihm immer noch eine große Freude bereitet, Geschichten an den Mann zu bringen. Vielleicht eine Reminiszenz an alte Buch-Tage? Als Hanser-Vertreter verkauft man schließlich nicht nur Bücher, genauso wichtig ist das Vermitteln von deren Inhalten.

»Es fing an mit Jim Parkers »Abenteuer im Weltraum«. Ich kaufte die Hefte regelmäßig am Kiosk. Das heißt, ich fragte immer mindestens zweimal nach dem neuen Heft, bevor es heraus war. »Billy Jenkins«, »Tom Prox«, »Die Rasselbande« und »Mickey Mouse« hatte ich damals schon hinter mir. Jetzt wollte ich hinaus, hinaus ins Weltall. Oder waren es doch die Sanella-Bilderalben, die mein Interesse an Bildern und Büchern schon früh weckten? Ich weiß es nicht mehr genau.«

Die Tollen Hefte

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Armin Abmeier steht auf und macht uns einen zweiten Kaffee. Die Atmosphäre des großen Wohnraumes strahlt eine ungeheure Ruhe aus. Küche und Wohnzimmer in einem. Ein domi-nierender Holztisch, eine silberne, laut zischende Espressomaschine, Bilderüberall dort an den Wänden, wo nicht schon Bücherregale stehen.

»Mein erstes eigenes Buch war dann übrigens »Robinson Crusoe«. Es stammte aus dem Nach-lass meines Onkels, mein Bruder erbte aus derselben Sammlung den »Lederstrumpf«. Es kam die große Lesezeit, auf dem Klo, beim Essen unterm Tisch, nachts mit der Taschenlampe unter der Bettdecke. Pro Tag ein Buch – mindestens.«

In der Schule und in Museen setzten sich die Bilderwelten der geliebten Comics für ihn fort. Am meisten beeindruckten ihn die Surrealisten.

„Den Höhepunkt in dieser seltsamen Mischung aus Leselust und der Gier auf neue Bilder-welten fand ich dann aber im Dadaismus. Da explodierte alles, was noch Form hatte. Vor allem Kurt Schwitters und Walter Serner haben es mir angetan. Walter Serner wurde mein wichtig-ster Autor. Sein einziger Roman »Die Tigerin. Eine absonderliche Liebesgeschichte« erschien 1925 im Elena Gottschalk Verlag in Berlin in der Reihe: Die tollen Bücher. In Anlehnung daran entwickelte ich dann später die Tollen Hefte.“

Die Tollen Hefte schlummerten als eine Idee bis 1990. Da wurde Armin Abmeier 50 und be-schloss, eine Erzählung seines Lieblingsautors Walter Serner, die dieser 1926 in einem Privat-druck veröffentlichte, als ein Tolles Heft zu drucken. Mit Illustrationen des Müncheners Volker Pfüller. Kein Klappentext, dafür ein Plakat als Beilage.

Zu den Zeichnern der Tollen Hefte gesellten sich Rotraud Susanne Berner, der in London le-bende Axel Scheffler oder Wolf Erlbruch. Viele Hefte – schließlich sind die Auflagen allesamt niedrig – sind vergriffen, und Titel wie zum Beispiel »Ratten« von Gottfried Benn und Wolf Erlbruch heute begehrte Sammlerstücke.

Ein anderes Sammlerstück habe ich dann sogar zu Hause. Vor vier Jahren kaufte ich »Ein Ab-lehnungsbescheid und seine Folgen«, eine Geschichte aus dem Nachlass von Charles Bukowski. Armin Abmeier, der ein großer Fan des amerikanischen Dichters ist (»Von Bukowski habe ich alles!«) gelang es, die bisher unveröffentlichte Erzählung ins Deutsche zu übersetzen und als im wahrsten Sinne des Wortes tolles Heft erscheinen zu lassen.

Drei Stunden sitze ich mit ihm zusammen, mehr als eingeplant. Viel habe ich gehört, wenig mitgeschrieben. Aber sein Schlusswort ist eine wunderbare Klammer um diese Zeilen, um eine Bücherwelt, vielleicht um ein ganzes literarisches Leben:

»Betrachte ich heute meine Tollen Hefte, stellt sich dieses Bauchgefühl, die Heftchen-Liebe meiner Kindheit wieder ein, einer Zeit, in der ich Comic- und Abenteuerhefte verschlang, von »Tarzan« über »Jim Parkers Abenteuer im Weltraum«, »Nick den Weltraumfahrer«, bis zu »Prinz Eisenherz« und den Westerngeschichten von Billy Jenkins und Tom Prox.«

Thomas Schmitz

Die Tollen Hefte

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Manche Bücher erschließen sich nicht auf den ersten Blick, andere bekomme ich nur zufällig in die Hand, wieder andere laufen Gefahr, durch das Raster des Alltags zu fallen. Neun davon möchte ich Ihnen vorstellen und Ihnen ans Herz legen.

Christoph DrösserDie Zeit – Wissen in Bildern.Die besten Grafiken zu den Fragen der WeltEdel Verlag, 49,95 Euro

Das Ressort »Wissen« der ZEIT umfasst jede Woche fünf Zeitungsseiten vollgespickt mit Informationen. Da war vor zwei Jahren die Verwirrung groß, als die ZEIT, die ja vom Wort lebt, ganzseitige Schautafeln unter diese Seiten misch-te. Die ZEIT-Grafik bietet Themen aus den verschiedensten Wissensgebieten, von unterschiedlichsten Grafikern indivi-duell umgesetzt. Der Herausgeber Christoph Drösser hat die schönsten davon zusammengestellt und mit jeweils einer kur-zen Einführung versehen. Das Spektrum reicht von Kamasut-ra im Tierreich und Theorien über das Aussterben der Saurier über die Evolution des Fahrrads und die größten Fußball-irrtümer bis hin zu unserem alltäglichen CO2-Ausstoß und zur Energiewirtschaft. Als Draufgabe liefert der Verlag noch ein separates Poster: »Die Woche im Pressehaus.« So entsteht die ZEIT.· · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · ·

David McCandlessDas Bilderbuch des nützlichen und unnützen WissensKnaus Verlag, 24,99 Euro

Und weil es so schön und informativ ist, gleich noch ein Buch mit lauter Schaubildern. Diesmal aber etwas augenzwinkern-der. Wieder ist Wissen wunderbar anzuschauen und Zusam-menhänge so leicht zu durchschauen. Das Visualisierungs-genie David McCandless erschafft aus Zahlen, Daten und Fakten einzigartige und unvergessliche Grafiken und Bilder. In welchem Land werden die meisten Bücher gelesen? Welcher Bart passt zu welchem Gesicht? Welche Musikstile beeinflussen sich wie? Welche Moralvorstellungen verbinden sich mit welcher Religion? Was verbraucht mehr Kalorien: Blümchensex oder Lesen? Welche alternativen Heilmethoden haben welche wissenschaftliche Relevanz? David McCandless ist einer der angesagtesten Informationsdesigner und gehört zu einer neuen Generation von Journalisten. Er setzt span-nende Fakten ebenso überzeugend ins Bild wie komplizierte Zusammenhänge. Mithilfe von Farben und Formen macht er Wissen sichtbar. So entsteht aus über einhundert originellen Bildern ein Kaleidoskop aus nützlichem und unnützem Wis-sen, das einfach Spaß macht.Ein Buch voller Anregungen und Überraschungen, bestens als Geschenk geeignet.Auf dem Weg in unsere Betriebsküche hängt ein kleines Pla-kat, das ich dem Buch entnommen habe:Wie macht man den perfekten Kaffee?

Jochen Gerz (Hrsg.)2-3 Straßen. Eine Ausstellung in Städten des Ruhrgebiets von Jochen Gerz DuMont Buchverlag, 86,- Euro

Am Anfang war es eine lapidare Anzeige und 1457 Menschen aus Europa und der ganzen Welt bewarben sich. Der Inhalt: ein Jahr mietfrei wohnen. Ein Jahr lang leben in Dort-mund, Duisburg und Mülheim in Straßen ohne besondere Vorkommnisse, die kein Reiseführer verzeichnet, in denen Migranten einen hohen Teil der Bevölkerung ausmachen.78 Personen wurden ausgewählt und wurden so Teilnehmer ei-nes Kunstwerks sowie Autoren eines kollektiven Textes. Wird es im Laufe des Jahres Veränderungen geben? Für die Miet-freiheit schreiben die Kreativen gemeinsam einen Text. Nicht nur sie, auch die alten Mieter schreiben und das gleiche tun im Laufe des Jahres immer mehr Besucher der Ausstellung in den Straßen. 900 Autoren zählt mittlerweile die vorliegende Dokumentation. 3000 Seiten Ergebnis eines spannenden Ruhr-2010-Projekts.· · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · ·

Elke Heidenreich / Tom KrauszDylan Thomas. Waliser. Dichter. TrinkerKnesebeck Verlag, 29,95 Euro

Bob Dylan war ein Leben lang von seinen Gedichten beein-flusst, Paul McCartney behauptet, John Lennon habe nur wegen Dylan Thomas angefangen, Songs zu schreiben und Mick Jagger wollte immer einen Film über ihn drehen.Elke Heidenreich schildert das unkonventionelle Leben des weltberühmten, aber vielen doch völlig unbekannten Waliser Dichters, der mit nur 39 Jahren starb. Ergänzt wird der Text durch die außergewöhnlichen Schwarzweiß-Fotografien des Fotografen Tom Krausz. Er fängt die schroffe Schönheit des Landes ein, ohne die die Literatur von Dylan Thomas nicht zu verstehen ist. Ein wunderbares Buch!· · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · ·

Jack KerouacMein Bruder, die SeeEdel Verlag, 39,95 Euro

Von der Machart etwas ähnlich – auch hier Text-Schwarz-Weiß-Fotografie-Kombination – ist dieses großformatige Buch ebenfalls sehr außergewöhnlich.»Mein Bruder, die See« ist ein bisher unveröffentlichtes Werk von Jack Kerouac. In einer New Yorker Bar lernen sich zufäl-lig der Matrose Wesley Martin und der Dozent Bill Everhart kennen. Nach einer durchzechten Nacht entschließt sich der Schöngeist Bill spontan, seinen Posten an der Universität aufzugeben und damit auch seine bürgerliche Existenz, um mit dem Abenteurer und Frauenhelden Wesley zusammen in See zu stechen.Illustriert ist das Buch mit über 50 zeitgenössischen Fotogra-fien von Henri Cartier-Bresson und vielen anderen.

9 Bücherdie aus dem Rahmen fallen

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Benedikt GeulenDas Herz auf der Haut.Literarische Geschichten über das Tattoomare Verlag, 24,90 Euro

Irgendwann habe ich mich gefragt, warum ich in keiner meiner Lebensphasen in Erwägung gezogen habe, mich tä-towieren zu lassen. Heute bin ich ziemlich froh, ohne diesen permanenten Körperschmuck auszukommen, riecht er doch schon lange nicht mehr nach Abenteuer und Freiheit, son-dern ist im Mief der mittelmäßigen Bürgerlichkeit angekom-men. Schaut man sich unsere First Lady an, weiß man, die Tätowierung ist lange schon salonfähig geworden.Vornehmlich aus der Zeit, als das Tattoo noch anrüchig-mar-kantes Markenzeichen der Seeleute, Soldaten und Strafgefan-genen war, stammen die Erzählungen, die Benedikt Geulen in diesem wunderschönen, in lindgrünen Leinen eingebundenen Band gesammelt hat.»Das Herz auf der Haut« enthält Höhepunkte der internatio-nalen Literatur, darunter Erzählungen von Ray Bradbury, Sylvia Plath, Franziska Gerstenberg und John Irving. Darin verausgaben sich geniale Tätowierkünstler, um das perfekte Tattoo zu kreieren, Matrosen schrecken selbst vor Kirchen-raub nicht zurück, um das heißersehnte Motiv bezahlen zu können, und von mysteriösen Frauen gestochene Tätowie-rungen erwachen auf der Haut ihrer Träger zum Leben. Das ist doch mal etwas anderes!· · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · ·

Patrick Leigh FermorDie Zeit der Gaben. Zwischen Wäldern und WasserDörlemann Verlag, 29,90 Euro

An einem trüben Dezembertag macht sich der achtzehnjäh-rige Patrick Leigh Fermor zu Fuß auf, quer durch Europa von Hoek van Holland nach Konstantinopel. In dem Jahr, in dem Hitler an die Macht kommt, wandert der vielseitig interes-sierte Mann durch Wiesen und Wälder, verschneite Städte und die Salons der so genannten guten Gesellschaft. Er macht Bekanntschaft mit Handwerkern, Arbeitern und Direktoren, nächtigt in Scheunen, Hospizen und Schlössern. In seiner präzisen und gleichsam poetischen Sprache lässt Fermor ein Europa entstehen, das bereits wenige Jahre später in Schutt und Asche liegen soll. 800 Seiten Lesevergnügen.· · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · ·

Jazz Icons. Buch & 8 CDsEdel Verlag, 49,95 Euro

In der mehr als hundertjährigen Geschichte des Jazz haben Musiker mit ihrem technischen Können, ihren Ideen und ihrer Leidenschaft dieses Genre zu einer der einflussreichsten und beliebtesten Musikrichtungen gemacht. »Jazz-Icons« stellt acht der erfolgreichsten Jazz-Größen vor, die diesen Musikstil entscheidend geprägt haben: Louis Armstrong, John Coltrane, Miles Davis, Dizzy Gillespie, Coleman Hawkins, Sony Rollins, Tony Scott und Dave Brubeck. In acht Portraits führt der Jazz-Experte Peter Bölke unterhaltsam durch die Biografie der einzelnen Musiker und beleuchtet ge-genseitige Einflüsse und Querverbindungen der Jazz-Szene. Eindrucksvolle Fotografien ergänzen die Kapitel und runden »Jazz Icons« – zusammen mit acht Musik-CDs – zu einem Erlebnispaket ab.

Juli GudehusDas Lesikon der visuellen Kommunikation. Eine Collage.Verlag Hermann Schmidt, 100,– Euro

Bevor Sie jetzt gleich über den Preis stolpern, lassen Sie mich erklären: Das Buch hat 3.000 Dünndruckseiten und wiegt 2.200 Gramm. Seine Schöpferin hat 9 Jahre gebraucht um alles Material zu sammeln. Rund 14.000 Arbeitsstunden ste-cken in dem Mammutwerk. Und wenn Sie jetzt glauben, ich schreibe an der Zielgruppe vorbei, ist das auch nur bedingt richtig. Klar, in erster Linie sind es Gestalter, Grafikdesig-ner, Werbeleute, die sich dafür interessieren. Aber einmal in dieses Buch abgetaucht, ist ein Auftauchen nur schwerlich möglich. In 508 Kapiteln wird Designgeschichte und darüber hinaus gleich das ganze Leben abgehandelt. 9.704 Begriffe auf besagten 3.000 Seiten – so eng bedruckt, dass ich mit meinen schlechten Augen zuweilen eine Lupe brauchte um Randbemerkungen zu lesen. 3.513 Menschen kommen zu Wort, 627 haben auf Wunsch von Frau Godehus eigene Bei-träge geschrieben. 42.000 Texte gedruckt auf einem Papier, dass für das »Lesikon« extra gefertigt werden musste.Das »Lesikon« ist Lexikon und Lesebuch zugleich und wird mich sicherlich die nächsten Jahre begleiten.

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Die Generation Mama scheint sich aufgelöst zu haben und der Generation Schauen-wir-mal-was- draußen-so-geht gewichen zu sein. Diesen Eindruck haben wir zumindest in unserer Buchhand-lung, sind es doch gleich vier mit Schmitz verbundene junge Damen, die ihre eigenen Wege ge-hen und ihre ersten WG- und andere eigenen Wohnerfahrungen machen möchten. Vermutlich wird ein bekanntes schwedisches Möbelhaus bemüht, um sich häuslich einzurichten und auch auf dem Trödel findet man das eine oder andere nützliche Utensil. Doch wie sieht es in der Küche aus? Werden die vier auch diesen für sie vermutlich neuen Herausforderungen gerecht werden? Oder werden die Eier so lange gekocht, bis sie weich sind? Immerhin gibt es neben der familiären Hilfestellung auch genügend Literatur, um sich einzuarbeiten. Annika, Hanna, Paula und Elena machten den ultimativen Selbsttest. Mit dem Studentenkochbuch »Satt durch alle Semester 1+2« zauberten sie ihr erstes 3-Gänge-Menü.

Wie die lautstarken Parolen à la »Nie wieder Schule schalalala!« des letzten Monats und die anstehenden Abiprüfungen mal wieder ankündigen, zieht ein neuer Jahrgang hinaus in die Welt und teilweise auch direkt aus dem »Hotel Mama« in die erste eigene Wohnung. Auch mich persönlich zieht es jetzt mit einem Jahr Verspätung in die eigenen vier Wände, und manche meiner älteren und durch die Bank alle sehr kocherprobten KollegInnen sind etwas besorgt um mein leibliches Wohlergehen…

Zwar setze ich ganz hoffnungsvoll auf den edlen Helden in Kochschürze, ansonsten siegt die Küche wohl über mich, denn ich bin ein Kaffee-auf-Ex-Trinker und Apfel-auf-Inlinern-to-go-Esser. Zeit hat man bekanntlich als Auszubildender noch weniger als die Studenten, und diese Zeit nehme ich mir generell nur für Bücher und Menschen.

Drei besonders sympathische und hübsche Exemplare der zweiten Gattung überredeten mich dann tatsächlich zu einem gemeinsamen Kochnachmittag. Unsere Schülerhilfe und angehende Studentin Hanna hat den Plan gefasst, die Zeit nach den Prüfungen unter anderem auch für Kochstunden im familiären Kreis zu nutzen, und dementsprechend wollten wir dann zu viert das Kochbuch für Studenten »Satt durch alle Semester« erproben.

So begab ich mich mit Hanna zu Elena (ihrerseits Tochter von Thomas Schmitz und bald Neu-Kölnerin) nach Hause, um von dort aus mit der vierten im Bunde, Paula, den örtlichen Super-markt anzusteuern.

Denn obwohl wir teilweise schon die elterlichen Haushalte geplündert hatten (solch kleine Regelverstöße seien uns verziehen) brauchten wir noch das meiste für den Hauptgang Lachs in Schlafrock, ansonsten noch Pesto für den Rucola-Tomaten-Salat und ein Großteil der Erdbeer-Tiramisu-Zutaten.

Thomas Hoeren, Christiane LeeskerSatt durch alle Semester: 1+2Das StudentenkochbuchHölker Verlagje 9,95 Euro

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Der Spaß war schon beim gemeinsamen Einkauf groß und wir frisierten die Zutatenliste kräf-tig: Mascarpone wurde light, beim Pesto-Dressing entschieden wir uns für eines mit Parmesan, Eierlikör wollten wir uns dafür im Tiramisu sparen und irgendwer bestand auf Asti-Rosé… Das zumindest eine Fehlentscheidung dabei war, sollte sich später sehr deutlich herausschmecken.

Wieder in der Küche gab’s erst mal Kaffee, wobei Elena schon beim Filterkaffee an ihre Gren-zen zu stoßen schien, vielleicht lag es aber auch daran, dass ich »etwas härte Pressungen« ge-wohnt bin.

Was das restliche Kochen angeht…Nach anfänglichen Organisationsschwierigkeiten (drei Gerichte gleichzeitig zuzubereiten, da

musste schon mal die Möhre als Lesezeichen dienen…) kreierte Elena alkohol- sowie unfallfrei das Dessert, während Paula sich dem Salat widmete.

Der aus elterlichen Vorräten erbeutete Gouda wurde kurzerhand gegen Parmesan ausge-tauscht, denn die Käsereibe war partout nicht auffindbar.

Wer gut aufgepasst hat, dem wird aufgefallen sein, dass es sich bei dem Salat um eine ganz neue Eigenkreation handelte: Rucola-Tomaten-Salat mit doppelt Parmesankäse – ein eher kräf-tiges Vergnügen…

Die Soße für unseren Lachs im Blätterteig stellte sich wiederum als etwas unausgewogen bei der Zutatenmenge heraus. In der Mitte des Kochtopfes schwamm ein etwa faustgroßer Fett-kloß, den Hanna nur mit etwa einem halben Liter Milch verflüssigen konnte. Wie auch immer die Soße nach dem ursprünglichen Rezept gekocht - hätte schmecken sollen, in unserem Menu war sie sogar das Highlight.

Eigentlich haben wir am Ende aber mehr geredet als gegessen und allein dadurch schon wun-derbare und amüsante Stunden zusammen verbracht.

Mein Fazit aus diesem Kochselbstversuch steht jedenfalls fest: Bei Heimweh, Kummer oder Arbeits-/Unistress hilft nichts mehr als in einer netten Runde zusammen zu sitzen oder gar die Herausforderungen des Erwachsenseins zu meistern. Und was die Zukunft angeht: ich denke, Hanna hat durchaus Potential als Küchenfee und ich suche mir dann doch einen Koch fürs Leben…

Annika Wessel

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Der Saal tobt. Kinder singen, tanzen, klatschen und freuen sich ganz einfach. Erwachsene las-sen sich anstecken. Erst wippen sie verhalten mit, dann gibt es bei dem einen oder der anderen kein Halten mehr, sie mischen sich unters Kleinkindvolk und tanzen mit. Auf der Bühne steht ein Mann an der Gitarre. Er schwitzt. Er leistet Schwerstarbeit. Trotzdem lächelt er zufrieden.

Dieses Konzert kann ihm nicht mehr aus der Hand gleiten, diese Stimmung macht keiner mehr zunichte. Hinter ihm seine Band: Schlagzeug, Keyboard, Bass, Percussion, die klassische Be-setzung eben. Dazu ein dreiköpfiger, stimmgewaltiger Backgroundchor. Unterstützung kommt obendrein noch von einer Kindergartengruppe und einer Grundschulklasse. Alle sind mit In-brunst dabei. Gleich geht es auf die Schlussgerade, doch bevor Mach dich auf als Zugabe gespielt wird, setzt Christian Schigulski noch einen drauf und verteilt über hundert Kazoos – damit die Kinder auch ja richtig mittröten können, gleich, wenn die Post noch einmal abgeht.Detlev Jöcker war gestern. Eins, zwei, drei im Sauseschritt werde ich wohl nie wieder aus meinem Ohr bekommen, aber die Zeiten sind hoffentlich für immer vorbei. Heute gibt es Alternativen. Der Liedermacher Christian Schigulski und seine Band Saitentwist sind eine Hervorragende. Bei ihm werden Kinder ernst genommen und ihnen werden auch mal etwas kompliziertere Rhythmen und Harmonien zugemutet. Slideguitar, Reggae, Blues? Warum nicht! Kein Schlag-zeugprogramm wird am Keyboard aufgerufen, kein Computer unterstützt die Live-Musiker. Lieder wie Oh, wie es brät, Seeräuber Pit oder Wir sind Räuber gehen von den Ohren direkt in den Bauch und von da in die Füße.

Wer ist dieser Mann, der trotz seiner fünfzig Jahre verschmitzt wie ein Junge beim Schellen-männchen ausschaut, der mindestens genauso gerne singt wie er spricht, der Kinderlieder in einer Sprache schreibt, die eine halbe Kindheit nicht seine Sprache war?

Der obendrein nur nebenberuflich Musiker, eigentlich aber Polizeibeamter ist?

In Bytom, dem früheren Beuthen, in Oberschlesien wurde er 1961 geboren. Seine Eltern ver-suchten zu diesem Zeitpunkt schon einige Jahre Polen zu verlassen, um in Deutschland eine neue Heimat zu finden. Als sie 1971 ausreisen durften, lag ein achtzehnjähriger Antragskampf mit den polnischen Behörden hinter ihnen. Zu verdanken hat die Familie die Ausreise einem Mann, von dem Christian Schigulski heute immer noch sagt, er habe seinem Leben die richtige Richtung gegeben. Willy Brandts Kniefall und die sozialdemokratische Ostpolitik waren letzt-endlich dafür verantwortlich, dass »wir unsere neue Heimat in Essen gefunden haben.«

Nach einer ewig dauernden Zugfahrt mit zwei Grenzübergängen war die Ankunft verwirrend. Bei der Abfahrt aus Polen dachte er nur an Urlaub, und die Tränen der Verwandten und Nach-barn waren ihm peinlich. Bytom, Friedland, Unna-Massen-Essen, das waren vier Stationen in ein neues Leben, das alte fand von da an einfach nicht mehr statt.

»In der Schule wurde ich natürlich oft als Polack beschimpft. Da musste man durch. Dann gab es eben Schmackes. Ich war da wohl auch nicht zimperlich.«

Dass er die Sprache so schnell lernte, wundert ihn heute ein wenig, aber letztlich kann er sich noch nicht einmal erinnern, nicht deutsch gesprochen zu haben. Kinder seien da einfach un-voreingenommener. Außerdem habe er immer viel gelesen.

»Erst Fix und Foxi-Hefte, danach Jerry-Cotton-Romane und als ich dann mit Perry Rhodan an-gefangen habe, hatte ich es geschafft.« Heute liest er am liebsten den wortgewaltigen Robert Gernhardt…

Seine erste Gitarre bekam er dann mit 12. Eine E-Gitarre von Wertheim für sage und schreibe 178 Mark.

»Ich wollte damals unbedingt eine elektrische Gitarre haben. Spielen konnte ich nicht, aber alleine eine zu besitzen, fand ich total cool. Zuerst habe ich Lieder nur auf einer Seite geübt. Das Trimm-Dich-Lied aus dem Nachmittagsprogramm eignete sich gut, oder der Klassiker schlecht-hin: Smoke on the Water. Damals gingen im Bekanntenkreis die Platten rum. Irgendwann waren sie völlig verkratzt und gehörten keinem mehr. Sie wurden einfach immer weitergereicht. Da hörte ich mir meine ersten Stücke ab und übte, bis die Fingerkuppen blutig waren.«

SaitentwistKomm, gib mir fünfChromatic-Verlag, 13,90 Euro

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Eine musikalische Ader muss Christian Schigulski aber schon in seiner frühen Kindheit ge-habt haben. Wenn er sich auch nicht an viel erinnern kann, aber die Verwandten, die am Wo-chenende häufig besucht wurden, versteckten immer die Eierschneider, weil Christian perma-nent Musik darauf machen wollte. »Mindestens zehn Stück davon habe ich als Kind kaputt gemacht.«

Heute ist Christian Schigulski Polizeibeamter und Liedermacher in einer Person. Wie geht das zusammen, möchte ich wissen? Wie bekommt man Broterwerb und Leidenschaft unter einen Hut?

Alles gar nicht so schwer, ist seine Antwort. Als Polizeibeamter habe er Schichtdienst und da bliebe genug Zeit. »Bei Nachtschichten im Einsatzfahrzeug, wenn es darum ging Objekte zu bewachen, habe ich hier und da mit den Kollegen um die Wette gereimt. Zum einen verhindert das, im Dienst einzuschlafen. Sechs Stunden vor der Synagoge stehen ist nämlich ganz schön anstrengend. Zum andern schult es ungemein den Kopf.«

Das könne man wohl nicht in jeder Situation machen und auch nicht mit jedem, aber viele seiner Kollegen hat Schigulski mit seiner Musik angesteckt. Sie haben sogar bereits vor Jahren mal eine Charity-Weihnachts-CD aufgenommen. »Da haben wir oft bis in die Morgendämme-rung hinein geprobt. Dienst hin oder her, das Ding musste schließlich fertig werden.«

In diesen Tagen ist seine fünfte CD im Chromatic-Verlag erschienen. »Komm, gib mir fünf« – Gimme Five, Schlag ein – eine elastische Aufforderung, Saitentwist auf eine neue musikalische Reise zu begleiten. Stilistisch lässt sich die Truppe dabei nicht festlegen – Gipsy-Swing, Jazz, Reggae, Calypso, selbst das obligatorische 5-String-Banjo klingt erfrischend. Und seinem ers-ten Musikinstrument aus alter polnischer Vergangenheit hat er ebenfalls ein Denkmal gesetzt.

»Dann greift die Oma zu einem Gerät, das aus Plastik und dünnen Drähten besteht.«Der Eierschneiderblues. Davon, dass er sie alle zerstört hat, schreibt er natürlich nichts.Und darüber, wie er den Politiker, den er am meisten bewundert, einmal sprichwörtlich im

Regen hat stehen lassen, schreibt er natürlich auch nicht. Sollte vielleicht doch einmal in einem Lied verarbeitet werden. Das kann ja heilsam sein:

»Ende der 80er Jahre begegnete mir Willy Brandt einmal zufällig. Ich war mittlerweile junger Polizeibeamter und gehörte der Essener Einsatzhundertschaft an. Bei einem Staatsbesuch

war ich abkommandiert, um eine Straßenkreuzung vor der Villa Hammerschmidt freizuhalten. Das erste Fahrzeug, das ich anhielt, war ein Vierzigtonner. Der Fahrer – ein kräftig gebauter Mann in besten Truckerjahren – erkundigte sich nach dem Grund der unfreiwilligen Pause und setzte sich wieder in seine Kabine. Ein paar Minuten später versuchte ein schwarzer Mercedes, über den Gehweg an dem LKW vorbeizufahren. Klar, dass ich den Wagen stoppen musste. Der Chauffeur gestikulierte wild, er müsse schnell vorbei und seinen Fahrgast zum Staatsempfang bringen. Bevor ich antworten konnte, stand der LKW-Fahrer neben mir und schnauzte den Mann in Anzug und Krawatte an: Schwing dich in deine Karre, du PENNER und laber hier nicht rum. Du siehst doch, dass der Mann hier nur seine Arbeit tut.

Eingeschüchtert gab der Fahrer die Informationen ins Innere des Autos, worauf sich die hin-tere Tür öffnete und der bereits etwas altersschwache Willy Brandt ausstieg. Arglos und höflich lächelnd humpelte er an mir vorbei. Mann, war das peinlich.«

Thomas Schmitz

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Nach dem dritten Bier traute sich mein Gegen-über dann doch, die alles entscheidende Frage zu stellen: »Du bist Buchhändler? Kann man davon leben?«Ich schaute noch nicht einmal überrascht, habe ich die Frage doch in allen Variationen und in allen Phasen meines Berufslebens schon gehört. Das irritierte den Mann in der Kneipe sehr.»Ich meine, wer liest schon noch? Und wenn, geht man doch in eine Buchhandlung, die alles hat.Ich bestelle zum Beispiel immer bei amazon.«

Jetzt war es raus. Gleich drei Statements, alle davon sollten sitzen und endlich, jetzt wurde der große Online-Bruder di-rekt beim Namen genannt: amazon.

Normalerweise würde ich mein Bier austrinken, zahlen, meinem Tischnach-barn einen guten Abend wünschen und gehen. Heute aber war es anders. Irgend-wie hatte ich das Gefühl, das Ende der Bescheidenheit sei gekommen. Ob er es begreift oder nicht, ich würde ihm meine Sicht der Dinge erklären.

Obwohl es natürlich mehrere ande-re große Anbieter gibt, steht der Name amazon für Online-Buchhandel so wie Maggi für flüssige Suppenwürze oder Tempo für Papiertaschentücher. Und das, was amazon kann, ist jedem be-kannt, werden die Vorzüge doch immer gebetsmühlenartig heruntergeleiert; es ist aber auch genauso schnell erzählt.

amazon hat eine riesengroße Auswahl, sie liefern schnell und zuverlässig, au-ßerdem kann jeder von zu Hause, aus dem Büro oder wo auch immer er sich befindet, seine Bestellung tätigen.

Ja, und? Frage ich da nur. Es gibt die-se technischen Möglichkeiten, also nutzen wir sie auch – gerne und selbst-verständlich! Jeden Tag erreichen uns

Bestellungen, die übers Internet getätigt wurden. Auch hier genügt ein Mausklick und meine Kunden haben Zugriff auf 450.000 verschiedene Titel. Die Bücher-datenbank, der wir angeschlossen sind, ist eine der größten in Europa. Das ist unser Zentrallager, wenn man so will unsere Festplatte. Der Zugriff darauf dauert nur einen Tick länger als der auf den Arbeitsspeicher, also unsere Buch-handlung. Aber im Gegensatz zu amazon sind wir noch nicht einmal stolz darauf. Die Möglichkeit, ein bestimmtes Buch zu finden und rasch zu bestellen, ist natürlich sehr hilfreich, aber eigentlich kommt es doch darauf an, den Blick auf Wesentliches zu lenken und den Lesern überhaupt die Chance zu geben, stöbern zu können. Das Wort »stöbern« hat ja das Internet auch für sich vereinnahmt: to browse – stöbern. Gebe ich in meinen Browser »Liebe« und »Buch« ein, findet er in 0,17 Sekunden ungefähr 35 Milli-onen Einträge. Unmöglich dort zu stö-bern. Es ist paradox: durch den Blick auf alles findet man das Einzelne nicht – und das sucht man ja schließlich. Bei amazon reduziert sich die Trefferquote natürlich. Hier findet man »nur« 17.715 Einträge. Kommen Sie aber in meine Buchhand-lung, zeigen meine Kolleginnen Ihnen wahrscheinlich nur zehn oder zwanzig »Treffer«. Diese Bücher kennen wir aber und können Sie Ihnen ans Herz legen. Überhaupt kennen wir Sie – unseren Kunden – ganz gut. Schon bei unserem Einkauf überlegen wir ja, welches Buch zu welchem Kunden passen könnte.

Spätestens jetzt interveniert mein Ge-sprächspartner, keiner mache das besser als amazon. Bestelle er ein Buch, macht amazon ihm sofort neue Angebote. Und obendrein seien die Rankinglisten zu al-len nur erdenklichen Themen ebenfalls sehr hilfreich.

Mmh! amazon ist natürlich gut, wenn es um Mainstream geht, da gebe ich ihm recht. Nur, reicht das? Die Tipps, die amazon mir gibt, richten sich immer nach dem, was ich recherchiert oder bestellt habe. Kaufe ich einen Krimi, empfiehlt er mir zwei weitere. Bestelle ich den »Duden«, fragt er mich, ob ich »Wahrig, Deutsches Wörterbuch« nicht auch haben möchten. Für eine Kundin haben wir mal das »Lehrbuch der Zahn-technik, Band 1« nachgeschlagen. »Lehr-

Das Ende der Bescheidenheit.buch der Zahntechnik, Band 2« könnte Ihnen auch gefallen, war der ultimative Hinweis, der im Bruchteil einer Sekunde auf dem Bildschirm zu lesen war.

Eine Freundin gestand mir, dass sie vor einer Weile einen sogenannten Bei-ßerroman, einen suberotischen Am-Strand-lesen-und-dann-weg-damit-Titel bestellt hat. Die Bücher, die sie jetzt dau-ernd vorgeschlagen bekommt, findet sie schon lange nicht mehr lustig.

Wer sich von amazon beraten lässt, kann seinen eigenen Horizont nicht erweitern. Der Büchermarkt wird eben nur nach meinen eigenen Interessen durchkämmt. Die beste Datenbank der Welt kann nicht leisten, dass man zum Beispiel in einem Romanalphabet einer Buchhandlung Uwe Timm sucht, kurz vorher aber über Antonio Tabucchi stol-pert. Eine Buchhandlung verlangt seinen Kunden eben einen gewissen Spürsinn ab, da bleiben angenehme Überraschun-gen nicht aus.

Die Entscheidung, ein Buch einzukau-fen, beruht bei amazon ausschließlich auf Rentabilitätsberechnungen. Ob sie es glauben oder nicht, das sieht bei ei-nem Buchhändler, der seinen Beruf mit Leidenschaft ausübt, völlig anders aus. Auch er kennt natürlich nicht sämtliche Bücher, die er einkauft, aber Sie können sicher sein, er hat sich zu jedem Buch seine Gedanken gemacht. Stunden-lang sitzen Verlagsvertreter in unserer kleinen Küche. Wir trinken literweise Kaffee und sprechen über Neuerschei-nungen. Jeder unserer Mitarbeiter möchte bei den Gesprächen dabei sein, um möglichst viele neue Informationen aufzusaugen. Selbstverständlich geht es dabei auch um Wirtschaftlichkeit und Verkäuflichkeit, schließlich möchten wir uns alle unser Leben gut einrichten. Aber darum kümmern wir uns nicht in erster Linie. Zunächst geht es immer um Inhalte. Plötzlich entdecken wir dann das Buch – unser Buch – von dem schnell klar wird, von dem verkaufen wir viele Dutzend, obwohl es nie in irgendeiner Bestsellerliste auftauchen wird, höchstens in unserer eigenen Bestenlisten, die wir intern einfach Schmitzliste nennen.

Ich gebe ja zu, auch ich habe schon bei amazon Bestellungen getätigt. CDs hauptsächlich. Unabhängige Plattenlä-den sind ja noch viel seltener geworden,

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Das Ende der Bescheidenheit.

München in den frühenSechzigern: Vier Studentensitzen am Freitisch einerMünchner Versicherung undereifern sich über Gott unddie Welt und Arno Schmidt.Vierzig Jahre später begegnensich zwei von ihnen wieder –zwei Lebensläufe prallen auf-einander. Eine geistreiche,gewitzte, glänzend geschrie-bene Novelle.

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Sind wir diegeworden,die wir seinwollten?

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Anz. Timm, Schmitz Katze:Anz. Spiegel 28.04.2011 18:09 Uhr Seite 1

trotzdem gibt es ein paar Kilometer ent-fernt einen Laden, der Rock Store heißt. Das Prinzip Rock Store ist kein neues. Du gehst da hinein, schaust dich um, hörst in ein halbes Dutzend Platten, dann kommt der Chef und drückt dir noch andere in die Hand und ich kann davon ausgehen, da sind Treffer bei, auf die ich nie alleine gekommen wäre. Überhaupt scheint in Plattenläden genauso wie in kleinen Buchhandlungen immer noch sehr viel miteinander geredet zu werden. Diese klare Kommunikation hilft dann auch dem Kunden. Ideen entstehen nämlich immer in einem Miteinander, im gemeinsamen Gespräch. Da haben wir schon Lösungen gefunden, nicht nur auf die Frage, was man Tante Else am besten zur Goldhochzeit schenken kann, sondern auch auf Probleme der allge-meineren Art. So vermittelt man schnell mal eine Mitfahrgelegenheit, passt eine Stunde auf den Hund auf oder tauscht Kochrezepte aus.

Aber die Rankinglisten? Helfen die gar nicht? Mein Gegenüber lässt nicht lo-cker. Moment, diese Rankinglisten sind doch Bestsellerlisten. Reden wir hier über börsennotierte Unternehmen?

Die Gemeinsamkeit von DAX und Bestsellerlisten ist doch, dass es bei der Rangfolge immer nur um Geld geht. Das macht ja eigentlich eine Buchrangliste absurd. Es geht doch vielmehr um Ideen, Gedanken, Geschichten. Eine gute Ver-käuflichkeit hat aber nichts mit Qua-lität zu tun. Auf der Bestsellerliste von amazon befinden sich aktuell unter den TOP 20 das »BGB«, das »HGB« und die »Arbeitsgesetze« (diese Liste wird für das Wohl des Kunden stündlich überar-beitet). Hilft uns das weiter? Wenn Sie in eine Buchhandlung gehen, wird der Buchhändler Ihnen nicht zwangsläufig das empfehlen, was auf der Bestseller-liste steht, warum auch? Er wird Ihnen ein Buch empfehlen, das zu Ihnen passt. Nicht mehr, nicht weniger.

Wie dem auch sei, könnte mein Neben-mann einwerfen, Wasser findet seinen Weg. Die eine Ordnung fällt, die andere kommt. Der Onlinehandel wird den Ein-zelhandel in eine kleine Nische drücken, wenn nicht gar ganz verdrängen.

Das mag sein, würde ich dann antwor-ten. Aber was ist der Preis, den man zu bezahlen hat?

In der letzten Woche habe ich mit Pe-ter Kolling gesprochen, dem Geschäfts-führer der literarischen Buchhandlung Proust. Der schimpfte nicht zu unrecht: »Die Leute lamentieren gegen Kultur-verfall und entleerte Innenstädte, är-gern sich über 1-Euro-Shops, kaufen aber auf der grünen Wiese oder bequem von zu Hause.«

Unsere Kinder wissen heute schon nicht mehr, was eine Wählscheibe oder was Bandsalat ist. Vielleicht fragen sie

in einiger Zeit auch nach der Funktion des Buchhändlers. Doch das ist klar: Wenn es die Buchhandelsvielfalt nicht mehr gibt, sondern nur noch einige gro-ße Häuser und das Internet, gibt es bald die Verlagsvielfalt nicht mehr und somit fehlt dann auch die Buchvielfalt.

Bei Gartenteichbüchern ist das viel-leicht zu verkraften, aber wenn man mal unterstellt, es würden keine Bücher mehr gedruckt, die sich zum Beispiel nicht mindestens 5.000-mal verkaufen in Deutschland, die Auswahl wäre stark eingeschränkt. Keine Versuche mehr, keine Experimente, Verlage würden nur noch Titel verlegen, die sich 100prozen-tig verkaufen. Kurze Zeit später würden viele Bücher dann gar nicht mehr ge-schrieben. Nicht auszumalen, hat doch selbst jeder große Schriftsteller mal klein angefangen.

Nehmen wir nur das profane Beispiel Harry Potter. Die Startauflage des ersten Bandes war im Vergleich zu den Mega-auflagen ab Band 4 verschwindend ge-ring. Und überhaupt hat dieses Buch erst der kleine Handel groß gemacht – die Buchhändlerinnen und Buchhändler, die es mit Begeisterung gelesen haben. All die Großbuchhandlungen, amazon mit eingeschlossen, haben die Paletten erst umgesetzt, als Frau Rowling bereits am Markt etabliert war.

Gar nicht auszumalen, was mit den vielen kleinen literarischen Verlagen passiert, die voller Enthusiasmus Bü-cher verlegen, die aber auf den kleinen und unabhängigen Buchhandel ange-wiesen sind. Der hilft ihnen nämlich in der Dichte, die Bücher an den richtigen Mann, die richtige Frau zu bringen.

Jetzt rede ich die ganze Zeit vom un-abhängigen Buchhandel und stelle fest, diese Definition trifft auf die Buchhand-lung Schmitz überhaupt nicht zu. Wir sind sehr wohl abhängig.

Wir sind abhängig von hervorragen-dem Personal, das ein Berufsleben lang engagiert arbeiten muss, und das für ein eigentlich viel zu kleines Geld.

Von Verlagen, die von Saison zu Saison Autoren entdecken und gute Bücher ma-chen.

Von Vertretern, die in die Buchhand-lung kommen und mit Leidenschaft Bü-cher verkaufen.

Und von Ihnen, die nicht müde wer-den in unsere Buchhandlung zu kom-men. Zur Belohnung gibt’s meistens ein Buch, das passt, manchmal einen Kaffee, ein längeres Gespräch, nicht immer nur über Bücher, und hoffentlich immer ein herzliches Lächeln.

Thomas Schmitz

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Alain Serres / Bruno HeitzWie du deinen Eltern beibringst, Kinderbücher zu liebenKunstmann Verlag, 12,– Euro

Warum faszinieren Kinderbücher auch Erwachsene und warum vergessen manche Erwachsene diese Bücher doch im Laufe der Zeit? Dieses kleine Buch ist eine Hom-mage an das Kinderbuch. Zuerst hat man das Gefühl, es wäre eine reine Liebeserklärung an die Fantasie und die überbordende Vorstellungskraft der Kinder im Zusammenhang mit Kinderbüchern, doch weit gefehlt. Das Buch hat nämlich auch eine ganz konkrete kritische Komponen-te, welche mich als Erwachsenen sofort nachdenken ließ. Es geht um Gewalt und böse Personen in Kinderbüchern, um die Offenheit mit dem eigenen Körper oder um gesellschaftliche Missstände. Diese Dinge werden ganz offen auf eine Art und Weise angesprochen, dass es sogar Erwachsene verstehen. Also keine Angst vor Kinderbüchern, vor Kinderfragen und der ehrlichen und offenen Art von Kindern. Das Buch ist ein perfektes Geschenk für werdende Eltern, alle Erwachsenen, die Kinderbücher irgendwie verges-sen haben und alle Menschen, die Kinderbücher lieben.

Brian SelznickDie Entdeckung des Hugo Cabretcbj Verlag, 12,95 Euro

Dieses Buch ist für mich als Cineasten eine echte Entdeckung. Selznick erzählt die Geschichte des Waisenjungen Hugo, der im Pariser Hauptbahnhof des Jahres 1931 die Uhren wartet. Gleichzeitig hat er ein Geheimnis. Er ist im Besitz eines au-tomatischen Menschen, den er mit geklauten Teilen wieder reparieren möchte. Was er hierbei entdeckt, ist quasi die Geschichte der ersten laufenden Bilder, die Entstehung des Kinos und die Erfindung der Liebe zum Film.Man fühlt sich beim Lesen des Buches direkt wie im dunklen Kino. Das wunderschön gestaltete Buch wartet auf beinahe jeder Seite mit einer neuen Überraschung auf. Mal erzählt Selznick die Geschichte nur mit seinen sehr atmosphäri-schen Zeichnungen, dann wieder mit Text oder mit Originalbildern aus bekannten Filmen. Dies alles schafft er so fließend, dass man sich zwischendurch wirklich fragen muss: Habe ich nun Bilder gesehen oder war dieses Kapitel ein geschriebener Text?Für Kinder sicher ein absolut span-nendes und schön anzusehendes Buch. Für Erwachsene eine nicht minder spannende Geschichte und gleichzeitig voll mit Anspielungen an die Geschichte des Film und eine Hommage an das Kino. Einfach toll!Ab 10 Jahren

Brandon MullFabelheimBlanvalet Verlag, 8,95 Euro

Ein durch und durch - im wahrsten Sinne des Wortes - fantastischer Roman für Jugendliche und Er-wachsene, der ganz bestimmt auch Genrefremde in seinen Bann zieht. Kendra und Seth, 14 und 11 Jahre alt, sollen ihre Ferien bei den Groß-eltern verbringen, die sie eigentlich gar nicht kennen. Im Laufe der Zeit müssen die beiden feststellen, dass es dort nur so von magischen Wesen aus Fabeln, Geschichten und My-then wimmelt. Es handelt sich bei Fabelheim um ein Reservat für be-drohte Wesen der magischen Welt, in dem es ein labiles Kräftegleich-gewicht gibt. Aufgrund kindlicher Neugier und anfänglicher Furcht-losigkeit wird jedoch eine ernst zu nehmende Bedrohung des Friedens heraufbeschworen. Seth und Kendra müssen die Welt, Fabelheim, Oma, Opa und die Haushälterin retten. Dabei treffen sie auf Feen, Kobolde, Trolle, Satyre, Hexen und viele anderen Wesen. Brandon Mull hat sein Erstlingswerk mit viel Fantasie und Anspielungen auf bekannte Mythen gefüllt. Ein spannendes Buch, welches seinen Leser fesselt und nicht mehr aus seiner Welt herauslässt, bis man auch die letzte Seite verschlungen hat.

Jamie OliverJamie unterwegs…Dorling Kindersley Verlag, 24,95 Euro

Bei der Veröffentlichung dieser Ausgabe befand ich mich gerade im Süden im Urlaub. An meinen sonnigen Gefühlen möchte ich Sie gerne teilhaben lassen. Und wie würde das besser gehen als mit einem Kochbuch, das zeitgleich ein wunderschöner Bildband ist? »Jamie unterwegs…« versammelt lecke-re Gerichte aus Spanien, Italien, Marokko, Griechenland, Frankreich und Schweden – alles Länder, in die ich persönlich gerne in den Urlaub fahre und dort nach Herzenslust esse. In den Rezepten geht es von den klassischen landestypischen Gerichten über Spezialitäten bis hin zu den Jamie-Oliver-typischen Neukreationen. Neben den tollen Rezepten machen aber auch die einleitenden Texte und vor allem die tollen hochwertigen Fotos Lust auf mehr – und vor allem Hunger. Das neueste Produkt von Jamie Oliver verursacht 100% Fernweh. Ich verspreche es Ihnen.

Es ist mir wirklich schwergefallen, mich für zehn Bücher zu entscheiden, denn ich habe so viele gute Geschichten gelesen. Nun aber habe ich meine Wahl getroffen und muss sagen, dass diese zehn Titel es wirklich verdient haben, gelesen zu werden. Zwar habe ich mich um eine Mischung bemüht, da aber so viele wirklich gute Kochbücher erschienen sind, stelle ich Ihnen hier gleich zwei davon vor. Mit »Vertraute Fremde« ist ein Titel dabei, der ein wenig ungewöhnlich für unsere westeuropäischen Lesegewohn-heiten ist, den ich jedoch verschlungen habe. Trotz des nahenden Sommers finden Sie unter meinen Empfehlungen einen ziem-lich düsteren Thriller. Ebenso vertreten: ein packender Krimi aus Mexiko, ein Buch mit ziemlich viel Fantasie und mein Geheimtipp kommt gleich an zweiter Stelle. Ich wünsche Ihnen einen schönen Sommer und ganz viele tolle Bücher.

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die Familie endgültig. Es tun sich Abgründe auf, einige Familienmit-glieder können nicht mehr abstinent leben und bedrohen damit die Existenz der Familie.Ein tiefsinniger Roman über den Zerfall einer Familie, deren Mit-glieder nur nebenbei Vampire sind. Eine Milieustudie über das geregelte Leben in kleinen Dörfern. Ein Buch mit leisem, nicht zu aufdringlichem schwarzen britischen Humor und in keiner Weise der klassische Vam-pirroman.

Jiro TaniguchiVertraute FremdeCarlsen Verlag, 19,90 Euro

Bei anderen Büchern hat der Leser die Bilder im Kopf. Bei diesem Titel hier ist es anders. Hier liest man den Roman und hat die wunderschön gezeichneten Bilder direkt dabei. Der Architekt Hiroshi Nakahara landet durch Zufall in seinem alten Heimatdorf. Dort besucht er das Grab seiner Mutter und verwandelt sich in sein 14-jähriges Selbst. Auch das Dorf wurde 34 Jahre zurück versetzt. Mit dem Bewusstsein eines 48-jährigen hat Hiroshi nun die Gelegenheit, die Vergangenheit zu beeinflussen und zu ändern. Gleichzeitig will er nun endlich dem Verschwinden seines Vaters auf den Grund gehen und dieses verhindern.Was sich nun hier sehr fantastisch anhört, kommt dem Leser und Betrachter in keiner Weise so vor. Es scheint fast so, als könnten solche Dinge wirklich geschehen. Der Autor/Zeichner entwickelt die Geschichte mit langsamen, aber nie langweiligen Bildern. Die Bilder sind einfach schön anzuschauen und auch der Lesefluss wird durch die etwas ungewohnte Optik nicht gestört oder gar unterbrochen. Alles in allem wirklich empfehlenswert.

Joaquin Guerrero CasasolaDas Gesetz des Stärkerendtv, 9,95 Euro

Der Klappentext sagt: rasant, sarkastisch-derb, voll schwarzem Humor. Das sind große Verspre-chungen, doch der Thriller hält auch, was die Adjektive versprechen. Rasant ist das Buch, denn Casasola steigt sofort ein in die Entführung und Befreiungsverhandlungen um die Tochter des Bonbonfabrikanten. Dann geht es Schlag auf Schlag weiter. Sarkastisch-derb stimmt ebenso, denn das gefährliche Leben in Mexiko-City wird ungeschminkt, aber mit einer gehörigen Portion Ironie dargelegt. Die bestechlichen Polizisten werden ebenso bloß-gestellt wie die heuchlerischen Politiker. Und das, obwohl der Hauptprotagonist Gil Baleares und sein Vater selbst Polizisten waren. Der angekündigte schwarze Humor kommt auch nicht zu kurz, denn die Alzheimererkran-kung des Vaters lässt trotz der Tragik genug Platz für derbe Späße des Autors, ohne dass das Niveau sinkt. Er ist nie platt und trifft auch die schiefen Töne genau. Der Humor ist derb und Gil Baleares nimmt bei den Verhandlungen sowohl mit den Entführern als auch mit den Angehörigen der Entführten kein Blatt vor den Mund. Der Moloch Mexiko-City ist in diesem Buch quasi greif-, riech- und sehbar.

Michael TietzRattentanzUllstein Verlag, 14,95 Euro

Das Auseinanderbrechen der Zivilisation, ausgelöst durch einen weltweiten Stromausfall und den damit einhergehenden Problemen bei der Wasserversorgung sowie der Telekommunikation wird hier thematisiert. Was sich im ersten Moment unglaublich und utopisch anhört, wird in Michael Tietz‘ Thriller zur bitteren und vor allem glaubwürdig realistischen Bedro-hung. Der Autor hat die Handlung in eine Gegend im Schwarzwald gelegt. Anhand der kleinen Dorfgemein-schaft gelingt es Tietz, die moderne Zivilgesellschaft zu zerstören und er trifft deren Ängste punktgenau. Aber auch die Risiken und Probleme der Großstädte kommen nicht zu kurz. In all diesem Chaos geht es um die Frage nach der Stabilisierung und Durchsetzung von Recht und Ordnung. Die gefährliche Familien-

Gregor WeberKochen ist KriegPiper Verlag, 9,95 Euro

Der Schauspieler Gregor Weber hat sich mit 33 entschieden, neben seinem eigentlichen Beruf auch noch eine Lehre zum Koch zu machen. Diese absolvierte er in einem Berli-ner Gourmetrestaurant. Beeindruckt von dieser Erfahrung machte er sich auf die Socken, um die Gründe für den momentanen Kochboom zu ermitteln und herauszufinden, ob die Beliebtheit der internationalen Küche Deutschland fremdenfreund-licher gemacht hat, woher die vielbe-schworene Kochehre rührt und wie weit es mit ihr her ist. Von dieser Reise durch verschiedenste Küchen Deutschlands handelt dieser überaus amüsante, interessante und auch entlarvende Erfahrungsbericht. Er kocht in Dorfgaststätten, Pizzerien, Betriebskantinen oder aber auch in der Küche des Bundespräsidenten. Überall begegnet er unterschied-lichsten Kochnaturen und küchen-klimatischen Bedingungen. Seine entgeisterte Beschreibung, wie zwei Italiener in Windeseile Teigkugeln für die Pizzen formen ist einfach köstlich. Gregor Weber macht Blicke hinter die Schwingtüren der Restau-rantküchen möglich, wie sie sonst nicht zustande kommen. Manchmal abschreckend, meist aber Lust machend auf mehr. Vielleicht eine zweite Karriere als Koch?!

Matt HaigDie RadleysVerlag Kiepenheuer & Witsch19,95 Euro

Als ich dieses Buch in den Händen hielt war mein erster Gedanke: Oh nein, bitte kein Vampirroman mehr! Aber auf den zweiten Blick war ich verwundert, denn der Klappentext hörte sich anders und viel verspre-chend an. Und dieses Buch hält, was es verspricht. Die Radleys sind eine augenscheinlich ganz normale langweilige Familie in dem briti-schen Dorf Bishopthorpe. Wobei, was ist schon normal? Die beiden Kinder Clara und Rowan werden in der Schule gehänselt und zwischen den Eltern, Helen und Peter, ist es todlangweilig. Eine Hänselei artet dann jedoch aus und Clara tötet den Übeltäter. Die Eltern müssen sie nun wohl oder übel über ihr Dasein als Vampire aufklären. Sie müssen ihr Geheimnis vor den Anwohnern bewahren und rufen Peters Bruder Will zur Hilfe. Und damit zerbricht

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rt zusammenführung der Familie See-ger bildet die interessante Klammer, die das Buch rundherum gelungen macht. Dieser packende Thriller ist durchgehend spannend, verliert nie den Faden und mir stellte sich nicht nur einmal die Frage: Was würdest du tun, wenn...?

Mamke Schrag / Andreas WagenerDas Astrid Lindgren KochbuchOetinger Verlag, 16,90 Euro

Kochen wie Pippi Langstrumpf, Schlemmen wie auf Saltkrokan oder Suppe schlürfen wie Michel – »Das Astrid Lindgren Kochbuch« entführt in Schwedens Küchenwelt und lässt in Kindheitserinnerungen schwelgen. Unterteilt nach den unterschiedlichen Geschichten und Charakteren, findet sicher jeder das passende Gericht für sich und seine Lieben. Egal ob beim Kochen oder Genießen, die alten Kindheitserin-nerungen werden sicher wach. Das war zumindest bei mir so. Beson-ders nett sind bei jedem Rezept die einleitenden Zitate aus den dazu passenden Geschichten. Ich konnte die Rezepte dadurch sofort der entsprechenden Geschichte und Situation zuordnen und habe mich wie ein kleines Kind aufs Kochen und besonders natürlich auf das Essen gefreut. Die Aufmachung des Buches lässt den Leser und Koch sofort an alte Kinderbücher denken. Einige der Rezepte lassen sich sicher auch hervorragend zusammen mit Kindern kochen. Ich wünsche Ihnen und Ihren Lieben einen guten Appetit und lustige skandinavi-sche Gedanken beim Kochen und Genießen.

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Der Sommer, als ich schön wurdeHanser Verlag, 13,90 Euro

Endlich sind Sommerferien! Endlich geht es für die sechzehnjährige Belly und ihre Familie wieder nach Cousins Beach in das Strandhaus von Susannah, der besten Freundin ihrer Mutter. Jedes Jahr verbringen die Familien ihren Sommer dort. Doch dieses Jahr soll für Belly alles anders werden, denn nun ist sie alt genug, um zu Strandpartys zu ge-hen, zu flirten und sich zu verlieben. Obwohl, verliebt ist sie eigentlich schon lange… In Conrad, Susannah älterem Sohn. Doch der benimmt sich diesen Sommer äußerst abweisend. Und auch Jeremiah, der jüngere, verhält sich ihr gegenüber nicht wie die Jahre zuvor. Spielen auch die Gefühle der Jungs so ver-rückt, wie ihre eigenen, oder ist da etwas anderes im Busch? Belly setzt alles daran, das herauszufinden, aber offenbar haben alle anderen vor, ein Geheimnis zu bewahren.»Der Sommer, als ich schön wurde« ist ein großartiger Jugendroman über die erste Liebe, über die ver-wirrenden Gefühle, die ein junges Mädchen ertragen muss, aber auch über wunderbare Freundschaft und gleichzeitig über die Angst, einen geliebten Menschen zu verlieren. Das tolle Debüt einer jungen Auto-rin, die bereits an einer Fortsetzung arbeitet.Ab 12 Jahren.

Teenager verdächtigt, ihr Neugebo-renes erschlagen zu haben. Damals stand Pete natürlich hinter seinen Freunden, hat glauben wollen, dass es sich um einen Unfall oder um eine Totgeburt gehandelt hatte. Hatte stets beteuert, an Laura zu glauben und ihr alle Unterstützung zugesichert. Über zehn Jahre war Laura von zu Hause weggewesen, hatte überall auf der Welt gearbeitet und kam nun wieder nach Hause in ihren beschaulichen Vorort. Alles halb so schlimm, wenn sie ich jetzt nicht ausgerechnet an seinen Sohn Alec heranmachen würde. Denn eigentlich war sie in Petes Augen doch immer eine Kindsmörderin. Also versucht er mit allen Mitteln, die Beziehung von Alec und Laura zu hintertreiben. Ein fantastischer, gleichzeitig aber auch erschrecken-der Roman über Kleinbürgertum und familiäres Pflichtgefühl.

Michel BirbaekBeziehungswaiseBastei-Lübbe Verlag, 8,95 Euro

Was soll man tun, wenn man feststellt, dass sich die Traumfrau nach sieben Jahren Beziehung in die TraumBesteFreundin verwandelt hat? Wenn Sex und Leidenschaft abhanden gekommen sind und man nicht mehr weiß, ob die Vertrautheit nicht bloß noch Gewohnheit ist? Vor diesen schwierigen Fragen steht Lasse, ein Mittdreißiger, dem mal eine große Karriere als Stand-Up-Comedian bevorstand, der nun aber sein Geld mit halbherzigen Kabarett-Nummern auf einem Rentner-Kreuzfahrtschiff verdient. Seine langjährige Freundin Tess klettert schon lange die Karrierelei-ter hoch und soll nun auch noch für einige Zeit nach China versetzt werden. Das ist für Lasse zu viel. Er beschließt, die Beziehung zu Tess zu beenden. Das allerdings stellt sich als gar nicht so einfach heraus. Feste Gewohnheiten in seinem und Tess’ Tagesablauf kann man nicht von heute auf morgen vergessen. Und wie bringt man seinem schwer kran-ken Vater bei, dass der wohl doch auf die lang ersehnten Enkel und die Hochzeit seines Sohnes mit der ge-liebten Schwiegertochter in spe ver-zichten muss? »Beziehungswaise« ist ein warmherziger, wunderschöner Liebesroman, der sowohl komische als auch ernste Töne anschlägt.

Chevy StevensStill MissingFischer Verlag, 8,99 Euro

Bei einer ganz normalen Haus-besichtigung wird die Maklerin Annie am helllichten Tag entführt. Niemand bekommt mit, wie dieser Irre sie betäubt und verschleppt. Als sie wieder aufwacht, liegt sie in einer hübsch eingerichteten Blockhütte irgendwo im Nirgendwo. Ihr Entführer steckt sie in hübsche Kleider und zwingt sie dazu, sich wie eine normale konservative Ehefrau zu verhalten, mit allen Pflichten, die in seinen Augen dazugehören. Für Annie gibt es scheinbar kein Ent-kommen aus diesem Albtraum. Doch wir als Leser wissen, irgendwie muss sie es geschafft haben, denn der ganze Roman ist als ein Gespräch geschrieben, das Annie mit ihrer Therapeutin führt. Ein wahnsinnig spannender Thriller, den Sie, obwohl sie das Ende bereits kennen, nicht mehr aus der Hand legen werden.

Adam RossMister PeanutPiper Verlag, 22,95 Euro

Nie hätte David Pepin gewollt, dass seine Frau stirbt, noch dazu auf so tragische Weise. Auch wenn er es sich oft genug ausgemalt hat, auf welche Arten sie umkommen könnte, nie hätte er ihr tatsächlich etwas antun können. Genau das sehen die beiden Ermittler Hastroll und Sheppard anders. Denn so, wie Pepin seine Ehe mit Alice schildert, hätte er, Liebe hin oder her, Grund genug gehabt, sie umzubringen. Für die beiden Polizisten durch-aus nachvollziehbar, haben doch beide in ihren Ehen auch erhebliche Probleme. Hastrolls Frau zog sich eines Tages ins Bett zurück, das sie beinahe ein Jahr nicht wieder verließ. Eine Begründung dafür gab sie ihrem Mann nicht. Sheppard, einst ein echter Schürzenjäger, stand einige Jahre zuvor selbst unter Verdacht, seine Frau umgebracht zu haben. Beide wissen also, das Liebe nicht unbedingt ein Hindernis für Mord ist.Der Autor beschreibt in »Mister Peanut« auf faszinierende Weise drei Ehegeschichten, jede für sich sehr komplex. Dabei wechselt er so nachvollziehbar zwischen totaler Liebe und unbändigem Hass, dass wir als Leser zwischenzeitlich einen Mord für absolut vertretbar halten könnten. Großartig!

Chris CleaveLittle Beedtv, 14,90 Euro

Lange hat mich ein Roman nicht mehr so gefesselt und gleichzeitig erschüttert, wie dieser.Little Bee ist der Name eines jungen Mädchens aus Nigeria, das mit vierzehn Jahren als Flüchtling nach England kam. Nach zwei harten Jahren in einem Abschiebegefängnis darf sie endlich englischen Boden betreten. Ihre einzige Adresse in diesem fremden Land ist die von Sarah und Andrew, einem jungen Paar, das sie vor ihrer Flucht in Nigeria kennengelernt hat und dessen Schicksal auf traurige Weise mit ihrem eigenen verwoben ist. Als Little Bee sich telefonisch bei den beiden ankündigt, reagiert Andrew verstört und abweisend. Einige Tage später ist er tot... Chris Cleave kombiniert in »Little Bee« auf großartige Weise brisante politische Themen mit zwischen-menschlichen Geschichten. Ein beeindruckender Roman, den Sie unbedingt lesen sollten.

Lauren GrodsteinDie Freundin meines SohnesVerlag Klett-Cotta, 21,95 Euro

Darf ein Vater sich aus Liebe zu seinem erwachsenen Sohn in dessen Beziehung einmischen? Ein Problem, das sicher viele kennen, aber so weit, wie Pete Dizinoff in diesem Roman geht, würden wahrscheinlich die wenigsten Eltern gehen. Eigentlich ist es doch eine Traumvorstellung für Eltern, wenn sich ein Sohn in die hübsche Tochter der besten Freunde verliebt. Da weiß man schließlich, was der Junge bekommt. Eben das ist allerdings Petes Problem, denn Laura, die be-sagte Tochter der Freunde, wurde als

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Astrid RosenfeldAdams ErbeDiogenes Verlag, 21,90 Euro

Der Gedanke an diesen wunderbaren Roman verursacht mir immer noch Gänsehaut. Obwohl man denken sollte, Geschichten über den zweiten Weltkrieg gibt es doch wohl mittler-weile genug, möchte ich Sie bitten, lesen Sie »Adams Erbe«!Seit seiner Kindheit hört Edward Cohen ständig, wie sehr er seinem Großonkel Adam gleicht. Ein Ange-höriger, den Edward nie kennenge-lernt hat, der in seiner Familie nicht gerade beliebt war. Er gibt nicht viel auf so ein Gerede, bis ihm eines Tages Adams Geschichte in den Schoß fällt, in Form eines Buches, geschrieben für eine gewisse Anna. Fasziniert beginnt Edward vom Leben dieses ihm fremden Mannes zu lesen, das geprägt wurde durch den zweiten Weltkrieg. Adam, ein jüdischer Junge, der das meiste, was er weiß, seiner exzentrischen Groß-mutter zu verdanken hat, verliebt sich unsterblich in Anna, eine Jüdin mit polnischen Wurzeln. Als diese in der Reichspogromnacht spurlos ver-schwindet, setzt Adam alles daran, sie wieder zu finden. Mit Hilfe eines SS-Mannes, der seiner Großmutter sehr zugetan war, gelingt es ihm, sich eine neue Identität zuzulegen und ins besetzte Polen zu reisen, um seiner großen Liebe das Leben zu retten…

Nicholas ChristopherDas verlorene Bestiariumdtv, 14,90 Euro

Endlich, fast 8 Jahre nach der großartigen Geschichte »Eine Reise zu den Sternen«, ist der neue Roman von Nicholas Christopher erschie-nen und er ist wieder fantastisch. Xeno Atlas wächst im New York der 50er Jahre auf. Schon früh faszinieren ihn die Geschichten über Fabelwesen, die seine Großmutter, eine Sizilianerin, ihm erzählt. Xenos Mutter ist bei seiner Geburt gestor-ben, sein Vater fährt zur See und hat die Erziehung seines Sohnes der Schwiegermutter überlassen. Nach deren Tod wird Xeno auf ein Inter-nat geschickt, wo ein Geschichts-lehrer sein Interesse an Mythologie fördert. Durch ihn erfährt Xeno vom legendären »Karawanenbuch«, in dem alle Tiere verzeichnet sein sollen, die nicht mit auf Noahs Arche durften und die heute nur noch als Fabelwesen bekannt sind. Das »Karawanenbuch« gilt als verschol-len, doch Xeno macht es sich zur Lebensaufgabe, es zu finden. Auf seiner abenteuerlichen Reise quer durch die Welt wird er erstaunliche Entdeckungen machen, die das verlorene Buch betreffen, aber auch welche, die seine eigene Familien-geschichte in einem neuen Licht erscheinen lassen.»Das verlorene Bestiarium« ist ein wunderbarer Abenteuerroman, der eindrucksvoll Mystisches mit realen Geschichten verbindet. Unbedingt lesen!

Margot BerwinHot House FlowerFischer Verlag, 8,95 Euro

Ich muss gestehen, ich habe nicht gerade einen grünen Daumen. In meiner Wohnung überleben höchstens Palmen oder Kakteen, und ich glaube, auch die nur mit viel Glück. Nach der Lektüre dieses Romans allerdings, habe ich mir fest vorgenommen, mich intensiver um meine Pflanzen zu kümmern. Lesen Sie selbst und Sie werden verstehen, warum!Lila will sich nach der Trennung von ihrem Mann ein neues Leben aufbauen. Als sie auf dem Wochen-markt den äußerst attraktiven Pflanzenhändler David kennenlernt, glaubt sie, schon den perfekten Mann dafür gefunden zu haben. Er und auch der etwas kauzige Wasch-salonbetreiber Armand entfachen in ihr das Interesse für tropische Pflanzen. Doch leider ist Lila zu vertrauensselig und durch einen kleinen Fehler bringt Sie Armand in große Schwierigkeiten. Um Ihre Schuld zu begleichen, macht sie sich auf nach Mexiko, um für ihn die neun Pflanzen der Sehnsucht zu finden. Ein magisches, leidenschaft-liches Abenteuer beginnt...

Uli T. SwidlerDer PoliziottoRowohlt Verlag, 9,99 Euro

Stelle ich mir einen italienischen Verkehrspolizisten vor, sehe ich ihn so: untersetzt bis leicht überge-wichtig, faul, naja, sagen wir lieber bequem, mit einer Schwäche für gute Pasta und natürlich ein kleines bisschen korrupt! Und genau so ist er, der Held dieses wunderbaren Kriminalromans. Sein Name: Rossi… Roberto Rossi! Sein Einsatzort: Urbino, ein verschlafenes Nest in der Toskana. Sein Leben: gemäch-lich! Sein größter Feind: Sein Chef! Sein Problem: Eine Frauenleiche im Keller des Palazzo! Sein größeres Problem: Alle Kollegen der Mord-kommission sind einem Magen-Darm-Infekt zum Opfer gefallen! Und so kommt es, dass Roberto Rossi tatsächlich einen Mordfall aufklären muss. Mit viel Charme, guten Freunden, kleinen Bestechun-gen und seinem nervigen deutschen Nachbarn sollte ihm das sogar gelingen. Ein erfrischender Krimi, der an Stelle von viel Blutvergießen, auf skurrile Charaktere setzt! Tolle Urlaubslektüre!

Dieses Mal gleicht meine Titel-Auswahl

einer Weltreise. Wie Xeno Atlas in »Das

verlorene Bestiarium« werden auch

Sie an Hand meiner Empfehlungen um

den Erdball geführt. Von Amerika über

Nigeria und England nach Dänemark,

Deutschland und Polen mit Endstation

in Mexiko ist sowohl geografisch als

auch literarisch für jeden Geschmack

etwas dabei… Viel Spaß!

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Timothée de FombelleCéleste Oder Die Weltder gläsernen TürmeGerstenberg Verlag, 9,90 Euro

Jeder weiß tief drin, was wir unserem Planeten antun: Rodung, Ausbeutung, Versiegelung von Flä-chen und jede Menge Schadstoffe. Aber wirklich dagegen angehen will keiner. Doch was wäre, wenn die Erde ein Mensch wäre? Würden wir anders handeln? Diesem Gedanken geht »Céleste« nach, eingebettet in eine kleine Liebesgeschichte: In einer gar nicht so fernen Zukunft besteht die Welt quasi nur noch aus Hochhäusern; bis auf ein herzför-miges Stück ist der Regenwald ab-geholzt. Hier verliebt sich ein Junge in ein Mädchen namens Céleste (der Name ist nicht zufällig gewählt). Kurz darauf ist sie verschwunden und es kommt heraus, dass sie schwer krank ist – die Ärzte finden heraus, dass sie genauso leidet wie die Erde. Alles, was man dem Planeten antut, tut man ihr auch an. Mithilfe seines Freundes Briss macht der Junge dies publik und hofft auf eine Reaktion.Schon der Aufhänger dieser Novelle hat mich mitgerissen. Aber auch sonst beeindruckte mich Célestes Geschichte mit einer melancho-lischen, traumhaften Stimmung.Ab 13 Jahren.

Brenna YovanoffSchweigt still die NachtScript 5 Verlag, 17,95 Euro

Dass man mal etwas wirklich Neues in die Hand bekommt, ist im Buchbereich eher selten. Bei diesem düsteren Roman ist es zum Glück doch mal passiert.Die Handlung spielt in der abgele-genen Kleinstadt (oder dem Kaff) Gentry, und im Zentrum steht der ungewöhnliche Jugendliche Mackie Doyle. Der Ort ist von einem Ge-heimnis eingehüllt, das niemand an-zusprechen wagt, weil die Wahrheit zu schauerlich ist: Menschenkinder werden von untoten, bösen Wesen in die Tiefe geholt. Als Ersatz lassen sie ihren eigenen Nachwuchs zurück. Mackie ist nun der einzige bisher bekannte »Austausch«, der sich mit dem Leben an der Oberfläche arrangieren konnte. Aber er bezahlt sein Überleben mit Schwächeanfäl-len, Eisenunverträglichkeit und der Abneigung seiner Mitmenschen. Die einzigen Lichtblicke sind Mackies Freund Roswell und die aufsässige Tate. Letztere lernt er zufällig kennen und verliebt sich in sie. Als Tates Schwester als neues Tausch-kind entführt wird, versucht Mackie alles, um sie zu retten: Er steigt in die Tiefe hinab… Ab 14 Jahren.

Quentin BlakeZeichnen für verkannte KünstlerKunstmann Verlag, 14,90 Euro

Das Schwierigste am Zeichnen ist nicht das Können, sondern das Zeichnen an sich, das Sich-Trauen. Man muss einfach nur anfangen, dann kommt der Rest von selbst. Quentin Blake vertritt in seinem Zeichenkurs die »Drauflos-Technik«, das heißt, er ermuntert jeden dazu, einfach einen Stift zur Hand zu nehmen und loszulegen. Wie man den Stift hält, erklärt er gleich auch noch... In übersichtlichen Übungen werden alle möglichen Themen beackert, von einfachen Strichen bis zum fertigen Pferd. Das Ganze wird von einem wundervollen Humor begleitet, der Lust weckt, immer weiterzumachen. So wird mir erst lang und breit erklärt, wie schwierig

die Beine eines Pferdes zu zeichnen sind, nur um mir dann zu sagen, dass ich doch zur Erleichterung einfach Gras drübermalen soll.Diese Fibel ist für jeden geeignet, der zeichnen kann und es noch bes-ser können will, nicht zeichnen kann und es lernen will, nicht zeichnen kann und bisher keine Lust hatte oder mit dem Zeichnen anfangen will. Bleibt überhaupt noch jemand übrig?

Veruschka GötzFixierte GedankenVerlag Vorwerk 8, 10,50 Euro

Um diesen Text zu schreiben, benö-tige ich Buchstaben. Beim Einkaufen rechne ich mit Zahlen den Preis aus. Und beim Lesen entstehen aus Buchstaben und Wörtern Welten. Worauf ich hinaus will? Wissen Sie, warum wir so schreiben, wie wir schreiben? Warum gerade das Z am Ende des Alphabets steht? Hier finden Sie die Antworten. In diesem hübsch und aufwändig gestalteten Kleinband werden die Ursprünge und die Geschichte unserer Buchsta-ben, Zahlen und unseres Alphabets wie eine Geschichte erzählt. Dabei kommen oft verblüffende Bege-benheiten und Zufälle zutage: Wir könnten heute auch von rechts nach links schreiben. Während man so den vergnüglichen Text liest, ist man sich nicht bewusst, dass man eigentlich ein besseres Lexikon in der Hand hat – ein Erfolg, den nur wenige Sachbücher vorweisen können.

Für mich geht mit dieser schmitzkatze eine Reise zu Ende: Ab der nächsten Ausgabe werde ich nicht mehr dabei sein. Aber weil es schön ist, Bücher zu empfehlen, lade ich Sie ein, auch auf die Reise zu gehen: Reisen Sie mit mir in die Zukunft, in die Unterwelt oder in die Vergangenheit unserer Buch-staben. Essen Sie bei einer Pause eine Kleinigkeit und zeichnen Sie ein paar Bilder, bevor wir völlig ohne Worte weiterziehen. Auf dem Weg warten anatolische Städte oder die Weiten des Weltraums. Dann noch eine Rundreise durch die USA, bis wir schlussendlich in unserer eigenen Geschichte an-kommen. Mir hat die Reise viel Freude bereitet. Ich hoffe, sie gefällt Ihnen auch.

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Thilo BodeDie EssensfälscherS. Fischer Verlag, 14,95 Euro

»Geiz ist geil!« Mittlerweile zum geflügelten Wort geworden, steht dieser Satz stellvertretend für das angebliche Kaufverhalten vieler Verbraucher. Aber wie steht es um die Hersteller selbst? Geben sie uns auch eine entsprechende Gegen-leistung für teureres Essen? Thilo Bode, Gründer der Organisation Foodwatch, ist nicht dieser Ansicht. Im vorliegenden Buch deckt er ähn-lich wie im Vorgänger »Abgespeist«, Missstände und Problematiken der Lebensmittelbranche auf und erklärt Zusammenhänge. Teilweise treten wirklich verblüffende Informati-onen zu Tage, zum Beispiel, dass viele angebliche Qualitätssiegel von der Lebensmittelbranche selbst verliehen werden. Hat man sich an den etwas bissigen Stil gewöhnt, bekommt man einiges zum Thema geboten. Am Ende heißt es bei Thilo Bode: »Geiz ist manchmal geil«.

Patrick TschanKeller fehlt ein WortBraumüller Literaturverlag,21,90 Euro

Über bestimmte Dinge im Leben denkt kaum jemand nach: das At-men, das Sehen – oder das Sprechen. Aber wenn wir etwas davon verlie-ren, spüren wir es umso deutlicher: Ralph Keller, Kommunikationsbe-rater, geschieden und im besten Alter, bemerkt eines Tages, dass ihm Wörter entgleiten. Zuerst sind es nur wenige, aber bald schon kann er kein Wort mehr aktiv benutzen: Er leidet an Aphasie. Nur zu verstehen ist ihm noch möglich, weshalb eine Therapie seine einzige Hoffnung auf Besserung ist. Sozusagen gefangen in seinem Körper beginnt Keller, über sein Handeln ganz anders nachzudenken als je zuvor. Auch die Zuneigung zu seinem Sohn treibt ihn an und gibt ihm Halt.In seiner liebenswert sonderlichen und aufrechten Art war mir Keller sofort sympathisch. Immer freut man sich über seine Fortschritte und Glücksmomente, etwa wenn er sich neu verliebt. Das Ganze erzählt Patrick Tschan sehr präzise und schnörkellos, beweist aber oftmals ein gutes Gespür für die richtige Wortwahl. Wahrscheinlich muss er gar nicht darüber nachdenken.

Louis de BernièresTraum aus Stein und FedernS. Fischer Verlag, 9,95 Euro

Es war einmal vor über hundert Jah-ren… So oder so ähnlich könnte ich mit der Beschreibung von Louis de Bernières Schmöker beginnen. Aber das wäre nur die halbe Wahrheit. In einer südwestanatolischen Stadt lebten einst Christen und Muslime und viele Völkergruppen einträchtig nebeneinander. Ihrem Alltag, ihren Träumen und Erlebnissen widmet sich dieser Roman mit größter Hin-gabe und Geduld. Ohne speziellen Fokus wird jeder Winkel beleuchtet. Bis eines Tages ein Wandel eintritt und der Frieden in Hass umschlägt. Ausführlich führt uns »Traum aus Stein und Federn« die Verände-rungen vor Augen. Dahinein werden historische Texte eingearbeitet und geben diesem Universum eine un-geheure Tiefe. Der Erzählstil mutet zwar nicht selten an wie in einem Märchen, aber dafür ist das Erzählte zu groß, zu ernst und zu echt. Einzig die historische Auslegung einiger Ereignisse ist leider nicht immer einwandfrei. Trotzdem: Auch wenn der Roman schon einige Jahre auf dem Buckel hat, ist er hoch aktuell und verdient es über die Maßen, dass man ihm einen zweiten Blick gönnt.

Philip K. DickBlade Runner, Ubik,Marsianischer ZeitsturzHeyne Verlag, 14,– Euro

Philip K. Dick gehört zu meinen un-eingeschränkten Lieblingsautoren. Seine Romane und Geschichten bieten auch heute, dreißig Jahre nach seinem Tod, noch Vorlagen zu vielen Kinofilmen. Vor knapp zwei Jahren erschien dieser Band mit drei seiner besten Erzählungen: »Blade Runner«, die Suche eines Polizisten nach getarnten Androiden, ist wahrscheinlich jedem bekannt. Nach wie vor fasziniert die Geschichte mit zeitlosen Gedankengängen und düsterer Stimmung. »Ubik« spielt in einer Zeit, in der Psi-Phänomene allgegenwärtig sind, und beschreibt die Erlebnisse Joe Chips. Bei einer Mission explodiert eine Bombe und tötet seinen Chef Runciter. Kurz darauf setzt ein seltsamer Verfalls-prozess ein: Aufzüge verwandeln sich in ihre Vorgängermodelle, Münzen sind ungültig und das Altern schreitet schneller voran als normal. »Marsianischer Zeitsturz« schlussendlich spielt in einer Marskolonie und arbeitet vor allem mit dem Gedanken der Zeitwahr-nehmung. Allen Geschichten gemein sind eine Stimmung und Spannung, die ihresgleichen suchen.

Jeanette WallsEin ungezähmtes LebenDiana Verlag, 8,99 Euro

In diesem Buch geht es um Lily Casey. Um ihr Leben, ihr Erleben und ihr Überleben. Erzählt von ihrer Enkelin Jeanette Walls.Als kleines Mädchen kann Lily nicht zur Schule gehen, weil ihr Vater für die Familienfarm Hunde kauft – von ihrem Schulgeld. Daher ist sie froh, dieses Leben hinter sich zu lassen. Es beginnt eine verwinkelte, ereig-nisreiche Odyssee, in deren Verlauf Lily vielfach mit neuen Bedingungen zu kämpfen hat, sich aber nicht unterkriegen lässt. Sie arbeitet als Lehrerin, betreibt eine eigene Farm, heiratet, nimmt Flugunter-richt, verkauft schwarz gebrannten Alkohol und lebt in der Großstadt. Vor allem zu ihrer Tochter hat sie ein schwieriges Verhältnis. Und auch ihre Heimat trifft sie im Herzen.Zugegeben: Vor meiner Ausbildung hätte ich dieses Buch wahrscheinlich nicht angefasst. Aber es ist gut, dass ich es getan habe. So abwechs-lungsreich, so flüssig liest sich Lilys Geschichte; so schnell fliegen die Seiten dahin, dass es einfach eine Freude ist.

Lena GorelikLieber Mischa… Du bist ein JudeGraf Verlag, 18,– Euro

Wie ist es denn so als Jude in Deutschland? Oder fragt man das gar nicht? Was heißt denn eigentlich »als Jude in Deutschland«? Diese Frage stellt sich Lena Gorelik am Ende ihres Buches selbst. Ihres Buches, in dem sie ihrem Sohn Mischa eine Gedankensammlung zum Judentum hinterlässt. Sie schildert ihm alle möglichen Kli-schees, (An)gewohnheiten, Kultur, Glaube und Meinungen, um ihn aufs Leben vorzubereiten. Im Grunde ist »Lieber Mischa« ein Potpourri verschiedener Eindrücke, eine wilde und unterhaltsame Mischung aus Gedankensträngen. Einmalig sind dabei vor allem der Witz und Frohsinn, in dem alles aufbereitet wird. Oftmals musste ich wirklich laut lachen, und einige Kapitel sind tatsächlich albern. Vor allem in den zahlreichen Fußnoten versteckt sich sehr viel Charme, wenn etwa jüdische Witze zum aktuellen Ka-pitel erzählt werden. Wann schafft es ein Buch schon mal, bei einem nach wie vor unbequemen Thema so unterhaltsam zu sein? Selten! Und genau deswegen müssen Sie hier mal reinschauen.

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Verstört macht sich Mathilde, die noch nicht einmal seinen Namen kennt, auf die Suche nach seiner Fa-milie. Hilfe dabei gibt ihr das Buch: es trägt Brandspuren, riecht deutlich nach Rauch, zwischen den Seiten findet sie einen Holzsplitter und ganz hinten verborgen im Buch eine alte, handgeschriebene Liste mit Na-men. Nun ist ihre Neugier komplett entfacht, und sie begibt sich auf eine Suche und stößt dabei auf viele Ungereimtheiten und scheinbar unerklärliche Geheimnisse…»Mathilde und der Duft der Bücher« ist ein ruhiges, leichtes und atmo-sphärisches Buch und durch die sehr anschaulichen Beschreibungen von Mathildes Beruf auch ein besonderes Schmankerl für alle Buchliebhaber.

Samuel BenchetritRimbaud und die Dingedes Herzens Aufbau Verlag, 16,95 Euro

Charly ist 10, mag Rimbauds Ge-dichte, hat eine blühende Fantasie und neigt zu Übertreibungen. Zusammen mit seiner Mutter führt er in einem Pariser Vorort ein nicht sehr privilegiertes, für ihn jedoch trotzdem angenehmes Leben; seinen älteren, drogenabhängigen Bruder sieht er nur selten.Als er eines Tages aus einem Ver-steck mit ansehen muss, wie seine Mutter von Polizisten aus der Woh-nung geholt und weggebracht wird, versteht er die Welt nicht mehr. Was ist passiert? Hat es mit seinem Bru-der zu tun? Voller Tatendrang macht er sich auf den Weg durch die Stadt, auf der Suche nach seiner Mutter und seinem Bruder, und fängt an zu erzählen. Oft kindlich-naiv, mal sehr weise und immer ein wenig philoso-phisch lässt er uns an seinem Leben, seinen Sorgen und seinen Träumen teilhaben.Ein wunderschönes, fast poetisches Buch, das mein Herz berührt und mir oft ein Lächeln aufs Gesicht gezaubert hat, und ein Protagonist, der trotz aller Höhen und Tiefen nicht die Hoffnung verliert und seinen Weg geht.

Martin BaltscheitDie Elefantenwahrheit Kinderbuchverlag Wolff, 12,90 Euro

Ist es ein Feuerwehrschlauch oder ein Teppich? Eine Klobürste, ein Baum? Oder vielleicht sogar ein Berg? – Nein, es ist ein Elefant! Das finden wir als Leser in diesem phantasievoll illustrierten Bilder-buch zumindest ziemlich schnell heraus, im Gegensatz zu den fünf blinden Wissenschaftlern, die alle ganz unterschiedlicher Ansicht sind. Logisch, wenn jeder nur einen Teil des Elefanten ertastet und daraus seine Schlüsse zieht. Auch der Zirkusdirektor, der nach seinem entschwundenen Elefanten mit den »Beinen wie Baumstämme und einem Schwanz wie eine Klobürste« sucht, kann sie nicht von ihren Meinungen abbringen.Natürlich besticht Martin Balt-scheits Bilderbuch besonders durch die Illustrationen von Christoph Mett, der dem wundersamen Elefan-ten und den blinden Wissenschaft-lern dadurch einen ganz außerge-wöhnlichen Charakter verleiht. Eine Empfehlung nicht nur für kleine Leser, sondern ganz hervorragend auch für Bilderbuchliebhaber geeignet!Ab 6 Jahren.

Mary E. PearsonEin Tag ohne ZufallFischer Verlag, 14,95 Euro

Kann es nicht mal einen Tag geben, an dem alles so läuft, wie es sein soll? Ein Tag, an dem es gerecht zugeht und alle das bekommen, was sie verdienen? Das wünscht sich Destiny sehnlichst, denn für sie geht eigentlich immer alles schief. Auch dieser Tag hatte keinen guten Start, doch dann trifft sie auf diesen seltsamen Gastlehrer, und von da an ist plötzlich alles perfekt. Vor der Schule steht ein rosafarbenes Cabrio, die Fahrertür steht offen, im Handschuhfach liegt Geld – Desti-ny steigt ein und macht sich mit 3 Mitschülern auf zu einem abenteu-erlichen Roadtrip voller sonder-barer Begegnungen, beginnender Freundschaften und glücklichen Fügungen. Doch ist alles ein Zufall, oder ist es Schicksal? Destiny wird es herausfinden...»Ein Tag ohne Zufall« ist ein ungewöhnliches, magisches, mal melancholisches, mal lustiges Buch über Freundschaft, Ehrlichkeit, Selbstfindung und zweite Chancen. Ab 12 Jahren.

Linwood BarclayKein Entkommen Ullstein Verlag, 9,99 Euro

Eigentlich sollte es einfach nur ein entspannter Familientag werden, den der Journalist David Harwood mit seiner Frau Jan und ihrem ge-meinsamen vierjährigen Sohn Ethan im Vergnügungspark verbringen wollte. Doch in einem unbeobach-teten Moment verschwindet Ethan in der Besuchermenge, und David und Jan machen sich getrennt auf die Suche nach ihrem Sohn. David findet ihn schließlich wohlbehalten wieder und wartet am vereinbarten Treffpunkt auf seine Frau; doch jetzt ist es Jan, die spurlos verschwunden ist. Als die Polizisten nach langer Suche jedoch die Videokameras aus dem Eingangsbereich des Parks prüfen, ist Jan auf keinem der Sicherheitsvideos zu sehen. Schnell erhärtet sich der Verdacht, dass David selbst es ist, der mit dem Verschwinden seiner Frau zu tun hat, und David muss sein ganzes journalistisches Können aufbieten, um die Vergangenheit seiner Frau zu erforschen. Und was er dabei entdeckt, lässt ihn sein ganzes gemeinsames Leben mit seiner Frau in Frage stellen...

Wer Linwood Barclay kennt, weiß, dass es in seinen Thrillern immer wieder überraschende Drehungen und Wendungen gibt, die den Leser gern in die Irre führen und verblüf-fen. Sein neuestes Buch ist da keine Ausnahme. Ein spannender Schmö-ker für laue Sommerabende!

Nicholas SparksWie ein Licht in der NachtHeyne Verlag, 19,99 Euro

Es gibt Bücher, denen ordnet man sofort den Begriff Strandlektüre zu. Weil sie einfach leicht zu genießen sind und man sich wunderbar vor-stellen kann, unter einem Sonnen-schirm im kühlen Sand zu liegen, das Rauschen des Meeres zu hören und dabei in einem dieser Bücher zu schmökern. Die Bücher von Nicholas Sparks gehören für mich auf jeden Fall in diese Kategorie. Sein neu-ester Roman ist nicht einer seiner typischen Liebesromane, sondern hat auch einige dunklere Elemente, die dieses Buch wirklich lesenswert machen. Eine junge Frau zieht in einen klei-nen, ruhigen Ort an der amerikani-schen Westküste. Sie will dort einen Neuanfang wagen, genießt das Al-leinsein, möchte unauffällig bleiben. Dass sie sich verliebt, ist in Sparks‘ Romanen eigentlich unausweichlich. Jedoch verbirgt sie ein dunkles Geheimnis, einen Schatten in ihrer Vergangenheit, der sie nun einzuho-len droht. Und sie muss lernen, sich gegenüber ihren neuen Freunden zu öffnen und sich ihrer Vergangenheit zu stellen, wenn sie jemals wieder glücklich sein will...

Anne DelaflotteMathilde und der Duft der BücherKindler Verlag, 17,95 Euro

Mathilde ist Buchbinderin aus Leidenschaft und geht in einem kleinen Ort in der Dordogne ihrem Beruf nach. Ihre Liebe zu Büchern macht sie dabei zu einer Meisterin ihres Fachs.Als eines Tages ein junger, gutaus-sehender Mann zu einer ungewöhn-lichen Tageszeit in ihrem Geschäft auftaucht und sie schon fast verzweifelt um die Restaurierung eines Buches bittet, ist ihr Interesse schnell geweckt. Kurz nachdem sie das Buch an sich genommen hat, verschwindet der junge Mann und kommt kurze Zeit später ums Leben.

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Sue Monk KiddDie Bienenhüterin btb Verlag, 9,– Euro

Es gibt Romane, die bleiben einem einfach im Gedächtnis, auch wenn es schon ein paar Jahre her ist, dass man sie gelesen hat. Romane, mit denen man etwas verbindet, ein Gefühl, ein Erlebnis, vielleicht einen Duft oder einen Geschmack. Solch ein Roman ist für mich »Die Bienenhüterin«.Lily ist 14 und lebt gemeinsam mit ihrem Vater und der farbigen Haushälterin Rosaleen im Amerika der 60er Jahre. Es ist die Zeit der Rassenprobleme, die Zeit von Mar-tin Luther King. Lilys Mutter ist 10 Jahre zuvor ums Leben gekommen, und seitdem leidet das Mädchen unter der Herrschaft ihres Vaters, der sie quält und unterdrückt. Als ihr alles zuviel wird, flieht sie ge-meinsam mit Rosaleen und kommt bei drei Bienenzüchterinnen unter, die für Lily schnell Freundinnen und Mutterersatz werden. Sie zeigen Lily, was es bedeutet, eine Frau zu sein, und weihen sie in die Kunst des Bienenzüchtens ein, und Lily erfährt endlich, was es heißt, geliebt zu werden.Beim Lesen dieses Buches konnte ich förmlich die Hitze der Südstaa-ten im Sommer spüren, den Staub in der Luft riechen und das Summen der unzähligen Bienen hören. »Die Bienenhüterin« ist ein Buch über Liebe, Vergebung, Gerechtigkeit, Geheimnisse und Familie und ein absoluter Wohlfühlroman.

Caroline VermalleDenn das Glück ist eine ReiseEhrenwirth Verlag, 10,- Euro

Kann ein über 80-jähriger die kom-plette Tour de France-Strecke abfah-ren? Zumindest hat Georges sich das in den Kopf gesetzt. Natürlich nicht mit dem Fahrrad, sondern mit dem Auto, und gemeinsam mit seinem Nachbarn und Freund Charles. Da er weiß, dass seine Familie die Idee für wahnwitzig abtun und ihn davon abhalten würde, erzählt er ihnen erst gar nichts davon. Doch seine Enkelin Adele kommt ihm auf die Schliche, und so muss er einen Kompromiss eingehen: sie erzählt ihrer Mutter nichts von der Reise, dafür muss Georges ihr jeden Tag mindestens eine SMS schreiben und sie auf dem Laufenden halten. Was Georges zunächst nur als lästig

empfindet, wird aber schnell für beide die Möglichkeit, den anderen mit neuen Augen zu sehen. Und Georges erfährt noch einmal, was Glück wirklich bedeutet...Ein Roman für Sonnen- oder Regen-tage, genießbar mit Kaffee oder Tee, ein Schmöker fürs Bett oder den Lieblingssessel... Caroline Vermalles Reisefreundschaftsfamilienglücksro-man wird Ihnen bestimmt gefallen, wo oder wann auch immer Sie ihn lesen.

Borger & StraubSommer mit EmmaDiogenes Verlag, 11,90 Euro

Ganz so hatte sich Luisa den geplan-ten Familienurlaub eigentlich nicht vorgestellt: zusätzlich zu ihrem Mann Daniel und den gemeinsamen Kindern Lea und Jasper sind plötz-lich auch Jaspers bester Freund Can und Daniels andere Tochter Emma, entstanden aus einem Seitensprung, mit von der Partie. Zwei Wochen mit sechs Personen auf einem kleinen Hausboot über Englands Kanäle... Luisa hatte sich einen harmonischen und entspannten Urlaub erhofft, wollte ihrem Mann endlich wieder näher kommen. Doch statt Idylle und Harmonie herrscht Gereiztheit und Enge, bisher gut verborgene Geheimnisse kommen ans Tageslicht und Emma entpuppt sich als berech-nend und egoistisch, immer bedacht darauf, sich in den Mittelpunkt zu stellen und die anderen gegeneinan-der auszuspielen. Ein dramatisches Ende des Urlaubs ist daher nahe liegend...In gewohnter Manier schaffen es Martina Borger und Maria Elisabeth Straub, hinter die Kulissen der trü-gerischen Familienidylle zu schauen, die Charaktere zu durchleuchten und alle in ihrem Handeln und ihren Entscheidungen glaubhaft, wenn auch nicht immer liebenswert, zu machen. Ein sehr beeindruckendes, vielseitiges und verstörendes Buch.

Hernán Rivera LetelierDie Filmerzählerin Insel Verlag, 14,90 Euro

In einem Arbeiterdorf mitten in der chilenischen Wüste lebt die kleine Maria Margerita in einer Well-blechhütte, gemeinsam mit ihren vier älteren Brüdern und ihrem Vater, der seit einem Unfall an den Rollstuhl gefesselt ist. Die Mutter ist vor Jahren davongelaufen, der Vater

verliert kein Wort mehr über sie. Die einzige Freude, die die Familie noch hat, sind die wöchentlichen Kinobesuche im Ort. Da der Vater seit seinem Unfall arbeits- und fast bewegungslos ist, ist es nun die Aufgabe der Kinder, sich die Filme anzusehen und dann zu Hause ihrem Vater nachzuerzählen. Ein außerordentliches Talent hierfür beweist Maria Margerita, die die Filme so lebhaft und begeistert wie-dergibt, dass bald aus dem ganzen Dorf Menschen herbeiströmen, um die 10-jährige Filmerzählerin live zu erleben. Mit selbst entworfenen Kostümen und Requisiten schlüpft sie in die verschiedensten Rollen und verzaubert alle Zuhörer. Bald lebt Maria nur noch für ihre Erzähl-abende und gibt auch Privatvor-stellungen. Erst, als ihr ein Unglück widerfährt, wird sie auf der harten Boden der Realität zurückgeholt...Diese kleine, feine Geschichte von Hernán Rivera Letelier, die das Schicksal der Menschen in den Mittelpunkt stellt, ist Märchen, Tragödie und eine Hommage an das Kino zugleich. Ein Schmöker mit An-spruch und zugleich ein wundervol-les Geschenkbuch.

Passend zum sonnigen Wetter ziehen sich durch meine Buchauswahl für die neue schmitzkatze – wenn auch unbeabsichtigt – die Themen Sonne, Urlaub und Reise. Die Bücher sind leicht und schwer, tragisch und komisch, realistisch und fantastisch, verführen zum Weiterlesen, zum Staunen, zum Träumen. Manchmal schleicht sich in meine Empfehlungen auch ein bereits älteres Buch, welches ich so gern gelesen und so ungern zu Ende gelesen habe, dass ich es einfach weiter-empfehlen muss (Sue Monk Kidd, »Die Bienenhü-terin«). Vielleicht ist bei meinen Empfehlungen ja auch für Sie etwas dabei – ich würde mich freuen.

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Jorge BucayWie der Elefant die Freiheit fandFischer Schatzinsel Verlag, 14,95 Euro

Dieses Bilderbuch habe ich bei meiner 3-jährigen Enkelin entdeckt und da ich von Jorge Bucay schöne Erzählungen gelesen habe, wurde ich neugierig.Es ist eine Parabel und es geht um die persönliche Freiheit. Die dazu gehörenden Bilder des argentini-schen Illustrator Gusti machen das Buch zu einem kleinen, ganz außer-gewöhnlichen Kunstwerk.Ein kleiner Junge beobachtet in einem Zirkus einen großen Elefan-ten, der an einer Kette angebunden ist. Bucay beschreibt die Gedanken des kleinen Jungen und seine berechtigte Frage, warum sich so ein großes Tier nicht einfach befreien kann. Keiner kann ihm die Frage beantworten. Jahre später trifft er einen weisen Mann, der lange Zeit durch Indien gereist ist und er kann ihm nun endlich diese Frage beantworten. In seiner Fantasie gibt der Junge dem Elefanten wichtige Ratschläge und flüstert ihm ins Ohr: »Wenn du dich wirklich befreien willst klappt es, versuch es einfach mal!«Eine schöne, nachdenkliche Ge-schichte, nicht nur für Kinder! Man kann dieses besondere Bilderbuch sehr gut vorlesen und die Bilder pas-sen unglaublich gut zum Thema.Ab 5 Jahren.

Zsuzsa BankDie hellen TageFischer Verlag, 21,95 Euro

Die Autorin hat mich bereits vor ein paar Jahren mit ihrem Roman »Der Schwimmer« überzeugt und auch der neue Roman erzählt wieder eine ganz besondere Geschichte. Es geht um die ganz wichtigen Themen im Leben: Freundschaft, Verrat, Liebe, Lüge und Vergebung. Dieser Entwicklungsroman begleitet drei Kinder auf dem Weg von der Kind-heit ins Erwachsenenleben.Es sind die 60er Jahre irgendwo in Süddeutschland. Die Kinder Seri, Aja und Karl verbindet eine ganz enge Freundschaft. Jedes Kind hat seine eigene individuelle Familienge-schichte. Seris Vater starb kurz nach ihrer Geburt, Ajas Vater arbeitet als Trapezkünstler in einem Zirkus und einmal im Jahr erscheint er zu Besuch. Der kleine Karl hat seinen jüngeren Bruder verloren und muss mit dieser schwierigen Situation fertig werden. Die Mütter halten zusammen und spielen hier eine besondere Rolle. Sie bringen den Kindern bei, keine Angst vor dem Leben zu haben. Die Handlung des Romans geht über ein Vierteljahr-hundert und beschreibt, wie ihre enge Freundschaft alle Lebenssi-tuationen bis in Erwachsenenalter überstehen.Ich kann diese wunderbare Freund-schaftsgeschichte nur empfehlen.

Siri HustvedtDer Sommer ohne MännerRowohlt Verlag, 19,95 Euro

Siri Hustvedts neuer Roman beschäftigt sich wieder mit dem Leben der Frauen von heute. Eine interessante Beziehungsanalyse, die ganz tragisch beginnt und dann überraschend endet…»Eine Weile nachdem er das Wort Pause ausgesprochen hatte, drehte ich durch und landete im Kranken-haus. Er sagte nicht: Ich will dich nie wieder sehen, oder: Es ist aus, doch nach dreißig Jahren, reichte das Wort Pause, um aus mir eine Geisteskranke zu machen…«Die New Yorker Dichterin Mia und der Neurowissenschaftler Boris haben eine gewaltige Ehekrise. Boris möchte eine Pause, Mia stellt fest, dass diese Pause Boris‘ Laborassis-tentin ist und sie flieht nach einem Nervenzusammenbruch in ihren Geburtsort Minnesota. Dort möchte sie sich ablenken und sich auch ein

wenig um ihre Mutter kümmern. Alles kommt anders. Sie lernt Frauen aller Altersstufen kennen und entdeckt ein neues Leben. Diese Reise ist für sie eine große Befreiung und Boris kann aus der Ferne damit nicht umgehen.Wir werden als Leser in diese langjährige Ehe mit einbezogen und erfahren dann zum Schluss, ob die Reise geholfen hat.Ein erfrischender Roman, manch-mal komisch, manchmal ernst – die Geschichte sorgt für gute Unterhal-tung.

Alex CapusLéon und LouiseHanser Verlag, 19,90 Euro

Alex Capus schreibt einen Roman über das 20. Jahrhundert und erzählt eine wunderbare Geschichte über achtundsechzig Jahre im Leben zweier Menschen, die nie zusam-menkamen und doch ein Liebespaar wurden.Der Roman beginnt mit der Beer-digung von Léon Le Galle im Jahr 1986. Während der Trauerfeier erscheint eine kleine weißhaarige Dame mit einer Fahrradklingel in der Hand und sorgt für großes Erstaunen. Es ist jene Frau, die der Verstorbene immer geliebt hat. Erzählt wird diese Geschichte aus der Sicht des Enkelsohnes. »Es ist eine große Liebe, gelebt gegen die ganze Welt«. Sie beginnt im Ersten Weltkrieg in Frankreich an der Atlantikküste, wo die beiden sich begegnen, doch dann trennt sie ein Fliegerangriff mit Gewalt. Sie halten einander für tot. Léon heiratet, Louise geht ihren eigenen Weg – bis sie sich zufällig 1928 in der Metro in Paris wieder sehen.Diese Liebesgeschichte lädt ein zum Abtauchen - es wird Ihnen sicherlich genauso ergehen.

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Was soll ich denn lesen? Mit dieser Frage werde ich ganz oft konfrontiert und ich finde, man sollte das lesen, was in die jeweilige Situation passt. Mal möchte man mit einer romantischen Liebesgeschichte abtauchen, dann muss es ein spannender Thriller sein. Wenn der Urlaub ansteht, ist ein Rei-sebericht interessant. Es können auch schöne Kurzgeschichten sein – also, alles ist möglich. Ich persönlich habe gerne Abwechs-lung und habe wieder ganz unterschiedliches gelesen. Zwei Bücher haben mir besonders gut gefallen. Veronique Olmi hat mit ihrer Liebesgeschichte mein Herz erobert und Flavia Compa-ny sorgte dafür, dass ich ihren Abenteuerroman in abenteuer-licher Geschwindigkeit gelesen habe. So ist das mit dem Lesen, es macht immer wieder Spaß!

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Liebe und wir erfahren die wun-derschöne Geschichte des Kennen-lernens und des Zusammenseins. Darios Eltern kamen aus Genua und die beiden mussten irgendwann Abschied nehmen. Diese große Liebe begleitet sie ein Leben lang und nun will sie zu ihm, weil Dario in der Anzeige eindringlich um ein Wiedersehen bittet.Ich werde nicht weitererzählen, denn dieses Buch sollten Sie auf jeden Fall in diesem Sommer lesen. Viel Spaß!

Birgit VanderbekeDas lässt sich ändernPiper Verlag, 16,95 Euro

Die Werke von Birgit Vanderbeke wurden mit zahlreichen Literatur-preisen ausgezeichnet. In ihrem neu-en Roman geht es um Liebe, um das Anderssein und über die Besinnung auf die einfachen Dinge des Lebens.Die junge Erzählerin aus gutem Hau-se lernt Adam kennen und lieben. Er kommt aus einfachen Verhältnissen, seine Mutter ist Alkoholikerin. Adam ist ein ganz besonderer Junge, praktisch veranlagt und hat für alles eine Lösung. Die Eltern des Mädchens – besonders die Mutter – haben Adam gegenüber große Vorurteile. Doch das junge Pärchen bleibt zusammen und sie ergänzen sich prima und ziehen aufs Land. Hier findet sich die kluge, unkonven-tionelle Erzählerin in einem gänzlich anderen Leben wieder und es gefällt ihr ausgesprochen gut. Ein kleiner Roman, eine knappe Sprache und mal wieder etwas ganz Besonderes! 

Flavia CompanyDie Insel der letzten WahrheitBloomsbury Verlag, 17,90 Euro

»Es gibt Geheimnisse, mit denen man nicht leben kann - aber auch nicht sterben.« Dieser Roman zeigt uns, wozu wir in Extremsituationen imstande sind. Ein junger Mann treibt tagelang auf dem Meer. Sein Schiff wurde von Piraten überfallen, seine Freunde wurden getötet und er konnte fliehen. Die Situation ist geradezu aussichtslos, halb wahnsinnig vor Hunger und Durst, von Sonne und Salz verbrannt, kämpft er um das Überleben. Bevor er sein Bewusst-sein verliert, spürt er plötzlich Sand zwischen den Fingern und einer der Piraten steht vor ihm. Beide verbrin-gen eine lange Zeit auf einer ganz abgelegenen Insel ohne Kontakt nach außen.Dieser Abenteuerroman ist so unglaublich spannend und man kann ihn nur verschlingen. In der Geschichte werden die grundle-genden Fragen der menschlichen Existenz behandelt. Und der Schluss wird an dieser Stelle natürlich nicht verraten.

Karl OlsbergGlanzAufbau Verlag, 9.95

Eigentlich interessieren mich keine Computerspiele, dieser Roman beschäftigt sich zwar mit diesem Thema, hat mich aber dennoch neugierig gemacht.Ein 14-jähriger Junge fällt nach einer Überdosis der Droge Glanz vor seinem Computer ins Koma. Seine Mutter ist verzweifelt und will herausfinden, warum diese Droge in Verbindung mit einem Compu-terspiel ihren Sohn in ein Koma gebracht hat. Die Ärzte können ihre Fragen nicht beantworten und die verzweifelte Mutter versucht mit Hilfe einer mysteriösen Frau in die Traumwelt ihres Sohnes vorzu-dringen. Bald verdichten sich die Hinweise, dass ihr Sohn das Opfer eines bösen Spieles ist.Karl Olsberg nimmt uns Leser mit auf eine Reise durch verschiedene Genres – vom Thriller zum Fantas-tischen in die Welt der Computer-spiele. Ein spannender Thriller und der Schluss ist wirklich überraschend.

Gisa KlönneFarben der SchuldUllstein Verlag, 8,95 Euro Dieser Krimi ist der vierte Teil aus der Reihe um die Ermittler Judith Krieger und Manni Korzillius. Ich habe den ersten Teil gelesen und es war nicht schwierig, jetzt wieder einzusteigen.Hauptkommissarin Judith Krieger ist nach einem Einsatz, bei dem sie beinahe ums Leben kam und selbst getötet hat, vom Dienst befreit und beginnt stundenweise eine Wieder-eingliederung in den Polizeidienst. Zum Ende des Karnevals in Köln wird um Mitternacht ein als Priester verkleideter Arzt mit einem Schwert erstochen. Wenig später kommt es zu einem weiteren Mord, diesmal ist es ein richtiger Priester und auch er wurde auf die gleiche Weise umge-bracht. Es ist ein schwieriger Fall, die Ermittler sind ratlos und kommen nicht weiter. Es herrscht betretenes Schweigen. Handelt es sich um einen Anschlag auf die katholische Kirche oder spielen persönliche Gründe hier eine Rolle? Der Krimi ist von Anfang an richtig spannend und besonders die Beschreibung der einzelnen Figu-ren und deren Gedanken und Taten sorgen für gute Unterhaltung.

Natasa DragnicJeden Tag, jede StundeDVA, 19,99 Euro

»Sechzehn Jahre haben Dora und Luka sich nicht mehr gesehen, obwohl sie einmal unzertrennlich waren«. Die Geschichte von Dora und Luka beginnt in einem kroatischen Küstenort Anfang der Sechziger Jahre. Sie lernen sich bereits in einem Kindergarten kennen. Der fünfjährige Luka ist fasziniert, als er das kleine Mädchen erblickt. Er findet sie so außergewöhnlich und muss die Luft anhalten und dabei passiert es – der kleine Mann wird ohnmächtig und das Mädchen küsst ihn wach. Von diesem Augenblick an kann sie nichts mehr trennen. Doch eines Tages ziehen Doras Eltern nach Paris, die beiden sind untröst-lich. Jahre später treffen sie sich in Paris wieder. Dora hat ihren Traum erfüllt und ist Schauspielerin und Luka ist inzwischen ein bekannter Künstler. Nach diesem Treffen steht fest, sie gehören zusammen – oder doch nicht?Eine schöne Sommerlektüre und eine außergewöhnliche Liebesge-schichte. Der Sprachstil ist ganz eigenwillig und besonders schön sind die eingefügten Zitate von Pablo Neruda.

Veronique OlmiDie erste LiebeKunstmann Verlag, 19,90 Euro

»Manchmal genügt ein Nichts, da-mit das Leben aus den Fugen gerät… Mein Leben ist am 23. Juni 2008 um 20.34 aus den Fugen geraten, in dem Moment, wo ich das Zeitungspapier entfernte, in das der Pommard gewickelt war.« Emilie entdeckt eine Zeitungsanzeige, während sie das Abendessen für ihren 25. Hochzeits-tag vorbereitet. Schnell schaltet sie den Herd aus, nimmt die Auto-schlüssel und macht sich auf den Weg. Ihre erste Liebe wartet nach 32 Jahren auf sie! Was für eine Geschichte, die Aus-gangssituation ist so verrückt, dass ich gar nicht aufhören konnte dieses Buch zu lesen. Wie kann es möglich sein, dass eine 48-jährige Frau alles stehen und liegen lässt, und ihren allerersten Freund aufgrund einer Zeitungsannonce sofort wieder sehen möchte?Emilie sitzt im Auto und reflektiert über ihr jetziges Leben und über ihre erste Liebe. Sie hat sehr viel Zeit, denn die Reise geht von Paris nach Genua und es ist eine Reise in ihre Vergangenheit. Dario war ihre große

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Wissenschaftssendungen erfährt Hope für kurze Zeit ein Stück Normalität. Doch ihre Viertelstunde schwebt wie ein Damoklesschwert über ihr, lässt sie unstet werden und so bricht sie eines Tages nach Japan auf. Dort hofft sie, den Autor des Buches »Die Prophezeiungen«, zu finden, der den Weltuntergang auf den 17.07.2001 datiert hat. Genau den Tag, den Hope in einem Comic gefunden, erwürfelt und auf etlichen Nudel-Packungen gefunden hat…»Tarmac« ist die herrlich schräge und amüsante Geschichte einer anrüh-renden ersten Liebe und ein ganz wunderbares Lesevergnügen!

Daniel WoodrellWinters KnochenLiebeskind Verlag, 18,90 Euro

Kein leichtes Leben führt die 16-jährige Rees mit ihrer Familie im Hinterland von Missouri. Kaum Geld, der Vater mehr im Gefängnis als zu Hause, die Mutter ein Pfle-gefall und da sind auch noch zwei kleine Brüder, um die Rees sich hin-gebungsvoll kümmert. Doch dann steht eines Tages der Deputy vor der Tür, der auf der Suche nach Rees‘ Vater ist. Taucht er nicht auf, um seine erneute Haftstrafe anzutreten, wird die Familie auch noch das Haus verlieren, denn das hat der Vater als Kaution verpfändet. Eine Woche hat Rees Zeit, ihren Vater zu finden und bei ihrer Suche kann sie mit keiner Hilfe rechnen. Im Gegenteil: um sie herum herrscht eisiges Schweigen, keiner will über den Verbleib des Vaters reden. Schnell wird Rees bewusst, dass sie ihren Vater nicht mehr lebendig wiedersehen wird. Mit Mut und Entschlossenheit kämpft sich Rees durch einen Sumpf aus Korruption, Gewalt und unge-schriebenen Familiengesetzen. Aber kann sie wirklich ganz alleine ihre Familie retten?Düster und sehr fesselnd – die Geschichte einer beeindruckenden jungen Frau, die unter schwierigsten Bedingungen dafür kämpft, ihrer Familie ein lebenswertes Dasein zu ermöglichen und dabei an ihre Grenzen geht.

Janne TellerKrieg. Stell dir vor, er wäre hier.Hanser Verlag, 6,95 Euro

Janne Teller (»Nichts«) holt den Krieg zu uns nach Deutschland. Und das macht sie auf sehr prägnante und beängstigende Art und Weise! In Europa herrscht Krieg. Deutsch-land hat sich aus der Europäischen Union ausgeklinkt, war nicht mehr bereit, für andere Länder zu zahlen. Es herrscht Diktatur und schließlich Krieg, denn deutsches Eigentum muss schließlich verteidigt werden. Ein 14-jähriger Junge hat die Gelegenheit mit seiner Familie zu fliehen. In den Nahen Osten, nach Ägypten. Dort landen sie in einem Auffanglager und so lange die Asyl-anträge geprüft werden, darf keiner zur Schule gehen oder arbeiten. Was ohnehin ohne entsprechende Sprachkenntnisse ein Problem wäre. Die Jahre vergehen im Auffanglager. Und die Jahre vergehen, bis der Krieg endlich zu Ende ist. Doch was dann? Was bedeutet Heimat noch? Wo ist man zu Hause? Durch den Perspektivenwechsel wird nicht nur Jugendlichen sehr deutlich gemacht, was es bedeutet, in der heutigen Zeit in einem Krisengebiet zu leben und seine Heimat zu verlieren. Ein sehr eindringliches Plädoyer für mehr Toleranz, das auf jedem Lehrplan stehen sollte!Ab 13 und für erwachsene Leser.

Nicolas DicknerTarmac – Apokalypse für AnfängerFrankfurter Verlagsanstalt,19,90 Euro

Die Familie der 17-jährigen Hope ist ziemlich verrückt: seit Urzeiten se-hen die Mitglieder das exakte Datum des Weltuntergangs bevor. Dass sie damit immer falsch lagen, erklärt die Existenz Hopes. Doch auch Hopes Mutter ist völlig besessen von der bevorstehenden Apokalypse, sie hortet Lebensmittel und spricht auf einmal aramäisch. Als der Sommer 89 vergeht, das vorhergesehene Datum, und keine Katastrophe eintritt, hortet sie stattdessen Alkohol. Hope hatte ihre sogenannte schlimme Viertelstunde, in der ihr das Weltuntergangsdatum offenbart wird, noch nicht. Sie begegnet dem gleichaltrigen Mickey, die beiden freunden sich an und Hope flüchtet vor der alkoholkranken Mutter in seinen Keller. Dank des Fernsehers und unendlicher Nachrichten und

Il Sung NaSchhh... Das Buch vom SchlafAufbau Verlag, 14,95 Euro

Ein Einschlafbuch mit lauter Tieren ist an und für sich nichts Besonde-res. Ist es aber so zauberhaft und charmant illustriert wie dieses, wird daraus ein wunderbares Kleinod für kleine und große Träumer...Die Dämmerung bricht herein und alle Tiere gehen schlafen. Fast alle – die Eule bleibt wach und wacht über die friedlich schlummernden Koalabären, den Elefanten, der auch im Schlaf noch vor sich hintrötet, die Giraffen, die im Stehen träumen können oder den Fisch, der sogar mit offenen Augen schlafen kann. Doch wenn es Tag wird und alle Tiere langsam aufwachen, dann darf die müde Eule auch endlich einschlafen...Die Texte sind knapp gehalten, die Bilder dafür umso detaillierter und phantasievoller. Ein Buch – richtig edel in Halbleinen gebunden – in dem Kinder vor dem Einschlafen viel entdecken und Erwachsene sich unter Umständen in dem ein oder anderem Tier wiederfinden können... Einfach traumschön!Ab 3 Jahren.

Marie-Aude Murail & Michel GayIch Tarzan – du NicklessMoritz Verlag, 9,95 Euro

Schrapatt ist holländisch und heißt Zelt. Traboim heißt Baum und Sprohott Blume. Zumindest will Jean-Charles dies seinem Vater weismachen. Schließlich verbringen sie ihren Urlaub ja im Ausland, um Sprachen zu lernen. Denn, wer viele Sprachen spricht, bringt es im Leben weit. Jean-Charles ist da aber ganz anderer Meinung und will vor allem Spaß im Urlaub haben. Als er den gleichaltrigen Nickless trifft, erfindet er einfach aus Jux eine eigene Sprache, die beide bald perfekt be-herrschen. Seinem Vater erzählt er natürlich, er würde brav Holländisch lernen…Eine liebevoll-verrückte Geschichte über schnell überwundene Sprach-barrieren, die sich ganz prima zum Vorlesen eignet!Ab 8 Jahren (oder zum Vorlesen ab 6).

Jacques CouvillonChicken DanceBloomsbury Verlag, 16,90 Euro

Was für eine andere, besondere, ge-niale Geschichte! Sie handelt von ei-nem Jungen namens Don, ziemlich vielen Hühnern, Fertigmahlzeiten ohne Ende, Dons durchgeknallten Eltern, der verschwundenen Schwes-ter und dem ebenso verschollenen Zwillingsbruder, der eigentlich gar nicht existiert. Eine Geschichte über Freundschaft und Einsamkeit, über Familie und Geheimnisse. Eine Geschichte, bei der man nicht weiß, ob man weinen oder lachen soll. Eine absurde Geschichte, die mit ihrem eigenwilligen Humor bestens unterhält, gleichzeitig aber auch tief bewegt. Warmherzig, wundersam und wunderbar!Ab 14 Jahren.buch

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Gilles LeroyZola JacksonVerlag Kein & Aber, 18,90 Euro

New Orleans, 2005. Draußen tobt der Hurrikan Katrina, doch Zola Jackson will mit ihrer treuen Beglei-terin – der Hündin Lady – das Haus nicht verlassen. Sie steht am Fenster und beobachtet die Verwüstung, die Wassermassen, die herumtreiben-den Leichen. Ihr Mann hatte einst das Haus erbaut und es ist alles, was Zola geblieben ist. Der Mann ist tot, ihr geliebter Sohn Caryl ebenfalls. Ihr größter Wunsch: bei Caryl zu sein. Und während um sie herum alles im Wasser ertrinkt, flüchtet sie sich in Tagträumen und in die Vergangenheit. So lernen wir Zola in verschiedensten Lebenssituationen kennen. Als junge Frau, die ihren späteren Mann kennenlernt. Als Mutter, die stolz auf die schulischen Erfolge des Sohnes, aber blind für seine Neigung ist. Als Nachbarin, die nur Spott für die anderen Frauen empfindet. Zola Jackson ist einsam, müde und überaus zynisch. Und doch ist es dieser Hurrikan, der ihr den inneren Frieden bringen wird. Gilles Leroy zeichnet das Bild einer verbitterten Frau, die mit dem Leben und den Menschen um sie herum abgeschlossen hat, auf sehr eindrucksvolle Weise und mit bitter-bösem Galgenhumor.

Eva LohmannAcht Wochen verrücktPiper Verlag, 16,95 Euro

Was macht man, wenn eines Tages nichts mehr geht? Man einfach nur noch grundmüde ist? Dieser Frage muss sich Mila stellen, bei der eine Depression diagnostiziert wird. Sie wird in eine psychosomatische Klinik eingewiesen. Alles vermittelt den Eindruck eines ganz norma-len Hotels, wenn da nur nicht die anderen Gäste wären… Wenn sie sich die anderen Patienten anschaut, kommt sich Mila äußerst normal vor. Ihre Zimmergenossin ist magersüchtig, eine Patientin weint noch nach einem Jahr darüber, dass ihr Freund sie verlassen hat, ein anderer ist eigentlich eine Frau, gefangen in einem Männerkörper. In den acht Wochen ihres Klinikauf-enthaltes lernt Mila nicht nur die

anderen Patienten, die ihr zunächst sehr befremdlich erschienen, besser kennen und verstehen, sie kann auch endlich zu den Wurzeln ihrer eigenen Depression vordringen. »Acht Wochen verrückt« ist ein sehr leichtfüßiges kleines Buch über ein schwieriges Thema. Sensibel, humorvoll und realistisch erzählt Eva Lohmann über Verrückte und Normale und den schmalen Grat dazwischen.

Linus ReichlinErGaliani Verlag, 18,95 Euro

Eifersucht ist das beherrschende Thema in Linus Reichlins neuem Buch. Hannes Jensen wurde von seiner blinden Geliebten Annick verlassen, zurück lässt sie ihren Blindenhund. Der führt Jensen auch gleich zur nächsten Frau in seinem Leben: Lea. Er bindet ihn vor einemBlumenladen in Berlin an, sie bindet ihn ab, füttert ihn und hätte den Hund gerne für ihre Tochter. So kommen Jensen und Lea sich näher. Dann erscheint in Leas Wohnung auf dem beschlagenen Spiegel der Satz: Du bist die Frau meines Lebens. Eifersucht macht sich in Jensen breit. Muss er Lea mit einem anderen Mann teilen - so wie es ihm auch schon bei Annick ergangen ist? Parallel zu Jensens Beziehungsgeschichte machen sich Angus und Sean von der kleinen schottischen Insel Lewis nach Berlin auf, um einem Sterbenden seinen letzten Wunsch zu erfüllen: ein altes Foto, das nicht an die Öffentlichkeit gelangen soll, wieder zurückzubrin-gen…Linus Reichlin ist ein ungemein kluger Erzähler, der geschickt Spannung und Beziehungsdrama verknüpft. Noch weniger Krimi als seine beiden Vorgänger, trotzdem spannend zu lesen, wie geschickt Reichlin mit Gegenwart und Vergan-genheit spielt und seine Erzählsträn-ge zusammenführt. »Er« ist eine Geschichte, die ihren ganz eigenen geheimnisvollen Sog entwickelt.

Vergnügliche, lockere Sommerlektüre?

Die werden Sie unter meinen Romanempfehlun-

gen leider vergeblich suchen. Diesmal sind die

Bücher geprägt von Melancholie, von Trauer,

Wut, Verzweiflung, Enttäuschung, Eifersucht,

Katastrophen, Galgenhumor. Sie berühren

und gehen zu Herzen. Sie lassen den Leser

nachdenklich zurück, auch wenn das eine oder

andere bei Ihnen ein Lächeln hervorzaubern

kann. Aber meistens sind das genau die Bücher,

die in Erinnerung bleiben.

Roy JacobsenDer Sommer, in dem Linda schwimmen lernteOsburg Verlag, 19,95 Euro

Finn ist zehn und lebt mit seiner Mutter in einem tristen Vorort von Oslo. Sein Vater ist tot, kennenge-lernt hat er ihn nie. Sein Leben läuft trotzdem in geordneten Bahnen, bis die Mutter eines Tages einen sonderbaren Untermieter auf-nimmt und auch noch Finns kleine Halbschwester zu ihnen zieht. Die 6-jährige Linda ist die Tochter seines verstorbenen Vaters und einer drogensüchtigen Mutter. Das kleine Mädchen ist völlig verstört, redet wenig und ihr ganzer Besitz passt in einen kleinen himmelblauen Koffer. Nach anfänglichen Schwierigkeiten kümmert sich Finn sehr liebevoll um Linda, die sich immer mehr öffnet und richtig auflebt. Doch das gerade erst entstandene fragile Familien-idyll wird empfindlich durch die Schule und die Behörden getrübt. Der Sommer, in dem Linda sein Leben betrat, wird Finn verändern. Es ist ein Sommer, in dem er lernt Fragen zu stellen, Verantwortung zu übernehmen und letztendlich auch loszulassen.Roy Jacobsen erzählt sehr anrüh-rend, aber niemals kitschig, eine außergewöhnliche Geschichte über das Ende einer Kindheit, die Sie unbedingt selbst lesen sollten.

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Salah NaouraMatti und Sami und die dreigrößten Fehler des UniversumsBeltz Verlag, 12,95 Euro

Der elfjährige Matti möchte in den Sommerferien endlich nach Finnland fahren – in die Heimat seines schweigsamen Vaters Sulo. Doch seine Eltern sind wie immer dagegen. Und auch sonst läuft so einiges schief. Die Zeitungsmeldung über einen Delfin im Ententeich war nur ein Aprilscherz, die Eltern haben nie wie jahrelang behauptet für »Rettet die Tiere« gespendet und der vermeintliche Umzug in die Schweiz stellt sich als Märchen des Vaters heraus. Drei Fehler des Universums in kürzester Zeit, die Matti korrigieren will. Und so greift er schließlich selbst zu einer Lüge, die jedoch schnell eine unaufhalt-same Eigendynamik entwickelt. Sie führt Matti mit seinem kleinen Bruder Sami und den Eltern zwar nach Finnland, doch stehen sie dort ohne Unterkunft, Möbel, Auto und Arbeit da. Wie Mattis Onkel Kurt gesagt hat: »Lügen wachsen schnell wie Bambus!«Eine witzige und wunderschön erzählte Sommergeschichte über kleine und große Flunkereien, aus-gezeichnet mit dem Peter-Härtling-Preis der Stadt Weinheim 2011. Zum Selberlesen ab 8 Jahren oder besser noch zum Vorlesen für alle Kinder im Grundschulalter geeignet. Auch der Vorleser wird bestens unterhalten – ungelogen.

Robert WilliamsLuke und JonBVT, 8,95 Euro

Lukes manisch-depressive Mutter ist bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Für den dreizehnjähri-gen, kunstbegabten Jungen ändert sich plötzlich alles. Aus finanziellen Gründen muss er mit seinem Vater in ein heruntergekommenes Haus in die nordenglische Provinz umziehen. Dort flüchtet sich Luke in die Ma-lerei, der Vater – ein Spielzeugma-cher – hingegen in den Alkohol. Da taucht der seltsame Nachbarsjunge Jon auf. Jon trägt Opa-Klamotten, lebt bei seinen pflegebedürftigen Großeltern und wird in der Schule von den Mitschülern gequält. Wie Luke sich für seinen neuen Freund einsetzt und gemeinsam mit seinem Vater einen Weg aus der Trauer in ein neues Leben findet, erzählt Robert Williams in seinem Debütro-man auf berührende und sprachlich beeindruckende Weise. Der Autor, übrigens ein Buchhändler, bietet zwar nicht für alle Probleme eine einfache Lösung, doch er vermittelt bei aller Traurigkeit ebenso große Zuversicht.Ich hoffe, dieses bereits Ende 2010 erschienene Buch findet noch viele jugendliche und erwachsene Leser.

Jennifer DonnellyDas Blut der LiliePendo Verlag, 19,95 Euro

Andi Alpers, eine begabte siebzehn-jährige Gitarristin, droht an einer teuren New Yorker Eliteschule der Rauswurf. Denn die einstmals gute Schülerin interessiert sich seit dem gewaltsamen Tod ihres kleinen Bru-ders Truman nur noch für die Musik und nimmt starke Psychopharmaka ein. Die Mutter, eine französische Malerin, wird mit dem Verlust des Sohnes nicht fertig und muss in eine Klinik eingewiesen werden. Der Va-ter, ein Nobelpreisträger, baut sich derweil eine neue Familie auf. Als er von Andis Schulproblemen erfährt, muss sie ihn in den Winterferien nach Paris begleiten. Dort soll Andi an ihrer Abschlussarbeit über einen französischen Komponisten des 18. Jahrhunderts arbeiten. Doch der Fund eines Tagebuchs mit Einträgen aus dem Jahre 1795 lenkt sie ab. Darin schildert die gleichaltrige Alexandrine Paradis ihre Erleb-nisse zur Zeit der französischen Revolution. Sie berichtet von ihrem aussichtslosen Kampf um das Leben

des eingekerkerten Kronprinzen Louis Charles, den sie eine Zeitlang als Gesellschafterin betreut hatte und seitdem wie einen Bruder liebt. Andi findet in Alexandrine eine Seelenverwandte und ist von den Tagebucheinträgen mehr und mehr fasziniert.Eine ungewöhnliche Mischung aus Teenager-Drama und historischem Schmöker, spannend erzählt und weit weniger kitschig als das Cover vermuten lässt.

Rebecca ChaceAbschied von Rock HarborBloomsbury Verlag, 19,90 Euro

Die fünfzehnjährige Frankie Ross verlässt 1916 mit ihren Eltern das heimatliche Poughkeepsie Richtung Neuengland. Der Vater möchte in der boomenden Baumwollstadt Rock Harbor nach einem geschei-terten Selbstmordversuch ein neues Leben beginnen. In der Flint Mill findet er als Kupferstecher sofort eine Anstellung. Aus Sorge um den Vater holt Frankie ihn nach jedem Schichtende von der Arbeit ab – ein unausgesprochenes Abkommen zwischen Frankie und ihrer Mutter. Eine angenehme Ablenkung ver-spricht die beginnende Freundschaft zu zwei jungen Männern mit völlig gegensätzlichen sozialen Hinter-gründen. Der Portugiese Joe Barros besucht zwar noch die Schule, muss aber bereits jeden Samstag in der Fabrik arbeiten. Sein bester Freund Winslow hingegen führt als Sohn des Fabrikbesitzers und Senatspräsi-denten Curtis ein äußerst privile-giertes Leben. Es entwickelt sich eine Liebesdreiecksgeschichte, die im Laufe des Ersten Weltkrieges, der Goldenen Zwanziger und schließlich der Großen Depression immer neue Wendungen nimmt.Inspiriert durch die Lebensgeschich-te ihrer Großeltern erzählt Rebecca Chace eine hinreißende Liebesge-schichte und liefert zugleich ein faszinierendes Porträt des Aufstiegs und Niedergangs einer amerika-nischen Textilstadt zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Ein im positiven Sinne wunderbar altmodisches Buch.

Philippe DjianDie LeichtfertigenDiogenes Verlag, 20,90 Euro

»Es gibt nichts Schwierigeres, als einen Roman zu schreiben. Keine menschliche Beschäftigung erfordert so viel Anstrengung, so viel Selbstverleugnung, so viel Widerstandskraft. Kein Maler, kein Musiker kann einem Romanschrift-steller das Wasser reichen.« Das glaubt zumindest der erfolgreiche Schriftsteller Francis. Doch das Erscheinen seines letzten Romans liegt mittlerweile zehn Jahre zurück. Francis ruht sich auf seinen Lorbeeren aus, geht hin und wieder auf Lesereise und veröffentlich gele-gentlich eine Kurzgeschichte. Zudem vermutet er, dass ihn seine zweite Ehefrau Judith betrügt – bleibt die erfolgreiche Immobilienmaklerin dem gemeinsamen Haus am Meer doch immer öfter fern. Und dann verschwindet seine Tochter Alice mal wieder. Die Schauspielerin neigt seit dem Unfalltod von Mutter und Schwester zu Eskapaden. Drogen, Affären und zeitweiliges Abtauchen sind fester Bestandteil ihres Lebens. Doch diesmal bleibt die Mutter von Zwillingen spurlos verschwunden. Als ihr Ehemann Roger die Kinder bei Großvater Francis ablädt und die Presse vor der Tür steht, ist es mit der Ruhe des Schriftstellers vorbei. Und mehr sollte an dieser Stelle auch nicht verraten werden, denn diese kurzweilige, amüsante und bisweilen bitterböse Geschichte hält noch einige Überraschungen bereit.

Eine wichtige Rolle bei meiner Titelauswahl für diese schmitzkatze hat wie immer die Deutsche Bahn gespielt. Denn wenn ich auf dem Weg zur Arbeit bzw. auf dem Heimweg nicht gerade einem meiner Mitstreiter aus der Buchhandlung begegne, nutze ich die Zeit natürlich zum Lesen. Vermag mich ein Buch in dieser Zeit nicht zu fesseln, hat es meist keine Chance in der schmitzkatze zu landen. So sind auch dieses Mal einige Titel nach dem Anlesen schnell wieder in unser rotes Regal mit den Leseexemplaren in die Grafenstraße zurückgewandert. Die nachfolgenden Bücher hingegen haben den S-Bahn-Test überstanden. Jedes von ihnen hat mich auf die eine oder andere Weise sofort begeistert.

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Kim LeineDie Untreue der Grönländermare Verlag, 22,- Euro

Der Däne Jesper Waltzer hat seine Heimatstadt Kopenhagen verlassen, um die Krankenpflegestation in einem kleinen Dorf am östlichen Rand von Grönland zu leiten. Dort ist der Krankenpfleger weitestge-hend auf sich allein gestellt. Schwere Fälle werden ins nächstgelegene Bezirkskrankenhaus ausgeflogen. Vom dortigen Bezirkschefarzt erhält Jesper per Mail oder Telefon seine medizinischen Anweisungen. Lässt die Wetterlage einen Hubschrauber-einsatz jedoch nicht zu, kann dies für die Patienten durchaus tödlich enden. So wie für die minderjährige Asta, die aufgrund einer Eileiter-schwangerschaft in der Station verblutet. Die fatalen Folgen: eine Familienfehde, Schlägereien, Haft-strafen und Selbstmorde.Der Autor folgt in jedem Kapitel einem anderen Bewohner der Sied-lung: zur Pokerrunde, zum Training der Frauenfußballmannschaft auf dem Eis, in Salomons »Diskutek«, zur Robbenjagd, in fremde Betten…Ein lakonisch erzähltes Kaleidoskop von Geschichten über eine raue Region, die literarisch nur selten Beachtung erfährt. Mein Lieb-lingskapitel trägt die Überschrift »Latrinentanz« und schildert welche Folgen es haben kann, wenn das Hundeschlittengespann mit den Fäkalientonnen durchgeht.

Sara GruenDas AffenhausKindler Verlag, 19,95 Euro

Die Bonobos Bonzi, Sam, Jelani, Makena, Mbongo und Lola leben in einem Menschenaffen-Sprachlabor in Kansas City. Dort haben Wissen-schaftler den Affen die amerika-nische Gebärdensprache ASL bei-gebracht. Das Affenweibchen Bonzi vermag zudem über Lexigramme mittels eines Computers mit den Menschen zu kommunizieren. Für die junge Wissenschaftlerin Isabel Duncan sind die Affen Teil ihrer Fa-milie. Als Isabel bei einem Bomben-anschlag auf das Sprachlabor schwer verletzt wird, gilt ihre Sorge in erster Linie den Affen. Die konnten sich zwar unverletzt ins Freie retten, wurden nach dem Anschlag aber von der Universität an einen anonymen Käufer veräußert. Wochen später kann ganz Amerika die Bonobos in einer ordinären Reality-TV-Show

namens »Affenhaus« beobachten. Isabel versucht alles, um die Affen aus dieser unwürdigen Situation zu befreien. Parallel zu den Bemü-hungen der Wissenschaftlerin laufen die Recherchen des Journalisten John Thigpen. Für eine Reportage hatte er kurz vor dem Anschlag ein Interview mit Isabel und den Bonobos führen dürfen und möchte weitere Nachforschungen anstellen.»Das Affenhaus« ist spannend wie ein Thriller, informativ wie ein Sach-buch und unterhaltend wie ein Film. Und es hat mich neugierig gemacht auf Sara Gruens Bestsellerroman »Wasser für die Elefanten«.

Joe R. LansdaleDie Wälder am FlussDuMont Buchverlag, 9,99 Euro

Während der achtzigjährige Harry in einem Seniorenheim auf den Tod wartet, kehren seine Gedanken immer wieder zu den prägenden Jahren seiner Kindheit zurück. In die Jahre 1933 und 1934, die Zeit der Großen Depression, als eine Mordserie seine bis dahin heile Kinderwelt erschütterte.Harry ist damals elf und lebt mit sei-nen Eltern und der jüngeren Schwe-ster Tom auf einer kleinen Farm in Ost-Texas. Sein fortschrittlich denkender Vater betreibt neben der Landwirtschaft einen kleinen Fri-seurladen und ist der Constable des Bezirks. Die Wälder am Sabine River sind Harrys Jagd- und Spielrevier. Dort entdeckt er eines Nachts mit seiner Schwester die Leiche einer übel zugerichteten schwarzen Frau. Ein Opfer des Ziegenmannes, einer Sagengestalt der Wälder? Außer seinem Vater und einem schwarzen Arzt aus dem Nachbarbezirk scheint das Schicksal der Frau niemanden zu interessieren. Als aber weitere Leichen auftauchen, darunter auch eine weiße Frau, kommt es zu einem Lynchmord an dem farbigen Mose. Harrys Vater ist überfordert und zieht sich nach Drohungen des Ku-Klux-Klans desillusioniert zurück.Doch Harry gibt die Suche nach dem wahren Mörder nicht auf.Zum Glück hat der DuMont Verlag den Titel dieses Jahr neu aufge-legt, die 2004 erschiene deutsche Erstausgabe war mir entgangen. Wer eine gute Alternative zu der Vielzahl skandinavischer Krimis auf den Bestsellerlisten sucht, sollte unbedingt zu diesem meisterlich erzählten Adoleszenz-Gesellschafts-Schauer-Kriminalroman greifen.

E.L. DoctorowHomer & LangleyVerlag Kiepenheuer & Witsch,18,95 Euro

Homer Collyer, der Erzähler der Ge-schichte, erblindet als junger Mann. Er wohnt mit seiner vermögenden Familie und reichlich Dienstpersonal in einem prächtigen New Yorker Stadthaus.Mit seiner Behinderung kommt Homer dank der Hilfe seines Bruders Langley gut zurecht. Das Klavierspiel wird zu seinem wich-tigsten Lebensinhalt. Als Langley in den Ersten Weltkrieg zieht und die Eltern an der Spanischen Grippe sterben, wird Homers Selbst-ständigkeit auf die Probe gestellt. Glücklicherweise kommt der als vermisst gemeldete Langley aus dem Krieg zurück, allerdings mit Schäden an Körper und Seele. Die Brüder ziehen sich in ihr Elternhaus zurück und beginnen alle möglichen Gegenstände zu horten. Bücher, Mu-sikinstrumente, Schreibmaschinen, Fahrräder, Radios und vieles mehr türmen sich häufig in mehrfacher Ausführung in ihrem Haus auf. Ein Ford Model T findet seinen Platz im Speisezimmer. Hinzu kommt Lang-leys Projekt einer ewig aktuellen Zeitung für das er über Jahrzehnte alle New Yorker Tageszeitungen sammelt. Das Dienstpersonal wird hingegen immer weniger, bis die Brüder schließlich auf sich allein gestellt sind. Doch in all den Jahren kommt die Außenwelt immer mal wieder zu Besuch. Die Brüder beherbergen unter anderen einen Jazzmusiker, Immigranten, Gang-ster und Hippies.Die exzentrischen Collyer-Brüder hat es wirklich gegeben. Im Jahre 1947 fand die New Yorker Polizei ihre Leichen in ihrem völlig zugemüllten Elternhaus. Der Rest entspringt der Fantasie des Autors. Zudem erlaubt sich Doctorow die literarische Freiheit ,die Brüder noch drei Dekaden länger leben zu lassen und macht sie so zu Zeugen meh-rerer Jahrzehnte amerikanischer Geschichte. Absolut lesenswert.

Mark WatsonElf LebenEichborn Verlag, 19,95 Euro

Der Mitdreißiger Xavier Ireland mo-deriert nachts eine Radiosendung in der er den schlaflosen Londonern Ratschläge gibt. Tagsüber bleibt er überwiegend für sich, schreibt Filmkritiken und spielt einmal im Monat Turnier-Scrabble. Über seine Vergangenheit, als er noch Chris Cotswold hieß und in Australien lebte, spricht Xavier nie. Warum verließ er Familie, Freunde und seine große Liebe? Warum hält er sich aus allem raus? Murray, sein Co-Moderator und Freund, überredet ihn zur Teilnahme an einem Speed-Dating-Abend. Dort lernt Xavier die Putzfrau Pippa kennen. Er engagiert sie, damit sie einmal die Woche seine Wohnung in Ordnung bringt. Und schon bald stellt die energische Pippa seine ganze Welt auf den Kopf. Der verliebte Xavier muss sich seiner Vergangenheit stellen.Unterdessen hat Xaviers Passivität – er hat nur halbherzig versucht eine Gruppe von Jugendlichen davon abzuhalten einen Jungen zu verprü-geln, eine Kettenreaktion in Gang gesetzt, die über das Leben von zehn Menschen letztlich wieder zu Xavier führen wird.Eine witzige, unterhaltsame und un-erwartet bewegende Umsetzung der Theorie des »Schmetterlingseffekts«.

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Jean-Francois DumontJungs sind eben so!Baumhaus Verlag, 9,99 Euro

»Thomas ist echt doof und manch-mal dumm wie Bohnenstroh«. So beginnt die wohl schönste Liebes-geschichte des Jahres. Es geht um Jungs und Mädchen und, wie so oft, hat Fußball auch etwas damit zu tun. Ein Buch zu besprechen, das vor allem durch die Bilder seinen einzig-artigen Charme erhält, ist durchaus eine Herausforderung...Dennoch möchte ich Sie hier zumin-dest dazu bewegen, sich die Zeit zu nehmen, sich dieses wunderbare Erwachsenen-Bilderbuch anzusehen. Seit Erscheinen habe ich bestimmt schon jedem zweiten Menschen dieses Buch in die Hand gedrückt mit den Worten: »Schauen Sie sich das mal an… Das ist so toll!« Die Reaktionen sind dann immer sehr ähnlich: es beginnt mit einem inte-ressierten Blättern, ab der dritten Seite folgt ein Schmunzeln und am Ende entlockt es (zumindest allen weiblichen Leserinnen) ein Kichern, verbunden mit dem Ausruf: »Oh! So ein schönes Buch!«Denn dieses in großartigem franzö-sischen Zeichenstil illustrierte Buch beschränkt sich bewusst auf die Ansicht der Figuren vom Rumpf ab-wärts und auch die dazu gehörigen Sätze beschränken sich auf das Nö-tigste, um der Phantasie des Lesers genug Raum zu geben und letztlich doch jeden mit einer eindeutigen Pointe zu überraschen.Also kommen Sie vorbei und lassen Sie sich verzücken und beglücken!

Oliver JeffersDas Herz in der FlascheAufbau Verlag, 14,95 Euro Ein weiteres Bilderbuch für Erwach-sene, welches jedoch eher ernstere aber nicht minder berührende Töne anschlägt, ist »Das Herz in der Flasche«. Vielleicht kennt man die Geschichten vom Mauerbauen oder von jenen, die einsame Inseln werden wollen, doch das Bild vom Herzen in der Flasche beeindruckt besonders durch seine originelle Aussagekraft. Die Geschichte handelt von einem kleinen Mäd-chen, das voller Wissensdurst und Lebensfreude ist, bis es mit dem Tod des Großvaters ihre Bezugsperson verliert und sich in ihrer Trauer nicht anders zu helfen weiß, als ihr Herz in eine Flasche zu stecken und so vor allem zu bewahren, was schmerzen würde. »Leider wurde die Flasche mit der Zeit immer schwerer. Also beschloss das Mädchen, sein Herz zu befreien. Nur konnte es sich nicht mehr er-innern, wie…« Kein Schütteln, kein Rütteln, kein Klopfen hilft, das Herz bleibt in der Flasche stecken. Bis sie jemanden trifft, der weiß wie er es befreien kann, um all die schönen Dinge endlich wieder zu entdecken… Ein sehr atmosphärisches, bewe-gendes und tröstendes Buch, um die Angst vor Verlusten, Trauer und den Weg zurück ins Leben.

Ysabeau WilceFlora Segunda magischeMissgeschickecbj Verlag, 12,99 Euro

Ehrlich gesagt tue ich mich schwer mit Fantasie-Literatur. Mit »Flora Segunda« habe ich jedoch ein herrlich schräges und spannendes Jugendbuch entdeckt, von dem ich mich breitwillig in magische Welten entführen ließ.Als Tochter der Generalin, der zweitmächtigsten Person nach dem alten Warlord und als Nachfahre eines der alten Häuser, steht Flora mit ihren bald vierzehn Jahren eine Karriere in der Armee bevor, um mit Disziplin, Gehorsam und Härte ihrer Familie und ihrem Land alle Ehre zu machen. Doch Flora ist alles andere als ein Paradebeispiel eines stram-men Soldaten. Pummelig, chaotisch und impulsiv träumt sie in Wahrheit davon, ein Waldläufer zu werden, ein in früheren Zeiten im Unter-grund agierender Bund von mutigen Kämpfern für Gerechtigkeit. Flora stößt durch eines ihrer magischen Missgeschicke auf den vor Jahren verbannten Hausgeist. Mit diesem lässt sie sich in der Hoffnung, das sCrackpot Hall wieder in seinem alten Glanz erstrahlt, auf einen folgenschweren Pakt ein... Doch das ist nur der Beginn eines wunderbar chaotischen Abenteuers, das Flora mit Hilfe ihres spiegel-verliebten besten Freundes Udo bestehen muss und bei dem letztlich

nicht nur das Schicksal ihrer Familie, sondern gar des ganzen Reiches in ihren zwei linken Händen liegt. Ein spannendes Abenteuer, das von kreativen, schrägen und lustigen Figuren und Ideen lebt, mit immer neuen Überraschungen aufwartet und bei dem es einfach Spaß macht, mit Flora durch ihre magische Welt zu purzeln.Selten kam Fantasie in den letzten Jahren so sympathisch und leichtfü-ßig, frei von Klischee und roman-tischem Kitsch daher.Ab 13 Jahren.

Jenny ValentineDie Ameisenkolonie dtv, 12,90 Euro

Jenny Valentine ist Spezialistin für nachdenkliche Jugendromane, die sich um die Probleme von Jugend-lichen drehen, die ihren Platz in der Welt noch nicht ganz gefunden haben. War ihr letzter Roman »Kaputte Suppe« schon ein wunder-bares Jugendbuch, überzeugt sie auch in »Die Ameisenkolonie« mit der richtigen Art und Weise, diese Themen trotz allem unterhaltsam zu verpacken.Im Mittelpunkt steht der 17-jährige Sam, der eigentlich nach London geflohen ist, um seiner Vergangen-heit auf dem englischen Land zu entfliehen. Er will im Großstadt-dschungel untertauchen, einfach alles vergessen, und am besten auch sich selbst, was ihm anfangs zu ge-lingen scheint. In dem Haus, in dem er Unterschlupf sucht, trifft er zu-nächst auf eine Reihe anderer, dort gestrandeter Individualisten, die genug eigene Probleme haben. Doch schon allzu bald drängt sich die zehnjährige Bohemia ganz ungefragt in sein Leben und egal, wie sehr er sich gegen die Verantwortung wehrt, bedeutet ihm das Schicksal des halbverwahrlosten Mädchens mehr, als ihm lieb ist.Und spätestens als es darauf ankommt, füreinander da zu sein, scheinen all die Hausbewohner doch mehr wie eine Gemeinschaft zusammenzuhalten, als eine lockere Ansammlung von Einzelgängern.Ein nachdenklicher Roman, in dem Jenny Valentine ihre Figuren mit viel Wärme und Charme zum Leben erweckt, der berührt ohne je kitschig zu werden.Ab 14 Jahren.

Während ich in der letzten schmitzkatze ziemlich frei aus meinen Lieblingen wählen durfte,

war ich diesmal auch selbst sehr gespannt darauf, was für Titel es diesmal unter meine

zehn Empfehlungen schaffen würden. Nachdem ich sie nun alle vor mir liegen habe, fällt

mir auf, welche persönliche Bedeutung manche dieser Bücher für mich haben. Vielleicht

weil sie voller verrückter Eigenheiten, Lebendigkeit und letztlich alle voller Lebens- und

Liebesbejahung stecken, vielleicht, weil ich mit einigen davon schon so schöne Erlebnisse

verbinde: Die positive Rückmeldung von Kunden auf einen dieser Titel, der Austausch mit

ebenso begeisterten Kollegen, das Engagement, das Feuer und Flamme sein dürfen für

Worte, Gedanken und Ideen und das Arbeit nennen zu dürfen. Wenn das nicht gleich das

vorgezogene Fazit meines ersten Jahres war…

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E. LockhartDie unrühmliche Geschichteder Frankie Landau-Banks Carlsen Verlag, 16,90 Euro

Jeder kennt die Geschichten über die geheimen Studentenver-bindungen an amerikanischen Universitäten oder die Schüler-bünde an den Eliteunis. Was diese neben einem eigenen Kodex und absoluter Geheimhaltung meist gemeinsam haben, ist, dass ihre Mitglieder alle männlich sind. Nicht anders ist das bei der geheimen Jungenorganisation der Alabaster Privatschule. Während sie im ersten Jahr noch keinerlei Interesse an den Machenschaften dieser exklusiven Verbindung hat, ändert sich dies im neuen Schuljahr schlagartig. Denn Frankie ist über die Ferien von der unscheinbaren Erstsemesterin zu einer wahren Schönheit gereift und erregt plötzlich auch die Aufmerk-samkeit von Schulschwarm Matthew und seinen Freunden. Anfangs gefällt sich Frankie noch in der Rolle der hübschen Freundin, doch als sie merkt, wie die geheimen Treffen Matthews mit seinen Freunden sie ausschließen, beginnt sie auf eigene Faust, ihre Intelligenz und ihr Können unter Beweis zu stellen. So schmiedet sie einen Plan, mit dem Matthew und sein Freunde nach kurzer Zeit ihre Anweisungen befolgen, jedoch ohne sich bewusst zu sein, dass sie von der scheinbar kleinen hübschen Frankie kommen. Mit ihren Ideen stellen sie den ge-samten Campus auf den Kopf, ganz in der Manier alter Geheimbünde, wobei Frankie sich der Verantwor-tung, die an solch eine Machtpositi-on geknüpft ist, erst bewusst wird, als schon alles aus dem Ruder zu laufen droht…Ein spannender Jugendroman mit einer starken Hauptfigur, der die Tradition (neu-)englischer Inter-natsromane fortsetzt, jedoch rasant und modern vor allem jugendliche Leserinnen fesseln wird. Ab 14 Jahren.

Liz MurrayAls der Tag begannDiana Verlag, 19,99 Euro

Dass das Leben selbst die bewe-gendsten Geschichten schreibt, wird im autobiographischen Roman von Liz Murray mehr als deutlich. Aufge-wachsen in der Bronx mit drogen-süchtigen Hippieeltern, bleibt Lizzie ein annähernd normales Leben von Anfang an verwehrt. Anstatt Geborgenheit und Fürsorge ihrer Eltern, bekommt sie vor allem eines tagtäglich zu spüren: die Härte eines Lebens am Existenzminimum. Die Mutter, die die Winterkleidung der Töchter für einen Schuss verkaufen will, der Hunger, die Ohnmacht und immer wieder die Unterstützung der Eltern, nur um ein wenig Zuneigung zu erlangen. In ihren Jugendjahren lebt sie letztlich auf der Straße,

schlägt sich irgendwie durch, umgeben von teils zwielichtigen Gestalten und angewiesen auf die Unterstützung ihrer Freunde. Erst das Obdachlosen-Schicksal ihres Vaters und der Verlust ihrer Mutter an Aids, ermutigen Lizzie auszubre-chen aus dem Kreislauf von Hunger, Obdachlosigkeit und Kriminalität. Sie findet den Mut und die Kraft sich an die richtigen Stellen zu wenden, den Absprung von der Straße zu schaffen und es mit Fleiß und Talent zu einem Stipendium und letztlich einem Abschluss an der Harvard University zu schaffen.Murray schafft es einen Roman zu schreiben, der weder kitschig noch eine Abrechnung mit ihrer Vergan-genheit ist. Vielmehr besticht sie durch gnadenlose Ehrlichkeit, frei von Verbitterung oder Vorwür-fen. Aus jeder Zeile spricht hier eine Persönlichkeit, die ihren Weg gegangen ist, die beeindruckt durch ihre Offenheit, ihre Stärke und ihre Authentizität. Absolut lesenswert.

Haruki MurakamiSputnik SweetheartDuMont Buchverlag, 8,95 Euro

Haruki Murakami ist für mich einer der fesselndsten Schriftsteller, was er auch in seinem Roman »Sputnik Sweetheart« wieder unter Beweis stellt. Diesmal zieht er den Leser insbesondere durch die Undurch-sichtigkeit der Geschichte und das Wechselspiel von Fiktion und Realismus in seinen Bann.Der ganze Roman ist eine Liebes-erklärung des Protagonisten an seine beste Freundin Sumire, eine Tagträumerin, Chaotin, die es meist nicht mal schafft, zwei gleiche Socken zu tragen. Das zerstreute Mädchen, das immer auf der Suche nach ihrem großen Roman ist, die in ihren manischen Schreibphasen jedoch kein Anfang und kein Ende für ihre Gedanken findet und ihren besten Freund mitten in der Nacht aus dem Bett klingelt. Doch egal wie groß diese Liebe ist, so bleibt sie doch unerfüllt, denn Sumire verliebt sich in die ältere Miu, die ihr als erfolgreiche Geschäftsfrau zwar eine Arbeit verschafft und ihr eine Freundin wird, aber ihre Liebe nicht erwidern kann.Diese Dreiecksbeziehung spitzt sich mehr und mehr zu und gipfelt letztlich in Sumires Verschwinden auf einer Geschäftsreise…Der Leser taucht ein in die Welt die-ser Sehnsüchte und Obsessionen, in denen die Protagonisten auf Grund ihrer persönlichen Schicksale nie zueinander finden können. Haruka-mi schreibt Romane, die man in ein, zwei schlaflosen Nächten durchliest und bei denen man sich am Ende so fühlt, als wäre man aus einem Fie-bertraum erwacht: verstört, bewegt, benommen und fasziniert.

Pauls ToutonghiDie Geschichte von Yuri Balodis und seinem Vater Yuri Balodis, der eigentlich Country-Star warRowohlt Verlag, 8,95 Euro

Toutonghi siedelt die Geschichte von Yuri im Spätsommer 1989 an, der Zeit, in der in Osteuropa alle Zeichen auf Umbruch stehen. Während Yuris Eltern, die damals vor der Russifizierung aus Lettland ins kapitalistische Schlaraffenland Amerika flüchteten, gespannt die Geschehnisse in der alten Heimat verfolgen, hat Yuri ganz andere Probleme. Er ist unsterblich verliebt, und das ausgerechnet in die Tochter des Kopfes der örtlichen Kommu-nisten. Dementsprechend versucht er nun, sich irgendwie in die Gedan-kenwelt von Marx und Arbeiter-kampfparolen einzudenken, ebenso erfolglos wie seine Eltern versuchen, die Tristesse des schon längst in den Sand gesetzten Neustarts als Erfül-lung des amerikanischen Traumes zu verkaufen.So sind die nächtlichen Balkon-Besäufnisse des Vaters, inklusive bourbonschwangeren Weisheiten für den Sohn, oder der Versuch Yuris, seine Angebetete mit einer Spritztour in einem »geborgten« Luxuswagen zu beeindrucken, nur die Vorbereitung auf all das, was dem 15-jährigen noch bevorsteht. Denn eines Tages steht nicht nur Yuris lettischer Onkel vor der Tür, sondern auch noch dessen Familie. Der Kulturschock der Neuankömm-linge zeigt sich schon beim Betreten eines amerikanischen Supermarktes, bei dem das Verspeisen von Bananen mit Heinz Ketchup noch das kleinste Übel darstellen…Die skurrile Mischung aus ost-europäischem Witz, Melancholie und dem amerikanischen Hang zu großen Geschichten, macht diesen Roman zu einem aberwitzigen Trip, bei dem Ost und West gleicherma-ßen auf ihre Kosten kommen.

Lorrie MooreEin Tor zur Welt Berlin Verlag, 24,– Euro

Tassie ist ein Mädchen aus den Tiefen des mittleren Westens wie es im Buche steht. Während das Bemerkenswerteste an ihrem Dasein zunächst nur die Verschrobenheiten ihres Luxus-Kartoffel anbauenden Vaters und ihrer ebenso exzen-trischen Mutter scheint, landet sie in der Zeit nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in der Universitätsstadt Troy, um dort ein wenig unmotiviert vor sich hin zu studieren. Auch die Folgen von 9/11 lassen sich in ihrem gesamten Ausmaß für jeden einzelnen noch nicht erahnen, selbst als ihr geliebter kleiner Bruder, aus der Perspektiv-losigkeit seines Landei-Daseins, freiwillig der Armee beitritt… So unaufgeregt wie der Roman beginnt,

umso mehr spitzt sich die Handlung zu. Denn mit der Annahme eines Babysitterjobs für ein erfolgreiches Ehepaar betritt Tassie eine ihr bisher fremde Welt. Sie bekommt Einblicke hinter die Fassade der teuren Einfamilienhäuser, erfährt ihre erste große Liebe und steuert in dem Balanceakt von Verantwortung, angemessener Zurückhaltung und eigener Identitätssuche immer mehr auf eine persönliche Katastrophe zu.Lorrie Moore gelingt es in »Ein Tor zur Welt« ein kritisches Bild des modernen Amerikas zu entwerfen, das zeitrelevante Themen wie den amerikanischen Krieg gegen den Terror, die Unvereinbarkeit von Erfolg und Familie und den Trend zur Adoption aufnimmt und diese gekonnt mit dem persönlichen Schicksal ihrer Protagonistin ver-knüpft. Mit sprachlicher Brillanz, Witz und verschrobenem Charme der auftretenden Charaktere packt und unterhält ihr neuer Roman den Leser, trotz des ernsten Inhaltes, von der ersten bis zur letzten Seite.

David AlmondMinaRavensburger Verlag, 14,95 Euro

Es gibt diese Bücher, die kaum in ein paar Sätzen zu beschreiben sind. Weil sie zu speziell sind, Grenzen von Poesie und Epik, Realem und Fantastischem spielend verwischen, von Kindern und Erwachsenen gleichermaßen gelesen werden können oder uns einfach persönlich so sehr berühren. Für mich ist David Almonds »Mina« genauso ein Buch.Als Prolog auf sein preisgekröntes und verfilmtes Kinderbuch »Zeit des Mondes« lässt Almond uns eintauchen in Minas Kosmos, welchen er sie in einem ganz eigenwilligen, überraschenden und mit sprachlicher Brillanz verfasstem Tagebuch skizzieren lässt. In Form von Geschichten, alternativen Lehrplänen und Gedichten entsteht so ein kleines Kunstwerk, das durch seine Schönheit und Traurigkeit gleichermaßen berührt und uns die Geschichte einer starken kleinen Le-benskünstlerin erzählt, die tagsüber auf Bäumen sitzend ihre ganz eigene Philosophie entwickelt, aber auch von dem Weg eines Mädchen berich-tet, das erst noch lernen muss, mit der Trauer um ihren toten Vater zu leben und dass es auch unter den scheinbar normalen Menschen jene gibt, die es wert sind, vom Baum herabzuklettern. Mancher wird Mina lieben, andere werden nur den Kopf schütteln. Einen Versuch ist es allemal wert, darin ein neues Lieblingsbuch zu entdecken…Ab 10 Jahren und für erwachsene Leser.

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Zum Warmschreiben diesmal keine Einleitung, sondern ein Buch, das zu sehr auf seinen Vorgänger angewiesen ist, um als normale Buchbesprechung durchzugehen:Es war mein Buch im Sommer 2003, Hakan Nessers »Kim Novak badete nie im See von Genezareth«, eine Geschichte um Liebe und Tod, Rache, Schuld und Vergebung und über die Schwierigkeit, erwachsen zu werden.Eine Frage beschäftigt mich seitdem ungemein: Wer erschlug den brutalen Handballer Berra Al-bertsson, wer war der Mörder? Eigentlich weiß ich ja Bescheid, zu erdrückend sind die Beweise gegen Edmund Waster, der damals doch erst vierzehn Jahre alt war. Mit mir – verrät Nesser – sind 40% der Leser dieser Meinung. Ebenfalls 40% Prozent glauben aber beharrlich, Erik sei es gewesen. Der Rest der Leserschaft hat ande-re Theorien. Vielleicht war es ja Berras Verlobte Ewa Kaludis selbst?Zehn Jahre schwieg Hakan Nesser beharrlich. Das hatte auch seinen Grund, wie er in einer Vorbemerkung zum Büchlein schreibt. Jetzt hat er sein Geheimnis gelüftet – in einem gewohnt hervorragenden Erzähl-Stil. Endlich!

Hakan NesserDie Wahrheit über Kim Novakund den Mord an Berra Albertssonbtb Verlag, 8,99 Euro

Wolfgang BüscherHartlandRowohlt Verlag, 19,95 Euro

Das Letzte zuerst. Eigentlich war schon Redaktionsschluss, als Büschers neues Buch auf meinen Schreibtisch gelangte. Ich kenne ihn seit seiner Wanderung von Berlin nach Moskau und halte ihn für den besten Reisebeschreiber unserer Zeit. »Hartland« habe ich dann auch in einem Rutsch gelesen. Das kommt nicht häufig vor.Wolfgang Büscher hat Amerika durchquert, 3.500 Kilometer in drei Monaten. Den größten Teil legte er zu Fuß zurück. Allein das ist für Amerika etwas sehr untypisches und häufig genug kopfschüttelnd belä-chelt worden. Dabei wählte er keine der nahe liegenden Routen, entlang der Pazifikküste immer hart an dem Highway No. 1 oder gen Westen auf der Route 66. Nein, Büscher wählte eine Nord-Süd-Durchquerung, die in Norddakota ihren Anfang nahm und in Texas endete. Er lässt sich durch schneebedeckte Prärien treiben, entdeckt die verlassene Stadt Hart-land, die früher Heartland geheißen hat. Er freundet sich mit einem indianischen Cowboy an und muss mit gespreizten Armen und Beinen am Wagen eines Sheriffs stehen. Er übernachtet in gespenstischen Mo-tels genauso wie in viktorianischen Herrenhäusern. Er wandert – immer weiter nach Süden – bis er nach vielen Wochen die mexikanische Grenze überquert. Großartig!

Werner KöhlerDrei Tage im ParadiesVerlag Kiepenheuer & Witsch,17,95 Euro

Atemlos wie ein Thriller, ausdrucks-voll und bildreich wie eine Reiseer-zählung von Theroux oder Chatwin, schreibt der Kölner Buchhändler Klaus Bittner in einer Besprechung. Und genau dieser Mix ist es, der das Buch von Werner Köhler, dem Mitbegründer der Lit Cologne, so lesenswert macht.Santiago de Chile. Ein Gewitter entlädt sich über der Millionenstadt. Der Fotograf Faber hockt auf der Kante seines Hotelbetts, einen Brief von dem Mann in Händen, den er seit 40 Jahren für tot hält. Einen Brief seines Vaters, der ihn wieder-sehen will.Verwirrt und zutiefst verunsichert flieht Faber vor den aufbrechenden Erinnerungen in den Süden des Landes. Patagonien mit seinen weiten Steppen, der Magellanstraße und dem einzigartigen Torres del Paine Nationalpark. In der Land-schaft spiegelt sich sein bisheriges Leben ebenso wie in den wenigen Menschen, denen er dort begegnet. Er weiß, dass er eine Entscheidung treffen muss.Endlich bereit sich seiner Vergan-genheit zu stellen, reist Faber nach Griechenland und begibt sich auf die Suche nach dem Vater. Er wird ihn nicht finden, allerdings die lange verdrängte Geschichte seiner Kindheit.

Breece D‘J. PancakeStoriesWeissbooks Verlag, 19,80 Euro

Wie kann man mit 26 nur so depressiv schreiben, frage ich mich und schaue mir seine Wikipedia-Biografie an. Dort heißt es etwas umständlich, er sei 1979 gestorben durch eine Wunde, die verursacht wurde durch ein Gewehr, das er sich selbst an den Kopf gehalten hätte. Mit anderen Worten, der Arme hat sich mit einer Schrotkugel den Kopf zerfetzt.Schade. Denn Breece Pancake war auf dem gutem Weg, ein heraus-ragender Schriftsteller zu werden. Die Autorin Joyce Carol Oates verglich ihn sogar mit Hemingway. Weissbooks hat jetzt seine besten Erzählungen zusammengetragen und zum ersten Mal auf Deutsch herausgegeben.In seinen Geschichten beschreibt Pancake seine Heimat, die Berg-baugebiete in West Virginia. Seine Helden sind Trucker, Autoschlos-ser, Bergleute, Hilfsarbeiter. Es wird geschraubt, getrunken und geprügelt. Pancake kennt sie alle, seine Protagonisten, und beschreibt gnadenlos genau, aber trotzdem sehr zärtlich. Breece D‘J. Pancake hat in seinen zwölf Geschichten ein Leben eingefangen, das so in der amerikanischen Literatur kaum vorkommt.

Dirk KurbjuweitKriegsbrautRowohlt Verlag 19,95 Euro

Zweimal hat Dirk Kurbjuweit, der Leiter des Hauptstadtbüros des Spiegels, für seine Reportagen den renommierten Egon-Erwin-Kisch-Preis bekommen. Jetzt hat er einen außergewöhnlich spannenden Roman geschrieben.Die junge Esther beschließt Soldatin zu werden, um ihrem bislang ziellosen Leben Halt zu geben. Bald wird sie nach Afghanistan geschickt. Staub, betäubende Hitze und eine trügerische Langeweile, in der stets Anschläge drohen, bestimmen die Tage im Bundeswehrcamp. Als Es-ther die Chance bekommt, Patrouil-lenfahrten in die Berge zu machen, lernt sie ein wildes, schönes, aber unnahbares Land kennen und trifft auf den rätselhaften Schulleiter Mehsud. Zögerlich verlieben die beiden sich und beginnen eine zarte, riskante Beziehung gegen alle Regeln, die militärischen wie die afghanischen. Schnell werden ihre Treffen zur Gefahr…

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und Berlin ermitteln gemeinsam. Auf österreichischer Seite die tem-peramentvolle Enddreißigerin Anna Habel, in Deutschland der zynische, melancholische Thomas Bernhardt. Ihre Ermittlungen führen sie in die Wiener Altstadt, den Prater und den Zentralfriedhof, in Berlin in angesagte Prenzlauer-Berg-Büros, Schöneberger Hinterhöfe und laute Eckkneipen.Scheint der Beginn einer neuen Diogenes-Reihe zu sein. Gut so!

Dominique ManottiRoter GlamourArgument Verlag, 12,90 Euro

Die Pariser Polizistin Noria Ghozali ist der »Arsch der Truppe«. Wenn Kinder auf Montmartre Hunde-haufen mit Böllern zum Explodieren bringen, darf sie »ermitteln«. Und auf dem Revier ist die Jungpo-lizistin Zielscheibe rassistischer Mobbingattacken. Doch dann wird eine unbekannte Tote auf einem ver-lassenen Parkplatz zum Katalysator für ihre Karriere. Noria verbeißt sich sofort in ihren ersten echten Fall, und bald wird eine konkurrierende Polizeibehörde auf sie aufmerksam, der Zentrale Nachrichtendienst. Noria lässt sich anwerben für eine streng geheime Ermittlung, die die politische Elite zum Straucheln bringen könnte. Präsidentenberater François Born-and versucht derweil eine Staatskri-se zu verhindern und schickt seinen Mann fürs Grobe ins Rennen. Mord und Verrat häufen sich. Dominique Manotti ist eine realistische Chronistin und eine brillante Erzählerin. Kein Satz ist überflüssig, jeder gespickt mit einer Fülle von Informationen (deshalb kommt sie auch mit weniger als 250 Seiten aus). Spannung pur, erst recht nachdem ich das Gewirr der französischen Zuständigkeiten durchschaut habe.

Katja ThimmVatertageFischer Verlag, 18,95 Euro

Fragen und forschen, bevor es zu spät ist: Katja Thimm wächst auf in der scheinbar normalen Einfamilien-haus-mit-Garten-Idylle der Bonner Bundesrepublik. Doch manchmal, völlig unvermittelt, bekommt diese Normalität Risse und die Tochter merkt, es gibt im Leben des Vaters noch etwas anderes, dunkle Punkte, die er nicht anspricht, die er in den Tiefen seiner Seele vergraben hat. Dieses andere sind Kindheit und Jugend des Vaters, ist die traumatische Erfahrung von Flucht und Vertreibung, von Verlust und Massensterben, vom Leben in zwei totalitären Systemen.Katja Thimm erzählt eindringlich die Geschichte ihres Vaters und damit exemplarisch die Geschichte hun-derttausender Kriegskinder. Und sie berichtet von Ereignissen und Er-innerungen, die über Generationen fortwirken, gerade noch rechtzeitig bevor der Vater hilflos wird und die Bilder für immer verblassen.

Arno GeigerDer alte König in seinem ExilHanser Verlag, 17,90 Euro

„Wenn ich zu Hause bin, was nicht allzu oft vorkommt, da wir die Last auf mehrere Schultern verteilen können, wecke ich den Vater gegen neun. Er liegt ganz verdattert unter seiner Decke, ist aber ausreichend daran gewöhnt, dass Menschen, die er nicht erkennt, in sein Schlafzim-mer treten, so dass er sich nicht beklagt. »Willst du nicht aufstehen?« frage ich ihn freundlich. Und um ein wenig Optimismus zu verbreiten, füge ich hinzu: »Was für ein schönes Leben wir haben.«Skeptisch rappelt er sich hoch. »Du vielleicht«, sagt er.Ich reiche ihm seine Socken, er be-trachtet die Socken ein Weilchen mit hochgezogenen Augenbrauen und sagt dann: »Wo ist der Dritte?«“Was ist wichtig? Was macht das Leben lebenswert? Arno Geiger erzählt von seinem Vater, dem die Erinnerungen langsam abhanden kommen, dessen Orientierung in der Gegenwart sich auflöst. Geigers Vater leidet an Alzheimer.

»Da mein Vater nicht mehr über die Brücke in meine Welt gelangen kann, muss ich hinüber zu ihm.« Offen, liebevoll und heiter beginnt Arno Geiger ,seinen Vater neu ken-nen zu lernen und schließt erneut Freundschaft mit ihm. Erst war ich skeptisch, jetzt aber sage ich mit großer Überzeugung: Das ist ein wunderbares, tröstendes Buch.

David AbbottDie späte Ernte des Henry Cagedtv, 14,90 Euro

Der hochgelobte Debütroman eines 73-jährigen Mannes. Henry Cage geht in den »wohlverdienten« Ruhe-stand. Abgesehen aber von seinem beruflichen Erfolg als Gründer einer großen Werbeagentur, sieht es nicht gut aus in Henrys Leben. Mit seinem Sohn hat er sich zerstritten, von seiner Frau ist er geschieden. Diese bittet ihn nach zwanzig Jahren Funkstille, zu ihr nach Florida zu kommen. Er ahnt nichts Gutes. Er fliegt hin und stellt fest, dass ihm kaum noch Zeit bleibt, die Fehler der Vergangenheit zu bereinigen.»Die späte Ernte des Henry Cage« ist so ziemlich das beste Buch, das ich in den letzten Jahren gelesen habe, ein im wahrsten Sinne des Wortes ergreifender Roman. Davis Abbott schreibt klar, humorvoll, ohne jede Sentimentalität, ein bisschen vielleicht in der Manier eines Philip Roth. Dieses Buch ist meine absolute Lese-empfehlung in diesem Sommer!

David OsbornJagdzeitPendragon Verlag, 10,95 Euro

Der Plot in Adler Olsons »Schän-dung« kam mir sofort bekannt vor. Drei etablierte Männer im besten Alter treffen sich gelegentlich zur Jagd, und ihre Beute sind nicht nur Tiere, sondern auch Menschen. Jetzt bekam ich ein Exemplar von Osbornes »Jagdzeit« in die Hand und er fiel mir wieder ein, der Film »Open Season – Jagdzeit« aus den 70er Jahren. In der Hauptrolle spielte Peter Fonda einen Vietnam-Veteranen der seine brutale Freude am Töten von Menschen nie abge-legt hat und sich einmal im Jahr für zwei Wochen mit zwei Freunden zur Jagd in den endlosen Wäldern an der amerikanisch-kanadischen Grenze trifft. Genauso regelmäßig entführen die drei unterwegs ein Pärchen und verschleppen es in ihre kleine Waldhütte. Der junge Mann muss sich um den Haushalt kümmern, während die Frau schwer missbraucht wird. Nach einigen Tagen werden beide freigelassen, mit dem Hinweis, man gebe ihnen zwan-zig Minuten Vorsprung. Danach sei die Jagd eröffnet.Der Pendragon Verlag hat das fast vierzig Jahre alte Buch neu übersetzen lassen. Jetzt habe ich es endlich gelesen. Brutal, verstörend, schnörkellos. Grandios!

Claus Bielefeld / Petra HartliebAuf der Strecke.Ein Fall für Berlin und WienDiogenes Verlag, 10,90 Euro

Manchmal beginnen auch Buch-händlerinnen zu schreiben, und in diesem Falle ist das sehr gut so.Petra Hartlieb, eine Kollegin aus Wien, hat gemeinsam mit dem Rundfunkredakteur Claus Bielefeld einen deutsch-österreichischen Krimi geschrieben.Xaver Pucher ist ein erfolgreicher Autor, als er auf dem Weg zu seinem Agenten, dem er offenbar sein neuestes Manuskript geben wollte, im Schlafwagenabteil auf dem Weg von Wien nach Berlin erdrosselt wird. In seinem Gepäck findet die Polizei allerdings lediglich Spuren von Kokain. Ein Mord der im Zu-sammenhang mit der Droge steht? Oder Islamisten, die sich in Puchers Büchern verhöhnt fühlten? Wien

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Pappbilderbücher, die Kinder wie Erwachsene gleicherma-ßen begeistern, die ebenso künstlerisch wie kreativ sind, die ohne Text auskommen und der Phantasie jede Menge Entfaltungsmöglichkeiten bieten, gibt es nicht so viele. In-sofern sind die wunderbaren Bücher des Franzosen Hervé Tullet eine enorme Bereicherung für jedes Kinderzimmer.

Und langweilig wird es mit den Büchern aus der Reihe The Game of… auch nicht so schnell. Jedes einzelne der sechs Bü-cher hat ein Spielelement. In zweien darf fleißig geklappt und neu kombiniert werden, mal darf man bei zwei fast identi-schen Bildern kleine, feine Unterschiede suchen. Bei dem Titel »The game of finger worms« wird einem Finger ein Gesicht ge-malt und dann mit dem Buch drauflosgespielt.Das Buch, das am unscheinbarsten daherkommt, verbirgt eine wunderschöne Idee: In »The game of let’s go« darf man die Augen schließen, mit dem Finger der magischen Linie folgen und in der Vorstellung eine ausgedehnte Reise unternehmen – wohin man möchte, womit man reist und was es unterwegs Aufregendes zu sehen gibt, bleibt dabei völlig der kindlichen Phantasie überlassen…Mein persönlicher Favorit dieser Reihe ist »The game of light«, das mit Licht und Schatten spielt und bei dem man zusätzlich noch eine Taschenlampe benötigt. Durch die verschiedensten Stanzungen wird mal ein Sternenhimmel, mal Fische oder Blu-men oder Gesichter an die Wand geworfen.Lassen Sie sich bitte nicht von den englischen Titeln abschre-cken. Abgesehen von ganz kurzen und auch einfachen Sätzen, die in dem einen oder anderen Buch auftauchen, erklären sich diese tollen Bücher ganz von allein!

Hervé Tullet, der 1958 geboren wurde, gilt in Frankreich als DER Vorschulbuch-Künstler. Zunächst arbeitete er für die Werbung und illustrierte für Zeitungen und Zeitschriften wie Le Monde oder Elle. 1994 erschien sein ersten Kinderbuch. Sei-ne Kinder - zwei Jungen und ein kleines Mädchen inspirieren ihn immer wieder zu neuen Ideen. Sein Ziel ist es, kleine und noch ziemlich leere Köpfe zu einem phantasievollen, kreativen und selbständigen Denken zu animieren.

Sein Buch »Stell dir vor«, das 2007 im Carlsen Verlag erschien (und mittlerweile leider vergriffen ist), funktionierte auch schon nach diesem Prinzip. Ein Buch, gefüllt mit Bildern und Zeichnungen, das ganz ohne Text auskam und nur die kindli-che Phantasie anregen sollte. Ein Buch, das einlädt, Geschich-ten zu erfinden oder Beobachtungen zu machen. Im letzten Jahr erschien sein »Mitmach-Buch« im Velber Verlag, bei dem die Kinder einfach mal das machen sollen, was das Buch ger-ne möchte. Um dann zu staunen, was tatsächlich passiert: aus einem Kreis werden zwei, die Kreise werden größer, wenn die Kinder klatschen und kippt man das Buch, rutschen die Kreise – natürlich – in eine Ecke…

So ist die The Game of…-Reihe eine konsequente Weiterent-wicklung: Die Bücher werden zu ungewöhnlichen und krea-tiven Spielen, mit denen sich die Kinder lange beschäftigen können.

Sandra Rudel

336 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen, € 19,90 [D] , ISBN 978-3-86648-132-9 www.mare.de

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Das Buch »Talking Jazz« ist selbstverständlich von Till Brönner. Der Mann mit der roten Posaune heißt Nils Landgren und mit über siebzig Jahren immer noch Plattenboss ist Siggi Loch. Alle Mitrater lagen richtig, das Los entschied wie jedes Mal. Kein Werdener, auch kein Essener ist unter den Gewinnern. Erstaunlich vielleicht, bedenkt man aber, dass mittlerweile 2000 Ex-emplare unserer katze durch die Republik stromern, ist das gar nicht unwahrscheinlich. Über ein Jazz-Paket können sich freuen: Frank Beck aus Krefeld, Burkard Scheuer aus Lübeck sowie Sassa Kraft aus Neckargmünd. Ihre CDs werden Sie mittlerweile bereits erhalten haben. Wir sagen Herzlichen Glückwunsch, bedanken uns bei allen, die mitgespielt haben und wünschen viel Spaß beim Beantworten der folgenden drei Fragen.Nicht schon wieder Jazz, war der vielfache Wunsch einer einzigen Kollegin, mach doch mal was mit Reisen. Es ist doch Sommer!Ich habe diesem Wunsch entsprochen – aber nur ein wenig.Selbstverständlich liegt die schönste Buchhandlung westlich des Urals in Essen-Werden und heißt Schmitz. Alles andere wäre ja auch gelacht. Vielleicht gibt es aber die ein oder andere Buchhandlung, die objektiv betrachtet auch mithalten kann. Drei von diesen außergewöhn-lichen Buchhandlungen sind Thema des Rätsels.

> Frage 1Die Buchhandlung, die wir suchen, war schon einmal Teil unseres Lesemagazins, ist sie doch zu einer der schönsten Buchhandlungen der Welt gekürt worden. Die niederländische Selexyz Dominicanem befindet sich an einem wahrhaft himmlischen Ort, ist sie doch in einem Gottes-haus untergebracht. Entweihung, fragt man? Vielleicht. Aber in den letzten 200 Jahren hat die Kirche viel Prosaisches mitgemacht: mal Pferdestall, mal Ballsaal, mal nutzte es die Feuer-wehr, dann ein Boxveranstalter – ach ja, ein Fahrradparkplatz soll hier auch einmal gewesen sein. Da ist doch ein Buchladen recht harmlos…In welcher Stadt befindet sich diese Buchhandlung?A LeeuwardenB GroningenC MaastrichtD Rotterdam

> Frage 2Seit 180 Jahren liegt die Buchhandlung Beer an einem der schönsten Plätze der Stadt. Kein Autoverkehr, vielleicht verirrt sich ab und an eine Kehrmaschine hierhin. Nichts stört die Ruhe unter der prächtigen Linde. Eine Bank lädt zu Verweilen ein. Je nachdem, wo man sich hinsetzt, schaut man auf St. Peter, die Robert-Walser-Gasse oder eben auf die 80qm große Buchhandlung. Im Inneren fällt mir gleich die Kassenzone auf. Da, wo andere auf Mitnah-meartikel, sogenannte Schnelldreher, setzen, präsentiert Volker Dieter Wolf lieber Literatur, Oscar Wilde zum Beispiel. Wieder draußen wundert man sich über die große Ruhe, die auf diesem Platz herrscht, schließlich liegt die Bahnhofstraße, jener Einkaufs-Boulevard, der zu den teuersten der Welt zählt, nur einen Steinwurf entfernt. Ebenfalls nur ein Steinwurf entfernt liegt ein Fluss, der sich durch die Stadt schlängelt.Wie heißt er?A LimmatB RheinC AareD Reuss

> Frage 3Der Bücherbogen am Savignyplatz. Was lange Zeit eine alte Autowerkstatt war, verwandelte Ruthild Spangenberg 1980 in eine Buchhandlung die ihresgleichen sucht. Fünf Stadtbahn-bögen hat sie mittlerweile angemietet und zu einer international anerkannten Fachbuchhand-lung ausgebaut. In einem Bogen befindet sich die Abteilung Kunst, in anderen Architektur, Fotografie und Design. Das Sortiment lockt zum einen Touristen an, andererseits hat Ruthild Spangenberg ein Stammpublikum aus Künstlern und Wissenschaftlern, die oft stundenlang in der Buchhandlung verweilen. Zu unterscheiden sind beide Gruppen im Übrigen dadurch, dass Stammgäste völlig ungerührt bleiben, Touristen aber zusammenzucken und vor Schreck hochfahren, wenn über ihren Köpfen alle 10 Minuten die S-Bahn dröhnt. Ein Geräusch, das von Mitarbeitern des Hauses schon gar nicht mehr wahrgenommen wird.In welcher Stadt befindet sich diese Buchhandlung?A Bonn B BerlinC BochumD Baden-Baden

Wir wünschen viel Spaß beim Raten, und wenn wir einen Wunsch äußern dürfen –dann bleiben Sie uns bitte trotz der großen Buchverführung in drei anderen Städten treu.Ihre Antworten erbitten wir bis zum 30. September 2011 und Sie wissen ja,der Rechtsweg ist ausgeschlossen.

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schmitzkatze-Buchladenrätsel

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