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75 Schopenhauer und der Wert der Freiheit Von Dieter Birnbacher (Dortmund) und Georg Küpper (Potsdam) 1. Freiheit - eine Leerformel? „Freiheit, die ich meine, die mein Herz erfüllt ..." Freiheit scheint etwas zu sein, das man nicht anders als „meinen", nämlich lieben kann. Freiheit scheint etwas zu sein, das man schlechthin nicht nicht wollen kann, mag auch der Wunsch danach als unter- schiedlich dringlich und vordringlich empfunden werden und ihr Mangel oder Verlust als unterschiedlich belastend. Und wer wünschte sich nicht mehr Freiheit? Selbst Menschen, von denen man auf den ersten Blick annehmen möchte, daß ihnen ein geradezu beneidenswertes Maß an Freiheit der persönlichen Lebensgestaltung vergönnt ist, fuhren bei näherer Vertrautheit Klage darüber, wie unfrei und eingeengt sie sich, fühlen. Immer scheint es Dimensionen des Lebens zu geben, hinsichtlich derer auch derjenige, der über genügend freie Zeit verfugt und keinem Arbeitszwang unterliegt - oder seine Arbeit oder seinen Zeitmangel nicht als Zwang empfindet - ein Zuwenig an Freiheit beklagt. Ob es die Macht eingefleischter Denk- und Verhaltensgewohnheiten, der Druck persönlicher und wirtschaftlicher Verpflichtungen, das Nagen eines schlechten Ge- wissens oder schlicht die Last des Daseins als solchen ist - immer scheint etwas übrig zu bleiben, das uns die Luft abschnürt und nach befreiendem Durchatmen verlangen läßt. Erledigt sich die Frage nach dem Wert der Freiheit damit nicht eigentlich von selbst? Ist die Frage nach dem Wert der Freiheit nicht eigentlich eine Scheinfrage, da Freiheit anders denn als Wert gar nicht zu denken ist? Ist die positive Bewertung nicht bereits dem Begriff der Freiheit so fest eingeschrieben, daß wer nach dem Wert der Freiheit fragt, damit lediglich kundtut, daß er den Sinn seiner Frage nicht verstanden hat? In der Tat, die Frage nach dem Wert der Freiheit scheint nicht weniger leer und entbehrlich als die Frage, warum Mord ein Verbrechen und das Gute erstrebenswert ist

Schopenhauer und der Wert der Freiheit · 78 tungsvielfalt lebhaft bewußt gewesen, er hat mit seiner Unterschei-dung von „physischer", „intellektueller", „moralischer" und

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Schopenhauer und der Wert der Freiheit

Von Dieter Birnbacher (Dortmund) und Georg Küpper (Potsdam)

1. Freiheit-

eine Leerformel?

„Freiheit, die ich meine, die mein Herz erfüllt ..." Freiheitscheint etwas zu sein, das man nicht anders als „meinen", nämlichlieben kann. Freiheit scheint etwas zu sein, das man schlechthinnicht nicht wollen kann, mag auch der Wunsch danach als unter-schiedlich dringlich und vordringlich empfunden werden und ihrMangel oder Verlust als unterschiedlich belastend. Und werwünschte sich nicht mehr Freiheit? Selbst Menschen, von denenman auf den ersten Blick annehmen möchte, daß ihnen ein geradezubeneidenswertes Maß an Freiheit der persönlichen Lebensgestaltungvergönnt ist, fuhren bei näherer Vertrautheit Klage darüber, wieunfrei und eingeengt sie sich, fühlen. Immer scheint es Dimensionendes Lebens zu geben, hinsichtlich derer auch derjenige, der übergenügend freie Zeit verfugt und keinem Arbeitszwang unterliegt -oder seine Arbeit oder seinen Zeitmangel nicht als Zwang empfindet-

ein Zuwenig an Freiheit beklagt. Ob es die Macht eingefleischterDenk- und Verhaltensgewohnheiten, der Druck persönlicher undwirtschaftlicher Verpflichtungen, das Nagen eines schlechten Ge-wissens oder schlicht die Last des Daseins als solchen ist - immerscheint etwas übrig zu bleiben, das uns die Luft abschnürt und nachbefreiendem Durchatmen verlangen läßt.

Erledigt sich die Frage nach dem Wert der Freiheit damit nichteigentlich von selbst? Ist die Frage nach dem Wert der Freiheitnicht eigentlich eine Scheinfrage, da Freiheit anders denn als Wertgar nicht zu denken ist? Ist die positive Bewertung nicht bereitsdem Begriff der Freiheit so fest eingeschrieben, daß wer nach demWert der Freiheit fragt, damit lediglich kundtut, daß er den Sinnseiner Frage nicht verstanden hat? In der Tat, die Frage nach demWert der Freiheit scheint nicht weniger leer und entbehrlich als dieFrage, warum Mord ein Verbrechen und das Gute erstrebenswert ist

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- eine tautologische Frage, von der nicht erwartet werden kann, daßsie irgend etwas zur philosophischen Problemklärung oder Pro-blemlösung beitragen kann.

Aber gerade dies scheinbar Tautologische der Frage ist ein Indizdafür, daß sich hier ein echtes Problem versteckt, nämlich dasProblem, ob „Freiheit"wirklichmehr ist als eine mehr oder wenigerbeliebig einsetzbare Leerformel, die sich eben deshalb, weil sie soausgeprägt positiv besetzt und ihrem Inhalt nach so offen ist, alsprobates Mittelphilosophischer und politischer Rhetorik empfiehlt.Wie der Appell an „Gerechtigkeit" scheint sich der Appell an„Freiheit" zu nahezu beliebigen Zwecken herzugeben. Die meistenKriege werden im Namen der Gerechtigkeit, die meisten Rebellio-nen imNamen der Freiheit angezettelt, ohne daß daraus irgend et-was über ihr objektives Recht und Unrecht folgte. Schon die Nen-nung des Worts „Freiheit" scheint das auszulösen, was Psycholo-gen eine Akquieszenzreaktion nennen

- eine Tendenz zum Ja-Sagen.Gegen Liberalismus kann man sein, aber nicht gegen Freiheit. Wiehätte wohl der bemerkenswerte Satz des Kölner Kardinals Meissnergeklungen, daß nach dem Niedergang des Kommunismus nunmehrder Liberalismus der Feind sei, gegen den es zu kämpfen gelte,hätte er statt dem Liberalismus der Freiheit den Kampf angesagt?Darüber hinaus ist der Begriff der Freiheit seinem Inhalt nach sowenig festgelegt, daß gerade auch die ärgsten Einschränkungen derFreiheit imNamen der Freiheit

-bzw. der „wahren" Freiheit

-legi-

timiert werden können. Ein schönes Beispiel dafür ist die Antwort,die Herzog Alba im vierten Akt von Goethes „Egmont" auf Eg-monts Berufung auf die Freiheit des niederländischen Volkes gibt:„Freiheit? Ein schönes Wort, wer's recht verstünde. Was wollen siefür Freiheit? Was ist des Freiesten Freiheit? -Recht zu tun! - unddaran wirdsie der König nicht hindern."

Für den philosophischen Analytiker sind „Leerformeln" wie„Freiheit" oder „Gerechtigkeit" eine Herausforderung. Denn überFreiheit und Gerechtigkeit läßt sich weder in der Theorie noch impolitischen Alltag vernünftig -d.h. ohne ausschließlich rhetorischeAbsichten - reden, ohne zunächst einmal zu klären, um welcheFreiheit und welche Gerechtigkeit gestritten und gekämpft werdensoll. Vielleicht sind diese Begriffe bei näherem Hinsehn doch nicht

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so bedeutungsleer, wie es das Etikett „Leerformel" nahelegt.Vielleicht müssen die in diesen Begriffen enthaltenen Bedeutungennur in ihrer Vielfalt und Gegensätzlichkeit transparent gemacht, dieeinzelnen Bedeutungskerne voneinander isoliert und in ihrer je-weiligen Eigenart kenntlich gemacht werden. Dann macht auch dieFrage nach dem Wert der Freiheit wieder einen Sinn -umformuliertindie Frage: Was bedeutet uns welche Freiheit? Was ist uns welcheFreiheit wert? Welche Freiheit verdient unsere Wertschätzung undunsere Fürsprache? Schopenhauer hat sich zu allen Facetten desFreiheitsbegriffs geäußert, und am Leitfaden seiner Beiträgemöchten wirder Frage nach dem Wert der Freiheit im folgenden einStück weit nachgehen.

2. Begriffliche Differenzierungen

Schopenhauer war primär ein Synthetiker, der wie die gesamtemetaphysische Tradition der Philosophie den

-heute nur noch

selten gewagten- Versuch unternahm, das Ganze der äußeren und

inneren Erfahrung in ein totales, Mensch und Natur, Ich und Weltgleichermaßen umfassendes Bild der Wirklichkeit zu integrierenund durch eine zentrale, in alle Erfahrungsbereiche ausstrahlendeMetapher zu entschlüsseln. Aber Schopenhauer war auch einAnalytiker;der sich -

vor allem in der kritischen Auseinanderset-zung mit Vorgängern und Gegnern -die scharfen Waffen der be-grifflichen Zergliederung und der argumentativen Differenzierungzunutze machte. Die von Schopenhauer auch heute noch ausge-hende Faszination beruht ja nicht zum geringsten Teil darauf, daßsich in ihm die Traditionslinie der ganymedisch-romantischen Er-griffenheit (der All-Einheit und des mystischen Dunkels) und dieTraditionslinie der prometheisch-aufklärerischen Aufsässigkeit ineiner höchst eigenwilligen Konfiguration verschlingen und dieUpanishaden und der Mystiker Meister Eckhart ebenso zu seinenphilosophischen Vorgängern und Vorbildern gehören wie die em-piristischen Sprachkritiker Locke und Lichtenberg. Was den Frei-heitsbegriff betrifft, so ist Schopenhauer nicht nur dessen Bedeu-

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tungsvielfalt lebhaft bewußt gewesen, er hat mit seiner Unterschei-dung von „physischer", „intellektueller", „moralischer" und„relativer"Freiheit auch viel dazu getan, die Sphären der Teilbe-griffe gegeneinander abzugrenzen und damit eine Reihe vonScheinproblemen und Scheinlösungen zu eliminieren. Während indem emphatischen Freiheitsbegriff von Kants Moralphilosophienicht weniger als vier verschiedene und logisch voneinander unab-hängige Bedeutungen von „Freiheit" auf fatale Weise miteinanderverquickt werden, werden diese verschiedenen Bedeutungen vonSchopenhauer sorgfältig getrennt und die Kantischen Paradoxienzum Verschwinden gebracht. Kant hatte „Freiheit" unter schiedslossowohl als Gegenbegriff zum Determinismus als auch als Gegenbe-griff zur Abhängigkeit des Willens von sinnlichen Auslösern(„Neigungen") gebraucht und darüber hinaus ein so dicht geschlos-senes begriffliches Netz zwischen Freiheit, praktischer Vernunft,Moralität und Unabhängigkeit vom Naturzusammenhang gewoben,daß Paradoxe unausbleiblich waren

- z.B. das Paradox, daß jeder,der frei handelt, damit auch schon gut handelt, und jeder, der Un-recht tut, unfrei ist und konsequenterweise gar nicht getadelt wer-den darf; oder das Paradox, daß jeder moralisch denkende und han-delnde Mensch

-so als sei dieses etwas ganz und gar Ungewöhnli-

ches, ja an ein Wunder Grenzendes -sich bereits dadurch auf my-steriöse Weise aus dem Naturzusammenhang und der Naturverfal-lenheit herauskatapultiert bzw. zumindest so gedacht werden muß.Schopenhauer erkennt, daß dies vermeintlich logisch gehärtete undunangreifbare begriffliche Netzwerk zu leicht gesponnen ist, um derKritik standzuhalten: Weder verbürgt Willensfreiheit Moralität,noch ist Moralität auf Willensfreiheit angewiesen. Zwar wird auchbei Schopenhauer

-in dem Gedanken des sich selbst als Ein und

Alles wissenden Willens-

eine Beziehung hergestellt zwischenMoralität und Erlösung aus Naturverfallenheit, zwischen deridealen Überwindung der Getrenntheit der Individuen in der Hal-tung grenzenlosen Mitleids und der realen Aufhebung der Trennungin der All-Einheit. Aber Schopenhauer liegt es, anders als Kant,gänzlich fern, fur diese metaphysische Deutung der Moralität einewie immer geartete logische oder rationale Erkenntnisgrundlage inAnspruch zu nehmen.

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3. Willensfreiheit als Ideologie

Das Bemühen um eine differenzierende Begriffsklärung ist abernicht der einzige Beitrag Schopenhauers zum Freiheitsproblem undsicher nicht der wichtigste. Sein wichtigster Beitrag ist seine Kritikan der hypertrophierten Bedeutung, die die Tradition der Philoso-phie der menschlichen Willensfreiheit, dem liberum arbitrium,beigemessen hat. Schopenhauers Leistung besteht darin, diesen inder Tradition der Philosophie am höchsten gehandelten Begriff ei-nes guten Teils seiner Aura beraubt und ihn unter dem grellen Lichtder philosophischen Analyse als das sichtbar gemacht zu haben,was er ist: eine (wie wir heute sagen würden) ideologische Kon-struktion

-eine Doktrin ohne Realitätsgehalt, aber mit wichtigen

praktischen Funktionen, insbesondere der Funktion, anderweitigschwer zu begründende individuelle und institutionelle Verfahrens-weisen mit dem Schein einer metaphysischen, geschichtsphiloso-phischen oder wie immer gearteten „höheren" Legitimation auszu-statten. Zwar geht Schopenhauer noch nicht so weit wie Nietzsche,der die Willensfreiheit als eine Erfindung von Leuten diagnostizierthat, die, ihrem biologischen Instinkt folgend, strafen wollen, unddie Fiktion der Willensfreiheit brauchen, um guten Gewissens stra-fen zu können. 1 Aber auch fur Schopenhauer ist die Willensfreiheitnicht nur eine Fiktion, sondern eine - zumindest fur Gottgläubige -höchst willkommene und dringend benötigte Fiktion, schon des-wegen, weil andernfalls die ungeheure Masse des von Menschenwissentlich und willentlich verursachten moralischen und außer-moralischen Übels auf ihren Schöpfer zurückfallen würde.

Kein anderer Philosoph hat wie Schopenhauer ins Licht gerückt,daß die Willensfreiheit im Grunde eine Absurdität und der Deter-minismus eine Selbstverständlichkeit ist, und daß nur unsereSelbstsicht als aktiv in die Welt eingreifende Akteure uns daranhindert, sie also solche zu erkennen. Ein völlig passiver Beobachterwürde das sogenannte „Freiheitsproblem" vielleicht nicht einmalverstehen, da er keine Mühe hätte, das innere und äußere Verhaltenanderer als kausal bedingt zu durchschauen. Wir haben keineswegs

*F. Nietzsche, Götzendämmerung. Die vier großen Irrtümer, § 7.

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alle Fäden unseres Wollens und Handelns in der Hand. Daß wir unswünschen können, das eine oder andere zu wollen, bedeutet nicht,daß wir es auch tatsächlich wollen können. Mögen wirnoch so freisein, zu tun, was wir wollen - wir sind nicht in demselben Maßefrei, zu wollen, was wir wollen.

Hier mag man freilich einwenden, daß die Unmöglichkeit einerWillensfreiheit nichts über ihren Wert aussagt und daß man sie,auch wenn sie nicht real gegeben sein sollte, vielleicht dennoch mitgutem Grund wünschen könnte. Immerhin vermag der Determinis-mus auch heute noch Furcht und Schrecken zu verbreiten. 2 Der Ge-danke, daß kausale Gesetzlichkeiten in das innerste Heiligtum deseigenen Bewußtseins und insbesondere der eigenen Willensregungenhineinreichen, wird von vielen

-und besonders von autono-

miebewußten jungen Menschen-

als Alptraum empfunden und mitHorror-Bildern von Ohnmacht und Hilflosigkeit assoziiert. Abernicht nur ist der Determinismus bei genauerem Hinsehen viel un-aufregender, als es diese Bilder nahelegen, Willensfreiheit im Sinnedes kausal unverursachten liberum arbithum ist letztlich keine at-traktivere metaphysische Option als der Determinismus. Der Ge-genbegriff zur kausalen Notwendigkeit ist die Zufälligkeit, und Zu-fälligkeit des Wollens und Handelns ist weder das, was sich dieVerfechter der Willensfreiheit erträumen, noch vermag sie der vomDeterminismus ausgehenden Irritation irgend etwas entgegenzuset-zen. Die Hypothesen der Zufälligkeit und der Notwendigkeit sindbeide gleichermaßen irritierend. Wer - wie Epikur und der Atom-physiker Pascual Jordan - seine Hoffnungen auf den Indetermi-nismus der Atome oder der subatomaren Prozesse setzt, muß sichfragen lassen, was eigentlich wünschenswert ist an einer Willens-entscheidung, die auf vereinzelte mikroskopische Irregularitäten zu-rückgeht.

Auch für das Problem der Zuschreibung von Verantwortlichkeitist der Zufall keine Lösung. Denn es fällt schwerer und nicht etwaleichter, jemanden für Zufallsereignisse verantwortlich zu machen,als für Willensentscheidungen, die sich mit kausaler Notwendigkeit

2Vgl. D. Bimbacher, „Freiheit durch Selbsterkenntnis: Spinoza-

Schopenhauer -Freud", 74. Jb. 1993, S. 79.

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aus seinem Charakter sowie aus seinen Überzeugungen und Erfah-rungen ergeben. Darüber hinaus muß der Indeterminist gefragt wer-den, wie er sich den kausalen Einfluß der Praxis der Zuschreibungvon Verantwortung, Schuld und Verdienst auf künftige Einstellun-gen und Verhaltensweisen erklärt. Wären menschliche Willensent-scheidungen tatsächlich auf bloßen Zufall zurückzuführen, wärenicht zu sehen, wie sie sich durch gezielte äußere und innere Moti-vationsreize - und dazu gehören Verantwortungs- und Schuldzu-sehreibungen -beeinflussen ließen.

4. „Relative Freiheit"

Schopenhauer hat nicht nur den Wert der Willensfreiheit inZweifel gezogen. Implizit stand er auch der relativen Freiheit -derFreiheit durch Vernunft - skeptisch bzw. ambivalent gegenüber.Die in der westlichen philosophischen Tradition verankerte, aufPiaton und Aristoteles zurückgehende Überhöhung der Vernunft zueinem Organ, das den Zugang zu höheren Wahrheiten eröffnet undden Menschen mit einer besonderen und unvergleichlichen Würdeausstattet, war ihm als eine Art Gattungs-Narzißmus zutiefstsuspekt. Der Ausdruck „relative Freiheit" bezeichnet inSchopenhauers Preisschrift über die Freiheit des Willens die an-thropologische Fundamentaltatsache, daß der Mensch im Gegensatzzum Tier (vorbehaltlich einiger hochentwickelter Tiere) über dasHier und Jetzt hinauszublicken vermag und sein Verhalten nicht nuran den ihm aktuell und sinnlich gegebenen Reizen, sondern auch aninneren Reizen, vor allem begrifflich gefaßten Prinzipien, Maximen,Absichten, Erinnerungen und Zukunftsplanungen ausrichten kann.Indem sich die verhaltenswirksamen Motive von der jeweiligenSituation und ihren anschaulichen Gegebenheiten unabhängigmachen, eröffnet sich den menschlichen Reaktionen ein wesentlicherweiterter Spielraum an Vielfalt, Flexibilität, Individuierung undReflektiertheit. Diese „Instinktentbundenheit" des Menschen be-deutet für Schopenhauer jedoch nicht, daß das durch die Vernunftbestimmte Verhalten aus einer völlig anderen Motivationsquellefließt als das vorrationale Wollen und Fühlen. Wie bereits für sei-

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nen Vorgänger Hume bedeutet Vernünftigkeit für Schopenhauernicht mehr, als daß der kausale Weg vom vorrationalen und vorin-tentionalen Wollen und Fühlen zu dem auf konkrete Zwecke ge-richteten Wollen und Verhalten länger und verwickelter wird undgewissermaßen einen Umweg einschlägt. Seine Dynamik und Ziel-richtung wird aber weiterhin aus derselben Quelle gespeist. Wasbedeutet uns diese Freiheit? Die Komponenten der relativen Frei-heit: Denken, Vernunft, Selbstbewußtsein, Selbstkontrolle sind fürden Menschen - als Individuum wie als Gattung - zweifellos vonnicht zu unterschätzendem instrumentellem Wert. Es ist nicht zubestreiten, daß der „Umweg" über Denken, Vernunft und Trieb-kontrolle ein „produktiver Umweg" ist: Die Investition in Vernunftzahlt sich aus. Ohne sie hätte die Gattung nicht ihren evolutionärenSiegeszug über die übrigen biologischen Gattungen antreten undsich mit einer schlechthin unerhörten Dichte auf der Erde ausbreitenkönnen. Die reduzierte Instinktbasis des Menschen hätte dafürebensowenig ausgereicht wie sie in Zukunft ausreichen wird, dendrohenden Zusammenbruch der Biosphäre zu verhindern.

Die Frage ist allerdings, ob diese Fähigkeiten, wie immer überle-bensdienlich oder nützlich sie sein mögen, auch an sich selbst sowertvoll und erstrebenswert sind, wie es die westliche Tradition mitihrer seit Piaton vorherrschenden „rationalistischen" Tendenzpostuliert. Ein dezidierter Vertreter dieser Tradition, John StuartMill,hielt es an einer berühmten Stelle seiner Schrift über denUtilitarismus schlicht für ausgemacht, daß es besser sei, ein unzu-friedener Sokrates zu sein als ein zufriedener Narr (und besser, einunzufriedener Mensch zu sein als ein zufriedenes Schwein). 3 Aberdieselbe Frage nach der besseren Alternative hatte Voltaire in seinerHistoire d' un bon Bramin ebenfalls gestellt und genau anders-herum beantwortet -

ganz zu schweigen von Gottfried Benns nochetwas deutlicherem Vers: „Dumm sein und Arbeit haben,/ das istdas Glück". Strebt der Mensch nicht auch gerade in den„verkopftesten" Zivilisationen danach, der Last des Bewußtseinsund der zurück- und vorausschauenden Sorge imRausch zu entflie-hen? Ist nicht gerade die seit dem späten Mittelalter ungebrochene

3J.St. Mill,Der Utilitarismus, Stuttgart 1976, S. 18.

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Karriere der romantischen Liebe als Höchstform menschlichenBewußtseins ganz wesentlich auf ihre rauschhaft-ekstatische Quali-tät zurückzufuhren, darauf, daß sie die fur Denken, Sorge und„relative Freiheit" konstitutive Spaltung zwischen Ich und Ande-rem, Ich und Welt, Subjekt und Objekt aufhebt, zumindest aufge-hoben erscheinen läßt

-und umso mehr, als die äußere und innereWelt als von Gegensätzen, Spannungen und Konflikten zerrissenerlebt wird?

Schopenhauer denkt auch in diesem Punkt „quer" zur philoso-phischen Tradition: Mag er auch als Anthropologe und Moralpsy-chologe die „relative Freiheit" des Menschen zutreffend diagnosti-zieren, liegt es ihm doch fern, ihr in seiner metaphysischen Ethikeine irgendwie tragende Rolle zuzuweisen. Da die Vernunft fürSchopenhauer der Vasall des Willens ist, schließt die von dieserpostulierte „Selbstverneinung des Willens" auch die Selbstvernei-nung der Vernunft ein. Erlösung, Heilund Befreiung ist danach we-niger von der ungehinderten Entfaltung als vielmehr von der Über-windung der Vernunft zu erhoffen. Mag auch das Sich-Erheben desindividuierten Willens über die Zerrissenheit der Welt weniger alserotische Ekstase denn als überirdische Ruhe und tiefer Friede cha-rakterisiert sein - auch fur ihn gelten Isoldes letzte Worte:„Unbewußt -

höchste Lust". Jedesmal vollzieht sich ein Vorgangder Grenzüberschreitung, bei dem mit den Grenzen der Individua-tion und der Subjekt-Objekt-Spaltung auch die des gegenstandsbe-zogenen Denkens, damit aber auch die der relativen Freiheit über-schritten werden. Gerade in seinen höchsten Momenten kehrt derMensch zurück in den - nicht direkt intendierbaren und eher nurpassiv zu empfangenden

-Bewußtseinsmodus seiner entwick-

lungsmäßigen Vorstufen als Embryo oder als Tier.

5. Innere Freiheit

Bisher ist die Frage nach dem Wert der Freiheit für zwei der vonSchopenhauer unterschiedenen Freiheitsbegriffe gestellt und -

Schopenhauers Bewertung folgend - teils negativ, teils ambivalentbeantwortet worden. Schopenhauer kennt jedoch noch zwei weitere

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Freiheitsbegriffe, einerseits das, was man „innere Freiheit" oder„persönliche Autonomie" nennen könnte: die Fähigkeit, das, wasman will,in Übereinstimmung zu bringen mit dem, was und werman sein möchte; andererseits die physische Freiheit, die Abwe-senheit von Zwang, und deren wichtigste Ausformung, die politi-sche Freiheit.

Schopenhauers Konzeption der inneren Freiheit ist nicht in sei-ner Definition der „intellektuellen Freiheit" enthalten (die so etwas

wie Zurechnungsfahigkeit meint), sondern in seiner Charakterlehre-oder besser: sie ist darin versteckt. Denn Schopenhauers nativi-

stische Grundüberzeugung, daß der Charakter von Geburt an unab-änderlich feststeht, scheint so etwas wie eine charakterliche Ent-wicklung zur inneren Freiheit, das heißt zur inneren Souveränitätüber sich selbst zunächst gar nicht zuzulassen. Daß ein in jederHinsicht festgelegter Charakter die Fähigkeit erwerben soll, sichselbst durch Selbsterkenntnis oder Willensanstrengung zu verän-dern, scheint ebenso unmöglich wie der sprichwörtliche Sprungüber den eigenen Schatten. Dennoch kann man geradezu die Pointedieser Charakterlehre darin sehen, trotz allen Determinismus nichtnur die theoretische Möglichkeit, sondern auch die ethische Bedeu-tung der Selbst-Transzendenz des Charakters zu veranschaulichen -

„ethisch" weniger im modernen Sinne moralischer Normen als imantiken Sinne einer Lehre vom „guten Leben" verstanden.

Schopenhauer schildert das Leben bekanntlich als eine Art Ent-deckungsreise, in der sich der angeborene Charakter seinem Trägererst nach und nach offenbart. Erst der laufende Film unseres Le-bens belehrt uns darüber, weiche Bedürfnisse uns zu eigen sind undwie wir auf bestimmte Reize und Situationen reagieren. Von unsselbst können wirmit ebensowenig Bestimmtheit sagen, wie wir unsin neuartigen Situationen verhalten werden, wie wir es von anderensagen können. Das heißt aber nicht, daß der konkrete Lebenslaufdurch den empirischen Charakter ein fur allemal determiniert ist.Der empirische Charakter läßt sich in einen neuen und qualitativhöheren Aggregatzustand, den „erworbenen Charakter" überfuh ren,der mit zunehmender Erkenntnis der eigenen Verhaltensweisen zwarnicht die Charakterdispositionen selbst, aber doch die Gelegenheitenund Anlässe ihrer Betätigung zu steuern vermag. Mit

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fortschreitender Erkenntnis seiner bewußten und unbewußten Präfe-renzen, Motive und Verhaltensbereitschaften verändert sich derindividuelle Charakter. Selbsterkenntnis kann ihn zwar nichtgrundlegend „umpolen", aber sie kann die konkreten Zielsetzungenund Bewertungen in eine Richtung lenken, die ihm bekömmlich sindund ihm Entfaltungsmöglichkeiten eröffnen. Auf der individuellenEbene wiederholt sich gleichsam die dialektische Dynamik vonSchopenhauers Willensmetaphysik: Der „blinde Wille" des empiri-schen Charakters wird sehend, indem er, seiner selbst angesichtig,sich selbst transzendiert und auf höherer Stufe mit sich selbst ver-söhnt. Indem er sich selbst erkennt, befreit er sich ein Stück weitvon sich selbst. In dieser therapeutischen Auffassung der Selbst-erkenntnis als Selbstbefreiung trifftsich Schopenhauers Konzeptionder inneren Freiheit mit den Konzeptionen Spinozas und Freuds,dezidierten psychologischen Deterministen wie Schopenhauer. 4 Eskann kein Zweifel darüber bestehen, daß diese Freiheit fur eingelingendes individuelles Leben, aber auch für andere, von unseremVerhalten Betroffene, von höchster Bedeutung ist.

6. Schopenhauer zur politischen Freiheit: Liberalis-mus und Pessimismus

Eindeutig positiv schließlich ist auch Schopenhauers Haltungzur politischen Freiheit. Seine nach dem Muster der Vertragstheo-rie konzipierte liberalistische Staatsphilosophie ist ein einzigesPlädoyer für das, was Isiah Berlin „negative Freiheit

"genannt und

der „positiven Freiheit" polemisch entgegengesetzt hat: die Freiheit,zu tun, was man will,gleichgültig, ob aus moralischen, moralischneutralen oder unmoralischen Motiven, solange kein anderer durchdieses Tun geschädigt wird.5 Der politische Liberalismus ist dabeibei Schopenhauer eine unmittelbare Konsequenz seiner pessimisti-schen Grundansicht.

D.Bimbacher, wie Anm. 2passim.51.5I.Berlin, "Two concepts of liberty". In:I.Berlin, Four essays on liberty. Oxford1969, S. 118-172.

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Es lassen sich zwei grundsätzliche Ansätze unterscheiden, mitdenen man zu erklären versucht hat, was die Menschen zur Staa-tenbildung veranlaßt:

Zum einen soll es inder Anlage des Menschen begründet liegen,ein soziales Wesen zu sein. Exemplarisch ist hier die Lehre desAristoteles vom "zoon politikon" zu nennen. Aus ihr ergibt sich,daß der Staat zu den naturgemäßen Gebilden gehört und derMensch von Natur aus ein staatenbildendes Wesen ist. Historischgesehen bedeutet der Staat die Vollendung der Entwicklung, theo-retisch geht er ihr voraus, denn das Ganze muß früher sein als derTeil. Und wer außerhalb des Staates steht, ist gar kein richtigerMensch, sondern entweder ein Tier oder ein Gott.6

Anders sieht es aus, wenn man vom Menschen eine weniger guteMeinung hat. Prototypisch ist insoweit auf Thomas Hobbes zuverweisen, nach dem die „Wolfsnatur" des Menschen im Urzustandzu einem Krieg aller gegen alle fuhrt. Grundlage der Staatenbildungist demgemäß die gegenseitige Furcht.7 Und nicht von ungefährzeigt sich der Staat dann selbst als furchterregendes Wesen,nämlich unter dem Namen eines sagenhaften Seeungeheuers als dergroße Leviathan.

Vereinfachend kann man die vorgenannten Auffassungen in eine„optimistische" und eine „pessimistische" Richtung einteilen. Esliegt nahe, daß Schopenhauer grundsätzlich der letzteren zuzurech-nen ist. Schon an dieser Stelle möchten wiraber eine Lanze für sei-nen sog. Pessimismus brechen, den wir ja lieber nüchternen Rea-lismus nennen. Denn es erscheint wenig hilfreich,das Gute imMen-schen zu beschwören, wenn uns die Realität ständig eines besserenbelehrt. Die furchtbaren Folgen eines Zusammenbruchs der ord-nungsstiftenden Staatsmacht haben soeben die jugoslawischen Ver-hältnisse drastisch vor Augen gefuhrt. Und zu den wahrhaft grau-enerregenden Zuständen in Somalia hieß es imSpiegel: „Diebstahl,Raub und Mord sind risikofrei, weil es keinen Staat mehr gibt."Hier ist an die Mahnung Schopenhauers zu erinnern: „Daher, wennman sich die Staatsgewalt ein Mal aufgehoben [...] denkt, jeder

6Aristoteles, Politik,1.Kapitel.7Hobbes, Leviathan, 2.Teil,20. Kapitel.

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Einsichtige zurückbebt vor dem Schauspiele, das dann zu erwartenstände." 8 Zudem kann darauf verwiesen werden, daß in der Staats-und Rechtstheorie die skeptische Sichtweise durchaus überwiegt. Sowird in einem heutigen Lehrbuch zur Rechtsphilosophie folgendesFazit gezogen:

Der pessimistische Zug in der Sozialanthropologie derrechtsphilosophischen Modelle ist allerdings auffallig.Richtiges Recht scheint eine größere Nähe zur Auffassungvon der Schlechtigkeit als zur Auffassung von der Güte desMenschen zu haben. Vielleicht braucht der gute Menschkein Recht. Jedenfalls nimmt selbst großer Optimismusnicht an, der Mensch werde sich „von Natur" stets fried-lich und hilfreich gegenüber dem Mitmenschen verhalten.Auch noch die optimistischste Rechtsphilosophie ist vonder Sorge geleitet, der Mensch werde, wenn er nicht stän-dig an klare Grenzen stoße, vor Verletzungen andererMenschen nicht zurückschrecken, und Hilfe, die der an-dere Mensch braucht, zu oft verweigern. 9

Gegen diese unfriedliche Natur des Menschen setzt Schopen-hauer den Staat als Schutzanstalt. Hierdurch wird die BestieMensch zwar nicht gezähmt, aber zahnlos gemacht; denn einRaubtier mit einem Maulkorb ist so unschädlich wie ein grasfres-sendes Tier.10

Wie kommen nun die Menschen zu der Erkenntnis, daß eineStaatenbildung von Vorteil ist? Den Ausgangspunkt bildet nichtetwa ein - wie immer gearteter

- Altruismus, sondern im Gegenteilder Egoismus aller. Dieser Egoismus fuhrt zunächst zum Wider-streit des Willens mit sich selbst, woraus das Leiden in der Weltseine stets fließende Quelle hat. Jedoch ist allen Individuen auch dieVernunft gemeinsam, welche sie den Ursprung jenes Leidens einse-hen lehrt und auf das Mittel aufmerksam macht, dasselbe zu ver-ringern oder womöglich aufzuheben. Die Vernunft sieht ein, daß

B\u0395\u03a0,§I3.8\u0395\u03a0,§13.9 W. Naucke, Rechtsphilosophische Grundbegriffe, 21986,21986, S. 122.10W1W 1,408.

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dem Unrechttun als Korrelat ein Unrechtleiden entspricht - unddieses könnte jeden treffen. Gleichsam im Wege einer Ko-sten/Nutzen-Rechnung entsagt der vernünftige Egoismus deshalbdem Genuß des Unrechttuns, um sich den Schmerz des Unrechtlei-dens zu ersparen. Der Staat ist

- so heißt es bei Schopenhauer -„aus dem sich wohlverstehenden, methodisch verfahrenden, vomeinseitigen auf den allgemeinen Standpunkt tretenden und so durchAufsummierung gemeinschaftlichen Egoismus Aller entsprun-gen"; 11 in Kurzfassung: er ist das Meisterstück des vernünftigenEgoismus.

Aus den genannten Gründen kommt es zur Schließung desStaatsvertrages. Schopenhauer steht insoweit auf dem Boden derVertragslehre, wie sie im "contrat sodar von Rousseau ihren be-kanntesten Ausdruck gefunden hat. Es wäre allerdings ein Mißver-ständnis, würde man den Vertragsschluß als historisches Ereignisauffassen; vielmehr handelt es sich um ein theoretisches Modell,das insbesondere zur Legitimierung von Herrschaft herangezogenwird.

Die Fruchtbarkeit dieses Ansatzes erweist sich bis heute, na-mentlich in der vieldiskutierten „Theorie der Gerechtigkeit" vonJohn Rawls. Dessen Verfahren zur Herleitung von Gerechtigkeits-grundsätzen besteht darin zu überlegen, welchen Regelungen einbeliebiger Mensch im Urzustand zustimmen würde. Die Vertrags-partner müssen hinter einem „Schleier des Nichtwissens" 12 über je-ne Prinzipien entscheiden; vor allem kennt niemand seinen Platz inder Gesellschaft, seine Klasse oder seinen Status. Es ist leicht zuerkennen, daß allein schon der Eigennutz bestimmte Regeln entste-hen läßt. So könnte vernünftigerweise keiner die Sklaverei befür-worten, da er ja noch nicht weiß, ob er dann selbst zur Gruppe derSklaven gehören würde. Der geläuterte Egoismus produziert aufdiese Weise nicht nur einen schützenden, sondern auch einen ge-rechten Staat.

1Ebenda.12J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1979, S. 159ÎÎ.

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7. Zweck des Staates

Aus der Kennzeichnung des Staates als Schutzanstalt leitetSchopenhauer im einzelnen drei Funktionen ab: 13

1. Schutz nach außen, welcher nötig ist gegen andere Völker-schaften; denn der schlimmste Feind des Menschen bleibteben der Mensch. Hieraus entsteht das Völkerrecht, das aufdem Grundsatz beruht, stets nur defensiv, nie aggressiv sichgegeneinander verhalten zu wollen.

2. Schutz nach innen, also Schutz der Mitglieder eines Staatesuntereinander. Dieser Sicherung dient das Privatrecht alsAufrechterhaltung eines rechtlichen Zustandes.

3. Schutz gegen den Beschützer, d.h. gegen diejenigen, wel-chen die Gesellschaft die Handhabung des Schutzes über-tragen hat; zu diesem Zweck bedarf es des öffentlichenRechts. Als probates Mittel wird die Gewaltenteilung inLegislative, Exekutive und Judikative angegeben.

Dieser dritte Schutzzweck verdient besondere Beachtung. Scho-penhauer weist darauf hin, daß die Beseitigung eines Übels häufigeinem neuen den Weg eröffnet. Im hiesigen Zusammenhang folgtdaraus: Der Beschützer, der die ersten beiden Schutzfunktionenwahrnimmt, kann seinerseits durch Machtmißbrauch eine Bedro-hung darstellen. Deshalb muß die Staatsgewalt gezügelt werden!Der Staat darf also nicht - wie noch bei Hobbes - zum großen Un-geheuer anwachsen; man würde sonst den Teufel mit Beelzebubaustreiben.

Dementsprechend wendet sich Schopenhauer auch gegen morali-sche Ansprüche des Staates. Er rügt den „sehr sonderbaren Irr-tum"14, der Staat sei eine Anstalt zur Beförderung der Moralitätund gar gegen den Egoismus gerichtet. Der Staat kann und soll abernicht etwa den Egoismus aus der Welt schaffen, sondern lediglichdessen nachteilige Folgen verhindern. Und wer wie Hegel den Staat

13W \u03a0, 683.14W 1,407.

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zur „Wirklichkeit der sittlichen Idee" ls hochstilisiert, muß sichnicht wundern, wenn er folgendermaßen abgekanzelt wird:

Einige deutsche Philosophaster dieses feilen Zeitaltersmöchten ihn [den Staat] verdrehn zu einer Moralitäts-,Erziehungs- und Erbauungs-Anstalt: wobei im Hinter-grunde der Jesuitische Zweck lauert, die persönliche Frei-heit und individuelle Entwicklung des Einzelnen aufzuhe-ben, um ihn zum bloßen Rade einer Chinesischen Staats-und Religions-Maschine zu machen. Dies aber ist der Weg,auf welchem man weiland zu Inquisitionen, Autos de Féund Religionskriegen gelangt ist.16

Nach den Erfahrungen unseres Jahrhunderts mit seinen Diktatu-ren unterschiedlicher Couleur ist es geradezu erfrischend zu lesen,wie hier mit deutlichen Worten jedweder Staatsvergötterung, ja

-vergötzung eine Absage erteilt wird. Der Staat soll die individuellenEgoismen unter einen Hut bringen. Wenn er daneben mit morali-schen Ansprüchen auftritt, läuft er Gefahr, jenen eng begrenztenAufgabenbereich zu überschreiten und den einzelnen zu vereinnah-men. Außerdem nimmt er sich mit diesem Vorhaben zuviel vor, weildie eigentliche Natur des Menschen einer Umerziehung nicht zu-gänglich ist.

Dementsprechend hatte auch der-

unter dem Einfluß Schopen-hauers stehende - Historiker Jakob Burckhardt in seinen Weltge-schichtlichen Betrachtungen ausgeführt:

Wohl ist der Staat die „Standarte des Rechts und desGuten", welche irgendwo aufgerichtet sein muß, aber nichtmehr. Die „Verwirklichung des Sittlichen auf Erden"durch den Staat müßte tausendmal scheitern an der innerenUnzulänglichkeit der Menschennatur überhaupt und auchder Besten insbesondere. Das Sittliche hat ein wesentlichanderes Forum als den Staat; es ist schon enorm viel, daßdieser das konventionelle Recht aufrecht hält. Er wird amehesten gesund bleiben, wenn er sich seiner Natur

15Hegel, Grundlinien derPhilosophie des Rechts, § 257.16E \u03a0, § 17.

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(vielleicht sogar seines wesentlichen Ursprungs) als Not-institut bewußt bleibt.17

Ob Notinstitut oder Zwangsanstalt -diese Ausdrücke kennzeich-nen eine weise Zurückhaltung. Demgegenüber wird ein Staat mittotalen Ansprüchen zwangsläufig totalitär. Die Folgen sind bekanntund von Erich Kastner 1950 in die Verse gefaßt worden:

Das Gewissen wurde staatlich,der Charakter, die Moral,selbst die Ahnen und die Kinder, -endlich war der Staat „total"!Folgend diesem größten Siege,den der Staat errang, entstandder totalste aller Kriege,Weltkrieg römisch Zwo genannt!Krieg nach außen, Krieg nach innen,Krieg von oben ward geführt.Indem Buche der Geschichtesind zwölf Seiten reserviert!

Das war der totale Staat, -und nun hab'n wir den Salat!

Die Erfahrungen des Dritten Reiches führten nach Kriegsendeauch dazu, daß der ursprüngliche Formulierungsvorschlag desHerrenchiemseer Konvents zu Art. 1 GG lautete: „Der Staat ist umdes Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.'4

8. Theorie des Minimalstaats?

Schopenhauers Staatsvorstellungen haben in jüngster Zeit zu ei-ner Debatte mit zwei ganz verschiedenen Schwerpunkten geführt.Zum einen ist auf ihrer Basis eine Theorie des „Minimalstaates"

17J. Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, Kröner-Ausgabe 1978, S. 38.

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konzipiert worden, zum anderen hat man ihm eine zunehmend kon-servative Abwendung von liberalem Gedankengut nachgesagt.

Läßt sich aus dem Staatsverständnis Schopenhauers eine Theo-rie des MinimalStaates 18 ableiten? Darunter soll ein Staat zu verste-hen sein, der sich im wesentlichen auf die Sicherung des Rechts zuselbstverantwortlichen Entscheidungen beschränkt. Seine Aufgabeliege allein darin, Schutzleistungen zu erbringen und Sanktionengegen rechtliche Verstöße zu garantieren. Ein solcher Minimalstaatgewährleiste demgemäß ein vollständiges und vollkommenesMarktsystem, mit dessen Hilfe die Individuen in freie Austausch-beziehungen eintreten können. 19 Zur Begründung dieser Thesenstützt sich der „Minimalist" auf die Aussage Schopenhauers:„Wenn man dem Staat, außer dem hier dargelegten Zweck desSchutzes, noch andere andichtet, so kann dies leicht den wahren inGefahr setzen." 20 Es sind jedoch Zweifel anzumelden, ob sich ausdiesem Satz wirklich die behaupteten Konsequenzen ergeben. Be-sagte Warnung ist vornehmlich gegen jede Überhöhung des Staates,insbesondere in moralischer Hinsicht gerichtet. Die Staatslehre -wie die Rechtslehre überhaupt -

hat nur den passiven Teilim Auge;ihre Intention ist, daß niemand Unrecht leide. Von daher stehtverständlicherweise der Schutzzweck ganz im Vordergrund.

Für diese Schutzanstalt ist der Begriff des Minimalstaates wohlirreführend. Die Bezeichnung könnte zu der Vermutung Anlaß ge-ben, es gehe um einen schwächlichen „Nachtwächterstaat". Dage-gen läßt sich einwenden, daß der Staat dem unausrottbaren und ge-walttätigen Egoismus Paroli bieten soll

-eine Aufgabe, die durch-

aus starker Zwangsmittel bedarf. Insoweit ist das erforderlicheStaatsgebilde keineswegs zu „minimalisieren".

Auf der anderen Seite sieht es Schopenhauer nicht als staatlicheAufgabe an, ein „Schlaraffenland" zu errichten. Zwar würde derStaat, seiner auf das Wohlsein aller gerichteten Tendenz gemäß,gern dafür sorgen, daß jeder Wohlwollen und Werke der Men-

18M. Hopf, „Ansätze zu einer Theorie des .Minimalstaates' auf der Basis derRechts- und Staatsvorstellungen Schopenhauers", in: Zeitder Ernte: Festschrift fürArthurHübscher zum 85. Geburtstag, S. 390.19Ebenda, S. 407.20Wn,684.

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schenliebe erführe. Solche Liebespflichten seien aber nicht er-zwingbar. 21 Schopenhauer wendet sich also nur gegen den überzo-genen Anspruch, der Staat müsse die Bürger zu einem kollektivenSamaritertum anhalten. Eine Theorie des Wirtschaflsliberalismusvermag man seinen Ausführungen nicht zu entnehmen.

9. Janusköpfiger Konservatismus?

Die zweite-

für unsere Thematik bedeutsamere-

Diskussionsli-nie beschäftigt sich mit konservativen Zügen in SchopenhauersDenken. Unbestritten ist zunächst, daß sein Ansatz prinzipiell libe-rale Positionen beinhaltet. Dieser Ausgangspunkt soll sich jedoch -

vom Jahre 1848 an-mehr und mehr zugunsten des konservativen

Pols verschoben haben. 22 Dabei ist allerdings im Auge zu behalten,daß die Grundanschauungen Schopenhauers bereits vorher formu-liert worden sind. Zudem bleiben sie ständig von der Sorge beglei-tet, der Egoismus des Menschen werde sich immer wieder Bahnbrechen. Vor diesem Hintergrund können die angeblich,janusköpfigen" Ansichten des Philosophen vielleicht in Einklanggebracht werden.

Mit einiger Skepsis betrachtet Schopenhauer die demokratischeRegierungsform. Das Volk sei zwar legitimiert zur Herrschaft, aberist es dazu auch in der Lage? Dieses Spannungsverhältnis kommen-tiert Schopenhauer wie folgt:

Die Frage nach der Souverainität des Volkes läuft imGrunde darauf hinaus, ob irgend Jemand ursprünglich dasRecht haben könne, ein Volk wider seinen Willen zu be-herrschen. Wie sich Das vernünftigerweise behauptenlasse, sehe ich nicht ab. Allerdings also ist das Volk sou-verain: jedoch ist es ein ewig unmündiger Souverain, wel-cher daher unter bleibender Vormundschaft stehn und nie

21W 1,409.22H. Münkler, „Das Dilemma des deutschen Bürgertums. Recht, Staat undEigentum in der Philosophie Arthur Schopenhauers", in: Archiv für Rechts- undSozialphilosophie 1981, S. 379, 383.

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seine Rechte selbst verwalten kann, ohne gränzenlose Ge-fahren herbeizuführen; zumal er, wie alle Unmündigen,gar leicht das Spiel hinterlistiger Gauner wird, welchedeshalb Demagogen heißen. 23

Schopenhauer bevorzugt die Erbmonarchie als festen, unerschüt-terlichen Pfeiler, auf welchem die gesetzliche Ordnung und dadurchdie Rechte aller sich stützen und so bestehen. Wohlgemerkt: DerMonarch als Garant für Recht und Gesetz! Den König nennt erbisweilen „Wir von Gottes Gnaden", richtiger könne er aber auchheißen: „Wir von zwei Übeln das Kleinste". 24 Gerade letztere Cha-rakterisierung macht deutlich, daß es Schopenhauer um die Auf-rechterhaltung der ständig durch die Natur des Menschen bedrohtenOrdnung geht; wäre diese Natur eine andere, so ließe sich ebenfallsein anderes Staatsgebilde denken. Dementsprechend heißt es schonim Hauptwerk:

Um einen vollkommenen Staat zu gründen, muß mandamit anfangen, Wesen zu schaffen, deren Natur es zuläßt,daß sie durchgängig das eigene Wohl dem öffentlichenzum Opfer bringen. Bis dahin [!] aber läßt sich schonetwas dadurch erreichen, daß es eine Familie giebt, derenWohl von dem des Landes ganz unzertrennlich ist; so daßsie, wenigstens in den Hauptsachen, nie das Eine ohne dasAndere befördern kann. 25

Die Suche nach einem vernünftigen Mittelweg zwischen Anar-chie und Despotie zeigt sich noch in weiteren Überlegungen. Soschreckt ihn die Revolution als Zerstörung des gesetzmäßigen Zu-standes, ohne daß er den Tyrannenmord von vornherein ausschlie-ßen wollte. Das Chaos ist ihm ebensowenig geheuer wie eine totali-täre Staats-Maschinerie. Ferner betrachtet er die Pressefreiheit ei-nerseits als notwendiges Ventil, womit sich die UnzufriedenheitLuft machen kann; andererseits könne sie angesehen werden als die

23 \u03a1\u03a0, § 126.24Gespr, 214.25 W1W 1, 406.

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Erlaubnis, Gift für Geist und Gemüt zu verkaufen. Zumindest solltesie durch das Verbot jeder Anonymität bedingt sein. 26

Schließlich willer das Volk von der Ausübung der Gerichtsbar-keit fernhalten, denn die Jury sei das schlechteste aller Kriminal-gerichte. Hält man sich heute die Berichte über amerikanische Ge-richtsverfahren vor Augen, so findet dièse Skepsis eine gewisseBestätigung. Außerdem ist bemerkenswert, daß im deutschen Straf-prozeßrecht der Anteil der Laienrichter imLaufe der Zeit verringertwurde; heute sind bei der Besetzung des sog. Schwurgerichts dieBerufsrichter in der Überzahl. Den Grund für diese Entwicklungkönnte man bei Schopenhauer ablesen:

Als ob nicht Parteilichkeit zehn Mal mehr von denStandes-Gleichen des Beklagten zu befürchten wäre, alsvon den ihm völlig fremden, in ganz anderen Regionen le-benden, unabsetzbaren und ihrer Amtsehre sich bewußtenKriminalrichtern. 27

Auch in anderen Punkten bewährt sich das gesunde Mißtrauen.So äußert er die Befürchtung, eine konstitutionelle Verfassungtendiere zur Herrschaft der Faktionen (sprich: Parteien). 28 Ihm wirddeshalb von Münkler vorgeworfen: „In seiner vehementen Ableh-nung der Herrschaft von politischen Parteien zeigt sich auch hierder bei Schopenhauer stets mit dem liberalen Zug konkurrierendekonservative Duktus seines Denkens." 29 Angesichts der heute weit-verbreiteten Parteienverdrossenheit, die selbst den Bundespräsiden-ten zu deutlichen Worten veranlaßt hat, wird man diese Kritik wohlrelativieren dürfen! Und im Hinblick auf die zunehmende„Amerikanisierung" unserer Gesellschaft mag als Warnung dienen,was Schopenhauer in den Vereinigten Staaten von Amerika

-neben

aller materiellen Prosperität des Landes- vorfindet: nämlich

niedrigen Utilitarismus, anglikanische Bigotterie und ungerechtesteUnterdrückung der freien Schwarzen, um nur einige Beispiele zu

26 \u03a1\u03a0, §127.27Ebenda.28 W1,406.29H. Münkler, (o. Fn. 22), S. 394.

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nennen. 30 Als ganz besonderen und dabei paradoxen Nachteil derRepubliken fuhrt er noch an, daß es in ihnen den überlegenen Köp-fen schwer werden muß, zu hohen Stellen und dadurch zu unmittel-barem politischen Einfluß zu gelangen. Ohne hier Namen nennen zuwollen: Dieses Eindrucks kann man sich in der Tat häufig nichterwehren.

Die Staatsauffassung Schopenhauers weist einen Weg, um so-wohl Anarchie als auch Despotie auszuschließen, zwei Zustände,die er als einen Haufen von Wilden oder von Sklaven bezeichnet. Inbeiden Fällen existiert für ihn noch gar kein Staat, sondern dieserentsteht erst durch die gemeinsame Übereinkunft als Produkt desvernünftigen Egoismus. Ebenso wie das Individuum eines Maul-korbs bedarf, muß auch der Herrscher an die Kette gelegt werden:daraus resultiert die Notwendigkeit des Schutzes gegen den Be-schützer. Denn der Egoismus mag zwar Vernunft annehmen, aberaufheben läßt er sich nicht und bildet deshalb eine nie versiegendeGefahrenquelle für etwaige Übergriffe. Ganz in diesem Sinne wirddeshalb in einem aktuellen Werk zur „Geschichte der Staatsideen"ausgeführt:

Die Mutter des liberalen Rechtsstaates heißt also Miß-trauen, Mißtrauen gegen den Machthaber. Nicht von unge-fähr haben gerade jene Staatsdenker, die dem Menschennicht allzuviel Gutes zutrauen, die im Ergebnis mensch-lichsten Staatsmodelle entworfen. Weil sie die ethischeMinderwertigkeit von vornherein einkalkulieren, setzen sieihr institutionelle Schranken und sorgen für Kontrollen.Die Optimisten dagegen trauen der Macht der Vernunftund dem Gemeinsinn mehr zu als der nüchterne Betrachteres tun darf; dadurch haben sie, von Piaton bis Marx, al-lemal der Bedrückung den Weg gewiesen. 3l

Dieses Zitat macht die Berechtigung noch einmal deutlich, eineVerbindungslinie zwischen Freiheitsidee und Pessimismus zu zie-hen.

30 \u03a1\u03a0,§ 127.31R. Zippelius, Geschichte der Staatsideen, 61989,61989, S. 123.