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Schrei, wenn der Dämon kommt

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Schrei, wenn der Dämon kommt

Ein Gespenster-Krimi von Robert Lamont

Nacheinander begannen die sieben Schädel zu glühen. Beschwörende

Laute einer dämonischen Sprache klangen dumpf und drohend auf. Ei­ne große, düstere Gestalt, von einem schwarzen, funkenknisternden

Mantel umweht, hob die Hände. Aus den leeren Augenhöhlen der glü­henden Schädel zuckten Blitze hervor. Sie trafen sich an einem Punkt

im Zentrum eines fünfzackigen Sterns. Dort flammte etwas auf, sprüh­te Funken und schleuderte Lichtlanzen nach allen Seiten. Dampf bro­delte und strömte über den Boden, hüllte bald den gesamten großen

Raum ein, wich aber der Gestalt sorgsam aus. Im Zentrum der auftreffenden schwarzmagischen Energie befand sich

eine handtellergroße Silberscheibe, mit eigenartigen Zeichen und

Symbolen verziert. Sie veränderte jetzt ihre Farbe, begann weißglü­hend zu werden. Aber sie schmolz nicht. »Jetzt«, flüsterte der Dämon heiser. »Jetzt wirst du mir dein Geheimnis

preisgeben . . .«

Da gellte ein markerschütternder Schrei durch den Raum. Die Schädel platzten auseinander. Plötzlich war alles nur noch ein einziges flam­mendes Inferno . . .

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»Er muß wahnsinnig geworden sein«, zischte der Dreigehörnte. Ei­ne gespaltene Zunge bewegte sich in seinem Rachen hektisch hin und

her. Unter den Hornschuppen seiner Panzerhaut glomm es grünlich wie

Phosphor. »Größenwahnsinnig«, bestätigte Astaroth. »Was, bei den Abgründen

des Abyssos, macht er? Wir müssen ihn stoppen!«

Ein dumpfes Vibrieren ging durch die immateriellen Wände. Das Glü­hen des Höllenfeuers verstärkte sich. Verlorene Seelen schrien, aber nie­mand achtete darauf. Die beiden Dämonen hatten jetzt andere Interes­sen. Zerstörerische Schwingungen pulsierten. Sie gingen vom Thronsaal

des Fürsten der Finsternis aus. Dort mußte etwas Unglaubliches gesche­hen. Die Schwingungen wurden immer unerträglicher. Astaroth fühlte, daß

etwas sich auszubreiten versuchte, das tot war und dennoch lebte, das

voller Haß war und vernichten wollte. Und es besaß Macht . . . »Wir müssen Lucifuge Rofocale informieren«, kreischte der Dreige­

hörnte, einer der niedrigen Dämonen, der zu einer Audienz bei Astaroth

vorgeladen worden war. Doch das, worüber die beiden Dämonen sich

unterhalten wollten, war jetzt vergessen. »Nein«, fauchte Astaroth. »Dazu bleibt keine Zeit mehr. Wir müssen

sofort handeln. Es wird auch in Lucifuge Rofocales Sinn sein, wenn wir

diesem Treiben ein Ende bereiten:«

Er stieß den Dreigehörnten vor sich her, dessen Schuppenschwanz

nervös zur Seite gewirbelt, niedere Geister zuckten erschrocken zurück, ohnehin verwirrt von den rasenden, zerstörerischen Schwingungen, die

vom Thronsaal des Fürsten der Finsternis ausgingen. Nahe dem Saal verlangsamten die beiden Dämonen ihr Tempo. Andere

flirrten dort bereits verwirrt hin und her, kaum noch eines klaren Gedan­kens fähig. »Eines Tages«, murmelte Astaroth, »werde ich ihn umbringen. Werde

ihn erwürgen mit meinen eigenen Klauen . . . diesen Emporkömmling . . .«

Der Dreigehörnte geriet in immer größere Panik. Er stob auf das große

Portal zu, das in den Thronsaal führte, warf sich mit aller Kraft dagegen. Seine langen Krallen rissen tiefe Furchen in das Material, das härter war

als verdichteter Stahl. Das Portal wurde aufgestoßen. Der Dreigehörnte

jagte hinein in das feurige Inferno im Innern des Saales. Die anderen sahen noch, wie seine Umrisse unscharf wurden, wie er

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sich aufblähte und eine gleißende Flammenzunge sich in seinen Körper

fraß, die Schuppen auflöste, das grüne Glühen darunter auslöschte. Ein

durch Mark und Bein gehender Schrei gellte auf. Dann explodierte der

Dreigehörnte.

Astaroth gelang es gerade noch, sich abzuwenden und zurückzuwei­chen, dann raste ein Feuerorkan aus dem Saal hervor. Es war ein kaltes, verzehrendes Feuer, das zwei Höllengeister innerhalb von Sekunden zu

Staub zerpulvern ließ, bis es sich an den Wänden brach und verlosch. Wimmernde, geschwärzte Kreaturen sanken in sich zusammen, krochen

hastig davon.

Astaroth öffnete die Augen wieder. Er spürte noch die eisige Kälte des

Feuers, das auch ihn fast noch berührt hätte. Nur durch seine Schnellig­keit war er unversehrt davongekommen. Die anderen, die sich versam­melt hatten, würden geraume Zeit an ihren Wunden lecken müssen.

Langsam näherte sich Astaroth jetzt dem Portal. Dahinter sah er

den Fürsten der Finsternis in ein Gewirr zuckender, düsterroter Blitze

gehüllt, die von einer runden Scheibe ausgingen. Und in der Luft mani­festierte sich etwas . . .

. . . oder jemand . . . ?

Im nächsten Moment durchraste ein heftiger Schlag den mächtigen

Dämon vom Schuppenkamm seines Schädels bis in die Krallenspitzen

seiner Füße und ließ ihn ohnmächtig zusammenbrechen . . .

� »Etwas, das tot ist und doch lebt . . .«

Cascal preßte die Lippen zusammen. Blitzschnell sah er sich um und

verschwand als Schatten in den Schatten. Die Nische zwischen zwei dicht beieinander stehenden Häusern nahm ihn auf und verbarg ihn.

Aber es blieb still. Niemand hatte die Worte gehört, die er unbewußt gemurmelt hatte: Etwas, das tot ist und doch lebt . . .

Unwillkürlich tastete er zu seiner Brust. Dort hing unter dem halb of­fenen karierten Hemd eine handtellergroße Silberscheibe an einer lan­gen Kette. Yves Cascal berührte sie. Seine empfindlichen Fingerkuppen

glitten über die teils eingravierten und teils leicht erhaben gearbeiteten

Symbole und Zeichen, von denen die Scheibe bedeckt war. Er fühlte eine

leichte Erwärmung, die aber wieder schwand.

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Cascal lehntes ich an die Hauswand und atmete tief durch. Durch den

Hemdenstoff spürte er die kühlen Steine. Hierher drang tagsüber kein

Sonnenlicht, also konnten sich die Steine auch nicht erwärmen. Wie komme ich auf so eine Formulierung? fragte er sich. Was tot ist,

kann nicht leben . . . Das Amulett kühlte wieder ab. Seine Finger lösten sich von der po­

lierten Oberfläche. Etwas, das tot war und doch lebte, schien mit dem

Amulett in Verbindung zu stehen. Auf welche Weise, war ihm allerdings

nicht klar. Er wußte auf irgendeine unerklärliche Weise, daß das Amulett die ge­

dankliche Formulierung erzeugt hatte. Und dann hatte er die Worte, die

nicht seine eigenen waren, auch noch ausgesprochen. Er hakte mit einem schnellen Griff das Amulett von der Kette und sank

in die Knie. Er hielt die Scheibe jetzt so weit von sich, daß ein Mondstrahl sie berührte. Der seltsame Gegenstand leuchtete hell auf, reflektierte

das Mondlicht. »Was bist du nur für ein seltsames Ding«, murmelte Cascal. »Du gibst

mir ein Rätsel nach dem anderen auf . . . warum? Woher stammst du?

Wer hat dich geschaffen? Und . . .«

Er verstummte. Wie bist du in meinen Besitz gekommen?

Aber er sprach diese letzte Frage nicht aus. »Eines Tages werde ich es wissen«, murmelte er. »Es muß doch ei­

ne Möglichkeit geben, hinter dein Geheimnis zu kommen. Du Rätsel­stern . . .«

Der stilisierte Drudenfuß im Zentrum schimmerte kaum merklich hel­ler als die anderen Zeichen. Der fünfzackige, von einem Kreis umgebene

Stern . . . »Wenn ich nicht wüßte, daß das gar nicht möglich ist, würde ich be­

haupten, du willst mir etwas sagen«, flüsterte er. »Aber was könnte das

sein? Nein . . .«

Ein Tier hätte ihn vielleicht noch auf etwas aufmerksam machen kön­nen. Aber doch kein toter Gegenstand! Aber war er wirklich tot?

Cascal dachte an den Unheimlichen, der auf jener Lichtung im Sumpf­wald erschienen war. Plötzlich stand die Szene wieder vor seinem in­neren Auge. Tagelang hatte das Amulett ein recht seltsames Verhalten

an den Tag gelegt, das nicht zu einem normalen Schmuck-Gegenstand

paßte, hatte ihn schließlich aus Baton Rouge hinaus in den Sumpfwald

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gelockt, in die Nähe des abgestürzten Flugzeuges . . . Er hatte einen

unheimlichen dunklen Mann in seinen Visionen gesehen, und plötzlich

stand der Dunkle leibhaftig vor ihm . . . einer, der aus dem Nichts kam, um im Nichts wieder zu verschwinden, aber er trug ein Amulett, das

dem Cascals aufs Haar glich, und damit schickte er Blitze aus, die einen

Mongolen verbrannten . . . beide Amulette in gleißendem Feuer . . . eine

flammenumhüllte dunkle Gestalt . . . ein Schrei . . . dann war der Unheim­liche fort . . .

Nur noch der Tote war da, der Mongole, und das Mädchen.

Es war stumm.

Aber irgendwie wußte Cascal, wohin er es bringen mußte. Nach Flo­rida, in ein bestimmtes Haus. Er war sicher, daß er dieses Wissen von

seinem Amulett hatte. Aber wie kam das alles zustande? Woher kamen

die Visionen? Was hatte es mit dem Amulett auf sich, das von jenen, die

in dem Haus im Süden Floridas wohnten, nicht gesehen werden wollte?

(siehe Band 404/405)

Verrückt!

Ebenso verrückt wie die Worte »Etwas, das tot ist und doch lebt.« Auf welche Weise waren sie in Cascal entstanden?

Er umklammerte die Silberscheibe. Etwas Beruhigendes ging von ihr

aus, aber zugleich eine warnende Unruhe. Plötzlich war es wieder fast wie neulich, als er in seinen Visionen den Unheimlichen sah und sich in

die Sümpfe gezogen fühlte.

Etwas ging vor, das er nicht begriff.

Und er fühlte, daß sich irgendwo, unendlich fern und doch ganz nah, etwas Unbegreifliches mit seinem Amulett befaßte.

Er befand sich in Lebensgefahr . . .

Der 28jährige Neger mit dem halblangen, schwarzen Haar und den grau­en Augen glitt wie ein Schatten durch die Dunkelheit. Das war auch sein

Name geworden, den andere ihm seiner Lautlosigkeit und zeitweiligen

»Unsichtbarkeit« wegen gegeben hatten – l’ombre, der Schatten. Die

Dunkelheit war sein Verbündeter. Er kannte alle Straßen und Schlupf­winkel, er kannte alle und jeden. Nachts gehörte Baton Rouge, Louisia­na, ihm.

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Yves Cascal hatte immer auf der anderen Seite der Straße gestanden. Als er dreizehn Jahre alt war, kamen seine Eltern ums Leben, und er

hatte nie erfahren, wie das geschah. Seit jener Zeit trug er die Verant­wortung für zwei jüngere Geschwister, und er hatte gelernt, in einer Welt zu überleben, in der es nur totale Sieger und totale Verlierer gab, in der

der Vorurteile wegen nur zwischen Gut und Böse unterschieden wur­de; etwas dazwischen schien es nicht zu geben. Manchmal fand Cascal Arbeit, aber selten für längere Zeit. Dennoch brauchten er und seine

Geschwister nicht zu hungern. Es fand sich immer etwas, das herrenlos

herumlag. Ein Stück Brot, eine Geldbörse . . . Er hatte es nicht einmal nötig, auf Diebeszüge zu gehen. Er schlug sich schon irgendwie durch, und es reichte immer, Miete und Stromkosten für die Kellerwohnung

aufzubringen, in der Nähe des breiten Mississippi-Stromes. Hier, in der

schmalen Seitengasse des Choctaw Drive, der ganz Baton Rouge durch­zog, wohnten die Außenseiter der Gesellschaft. Der Flußuferbereich war

Slum-Bereich. Am einen Ende der Gasse begannen die Lagerschuppen

des Hafens, am anderen der Rotlichtbezirk. Aber das störte Cascal nicht. Er konnte mit seinen Geschwistern in

drei kleinen Kellerzimmern, einer winzigen Toilette und einer kaum we­niger winzigen Küche leben. Er stellte keine großen Ansprüche. Nachts, wenn die anderen schliefen, war er meistens unterwegs, und wenn er

zurückkehrte, fand er seine Ruhe. Und irgendwann war das Amulett in seinen Besitz geraten. Seit jenem

Tag gelang ihm nahezu alles . . . Aber seit jenem Erlebnis auf der Lichtung begann er zu befürchten,

daß das Amulett sein Leben nachhaltig zu verändern versuchte. Träu­me, Visionen . . . früher hatte er sie in dieser erschreckenden Form nie

gehabt. Immer wieder mußte er an das helle Aufleuchten des Amuletts

denken, an jenen furchtbaren Schrei von Schmerz, Wut und Verzweif­lung, der von irgendwoher gekommen sein mußte, vielleicht von dieser

silbernen Scheibe übertragen . . . (siehe Band 399, 404) Er war sich nicht sicher, ob er diese unheimlichen Erscheinungen

fürchten sollte oder nicht. Er wußte nur, daß er sie würde ergründen

müssen. Aber wie? Ihm fehlte die Anleitung. Er konnte nur aus steter

Erfahrung hinzulernen, allmählich einen Schritt nach dem andern ma­chen . . . Dabei konnte er sich nicht einmal daran erinnern, wie er in den Besitz

dieser silbernen Scheibe gekommen war. So sehr er darüber nachgrü­

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belte, fand er die Lösung nicht. Es gab in ihm keine Erinnerung daran. Er konnte nicht einmal den genauen Zeitpunkt fixieren. Er trug das Amulett fast ständig; es hing offen vor seiner Brust. Und

bisher hatte es ihm noch niemand zu stehlen versucht, weder heimlich

noch bei einem offenen Überfall. Und er kannte nicht einmal den Wert. Er hatte es schätzen lassen wollen, doch ohne eine Materialprobe woll­te der Mann, den er darum bat, sich auf keine auch nur annähernde

Schätzung einlassen – eine Materialprobe hingegen wollte Cascal nicht gestatten. Er wollte nicht, daß auch nur ein Atom abgeschabt wurde . . . Wieder dachte er an den Unheimlichen auf der Lichtung, der mit ei­

nem gleißenden Feuerstrahl aus einem genauso aussehenden Amulett den Asiaten niedergebrannt hatte. Wie hatte er das angestellt? Und wie

war es dazu gekommen, daß Cascals Amulett dann zusammen mit dem

fremden aufflammte, worauf der Unheimliche ins Nichts verschwand?

Ließ sich so etwas möglicherweise steuern? Aber wie, und zu welchem

Zweck?

Damals hatte er die Annäherung des Fremden gespürt. Auf eine unbe­greifliche Weise hatte ihn sein Amulett darauf aufmerksam gemacht. Jetzt wollte es ihn anscheinend wieder auf etwas stoßen. Etwas schien

sich aus der Ferne mit Cascals Amulett zu befassen. Etwas bedrohte ihn. Handelte es sich dabei um etwas, das tot war und doch lebte?

Plötzlich empfand Cascal es als sicherer, in dieser Nacht nicht nach

Hause zurückzukehren. Er wollte seine Geschwister nicht in die Ge­schehnisse hineinziehen. Er durfte sie nicht gefährden. Aber was war das für eine Gefahr, die ihn bedrohte . . . ?

Gut achttausend Kilometer weiter östlich, um sieben Zeitzonen und da­mit sieben Stunden verschoben, war es längst heller Vormittag, als Pro­fessor Zamorra blinzelte und den hellen Lichtschimmer durch das Zim­mer geistern sah. Es war reiner Zufall, daß er in diesem Moment halb

wach war; eigentlich hatte er vorgehabt, noch wenigstens zwei weitere

Stunden zu schlafen und sich erst um die Mittagstunde allmählich zu

erheben. Die Fenster waren halb verdunkelt; angenehmes Dämmerlicht herrschte. Zamorra war von dem Aufblitzen irritiert. Er richtete sich halb auf und

öffnete die Augen ganz. Woher war das Blitzen gekommen? Geisterte Ni­

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cole mit einer Taschenlampe durchs Zimmer? Aber bei diesem Dämmer­licht?

Außerdem hörte er sie im nächsten Moment neben sich atmen. Er war

versucht, sie leicht zu berühren, ihre Nähe zu fühlen. Die Nacht war ver­flixt lang geworden, und der Hauch von Zärtlichkeit und Liebe schwang

noch durch das Zimmer. Das Aufblitzen! Zamorra orientierte sich. Er sah Kleidungsstücke wild verstreut auf

dem Teppich, und er sah auch Merlins Stern. Von dort war das geister­hafte Licht gekommen. Der Parapsychologe hob die Hand und konzentrierte sich auf den Ruf.

Das Amulett überbrückte die paar Meter Distanz und landete in seiner

zufassenden Hand. Es war warm; wärmer, als es seinem pseudometallischen Charakter

nach eigentlich hätte sein dürfen. Aber die Erwärmung wich; das Mate­rial kühlte sich schnell wieder auf seine Normaltemperatur ab. Zamorra schürzte die Lippen. Eine Erwärmung deutete auf die Nähe

Schwarzer Magie hin. Aber rings um das Château Montagne wölbte sich

die unsichtbare Schutzglocke des Abwehrschirmes, der ein Durchdrin­gen schwarzmagischer Kräfte so gut wie unmöglich machte. Es mußte etwas anderes geschehen sein. Gib mir eine Antwort darauf! verlangte er konzentriert in seinen Ge­

danken. Aber das Amulett reagierte nicht darauf. Es wurde von sich aus

nicht erneut aktiv. Zamorra atmete tief durch. Er warf einen Blick auf Nicole, die neben

ihm ausgestreckt lag, die leichte Decke verrutscht, ein zufriedenes Lä­cheln im Gesicht. Der Professor wartete einige Minuten. Dann, als nichts

weiter geschah, sich der Lichtblitz nicht wiederholte, ließ er das Amulett neben dem Bett auf den Teppich und sich selbst zurück auf das Kissen

sinken. Er schloß die Augen. Wenn unmittelbare Gefahr gedroht hätte, hätte das Amulett anders

reagiert. Also konnte er auch noch bis zum Mittag weiter schlafen. Schließlich hatte er selbstverordneten Urlaub . . .

Auch an anderen Orten der Welt und der Unterwelt reagierten Amulette. Die drei, welche Sid Amos in Merlins Burg in Wales unter Verschluß hielt,

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leuchteten ebenso auf wie das, welches der Erzdämon Lucifuge Rofocale

in den Höllentiefen trug, ohne daß jemand davon wußte. Doch während

Amos das Aufleuchten nicht bemerkte und ahnungslos blieb, entging es

Lucifuge Rofocale nicht. Diese Reaktion seines Amulettes war ihm unbekannt, aber er stellte

fest, daß mit einem der sieben Sterne von Myrrian-ey-Llyrana etwas ge­schehen sein mußte. Der Verdacht lag nahe, daß es sich um jenes Amulett handelte, das

Leonardo deMontagne trug. Denn nur zu deutlich spürte Lucifuge Rofo­cale das Inferno, das der Fürst der Finsternis in diesen Stunden entfacht hatte. Der Erzdämon, Satans Ministerpräsident, spielte mit dem Gedanken,

über sein eigenes Amulett herauszufinden, was geschehen war, noch ehe

andere Dämonen oder Hilfsgeister sich bemüßigt fühlten, es ihm zu be­richten. Seine Stärke war, daß er stets über alles Bescheid wußte und

andere mit seinem Wissen verblüffte. Aber er ließ davon ab. Sein Amulett war zwar ranghöher als das des Montagne-Fürsten, aber

so wie es auf jenes reagierte, mochte es andersherum auch der Fall sein. Und Lucifuge Rofocale hielt es noch nicht für sinnvoll, daß Leonardo

etwas von dem Amulett seines Vorgesetzten zu ahnen begann. Das brauchte noch niemand zu wissen . . . So wartete er weiter ab. Aber seine Neugierde wuchs von Minute zu

Minute . . .

Die mächtige, dunkle Gestalt war etwas in sich zusammengesunken. Das

wirbelnde Feuer floß ab. Langsam schälten sich wieder erkennbare Um­risse aus den rasenden Flammen hervor. »Jetzt wirst du mir dein Geheimnis preisgeben«, hatte Leonardo de-

Montagne gezischt, ehe der Schrei ertönte und das Chaos ausbrach. Jetzt sah er die zerborstenen, teilweise geschmolzenen Schädel, die noch vor

wenigen Tagen lebenden Menschen gehört hatten. Der Fürst der Fin­sternis hatte sie töten und ihr Lebenspotential konservieren lassen, um

diese Energie umzuwandeln und in entarteter Form für seine Zwecke

einzusetzen. Aber so wie es aussah, hatte es nichts genützt.

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Die Energie war nutzlos vergeudet. Die Linien, die der Dämon auf den Boden gezeichnet hatte, waren zer­

laufen, teilweise verbrannt oder verwischt. Inmitten des Chaos lag nach

wie vor das Amulett. Sein Amulett . . . Und es hatte sein Geheimnis nicht preisgegeben. Finster starrte Leonardo es an. Fehlschlag! durchfuhr es ihn. Wieder

einmal ein Fehlschlag . . . Nachdem Zamorra jener Falle auf dem Galgenhügel entgangen war,

nach dem Verlust des schon eroberten Caermardhin jetzt ein neuer Fehl­schlag. Zorn fraß in dem Dämon. Klappte denn neuerdings überhaupt nichts mehr? Was auch immer er anfaßte – es ging schief. Der einzige

Erfolg, den er in letzter Zeit zu verbuchen hatte, war die Liquidierung

des Mongolen Wang Lee Chan. Damit war die Zamorra-Crew wiederum

um einen wichtigen Mitstreiter verringert worden. Der Fürst der Finsternis vergaß Verräter nie . . . Plötzlich registrierte er, daß das Portal seines Thronsaals, in dem er die

Beschwörung vorgenommen hatte, offenstand. Und draußen, nur wenige

Meter vom Portal entfernt, lag eine furchterregende Gestalt reglos auf dem Boden. Leonardo widerstand dem Impuls, Sklaven zu rufen, die den Reglosen

zu ihm schleppten. Noch vibrierte und glühte hier alles. Noch brauchte

auch niemand das Amulett zu sehen, das auf dem Boden lag und daraus

zu schlußfolgern, was für ein Experiment hier stattgefunden hatte. Leo­nardo ahnte, daß es weite Teile der Hölle erschüttert hatte. Das hatte

sich leider nicht vermeiden lassen. Von hier aus gingen aber Tausende

von Verbindungen in alle Regionen der Schwefelklüfte; immerhin muß­ten seine Anweisungen ebenso rasch übertragen werden, wie er seiner­seits Neuigkeiten erfuhr. Jene magischen Kanäle hatten mit Sicherheit auch das Inferno übertragen, das im Thronsaal getobt hatte, auch wenn

Leonardo versucht hatte, die Kanäle zu verstopfen. Sicher, er hätte das Experiment in einem entlegenen Teil der Schwe­

felklüfte vornehmen können, oder auf der Erde – aber nur hier waren die

Sicherheitsvorkehrungen so perfekt, daß er selbst ungefährdet blieb. Die

Geschehnisse gaben ihm recht. An jeder anderen Stelle wäre er in dem

kalten Feuer verbrannt. Er straffte sich und schritt langsam nach draußen. Dort sah er, daß es

sich um Astaroth handelte. Der Dämon war ohne Bewußtsein.

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Leonardo verzog das Gesicht zu einer bösartigen Fratze. Astaroth! Ei­ner der ganz alten, ganz großen Dämonen. Jener, dem es nach dem Ab­gang des abtrünnigen Asmodis am ehesten zugestanden hätte, Fürst der

Finsternis zu werden. Jener, der von sich selbst behauptete, keinen Ehr­geiz zu haben, der aber im Hintergrund gegen Leonardo deMontagne

intrigierte und versuchte, ihn vom Thron zu stürzen.

Dies – wäre die Gelegenheit, sich dieses Widersachers zu entledigen. Astaroth lag hilflos vor ihm . . .

Aber dann zog sich Leonardo zurück. Eine schnelle Handbewegung

löste eine magische Kraft aus. Das Portal wurde von Geisterhand ge­schlossen.

Sollte Astaroth dort draußen liegen bleiben. Trotz seiner Bewußtlosig­keit würde er nach dem Erwachen wissen, daß Leonardo bei ihm gewe­sen und ihn in seiner Hilflosigkeit, sein Ausgeliefertsein höhnisch beob­achtet hatte.

Das war für Astaroth sicher niederschmetternder, als wenn Leonardo

sich an ihm vergriffen hätte. Nun sah es so aus, als habe der Fürst der

Finsternis es gar nicht nötig, Astaroth zu töten . . .

Zudem mochte jemand die Szene beobachten und später Lucifuge Ro­focale davon berichten, daß Astaroth nicht in dem Inferno versehentlich

umgekommen war wie jener andere Dämon, dessen Tod Leonardo noch

roch, sondern nachträglich ermordet worden war. Das könnte Ärger ge­ben . . .

Dabei reichte ihm der Ärger schon, den es dadurch geben würde, daß

ihm diese Beschwörung aus den Fugen geraten war.

Er nahm das Amulett auf. Langsam schritt er zu seinem Knochenthron, stieg die Stufen hinauf und ließ sich in dem aus Menschengebeinen er­richteten Sitz nieder. Nachdenklich hielt er sich das Amulett vors Gesicht und betrachtete es.

Der Schrei, der erklungen war, als die sieben Schädel explodierten . . . er hatte ihn schon einmal gehört.

Damals, als Merlin verschwand . . .

Es hatte einen gewaltigen magischen Schlag gegeben. Und dann noch

einmal, als in Louisiana jener Fremde auftauchte, der ebenfalls einen der

Sterne von Myrrian-ey-Llyrana besaß. Leonardo hatte den Eindruck ge­habt, als spränge ihn jemand an, um ihn zu erwürgen. Und der Schrei . . .

Und jene Stimme, die aus dem Amulett gekommen zu sein schien, als

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sie ihm seinerzeit zuraunte, daß Merlin, Zamorra und die anderen aus

der Welt hinaus in eine andere geschleudert worden waren . . . Leonardo wußte, daß sein Amulett sich nicht so verhielt, wie es eigent­

lich zu erwarten war. Etwas lebte darin. Damals, als er Zamorras Amulett besaß, war das anders gewesen. Dieses hier, das viel früher entstanden

und demzufolge viel weniger ausgereift war, schien in einem Punkt doch

viel weiter entwickelt zu sein. Aber das war unmöglich. Jemand mußte

es irgendwann manipuliert und ihm eine besondere Kraft und Fähigkeit aufgepfropft haben . . . Leonardo hatte herausfinden wollen, was das für eine Kraft war. Wel­

ches Geheimnis das Amulett in sich verbarg. Deshalb hatte er jetzt sein

stärkstes Geschütz aufgefahren, nachdem andere Versuche, die Silber­scheibe auszuloten, zu seiner Verblüffung gescheitert waren. Dabei be­saß er durch Zamorras Amulett eine Erfahrung mit diesen Llyrana-Ster­nen wie kaum ein anderes lebendes Wesen im Universum . . . Zornbebend umklammerte er die Scheibe jetzt. Es fehlte nicht viel,

und er hätte versucht, sie in seiner Wut zu zerbrechen. Aber er wußte

nicht, ob das überhaupt möglich war, abgesehen davon hatte er das vier­te Amulett nicht an sich gebracht, um es zu zerstören, sondern um sich

seiner Kräfte zu bedienen. Aber das konnte er nicht, solange er nicht genau wußte, womit er zu

rechnen hatte. Alle bisherigen Versuche, nachzuforschen, worum es sich

bei dem auftretenden Phänomen handelte, waren allerdings abgeblockt worden. Im Amulett gab es eine Verkapselung, die Leonardo energischen

Widerstand entgegensetzte. Und jetzt hatte er diesen Widerstand auch mit der Gewalt der Be­

schwörung noch nicht zerbrechen können . . . »Was steckt in dir, du Ungeheuer?« murmelte er. Mehr als du ahnst, flüsterte plötzlich eine Stimme, die nicht im Thron­

saal laut wurde, sondern nur in seinen Gedanken. Viel mehr . . . Er schrie auf. »Dann sprich! Erkläre dich! Steckst du in dem Amulett?

Wer bist du?«

Ahnst du es nicht? Lautloses Gelächter hallte in ihm auf. Du glaubst, du könntest mich zwingen, du Narr? Ich war schon immer besser und

größer als du, aber du hast es nie wahrhaben wollen. Du hast versucht, mich zu unterdrücken. Selbst, als ich dich überrundete, versuchtest du

gegen mich zu intrigieren . . . Leonardo starrte die Silberscheibe an.

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Er glaubte in einen bodenlosen Abgrund zu stürzen. »Nein«, keuchte er. »Nein! Das – das ist unmöglich! UNMÖGLICH!«

Sein Schrei hallte von den Wänden wider. Er wollte nicht wahrhaben, was die mentale Stimme andeutete. Es konnte doch nicht sein. »Du bist tot!« kreischte er. Er sprang von seinem Thron auf, schleuder­

te das Amulett von sich. Der silberne Diskus schwirrte durch den Saal, beschrieb eine fast gerade Linie durch die Luft und prallte gegen eine

nachglühende Wand. Wie von einem Trampolin wurde das Amulett zu­rückgefedert und fiel etwa auf halber Strecke zwischen der Wand und

dem Dämon zu Boden, wo es noch ein paar Meter weiter rutschte. »Du bist tot!« schrie Leonardo. »Tod! Ich habe dich selbst hingerichtet,

auf das Urteil des Tribunals hin . . .«

Wieder klang das Gelächter auf. Meinen Körper hast du hingerichtet. Meinen Geist – kannst du nicht

töten. Niemals . . . Leonardo ließ sich wieder auf die Sitzfläche des Knochenthrons fallen.

Er starrte das Amulett an. So harmlos sah es aus, wie es da auf dem

Steinboden lag . . . Und so gefährlich erschien es ihm plötzlich! »Es ist unmöglich«, wiederholte er. »Wie . . . wie könnte es sein? Nein,

niemals . . .«

Wieder das Gelächter. Und er kannte die Stimme! Er wußte jetzt, wo­her er sie kannte. Sie gehörte Magnus Friedensreich Eysenbeiß . . .

Schlagartig kamen die Erinnerungen wieder. Vor langer Zeit hatte er Eysenbeiß aus einer anderen Dimension ge­

holt. Damals war er selbst noch kein Dämon gewesen, nur ein Magier, der sein zweites Leben lebte. Aber er hatte schon Macht besessen, und

er sammelte Vasallen um sich. Wie Eysenbeiß, so hatte er auch Wang Lee

Chan zu sich geholt. Den einen als Berater, den anderen als Leibwächter. Von beiden war er verraten worden. Später, als er sich zum Dämon

wandelte und Fürst der Finsternis wurde. Wang Lee Chan hatte sich von ihm abgewandt und war zu Zamorra

übergelaufen. Doch was Eysenbeiß tat, war schlimmer. Er, der kein Dä­mon, sondern nur ein Mensch war, überrundete Leonardo, seinen Herrn,

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heimlich, und setzte sich auf den Thron des Lucifuge Rofocale, den jener

ihm freimachen mußte, weil Eysenbeiß den dämonenvernichtenden Ju­Ju-Stab gegen ihn einsetzte, den er Zamorra einst abnahm. Jeder hatte

damals angenommen, Lucifuge Rofocale sei vernichtet worden. Und LU­ZIFER, der Kaiser der Hölle, hatte keinen Einspruch erhoben, sondern

Eysenbeißens Thronbesteigung stillschweigend geduldet. Der Thron, den eigentlich Leonardo ins Auge gefaßt hatte . . . denn mit

seiner Position war er noch längst nicht zufrieden . . . So hatte er nach einer Möglichkeit gesucht, Eysenbeiß in Mißkredit zu

bringen, und es war ihm auch gelungen. Eysenbeiß hatte einmal den Feh­ler begangen, einen Pakt mit den Feinden der Höllendämonen zu schlie­ßen, und das wurde ihm zum Verhängnis. Ein Tribunal verurteilte ihn, den Verräter, zum Tode. Leonardo deMontagne vollstreckte das Urteil. Sein Schatten, den er von sich lösen und als selbständig Handelnden auf die Reise schicken konnte, erwürgte Eysenbeiß. Doch seine Hoffnung, nun aufzurücken, erfüllte sich nicht. Denn Lu­

cifuge Rofocale kehrte zurück. Klug, wie er war, hatte er lediglich aus

einem Versteck heraus abgewartet, wie andere für ihn die Arbeit erle­digten und den Menschen vernichteten, der ihn vom Thron vertrieben

hatte. Leonardo hatte nach Eysenbeißens Tod dessen Besitztümer beschlag­

nahmt. Der Ju-Ju-Stab, glaubte er, war von dem Dämon Astardis in den

Tiefen eines aktiven Vulkans für alle Zeiten versiegelt worden. Daß

Astardis den Stab für sich behalten hatte, ihn inzwischen aber wieder

an Zamorra verlor, konnte Leonardo nicht einmal ahnen. Er hielt diese

Gefahr für beseitigt. Das Amulett nahm er stillschweigend selbst an sich und gedachte es

auch zu benutzen. Es war zwar längst nicht so stark und wirksam wie das

Professor Zamorras, aber besser als gar nichts, wie sich gezeigt hatte. Aber anscheinend . . . war es ein Fehler gewesen. Ja, hörte er die lautlose Stimme Eysenbeißens wieder. Es war ein Feh­

ler . . . oder vielleicht nicht? Bedenke die Fortentwicklung deiner Fähig­keiten. Meinst du nicht, daß dir dabei vielleicht jemand geholfen haben

könnte?

Leonardo knirschte mit den Zähnen. »Welchen Grund könntest ausgerechnet du haben, mir zu helfen?«

stieß er wütend hervor. »Du bist zerfressen von Haß gegen mich, du

mußt es sein!«

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Und doch . . . daß du deinen Schatten vervielfältigen kannst . . . das, Leonardo deMontagne, ist nicht allein dein Werk . . . ich half dir dabei . . . »Vielleicht bist du eher für den Fehlschlag verantwortlich, der Zamor­

ra entkommen ließ, obgleich er die Schlinge schon um den Hals trug«, fauchte Leonardo zornig. Das spöttische Lachen war wieder da. Zamorra ist mein Feind ebenso

wie dein Feind. Um ihn zu vernichten, half ich dir, deine Fähigkeiten wei­ter zu entwickeln . . . und du wirst auch weiter auf mich zählen können. Deshalb hast du mich doch an dich genommen, nicht wahr? Du brauchst meine Magie! »Deine Magie?« schrie Leonardo. »Die des Amulettes, nicht deine!«

Ich bin das Amulett . . . »Du bist Eysenbeiß! Du bist nicht das Amulett!«

Wer weiß, Fürst. Wer weiß . . . Möglicherweise irrst du dich auch, und

die Lage ist in Wirklichkeit ganz anders . . . reizt es dich nicht, es heraus­zufinden?

»Es reizt mich, dich endgültig auszulöschen«, ächzte der Dämon. Das

abermalige Gelächter ließ seinen Zorn weiter wachsen. Es ging ihm auf die Nerven. Wir sollten diese Unterhaltung zu einem anderen Zeitpunkt fortsetzen,

sagte die Stimme. Jemand naht. Aber ich gebe dir noch einen kleinen

Hinweis. Während du versuchtest, mich mit der Energie der Schädel zu

überladen, konnte ich einen Teil davon nutzen. Ich kann dich zu jenem

führen, der ein weiteres Amulett besitzt und dich schlug, als du Wang

Lee verbranntest. Leonardo erstarrte. »Was soll das heißen?« zischte er. Aber die Stimme antwortete nicht mehr. Da sprang er auf, lief zur Mitte des Saales und nahm das Amulett an

sich. Kaum war es unter seinem Gewand verschwunden, als das Portal ruckartig aufgestoßen wurde. Astaroth trat ein. Aber er kam nicht allein. Dämonenknechte, die das

Sigill Lucifuge Rofocales trugen, waren bei ihm . . .

Als Zamorra erwachte, dachte er nicht mehr an das kurze Aufleuchten

des Amuletts, dem er ohnehin keine große Bedeutung beigemessen hat­

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te. Er warf einen Blick neben sich – Nicole Duval, seine Lebensgefährtin, Sekretärin und Kampfgenossin, war nicht mehr da. Ein Blick auf die Uhr

verriet ihm, daß er nun doch noch länger geschlafen hatte, als er eigent­lich wollte. Es war bereits nach zwei Uhr nachmittags. Er gähnte und erhob sich. Nun ja, immerhin waren sie erst morgens

um sieben dazu gekommen, einzuschlafen. Zamorra und Nicole waren

der Ansicht, daß man die wenigen freien Tage, die es gab, intensiv aus­nutzen sollte . . . Er zog die Vorhänge vom Fenster zurück und sah nach draußen. Er

konnte die Baugerüste am Haupttrakt des Schlosses sehen. Aber im Mo­ment wurde nicht gearbeitet. Der Regen hatte die Arbeiter verscheucht, die daran arbeiteten, die schweren Zerstörungen zu beseitigen und

Château Montagne in den ursprünglichen Zustand zurückzuversetzen. Der Himmel war eine endlose graue Fläche, die etwa zwei Kilometer

entfernte Loire unten im Tal ein stumpfer, breiter Strich. Vor ein paar

Tagen war es noch brütend heiß gewesen. Richtig abgekühlt hatte es

sich auch jetzt nicht, deshalb nahm Zamorra den Regen nicht einmal als

unangenehm hin. Er lächelte, suchte das Bad auf, kleidete sich an und begab sich zum

verspäteten »Frühstück«. Raffael, der alte Diener, wartete auf ihn. »Mademoiselle Duval ist ins Dorf gefahren, um Zeitungen und Post

zu holen, und vor einer Stunde kam ein Anruf aus Florida, Monsieur«, erklärte er. Zamorra nickte ihm zu, während der Diener ihm den Kaffee einschenk­

te. »Tendyke?«

»Ja, Monsieur. Er erwartet Ihren Rückruf.«

Zamorra seufzte. Er ahnte, daß Nicole nicht gerade begeistert sein

würde. Wenn Anrufe kamen, bedeutete das meistens Gefahr und Arbeit. Das Schicksal hatte sie damit geschlagen, ständig irgendwo benötigt zu

werden. Hatten sie einmal ein paar Tage Ruhe, stolperten sie garantiert in eine Dämonenfalle, wie vor ein paar Tagen, als die Schattenkreaturen

am Galgenhügel auf Zamorra gewartet hatten. Und irgendwo in der Welt tauchten immer Höllenwesen auf, um die Menschen zu knechten. Und Zamorra hatte sich vor langer Zeit geschworen, mit den Dämonen

aufzuräumen. Als er Merlins Stern erbte, hatte er diese Verpflichtung auf sich genommen. Aber zur Zeit wollte er eigentlich nur Ruhe haben. Er war noch nicht ganz mit dem Frühstück fertig, als Nicole eintrat,

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naß wie eine Katze, die ins Regenfaß gefallen ist. Sie begrüßte Zamor­ra mit einem Kuß und warf ein paar in Plastikfolie eingerollte trockene

Zeitungen auf den Tisch. »He, regnet dein BMW neuerdings durch? Oder bist du mit offenem

Schiebedach gefahren?«

Nicole schüttelte den Kopf. »Unsinn. Es hat mich auf den paar Metern

vom Auto zur Haustür erwischt. Es gießt wie aus Eimern. Anscheinend

will der Himmel alles nachholen, was er in den letzten zwei Wochen ver­säumt hat.«

Zamorra grinste. »Schon mal was von Regenschirmen gehört?«

»Altes Lästermaul«, murrte sie. »Glaubst du, ich suche diesen Spiel­zeugfallschirm aus der Mottenkiste, bloß weil mal ein paar Regentropfen

fallen?«

»Ein paar . . .« Zamorra schmunzelte und erhob sich. »Du solltest dich

in trockene Kleidung werfen, ehe du dir eine Erkältung holst«, empfahl er. Nicole lächelte ihn an. »Hilfst du mir dabei?«

Und ob ich dir dabei helfe, dachte er vergnügt. Mein lieber Tendyke, du wirst auf meinen Rückruf noch ein bißchen warten müssen . . . Erst zwei Stunden später erinnerte er sich wieder daran und erzählte

Nicole von dem Anruf des Abenteurers aus Florida. Zu seiner Überra­schung meuterte Nicole nicht. »Wenn er uns einlädt, nimm sofort an, cherie«, empfahl sie. »Hier regnet’s ja doch nur Bindfäden, und in Flori­da scheint die Sonne . . .«

»Na, hier hat sie zwei Wochen lang so vom Himmel gebrannt, daß wir

uns kaum davor retten konnten!«

»Aber heute regnet es. Also laß uns nach Florida jetten – und nach

Möglichkeit die Tickets von Tendyke bezahlen!«

Zamorra lachte. »Na gut. Was ist, wenn er wieder einen Dämon für uns

auf Lager hat?«

»Hat er nicht, wetten? Astardis wird die Prügel nie vergessen, die er

bezogen hat. Der kommt nicht wieder nach Florida . . .«

Der Professor ging in sein Arbeitszimmer hinüber und griff zum Tele­fon. Nach etwa zehn Minuten hatte er die Verbindung. Über Satelliten­funk klang Robert Tendykes Stimme so deutlich, als befände er sich nur

im Nebenzimmer. »Bei euch regnet es doch bestimmt, Zamorra. Wie wäre es, wenn ihr

zu einem Sonnenbad herüberkommt?«

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»Ganz Nicoles Worte. Was liegt an, Freund?« erkundigte Zamorra sich. »Hoffentlich nicht wieder ein Fall für uns . . . dann muß ich nämlich pro­testieren.«

»Ach, Unsinn. Keine Magie, keine Dämonen, Vampire und sonstiges

Getier. Trotzdem brauche ich deine Hilfe. Ich suche jemanden.«

»Wen?«

»Einen Mann namens Ombre. Ich habe dir schon von ihm erzählt. Der

Mann, der Su Ling hierher brachte.«

»Und warum suchst du ihn?«

»Ich habe bei dem Burschen ein ganz komisches Gefühl, Zamorra. Und

ich habe endlich eine Spur.«

»Und weshalb brauchst du mich dazu?«

Tendyke lachte. »Weil du ein besseres Französisch sprichst als ich, Professor. Ich habe vorsichtshalber schon Tickets für euch gebucht. Ihr

fliegt von Lyon über Paris und New York nach Miami.«

Zamorra stellte fest, daß Nicole ebenfalls eingetreten war. Sie hatte

die letzten Worte mitgehört, da die Freisprechanlage eingeschaltet war. Jetzt nickte sie. »Wir kommen«, rief sie Tendyke über rund achttausend

Kilometer Distanz zu.

»Da hörst du es«, sagte Zamorra. »Mein geliebter Privatvampir be­fiehlt, und ich gehorche. Wir kommen, mon ami. Wann geht die Maschi­ne?«

»Frag in Lyon am Terminal nach. Bis bald, Freunde.«

Tendyke unterbrach die Transatlantik-Verbindung.

Nicole stemmte die Arme gegen die Hüften. »Wie war das gerade? Pri­vatvampir?« zischte sie. »Du wirst unverschämt, Monsieur! Das wimmert nach Bestrafung.« Sie warf sich halb auf ihn, und er spürte ihre Zähne

an seinem Hals.

»He!« protestierte er. »Du willst doch wohl nicht wirklich zubeißen?«

»Warum nicht? Vampire beißen nun mal . . .«

»Dann sieh zu, daß du nicht gepfählt wirst«, lachte er. »Komm, packen

wir die Koffer und reisen ab. Floridas Sonne lacht.«

»Hoffentlich lacht sie uns nicht aus, wenn du so am Flughafen er­scheinst.« Nicole grinste Zamorra an. »Vielleicht solltest du dich vorher

noch anziehen . . .«

Manchmal, fand Zamorra, brachte Nicole durchaus brauchbare Vor­schläge . . .

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Und während sie über den Atlantik jetteten, fragte er sich, warum Ten­dyke seine Unterstützung wirklich brauchte . . .

Leonardo deMontagne hatte eine harte Zurechtweisung hinnehmen müs­sen. Lucifuge Rofocales Diener hatten ihn vor den Thron des Höllenfür­sten zitiert, und der hatte ihn kaltlächelnd gefragt, ob es nötig sei, die

halbe Hölle zum Einsturz zu bringen, nur um einen dreigehörnten Dä­mon zu töten. Dadurch und durch Astaroths Bestätigung hatte Leonardo

erfahren, welcher Dämon beim Eindringen in seinen Thronsaal umge­kommen war.

Leonardo versuchte mehr schlecht als recht, sich mit halbwahren Er­klärungen aus der Affäre zu ziehen und war erstaunt, daß Lucifuge ihm

keine Detailfragen stellte. Der Stellvertreter Satans warnte ihn aller­dings davor, seine Macht weiter auf diese Weise unter Beweis zu stel­len, da es die Grundfesten der Hölle erschütterte. Und es sei auch nicht vonnöten, grundlos unter den Höllendämonen aufzuräumen – es reiche

schon völlig, wenn Menschen wie Zamorra das taten.

»Du solltest wissen, daß unser Kaiser LUZIFER dich jederzeit auf mein

Anraten hin von deinem Thron fegen kann, Fürst der Finsternis«, schloß

Lucifuge Rofocale grimmig. »Und nun geh und kümmere dich um das, was zu deinen Pflichten gehört . . .«

Im Davongehen bemerkte Leonardo das zynische Lächeln Astaroths

und wußte, daß er die Punkte, die er gegen jenen gewonnen hatte, so­eben wieder verlor.

Aber momentan berührte ihn das nicht weiter. Er war mit einem an­dern Problem beschäftigt. Lucifuge Rofocales Anpfiff hatte er nur mit halbem Ohr wahrgenommen. Er dachte an das Amulett.

Und er wußte, daß er in der letzten Zeit entschieden stärker geworden

war als früher. Er hatte hinzugelernt, was den Einsatz Schwarzer Magie

anging, seine Kräfte und Fähigkeiten hatten sich verstärkt. Sicher, in der

Theorie war er schon immer sehr bewandert gewesen, sowohl in seinem

ersten als auch in seinem zweiten Leben. Er hatte immer dafür gesorgt, daß sein Wissen sich erweiterte. Aber zwischen Theorie und Praxis gab

es doch Unterschiede. Ein Mensch und ein Dämon konnten Zauberfor­meln benutzen und mußten der Magie Kraft liefern, die aus ihnen selbst

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kam. Stärkere Dämonen vermochten das relativ leicht, Zauberer muß­ten diese Kraft durch Askese, Selbstdisziplin und auch Blutopfer erst ge­winnen. Doch jetzt wuchs Leonardo über dieses Stadium immer weiter

hinaus. Das Inferno, das er jetzt entfesselt hatte, wäre ihm früher niemals ge­

lungen. Und doch fühlte er sich jetzt nur wenig geschwächt. Seine Gei­stesabwesenheit rührte mehr von seinem Grübeln. Und die neue Fähigkeit, seinen Schatten aufzuteilen . . . und jeden Teil

für sich handeln zu lassen . . . auch sie war neu. Sollte das tatsächlich alles diesem Amulett zuzuschreiben sein?

Eysenbeiß?

Leonardo deMontagne zweifelte. Eysenbeiß hatte ihn immer gehaßt. Selbst der gemeinsame Feind Zamorra hatte sie beide schließlich nicht mehr zusammenführen können. Der Fürst der Finsternis konnte sich

nicht vorstellen, daß sich der Geist Eysenbeißens im Tode gewandelt hat­te. Oder sollte das Amulett seinerseits Einfluß auf ihn haben?

»Ich muß es in Erfahrung bringen«, murmelte der Dämon, während er

in sein Refugium zurückkehrte. »Ich muß es wissen, um jeden Preis.«

Aber wie sollte er es erfahren, wenn er keine Möglichkeit hatte, die

Verkapselung aufzubrechen? Dies war sein letzter und stärkster Versuch

gewesen. Mehr Energie konnte er nicht mehr einsetzen. Die Barriere

hielt stand. Wenn jener Geist, der sich im Amulett eingenistet hatte, sich

nicht von selbst verriet und sein Geheimnis preisgab, würde Leonardo

es nicht erfahren . . . Er ballte die Fäuste und schrie eine Verwünschung. Er konnte nicht begreifen, wie eine Verschmelzung zwischen Eysen­

beißens Geist und dem Amulett hätte stattfinden können. Die Seele die­ses Mannes hätte bei seinem Tod unverzüglich ins Höllenfeuer wandern

müssen. Leonardo verwünschte sich, daß er nicht darauf geachtet hatte. Aber vielleicht konnte er feststellen, ob die Seele des Magnus Friedens-reich Eysenbeiß nicht doch irgendwo in der Glut der Ewigkeit schrie. Es

würde ihn erleichtern. Denn wenn Eysenbeiß tatsächlich im Amulett weiterexistierte, würde

er eines Tages Leonardo böse in den Rücken fallen – falls er es nicht schon getan hatte, falls die Niederlagen der letzten Zeit nicht auf seinen

Verrat zurückzuführen waren. Aber da waren noch zwei Dinge.

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Das eine war die Andeutung, die der Geist im Amulett gemacht hatte. Ich kann dich zu jenem führen, der ein weiteres Amulett besitzt und dich

schlug, als du Wang Lee verbranntest . . .

Würde Eysenbeiß ihm diesen Typ geben?

Höchstens, um ihn damit in eine Falle zu locken . . .

Aber – der Verdacht war geweckt! Und die Andeutung, nach der das

Amulett wieder in Schweigen verfiel, hatte Leonardo deMontagne neu­gierig gemacht. Vielleicht konnte er jenen Amuletträger zur Rechen­schaft dafür ziehen, daß er Leonardo angriff – und ihm jenes Amulett möglicherweise abjagen . . . ?

Er mußte es zumindest versuchen.

Denn dann konnte er vielleicht besser gegen Lucifuge Rofocale auf­trumpfen. Er war sich nicht ganz klar darüber, was der Höllenfürst ei­gentlich wirklich von ihm gewollt hatte. Sicher, es hatte eine scharfe

Zurechtweisung gegeben. Aber das konnte nicht alles gewesen sein.

Auf eine eigenartige Weise hatte sich Leonardos Amulett schwach er­wärmt und vibriert. Ganz kurz nur, aber deutlich spürbar. Damit zeigte

es an, auf einen äußeren Einfluß reagiert zu haben.

Doch was mochte das für ein Einfluß gewesen sein?

Nun – es war zweitrangig. Wichtig war jetzt, die Spur zu verfolgen, die

sein Amulett ihm weisen wollte. Und dabei aufzupassen, daß nicht eine

Falle über ihm zuschlug . . .

Lucifuge Rofocale wußte jetzt, daß mit dem Amulett des Fürsten der Fin­sternis etwas nicht stimmte. Er hatte es mit dem seinen kurz angetastet. So unauffällig wie möglich – es kam ihm zugute, daß Leonardo es, unter

seiner Gewandung verborgen, mitgebracht hatte. So war es nicht weit entfernt gewesen, und die Berührung ließ sich leicht bewerkstelligen. Lucifuge Rofocale war sicher, daß Leonardo diese Berührung kaum ge­spürt hatte – und sie sicher nicht mit dem Höllenfürsten in Verbindung

bringen würde. Solange er nicht einmal ahnte, daß Lucifuge Rofocale

den fünften Stern von Myrrian-ey-Llyrana besaß, würde er dahingehend

keinen Verdacht schöpfen. Wenn er etwas bemerkt hatte, würde er es

einem anderen Phänomen zuschreiben.

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Lucifuge Rofocale hatte nicht feststellen können, was wirklich mit Leo­nardos Amulett geschehen war. Aber etwas war darin, was nicht hinein

gehörte. Etwas Untypisches. Etwas – Gefährliches . . .

Um Leonardo sorgte Satans Ministerpräsident sich nicht. Eher um sich

selbst. Wenn Leonardo starb, war das nicht weiter schlimm; Ersatz wür­de sich finden, wenn auch nicht ein so guter, wie es Asmodis einst gewe­sen war. Aber die Gefahr könnte auch Lucifuge Rofocale bedrohen.

Leonardos Amulett war schwächer als das seine. Aber Lucifuge Rofo­cale hatte aus der Geschichte von David und Goliath gelernt . . .

Er würde fortan sorgsamer auf alles achten müssen, das Leonardo de-Montagne tat.

Zamorra und Nicole hatten im Lauf der Jahre gelernt, mit Zeitverschie­bungen zurechtzukommen, so oft, wie sie unterwegs waren. Am kritisch­sten war es, wenn sie sich von den Druiden Gryf und Teri von einer Hälfte

der Weltkugel zur anderen bringen ließen. Da waren sechs Stunden Flug, die durch die Zeitzonen zu annähernd Null zusammenschrumpften, noch

harmlos – in diesen sechs Stunden ließ sich einiges an Schlaf nachholen

oder auf Vorrat ruhen.

Gegen 19 Uhr Ortszeit landete die Maschine aus New York auf dem

Rollfeld des Miami-Flughafens. Eine halbe Stunde später waren sie

durch die Kontrollen und wurden von Rob Tendyke erwartet. Tendyke

trug seine übliche Lederkleidung im Western-Stil und hatte den breitran­digen Lederstetson tief ins Gesicht gezogen. Er chauffierte die Ankömm­linge zu Tendykes Home, dem großzügigen, eineinhalbstöckigen Bun­galow in einer Traumlandschaft in unmittelbarer Nähe des Everglade-Nationalparks. Eine Privatstraße, mit einer Sperrschranke »gesichert«, führte direkt zu dem Anwesen.

Scarth, der Butler, servierte die Begrüßungsdrinks. Monica und Uschi Peters, die beiden eineiigen Zwillinge aus Germany, die irgendwann hier

in Florida endgültig hängengeblieben sind, begrüßten Zamorra und Ni­cole überschwenglich. Zamorra hob erstaunt die Brauen, als er die bei­den blonden Mädchen kritisch musterte. »He, was ist denn mit euch los?

Jetzt kann man euch schon wieder nicht voneinander unterscheiden . . . Wer ist denn nun wer?«

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Nicole lächelte. »Das ist Uschi, und das ist Monica«, unterschied sie

mit traumhafter Sicherheit die beiden Mädchen, die sich zu allem Über­fluß auch noch gleich kleideten. Nicole war anscheinend auf der gan­zen Welt die einzige Person, die die beiden auseinander halten konnte –

möglicherweise hatte selbst Rob Tendyke Schwierigkeiten damit. In den

letzten Wochen hatte sich Uschis Schwangerschaft bemerkbar gemacht, aber wie es aussah, zog Monica mit ihrer Schwester gleich! »Eine Scheinschwangerschaft«, erklärte Monica. »Es ist zu ärgerlich.

Uschi bekommt das Kind, ich gehe leer aus und darf trotzdem mit leiden

in dieser Hitze . . . wenn’s doch endlich Winter würde . . .«

»Hier wird es nie Winter«, warf der Abenteurer ein. »Was glaubt ihr

wohl, warum ich mich ausgerechnet hier angesiedelt habe? Bestimmt nicht nur der Flamingos und Alligatoren wegen.«

Er grinste. »Was meinen beiden Damen noch weniger gefällt, ist, daß sie gewis­

sermaßen hier eingesperrt sind, damit kein Dämon sich des Ungebore­nen bemächtigen kann . . .«

». . . was totaler Unsinn ist«, protestierte Monica, »weil wir mit unse­ren telepathischen Fähigkeiten die Annährung eines Dämons rechtzeitig

bemerken würden und uns in Sicherheit bringen könnten . . . gib’s ruhig

zu, Rob, daß du nur die Sklaverei in abgewandelter Form wieder einge­führt hast.«

Tendyke winkte ab. »Diese Argumente«, erklärte er seinen beiden Besuchern, »kommen

immer dann, wenn die Ladies mal wieder nicht weiterwissen. Wollt ihr

euch erst einmal einquartieren, oder kommen wir sofort zur Sache?«

»Du hast einen Swimmingpool«, sagte Nicole. »Den werde ich zwecks

Abkühlung und Erfrischung mal von innen inspizieren.«

Eine halbe Stunde später drehte sie ihre Runden im Pool, während

die anderen es sich auf der Terrasse bequem gemacht hatten. Die Son­ne senkte sich allmählich dem Horizont entgegen, ohne daß es zu einer

Abkühlung kam. »Was ist jetzt mit meinen Französisch-Kenntnissen, die du angeblich

benötigst? Du hast uns doch hoffentlich nicht hierher fliegen lassen, da­mit wir anschließend wieder nach Frankreich jetten . . .«

Tendyke grinste. »Es gibt auch noch andere Länder, in denen franzö­sisch gesprochen wird. Guayana, Marokko, Algerien . . .«

Zamorra winkte ab. »Komm zur Sache, Vater der Weitschweifigkeit.«

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»Nun gut. Als ich vom Silbermond hierher zurückkehrte . . .«, er zö­gerte sekundenlang und wich Zamorras fragendem Blick aus, um dann

fortzufahren: ». . . traf ich auf Su Ling. Ich habe euch ja schon am Telefon

davon erzählt. Ein Neger hatte sie her gebracht, der sich Ombre nannte. Und Monica und Uschi konnten seine Gedanken nicht lesen.«

»Er schirmte sie wahrscheinlich ab. Denn daß er gar nicht dachte, möchten wir doch bezweifeln«, sagte Uschi. »Was ist eigentlich aus Su Ling geworden?« erkundigte Zamorra sich

nach der San-Francisco-Chinesin, die die Lebensgefährtin des ermorde­ten Wag Lee gewesen war. »Sie ist weg«, sagte Tendyke. »Sie hat gekündigt. Ich habe ihr eine

großzügige Abfindung zukommen lassen und ansonsten ihren Wunsch

respektiert, daß sie fortan nichts mehr mit uns allen zu tun haben möch­te. Sie ist untergetaucht. Vielleicht ist sie wieder in Frisco, vielleicht irgendwo sonst in den Staaten. Ich weiß es nicht. Sie wird über Wangs

Tod hinwegkommen, da bin ich sicher. Die Zeit eilt, teilt und heilt.«

Zamorra nickte. »Okay. Weiter . . . dieser Ombre. Ombre heißt Schat­ten . . . könnte er dämonisch sein? Vielleicht eine neue Scheinidentität unseres Freundes Astardis?«

»Der läßt sich hier nie wieder blicken, nach der letzten Niederlage, die

er damals kassierte. Nein . . . außerdem hätte er kaum Su Ling hierher

gebracht, sondern sie allenfalls als Geisel verwendet, um uns zu etwas

zu zwingen. Dämonische Wesen scheiden aus. Er muß ein Mensch sein.«

»Bloß einer, der seine Gedanken abschirmen kann, und das kann uns

nicht gefallen.«

»Als ich davon hörte«, griff Tendyke den Faden wieder auf, »bekam

ich ein ganz seltsames Gefühl, und das ist bis jetzt geblieben. Ich traue

diesem Ombre nicht über den Weg, auch wenn er das Mädchen scheinbar

uneigennützig hergebracht hat. Etwas stimmt mit diesem Neger nicht.«

Zamorra hob die Schultern. »Weißt du . . . ich bin ja nach Louisiana gerast, weil ich versuchen woll­

te, Wang zu helfen, als das Flugzeug dort abstürzte. Aber kurz bevor ich

ihn erreichte, waren da zwei Männer. Es kam zum Schußwechsel. Einen

habe ich in Notwehr erschossen, der andere verschwand im Unterholz

wie ein Schatten.«

Zamorra beugte sich vor. »Was ist da eigentlich genau vorgefallen?«

fragte er. »Zum Teufel, sobald man etwas darüber von dir wissen will, windest du dich wie eine Katze. Schußwechsel . . . du kannst mir nicht

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erzählen, daß dir dabei nichts passiert ist. Vor einiger Zeit hat dir mal Bill Fleming eine Kugel in den Rücken gejagt. Du verschwandest unter

Zurücklassung einer erheblichen Blutspur und tauchtest vollkommen ge­sund und munter etwas später an einem anderen Ort wieder auf. Jetzt erzählst du von dieser Schießerei im Sumpfwald von Louisiana. Direkt danach erscheinst du auf dem Silbermond, hilfst uns dort nach Kräften, ergehst dich gleichzeitig in geheimnisvollen Andeutungen, und wir alle

gehen dem Meegh in die Falle und landen im Zentrum einer wohl atoma­ren Explosion. Bloß sterben wir nicht dabei, sondern kommen wieder in

Caermardhin an – und du hier. Was zum Teufel passiert da? Was sind das

für Raumzeit-Sprünge? Wie machst du das eigentlich, Rob?«

»Wir sprachen über diesen Ombre«, wich Tendyke aus.

»Nicht ablenken, Freund«, drängte Zamorra. »Ich will es jetzt wissen. Jetzt sind wir nämlich gerade so schön bei der Sache.«

Zamorra . . . bitte!«

Überrascht sah der Parapsychologe die beiden Mädchen an. Uschi –

oder war es Monica? – schüttelte mit gerunzelter Stirn den Kopf.

»Bedränge ihn nicht. Uns hat er es auch nie verraten, aber ich denke, wir können damit leben. Ein Mensch sollte ein kleines Geheimnis bewah­ren, nicht? Oder verrätst du jedem deine kleinen Geheimnisse?«

»Mädchen, hier geht es nicht um kleine Geheimnisse«, fuhr Zamorra

auf. »Hier geht es um existentielle Dinge, um Leben und Tod. Und da

wir auf dem Silbermond selbst mit betroffen waren, möchte ich wissen, was ich da erlebt habe oder warum mir ein paar Stunden oder Tage im

Gedächtnis fehlen, verflixt! Ich habe ein Recht darauf!«

»Vielleicht nicht«, wandte die Telepathin ein.

»Ihr wißt doch etwas!« hielt Zamorra ihr vor.

»Zamorra, wir sind keine Gedankenschnüffler!« protestierte Uschi ver­ärgert. »Wenn jemand etwas für sich behalten will, werden wir es ihm

lassen! Das solltest du wissen.«

»Ja, euer telepathischer Ehrenkodex . . . trotzdem! Rob . . .«

»Monica und Uschi haben mir diesen Monsieur Ombre beschrieben«, sagte Tendyke, als habe er nur auf ein Stichwort gewartet. Ehe Zamor­ra protestieren und ihn wieder auf das andere Thema zurückzwingen

konnte, fuhr er fort. »Die Beschreibung paßt hundertprozentig auf die­sen zweiten Mann, der floh, als ich seinen Komplizen niederschoß. Ich

bin sicher, daß es sich um ein und dieselbe Person handelt. Das erklärt

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auch, wieso er mit Su Ling hier auftauchte – er war ja vor Ort, als der

Mongole starb.«

Zamorra seufzte. Es sah so aus, als könne er Tendyke nicht dazu zwin­gen, über sein kleines Geheimnis zu plaudern . . . vielleicht ein ander­mal . . .

»Jetzt erheben sich ein paar Fragen«, sagte der Abenteurer. »Gehört dieser Ombre zu Leonardo deMontagne? Waren die beiden Männer seine

Helfer, die Wang und Su dem Dämon zutreiben sollten? Das könnte eine

Erklärung dafür sein, daß der andere Typ sofort auf mich schoß. Er fühlte

vielleicht, daß ich ihre Pläne durchkreuzen wollte.«

»Oder ist er ein Unbeteiligter, der irgendwie in die Sache hineinrutsch­te, nicht wahr?« ergänzte Zamorra die zweite, noch unausgesprochene

Frage.

»Ein kleines Gangsterpärchen vielleicht«, sagte Tendyke, »das von

dem Flugzeugabsturz profitieren wollte. Die im Morast versinkende Ma­schine konnten sie nicht mehr plündern, da haben sie sich vielleicht an

vereinzelt herumirrende überlebende Passagiere heranmachen wollen, und ich kam ihnen in die Quere. Das wäre eine Möglichkeit, aber sie

erklärt nicht, warum dieser Ombre seine Gedanken abschirmen kann.«

Zamorra antwortete nicht. Er sah zum Pool, wo Nicole sich immer noch

im Wasser wohl fühlte und sich treiben ließ. Sie war nahe genug, daß sie

mithören konnte.

Zamorra griff nach dem Glas Orangensaft und nahm einen kleinen

Schluck.

Er überlegte. Beide Möglichkeiten waren gleich wahrscheinlich und

die Gedankenabschirmung ein noch unlösbares Rätsel. Die Parapsycho­logie lehrte zwar, daß nicht jeder Telepath jedes Menschen Gedanken

aufnehmen konnte, außerdem kam es auf die momentane Verfassung an, aber die Peters-Zwillinge waren dermaßen para-begabt, daß diese Ein­schränkungen für sie nicht galten.

Daß zumindest der Erschossene tatsächlich ein Helfer Leonardo de-Montagnes gewesen war und Yves Cascal, der »Schatten«, eher durch

das Amulett und mit Überredungskunst des anderen Mannes dort aufge­taucht war, ahnte niemand von ihnen (siehe Band 404: »Tod im Schlan­gensumpf«)

»Ich muß diesen Ombre aufspüren und ihn mir ansehen«, sagte Ten­dyke. »Er könnte eine Bedrohung sein. Wenn er seine Gedanken abschir­

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men kann, kann er vielleicht noch mehr. Möglicherweise hat er erkannt, was es mit dem Kind auf sich hat.«

Er strich zärtlich über Uschis Bauch, der mittlerweile auch durch das

weit geschnittene Kleid nicht mehr zu kaschieren war. »Was hat es mit diesem Kind eigentlich auf sich, daß ihr so ein Rie­

sengeheimnis daraus macht?« fragte Zamorra. »Okay, seine Mutter ist eine Telepathin, und du bist jemand, der Gespenster sehen kann. Und

vermutlich hast du noch ein paar interessante Fähigkeiten. Aber . . .«

»Und damit könnte er zu einer Gefahr werden«, unterbrach Tendyke

trocken. »Selbst wenn er kein Dämon oder Dämonendiener ist, könnten

sie ihn schnappen und verhören und dabei etwas erfahren, die Schwarz­blütigen . . . deshalb muß ich wissen, was es mit diesem Mann auf sich

hat, was er weiß, wer er ist . . .«

»Und so fort«, rief Nicole vom Pool her. »Aber was haben wir jetzt damit zu tun?«

»Ich habe die letzte Zeit damit verbracht, Nachforschungen zu betrei­ben«, sagte Tendyke. »Anscheinend kommt der Neger aus Louisiana. Aber weder dort noch in den Nachbarstaaten ist jemand bekannt, der

den Namen Ombre trägt.«

Zamorra pfiff durch die Zähne. »Wie hast du das herausgekriegt?«

»Man kennt Leute, und man zahlt notfalls Bestechungsgelder«, sagte

Tendyke. »Aber verrat’s nicht weiter. Nun, jemand, der ›Schatten‹ heißt, müßte mit diesem Namen ja doch eher auffallen in den Einwohnermel­delisten als ein ›Smith‹ oder ›Millen. Nun, es gibt niemanden, der Ombre

heißt. Aber ich erfuhr, daß in Unter- und Halbweltskreisen in Baton Rou­ge, Louisiana, jemand herumstrolcht, der von den anderen kleinen und

großen Gaunern ›der Schatten‹ genannt wird. Das ist doch ein Hinweis, nicht?«

»Okay. Weshalb schnappst du dir diesen Schatten dann nicht? Wozu

brauchst du uns dabei?«

Tendyke streckte den Arm aus und zeigte auf Zamorras Brust. »Du bist schwach telepathisch begabt . . .«

»Sehr schwach . . .«, schränkte Zamorra ein. ». . . und du besitzt ein paar magische Waffen und Werkzeuge. Dein

Amulett, deinen Dhyarra-Kristall . . . ich denke, damit ließe sich die Ge­dankenbarriere dieses Ombre knacken.«

Zamorra tippte sich an die Stirn. »Sofern es sich nicht herausstellt, daß er tatsächlich ein Schwarzmagier oder Dämon ist, kannste das ver­

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gessen, mein Bester. Ich wende meine Werkzeuge und Zaubertricks und

meine Para-Begabung nicht an, um anderen Leuten psychische Gewalt anzutun.«

»Wie war das noch mit dem Telepathen-Ehrenkodex . . . ?« murmelte

Monica Peters. »Komm wenigstens mit«, sagte Tendyke. »Dann können wir immer

noch entscheiden. Zudem sprichst du ein besseres Französisch als ich. Ich habe da immer ein wenig Probleme mit der Sprache.« Er grinste. »Notfalls braucht er dich als Rückendeckung, Zamorra, wenn die Fäu­

ste fliegen«, wandte Monica ein. »Fäuste, Messer, Kugeln, Untertassen . . .« murmelte Zamorra. »Okay,

ich versuche es mal. Jetzt bin ich nämlich gerade mal hier. Aber ich den­ke, daß es nicht heute abend sein muß, oder? Bis Baton Rouge sind es

ein paar Meilen.«

»Etliche«, grinste Tendyke. »Ein hübscher Flug . . . aber ich bin schon

froh, daß du überhaupt mitmachst. Ich danke dir, Professor.«

Er erhob sich und verließ die Terrasse. Zamorra sah ihn durch die Gla­stürfront verschwinden. Er wandte sein Augenmerk wieder dem Swim­mingpool zu. Nicole ließ sich in die Mitte des großen künstlichen Teiches

treiben. Anscheinend wollte sie den Fischen Konkurrenz machen. Zamor­ra wunderte sich, daß sie noch nicht wieder auf die Terrasse gekommen

war. Ihre Haut mußte doch schon recht ausgedünnt sein . . . Er sah zum jenseitigen Poolrand. In dem Moment entdeckte er den Alligator.

Rings um das Haus erstreckte sich eine ausgedehnte Rasenfläche, die

von Sträuchern und Bäumen aufgelockert wurde; je weiter die Pflanzen

vom Haus entfernt standen, um so dichter drängten sie sich zusammen, bis sie eine Art Dschungel mit kaum noch zu durchdringendem Unter­holzdickicht bildeten. Von dort kam die Panzerechse. Das Reptil bewegte sich enorm schnell und wieselte auf den Pool zu.

Als Zamorra es entdeckte, war es nur noch wenige Meter entfernt. Als

er aufsprang und Nicole eine Warnung zurief, glitt das Biest gerade ins

Wasser.

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Page 31: Schrei, wenn der Dämon kommt

Nicole schrie auf und versuchte schwimmend zu entkommen. Aber der

Alligator war schnell.

Zamorra setzte zum Sprung an. Es war zwar fast aussichtslos, waffen­los mit einem Alligator fertig zu werden, aber vielleicht konnte er das

Biest von Nicole ablenken . . .

Schallendes Gelächter ließ ihn verharren.

Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er, Tendyke müssen den Ver­stand verloren haben. Der Abenteurer stand wieder in der Terrassentür

und lachte! In der Hand hielt er einen kleinen Kasten mit einer Anten­ne . . .

Der Alligator bewegte sich nicht mehr.

Nicole erreichte den gemauerten Beckenrand.

»Du bist unmöglich, Rob!« sagte Monica vorwurfsvoll. »Mußte das un­bedingt sein?«

»Gator am Abend, erquickend und labend«, behauptete Tendyke. Er

schaltete an dem Kasten. Der Alligator bewegte sich wieder, schwamm

zum auf seiner Hälfte des Beckens abgeflachten »Teichrand« und kletter­te an Land. Dann watschelte er am Rand des Pools entlang und näherte

sich langsam Terrasse und Haus.

Jetzt, bei näherem Betrachten, fiel Zamorra auf, daß das Reptil sich

recht abgehackt und mechanisch bewegte. Das war doch kein lebendes

Tier . . .

»Sein neuestes Spielzeug«, sagte Monica abfällig.

»Unser mechanischer Wächter«, grinste Tendyke. »Das elektrische

Krokodil. Das liebe Tier ist eine Maschine.«

Er berührte eine Taste. Der künstliche Alligator riß sein Maul auf. Ein

halbes Hundert spitzer Zähne funkelte im Licht der Abendsonne.

Nicole kletterte aus dem Pool. »Du bist verrückt, Robert Tendyke«, sagte sie verärgert. »Wie kannst du mir einen solchen Schrecken einja­gen? Ich dachte, das Biest sei echt! Man sollte dich erschlagen, ist dir

das klar?«

»Eure Reaktionen haben jedenfalls noch nicht nachgelassen«, stellte

Tendyke fest. Er tat, als winke er den Alligator herbei, und lenkte ihn

über die Funkfernsteuerung. Das Reptil kam heran. Nicole betrachtete

es mißtrauisch und wich vorsichtshalber ein paar Schritte zurück.

»Old Sam brachte mich auf die Idee«, sagte Tendyke.

»Old Sam? Wer ist Old Sam?« fuhr Nicole ihn an.

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Page 32: Schrei, wenn der Dämon kommt

»Erinnerst du dich nicht?« fragte Tendyke. »Der Sechs-Meter-Gator in

Florida City, der sich in Walty Clarktons Pub allabendlich sein Nachtmahl abholt.«

Langsam dämmerte es Nicole. Old Sam war ein zivilisationsgeschä­digter Alligator, der sich in von Menschen bewohnte Gegenden traute, seelenruhig durch die Straßen spazierte und in Häuser eindrang. Er

war friedlich – immerhin wurde er von den Leuten gefüttert, die sich

ihren Spaß daraus machten, eine gefährliche Sumpfbestie »gezähmt« zu

haben. Nicole hatte Old Sam kennengelernt, als sie seinerzeit mit den

Zwillingen in Florida-City übernachtete, weil Sid Amos in Tendykes Ho­me einquartiert werden mußte, wo er vorübergehend mit Zamorra und

Tendyke an einem gemeinsamen Projekt arbeitete. »Wie gesagt«, erklärte der Abenteurer. »Old Sam lieferte mir die Grun­

didee und ein Bastler den Rest. Eine Alligatorhaut, drinnen ein Haufen

Technik . . . immerhin kann das liebe Tier sich bewegen, schwimmen und

das Maul auf- und zuklappen, wenn ich es entsprechend steuere. Das ist effektiver als ein Wachhund, und sieht lebensecht aus. Immerhin seid ihr

darauf hereingefallen.«

»Er hetzt das blöde Vieh auf Gerichtsvollzieher, Briefträger und Staub­saugervertreter ohne Ansehen der Person«, behauptete Uschi. »Die Zähne sind mit geweihtem Silber überzogen«, sagte Tendyke.

»Wenn der Robot ein dämonisches Wesen beißt, tut’s dem ziemlich weh.«

»Traust du der Abschirmung nicht mehr?« fragte Zamorra, der sich

allmählich wieder beruhigte. Für makabre Späße dieser Art, wie Tendyke

es vorgeführt hatte, war er ebensowenig zu haben wie Nicole, die in

diesem Fall noch mehr betroffen gewesen war. »Das schon. Aber der Gator kann sich auch außerhalb bewegen. Falls

wir belagert werden sollten, erregt er keinen Verdacht, wenn er zwi­schen den Schwarzblütlern herumkriecht und hier und da zuschnappt. Sie werden ihn nicht einmal ernst nehmen. Die Fernsteuerung reicht zu­verlässig fast anderthalb Meilen. Wichtig ist nur, daß ich ungefähr sehe, wo das Biest sich aufhält. Irgendwann wird eine Videokamera eingebaut werden müssen, mit Sendeeinrichtung. Dann erst ist er perfekt.«

»Spinner«, murmelte Nicole. »Ausgerechnet ein Alligator, und dann

auch noch mich damit zu erschrecken . . .«

»Wer weiß, wozu das Vieh einmal von Nutzen ist«, sagte Tendyke. Er

funkte wieder Steuerbefehle. Der künstliche Alligator wandte sich ab

und trottete dorthin zurück, von wo er gekommen war.

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Tendyke war bis an den Beckenrand getreten. Nicole wartete, bis der

Alligator außer Sicht war und Tendyke die Fernsteuerung abschaltete. Dann packte sie zu und warf den Abenteurer mitsamt dem Gerät in den

Pool.

»Zeige mir, wo sich der Träger jenes Amuletts befindet«, murmelte Leo­nardo deMontagne. Er beugte sich über die Silberscheibe. Seine Finger­spitzen berührten einige der eigenartigen Symbole. Dämonische Kraft sprühte aus ihnen hervor und zwang das Amulett zum Gehorsam, löste

die gewünschte Funktion aus.

Oder wenigstens teilweise.

So, wie er mit Zamorras Amulett seinerzeit hatte umgehen können, konnte er es hier nicht. Er mußte seine Anweisungen auf umständliche­re Art erteilen, mußte Barrieren umschiffen und Ersatzfunktionen »vor­schalten«. Es war etwa so, als wollte er eigentlich kopfrechnend mehr­stellige Zahlen miteinander malnehmen, müsse sie in Wirklichkeit aber

in langen Kolonnen umständlich schriftlich zusammenzählen, bis er das

gewünschte Resultat erreichte . . .

Es dauerte eine Weile, bis das Amulett »begriff«, was von ihm verlangt wurde. Er verstand das nicht. Vor ein paar Stunden hatte ihm die Stim­me – die von Eysenbeiß? War er es wirklich? – noch erklärt, sie könne

ihn dorthin führen. Und jetzt schien das Amulett absolut begriffsstutzig

geworden zu sein.

Aber dann spürte er langsam Resonanz.

Da war etwas. Ein bekannter Eindruck. Ein Amulett? Vage nur nahm

er es wahr, verwaschen und von tausend anderen Impulsen überlagert. Nun – es gab Milliarden Menschen auf der Erde. Daraus einen herauszu­fischen, der ein Amulett besaß und nicht mit Professor Zamorra identisch

war, mußte zwangsläufig schwer sein. Leonardo wunderte sich ohnehin, daß er nicht Zamorra aufspürte, dessen Amulett doch viel stärker strah­len mußte als alle andern – wenn man die Aura als Strahlung bezeichnen

mochte, dieses seltsame, unerklärliche Fluidum, das zu orten er sein ei­genes Amulett zwang. Denn Zamorras Amulett war das siebte, das end­gültig perfekte, das Haupt des Siebengestirns. Erst mit ihm war Merlin

endlich zufrieden gewesen. Alle anderen waren schwächer, und der alte

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Zauberer hatte immer wieder einen neuen, verbesserten Versuch gest­artet . . .

Leonardo deMontagne bemühte sich, den Eindruck zu vertiefen, den

er wahrnahm. Er versuchte, die Umgebung des angepeilten Objektes

darzustellen. Aber es fiel ihm schwer.

Erst nach vielen Stunden erkannte er eine Stadt. Er versuchte Stra­ßenschilder zu lesen, aus Äußerungen von Menschen den Stadtnamen, die Region, zu erkennen. Tageszeitungen mochten etwas darüber verra­ten . . .

Aber Leonardos Kraft ließ rapide nach.

Er spürte, wie er sich verausgabte, als er das Amulett mit einer dämo­nischen Kraft fütterte, die es rasch verbrauchte. Und schließlich mußte

er pausieren, mußte den Kontakt vorübergehend abbrechen.

Ehe er erschöpft über der Silberscheibe einschlief, glaubte er die Stim­me zu hören, die ihm unter den schon fast gewohnten spöttischen Lachen

mitteilte, so etwa sehe es aus, wenn er sich nur auf seine eigene Kraft und Fähigkeiten verließe, ohne die direkte Unterstürzung jenes Geist­wesens, das im Amulett integriert war und zu nichts gezwungen werden

konnte . . .

Bitte mich höflich, und ich werde mir überlegen, mit welcher Intensität ich dich unterstützen und deinen Versuch, das andere Amulett anzupei­len, fördern werde . . .

Er kam nicht einmal mehr zu einer bitteren Verwünschung, als die

Müdigkeit und Erschöpfung ihn übermannte . . .

Yves Cascal hatte seine kleine Kellerwohnung seit über vierundzwanzig

Stunden nicht mehr betreten. Seinen Geschwistern hatte er eine Nach­richt zukommen lassen, daß sie sich keine Sorgen um ihn machen sollten. Es kam öfters vor, daß er für ein paar Tage verschwunden war.

Einen großen Teil der hellen Tagesstunden hatte er in einem seiner

Verstecke verschlafen, die nur ihm bekannt waren. Selbst der Mann, der

sich als einziger rühmen durfte, von Cascal Freund genannt zu werden, kannte diese Verstecke nicht. Wenn Cascal nicht wollte, daß ihn jemand

fand, blieb der Schatten unauffindbar.

Immer wieder lauschte er in sich hinein.

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Page 35: Schrei, wenn der Dämon kommt

Die Unruhe blieb, aber sie war in den Stunden nicht stärker gewor­den. Er versuchte, sich selbst zu erforschen; es war fast dasselbe Gefühl wie neulich, als es ihn zu dem Zusammentreffen mit dem Unheimlichen

hinzog. Doch diesmal fühlte Cascal sich nicht von Baton Rouge fort gezogen.

Alles blieb stabil. Hin und wieder betrachtete er die Silberscheibe. Aber sie reagierte

nicht wieder so wie in den letzten Morgenstunden. Er hätte viel darum

gegeben, wenn er das Geheimnis dieses Amuletts hätte enträtseln kön­nen. Die Unsicherheit machte ihn nervös. Was würde es diesmal für eine

Begegnung sein, die ihm bevorstand? Würde sie ähnlich aufregend und

gefährlich verlaufen wie jene kürzlich? Er war nicht sicher, ob das wirk­lich das Leben war, das er führen wollte. Bisher hatte er sich zu seiner

Zufriedenheit durchschlagen können. Lebensgefahr gehörte nicht unbe­dingt dazu. Der Schatten bemühte sich, größeren Fischen nicht in den

Weg zu schwimmen, und so wurde auch er in Ruhe gelassen. Er agierte

in einer Grauzone. Aber wenn das Amulett seine Zukunft bestimmen sollte – und danach

sah es wohl aus – konnte sich das ändern. Jene Schießerei im Sumpfwald, den Ben Clastowe das Leben kostete, die brennende Gestalt, das flam­mende, gleißende Amulett und sein Gegenstück vor der Brust des Un­heimlichen . . . das deutete auf gewalttätige Auseinandersetzungen hin. Denen war Cascal so weit wie möglich aus dem Weg gegangen. Er

war ein Kung-Fu-Schüler erster Klasse und hatte auch ein paar andere

asiatische Kampfsportarten kennengelernt, so daß er sich waffenlos sehr

gut zu helfen wußte und andere dadurch irritierte, indem er die unter­schiedlichen Kampftechniken miteinander variierte. Aber wenn es eben

machbar war, ging er den Kämpfen aus dem Weg. Lieber feige als tot . . . Aber er wollte das Amulett auch nicht wieder aufgeben. Seit er es

besaß, hatte er mehr Glück als früher. Aber hatte nicht alles seinen Preis . . . ?

Irgendwann, als der Abend kam, glaubte er plötzlich zu erblinden. Von

einem Moment zum anderen sah er seine Umgebung nicht mehr. Das

Amulett glühte heiß vor seiner Brust, versetzte ihm einen Stich. Er sah in

einer unergründlichen Schwärze eine große Gestalt, in der er jenen Un­heimlichen von der Sumpfwaldlichtung wiederzuerkennen glaubte. Eine

bösartige Drohung ging von der Gestalt aus.

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Dann verblaßte sie wieder, und Cascals Sehvermögen kehrte zurück. Er hockte sich auf eine halbmeterhohe Hafenmauer. »Zum Teufel«,

murmelte er. Das Gefühl der Bedrohung blieb. Das Amulett erkaltete allmählich wie­

der. Cascal tastete nach der Haut. Aber sie zeigte keine Verbrennungs­erscheinungen. »Was war das bloß?«

Aber das Amulett war ein Stück Metall. Es konnte ihm nicht antworten. Yves Cascal erhob sich wieder. Es wurde Zeit, einen Rundgang durch

die abendlichen Seitenstraßen zu machen. Vielleicht ergab sich wieder

einmal eine günstige Gelegenheit, an Geld zu kommen. Das Gefühl einer sich nähernden Gefahr wollte geraume Zeit nicht

mehr weichen und ließ ihn vorsichtiger sein als sonst. Seine Wachsam­keit hinderte ihn daran, etwas zu unternehmen, und langsam bildete sich

ein gesunder Ärger in ihm. Aber dann endlich, nach Stunden, brach die

Empfindung jäh ab. Das Amulett fühlte sich metallisch kalt an . . .

Irgendwo, unendlich weit entfernt, vielleicht aber auch sehr nah, tankte

eine unbegreifliche Macht Energie. Jedesmal, wenn die Amulette benutzt wurden, war dies der Fall. Ihre

freigesetzten Energien wurden in einer anderen Dimension gespiegelt. Am Ziel wurden sie in unveränderter Stärke wirksam, aber zugleich als

Spiegelung dort aufgesogen, wo jene Macht begierig ihrer harrte und

dadurch stärker wurde. Je öfter die Amulette benutzt wurden, desto stärker wurde die Macht

im Laufe der Zeit. Doch noch zeigte sie sich nicht. Noch war ihre Zeit nicht gekommen. Fast niemand ahnte überhaupt, daß es diese Macht gab. Nur Merlin wußte davon. Merlin hatte gewarnt. Doch seine Warnungen waren in den Wind ge­

schlagen worden. Die Amulette wurden benutzt. Immer wieder. Und bei jedem Benutzen erstarkte jene unbegreifliche, unerklärliche

Macht, und bei jedem Benutzen wuchs das Verlangen eines Amulett-Be­

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sitzers unmerklich, es wieder und wieder einzusetzen. Die Macht profi­tierte davon . . . irgendwo in den Tiefen des Universums. Es gab nur zwei Amulette, die der Macht keine Energie lieferten . . .

»Ich hasse dieses sündhaft frühe Aufstehen«, stellte Professor Zamorra

trocken fest. »Man sollte es generell verbieten.«

Umständlich ließ er sich am Frühstückstisch nieder. Nicole war noch

im Gästezimmer geblieben; sie war sauer auf Tendyke wegen des künst­lichen Alligators und zog es vor, noch ein wenig zu schlafen. Rob Ten­dyke nahm es zur Kenntnis. Grinsend sah er Zamorra an. »Rede keinen

Quatsch. Du pendelst so oft zwischen den Zeitzonen hin und her, daß es

absolut keine Rolle spielt, welche Ortszeit gerade gültig ist. Außerdem –

wenn du es nach MEZ berechnest, ist es . . .«

»Sündhaft früher Morgen«, unterbrach Zamorra. »Du hast wohl ge­rade in die verkehrte Richtung gerechnet. Frankreich liegt im Osten, sechs Stunden weit entfernt. Außerdem geht es mir ums Prinzip. Es ist mir egal, welche Ortszeit gerade gilt. Ich hasse das frühe Aufstehen zu

jeder Tageszeit.«

»Hm«, machte der Abenteurer. »Dabei wirst du auf dem Weg nach

Baton Rouge noch eine weitere Stunde gewinnen. Wir überfliegen eine

Zeitzonengrenze.«

»Auch das noch«, murmelte Zamorra. »Was ist das nur für ein Land, in

dem fünf verschiedene Zeiten gelten? Früher, als all dieses weite Land

noch den Indianern gehörte, hat man sich nicht darum gekümmert. Aber

dann kam der weiße Mann . . .«

»Ich sehe, es geht dir schon wieder sehr gut«, stellte Tendyke fest. »Stipp endlich dein Brötchen in den Kaffee. Es wird allmählich Zeit, daß

wir starten. Was ist mit Nicole?«

»Bleibt hier und wird deinen Damen wohl Gesellschaft leisten. Hof­fentlich hecken sie nicht irgend etwas gegen uns Männer aus.«

»Scarth wird schon auf sie aufpassen. Außerdem habe ich Chang an­gewiesen, ihnen eine Hungerkur zu verordnen, falls sie sich mausig ma­chen.«

»Chang?« Zamorra hob die Brauen. »Ist das nicht . . . ?«

»Er ist. Der dschungelerprobte chinesische Expeditionskoch, der kein

›R‹ aussprechen kann. Nachdem die Peru-Expedition aufgelöst wurde,

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hatte er keinen Job mehr, und da habe ich ihn eingestellt. Jetzt sucht er

nach Rezepten, wie man Alligator kocht und brät.«

»Besser das als seine Schlangenrezepte«, murmelte Zamorra. Bei frü­heren archäologischen Expeditionen hatte Chang die anderen zur Ver­zweiflung getrieben, wenn er unter Beweis stellte, daß er weit über fünf­zig verschiedene Arten beherrschte, diverse Schlangen zuzubereiten, die

in der Umgebung des jeweiligen Camps frisch gefangen wurden . . .

Eine halbe Stunde später räumte Scarth ab. Tendyke verließ das Eß­zimmer und kehrte wenig später mit einer Smith & Wesson-Pistole zu­rück, die er samt einigen Ersatzmagazinen vor Zamorra auf den Tisch

legte.

»Was soll ich damit?« wollte Zamorra wissen.

»Dich deiner Haut wehren, falls dir jemand an den Kragen geht«, sag­te Tendyke. »Oder willst du ernsthaft ›nackt‹ durch die Unterwelt von

Baton Rouge streifen?«

Zamorra verzog das Gesicht. Er hatte sich den Gebrauch von Schuß­waffen schon vor geraumer Zeit abgewöhnt. Man konnte nur zu leicht Unheil damit anrichten. Vorsichtshalber hatte er sogar die Laserwaffe in

Frankreich gelassen, die er vor einiger Zeit einem Agenten der DYNA­STIE DER EWIGEN abgenommen hatte. Nicht nur der Flugzeugkontrol­len wegen, sondern überhaupt . . . Er war zu der Überzeugung gelangt, daß jemand, der eine Waffe besitzt, diese irgendwann auch anwendet.

Ihm reichten seine magischen Waffen gegen die dämonischen und

schwarzblütigen Kreaturen. Das Amulett wirkte nicht gegen »normale«

Menschen, konnte ihnen nicht schaden. Damit war Zamorra zufrieden. Sollte er einmal mit diesen Instrumenten nicht auskommen, pflegte er

sich mit Verstand und Witz aus der Affäre zu ziehen.

»Behalte die Zimmerflak«, sagte er. »Ich komme auch so zurecht. Die

uniformierten Polizisten, die Bobbys in England, tragen keine Schußwaf­fen und werden trotzdem von der Unterwelt respektiert; wer auf einen

Bobby schießt, wird von seinen eigenen Leuten geächtet. Und auf die­sem Kontinent hier war es früher auch höchst unfein, auf einen Unbe­waffneten zu schießen. Ich hoffe, daß sich doch ein wenig von diesem

alten Pioniergeist des Wilden Westens in die Gegenwart gerettet hat. Ich

verstehe euch Amerikaner ohnehin nicht. Hier kann jeder hingehen und

sich eine Waffe kaufen, Pistole, Gewehr, Maschinengewehr bis hin zur

leichten Flak. Wozu braucht ihr den Kram eigentlich? Um euch stärker

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zu fühlen? Das ist doch ein Witz, wenn auch der Nachbar ’ne Kanone

hat.«

»Es ist ein freies Land, in dem jeder Bürger das Recht hat, eine Waffe

zu tragen«, sagte Tendyke. »Es ist ein Stück Freiheit. Das müßtest du

doch wissen, immerhin hat du unter anderem auch einen amerikanischen

Paß, oder?«

»Du bist ziemlich gut unterrichtet«, gestand Zamorra, der früher lange

Zeit in den USA gelebt hatte, ehe er sein Erbe in Frankreich antrat. »Aber in den Ländern Europas gibt es auch Freiheit, ohne daß jeder mit ’nem Schießeisen in der Tasche herumläuft.«

»Weißt du was? Wenn wir durch die Slums ziehen und durch dunkle

Gassen kommen, hängst du dir am besten ein Schild um den Hals, an

dem dein Anti-Schußwaffen-Vortrag niedergeschrieben ist. Und dann be­test du am besten, daß dein Gegenüber auch lesen kann.«

Er legte Zamorra die Hand auf die Schulter. »Komm, wir fahren los. Ich habe ein Flugzeug gechartert, das uns nach Baton Rouge bringt.«

»Sollten wir uns nicht erst noch von den Zwillingen verabschieden?«

fragte Zamorra und stand ebenfalls auf. »Die schlafen noch tief und fest, nehme ich an. Komm, auf geht’s . . .«

Wenig später waren sie unterwegs. Eine zweimotorige Maschine

brachte sie vom Miami-Airport zum Flughafen im Norden von Baton Rou­ge. Unter ihnen erstreckte sich zuerst die wilde Sumpf- und Waldland­schaft der Everglades, die nur von einigen schnurgeraden, auf hohen

Dämmen gebauten Straßen durchschnitten wurde und in der hier und da

kleine Schlangen- und Alligatorfarmen existierten. Dann kam die silbern

gleißende Wasserfläche des Golfes von Mexiko, die das Flugzeug schräg

überquerte, um Louisiana anzusteuern. Ein Touristendampfer zog weit draußen ein langes Kielwasser-Dreieck hinter sich her. Weiter draußen

glitzerten kaum erkennbare Punkte; Öltanker von der texanischen Küste. »Hast du deinen Pilotenschein eigentlich noch?« fragte Tendyke zwi­

schendurch. Zamorra schüttelte den Kopf. »Er wurde nicht verlängert«, sagte er.

»Ich konnte die pro Jahr verlangten Mindestflugstunden nicht mehr

nachweisen, also hat man mir keinen Stempel mehr gegeben. Aber not­falls pilotiere ich diesen Vogel noch, in dem wir hier sitzen. So etwas

verlernt man nicht so schnell.«

»Es sei denn, das Cockpit wird mit immer neuerer Elektronik vollge­stopft«, grinste der Abenteurer. »In manche Kisten traue ich mich selbst

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schon gar nicht mehr hinein, weil ich mit der Supertechnik nicht mehr

klarkomme. Am liebsten wäre mir so ein alter Doppeldecker, offen, wie

ihn euer Baron Münchhausen hatte.«

»Richthofen«, murmelte Zamorra. »Außerdem war das ein Deutscher.«

»Auf jeden Fall hatte er so ein wunderschönes fliegendes Draht- und

Sperrholzgestell. So macht Fliegen noch richtig Spaß.«

»Vor allem das Landen bei Nebel«, gab Zamorra zurück. »Hat dein

Informant dir eigentlich verraten, wo wir diesen Monsieur Ombre finden

können?«

»Nein. Wir werden ihn suchen müssen. Aber das dürfte nicht sehr

schwer sein. Baton Rouge ist klein. Hat nur etwa 170 000 Einwohner . . .«

»Nur«, ächzte Zamorra. »Worauf habe ich mich da eingelassen, Mann?«

Leonardo deMontagne gönnte sich nur wenig Ruhe. Er achtete nicht auf die Zeit. Kaum daß er aus seinem Erschöpfungsschlaf wieder erwacht war, setzte er das Amulett erneut ein. Er dachte nicht daran, der Stimme aus der Silberscheibe den Gefallen

zu tun, sie höflich zu bitten. Wenn es sich dabei wirklich um die geistige

Essenz des Magnus Eysenbeiß handelte, wäre diese Bitte eine Selbst­erniedrigung gewesen, die Leonardos Stolz und Haß nicht verkraften

konnte. Er wollte es so schaffen, so schwierig es auch sein mochte. Der Hin­

weis auf das fremde Amulett reichte ihm schon. Der Besitzer dieses anderen Amulettes konnte sich überall auf der Welt

aufhalten. Bei Zamorra war es ja ebenso. Heute war er hier, morgen dort zu finden. Wer ihn aufspüren wollte, mußte flexibel sein. Aber Zamorra war ein recht einmaliger Mensch. Es mochte sein, daß

der andere Amulettträger ein vollkommen unterschiedlicher Typ war. Je

intensiver Leonardo darüber nachdachte, desto stärker wurde seine Ver­mutung, daß es sich um einen recht seßhaften Menschen handeln mußte. Denn sonst wäre er sicher schon irgendwo auf der Welt aufgefallen . . . Leonardo übersah in seiner Nervosität, daß es auch anders sein konn­

te. Nicht jeder Träger eines Amuletts – oder gar deren mehrerer, wie

Sid Amos in aller Heimlichkeit – produzierte sich damit in der Öffentlich­keit . . .

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In Louisiana waren sie damals aufeinandergeprallt, nördlich von Baton

Rouge. Wahrscheinlich lebte dieser Fremde irgendwo in jener Gegend. Also war es ratsam, dort mit der Suche zu beginnen. Leonardo schalt sich einen Narren, daß er nicht von Anfang an daran gedacht hatte. Aber

wahrscheinlich war er zu sehr auf die Bemerkung fixiert gewesen, daß

jener Geist in seinem Amulett ihm den Weg zeigen würde. Darauf hatte

er sich verlassen, was ein Fehler gewesen war.

Erschöpfung war das einzige, was es ihm eingebracht hatte. Diesmal wollte er es anders versuchen.

Vielleicht sollte er Vassago bemühen? Jenen Dämon, der zwischen Gut und Böse stand und hoffte, eines Tages erhöht zu werden? Seine Kräfte

konnte jeder beschwören, der die Formeln kannte; Vassagos Zauber war

nicht an Schwarze oder Weiße Magie gebunden. Ein Gefäß mit Wasser, die Beschwörung . . . und Vassago würde in der Wassertiefe dem Zaube­rer zeigen, was er zu sehen wünschte . . .

Aber dann schüttelte Leonardo den Kopf. Es war nicht gut. Je weniger

andere von dem wußten, was er tat, desto besser war es.

Er verließ die Hölle und versetzte sich dorthin, wo er damals mit dem

Fremden zusammengetroffen war. Der Fürst der Finsternis erschien auf der Erde. Auf jener Lichtung, wo er Wang Lee Chan tötete . . .

Und die Schlange packte zu und schlug ihre Giftzähne durch das Stie­felleder in sein linkes Bein . . .

Yves Cascal sah die gesichtslose Gestalt. Ein Mann, der ein Amulett in

der Hand hielt. Seines – oder ein anderes? Er wußte es nicht. Er sah

nur, wie der Fremde, dessen Gesicht ein wesenloser Schatten blieb, ein

grauer Fleck ohne Umrisse, ohne Augen, Mund und Nase, die Hände aus­streckte, nach Cascals Hals griff. Er hatte plötzlich sehr viele Hände. Er

entriß Cascal sein Amulett, führte es an das fremde heran, und die bei­den Silberscheiben verschmolzen miteinander. Dann tötete der Fremde

Cascal . . .

Mit einem Schrei wachte Yves auf.

Er sah sich um. Er war allein. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, daß er

gerade eine Stunde, vielleicht etwas mehr, geschlafen haben konnte.

Es war keine gute Nacht gewesen. Er hatte keinen Erfolg bei seinen

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Streifzügen gehabt. Als der Morgen kam und Yves sich zurückzog, war

er verärgert und todmüde gewesen.

Es verdroß ihn, daß plötzlich ein paar Dinge nicht mehr so funktionier­ten wie bisher. Und dann dieses warnende Gefühl, das seinen Ursprung

in dem Amulett hatte . . .

Es war dämmerig in der kleinen Hütte weit draußen vor der Stadt, in

die er sich zurückgezogen hatte. Durch ein paar Ritzen in der Bretter-wand drang Tageslicht. Vielleicht wußte längst niemand mehr, daß es

diese Hütte gab. Vor hundertzwanzig oder mehr Jahren sollte sie einmal ein Unterschlupf für entlaufene Sklaven gewesen sein, die sich hier vor

den Bluthund-Streifen der Weißen verbargen. Ein fast undurchdringli­ches Dickicht umgab die verfallene Hütte mit den moderigen, teilweise

verfaulten Brettern. Man brauchte sich nur dagegen zu lehnen, und sie

zerbrachen. Kein Weg führte hierher. Vielleicht fanden alle paar Jahre

einmal spielende Kinder diesen Platz, vielleicht auch nicht.

Cascal kannte einen Schleichweg in sein Versteck. Der führte durch

die Äste und das dichte Laub hoher Bäume. Wie im Tarzanfilm mußte

man sich hier an Seilen von Ast zu Ast und von Baum zu Baum schwin­gen, um die Hütte zu erreichen. Die Seile waren gut versteckt und nicht auf Anhieb zu sehen. Aber selbst, wenn jemand sie fand – wer würde

schon daran denken, wozu sie wirklich dienten?

Wenn es einen Ort gab, an dem sich der Schatten wirklich sicher fühl­te, dann war es dieser. Schon als Kind hatte er sich manchmal hierher

verkrochen, wenn er allein sein wollte.

Er hatte auch noch andere Verstecke, die er in regelmäßigen Abstän­den aufsuchte. Niemand fand ihn, wenn er es nicht wollte.

Aber dieser Alptraum hatte ihn gefunden.

Er hatte schon lange keine Alpträume mehr gehabt. Warum jetzt? Es

hing mit dieser Warnung zusammen.

Sollte der Fremde in der Nähe sein? Kam er heute zurück? Suchte er

jetzt nach Yves Cascal mit seinen unbegreiflichen Mitteln?

»Verdammt. Zeige ihn mir, wenn er hier ist«, flüsterte Cascal.

Aber das Amulett reagierte nicht.

Der Neger trat an die Tür der Hütte und schob sie einen Spaltweit auf. Er lauschte. In der Ferne hörte er die Geräusche der Stadt. Nicht weit entfernt machte sich der Mississippi bemerkbar. Es roch nach Fluß. Grillen zirpten. Ein paar Vögel schrien wechselweise, unterhielten sich

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scheinbar. Zweige knackten unter den Pfoten kleiner Tiere. Laub raschel­te. Aber nirgendwo waren vorsichtige Schritte eines Wesens, das sich der

Hütte näherte. Nirgendwo versuchte jemand, das Dickicht ringsum zu

durchbrechen. Cascal schloß die Tür wieder. Er lehnte sich an die Wand und schloß

die Augen. Er sah einen Kopf. Er konnte nicht erkennen, ob es der eines Fremden

war oder eines Menschen, den er kannte. Es schien ein Mann zu sein. Der

Kopf und eine Hand ragten aus dem Erdreich. Jemand hatte den Mann

eingegraben – lebendig eingegraben. Die Augen waren weit aufgerissen, bewegten sich. Die Finger der Hand krümmten sich, versuchten, die Er­de zu berühren, fortzukratzen. Ein Blutfaden rann aus dem Mundwinkel des Mannes. Im nächsten Moment war das Bild verschwunden. Yves sah wieder das dämmerige Innere der Hütte vor sich. »Zum Teufel, jetzt träume ich schon im Wachzustand«, murmelte er.

»Aber was hat das für einen Zusammenhang? Diesmal war kein Amulett im Spiel, auch der unheimliche Fremde nicht . . .«

Oder . . . oder? Zeigte sich hier nur etwas, was der Fremde vielleicht getan hatte oder noch tim würde?

Yves Cascal seufzte. »Dabei will ich doch nichts anderes als meine

Ruhe haben«, stöhnte er und ließ sich auf sein Lager aus alten Decken

sinken. »Himmel, was geht mit mir vor?« Er umklammerte das Amulett. Aber die Beruhigung, die er sich erhofft hatte, trat nicht ein. Er legte sich flach und versuchte wieder einzuschlafen. Er war müde.

Aber der Schlaf wollte nicht mehr kommen . . .

Leonardo deMontagne zuckte zusammen. Er beugte sich leicht vor und

sah nach unten. Die Giftschlange hatte sich mit den Zähnen im Stiefel­schaft des Dämons verfangen und konnte sich nicht wieder befreien. Der Fürst der Finsternis grinste. »Aber doch nicht so, mein Kleines«, krächzte er rauh. »Ich bin für dich

keine Beute. Ich bin wohl ein bißchen zu groß, wie?«

Er bückte sich blitzschnell, packte die Schlange direkt hinter dem Kopf und löste das sich windende Reptil aus dem Stiefelschaft. Die Schwarz­

43

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rassel bewegte sich heftig klappernd. Der Schlangenleib wand sich blitz­schnell um den Arm des Dämons, der das Reptil hochhob und betrachte­te.

»Wärest du eine Kobra, würde ich fast glauben, Ssacahs Brut wäre zur

Erde zurückgekehrt«, sagte der Fürst der Finsternis. »Aber Ssacah und

seine Ableger befinden sich jetzt auf einer anderen Welt.«

Die gespaltene Zunge der Klapperschlange pendelte vor Leonardos

Gesicht hin und her. Die Giftzähne waren trocken; die tödliche Flüssig­keit war in das Bein des Dämons gespritzt worden.

Aber auf diese Weise ließ sich ein Dämon seiner Art nicht umbringen. Sein Körper neutralisierte das Gift bereits. Es schwächte ihn nicht ein­mal vorübergehend.

»Was fange ich jetzt mit dir an?« überlegte Leonardo.

Seine andere Hand strich rasch über den Schlangenleib. Funken

sprühten. Wie unter elektrischen Schlägen zuckte die Klapperschlange, löste ihre Umschlingung um Leonardos Arm. Rasch öffnete er seinen Dä­monenschlund – und stopfte die Giftschlange hinein. Zwei, drei schnelle

Schluckbewegungen, und das Reptil war verschwunden.

Der Dämon lachte.

»Sieh zu, meine Liebe, daß du so schnell wie möglich wieder Gift er­zeugst. Wir könnten es schon bald gebrauchen . . .«

Dann sah er sich auf der Lichtung um. Nichts hatte sich verändert – au­ßer daß der verkohlte Leichnam des abtrünnigen Mongolen verschwun­den war. Man hatte ihn fortgeschafft. Aber der Brandfleck war noch da, und auch der umgestürzte Baumstamm, auf dem Wang Lee und das Mäd­chen gesessen hatten, als Leonardo eintraf und sie angriff.

Er griff unter sein Wams und zog sein Amulett hervor. Ruhig glitten

seine Finger über die seltsamen, unentzifferbaren Schriftzeichen. Leo­nardo begann die Silberscheibe zu aktivieren und in Tätigkeit zu setzen. Seine Gedanken hämmerten die Befehlsimpulse hinein.

Wenn er angenommen hatte, die Stimme würde wieder reagieren, sah

er sich getäuscht. Der Geist im Amulett meldete sich nicht.

Auf dem Baumstamm sitzend, versank der Dämon in Trance und be­gann, über sein Amulett wieder die suchenden »Radarstrahlen« auszu­senden, mit denen er die andere Zauberscheibe zu finden hoffte . . .

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»Und wie belieben der Herr nun vorzugehen?« erkundigte sich Zamor­ra. Nach der Landung hatten sie einen Mietwagen übernommen, den

Tendyke schon von Miami aus telefonisch hatte reservieren lassen. Ein

geschlossener Ford Bronco, geländegängig, mit Klimaanlage, Funk und

extrem breiten Reifen sowie einem durchzugkräftigen, starken Motor. Zamorra fühlte sich auf dem Beifahrersitz des relativ hohen Wagens fast wie in einem Lastwagen. Er zog flache, schnelle Limousinen und Sport­wagen vor. Geländewagen wie dieser waren nicht unbedingt sein Fall. Er hatte zwar selbst vor langer Zeit mal einen Renault Rodeo besessen, aber das war ein recht kleines Gefährt. Der Ford Bronco war dagegen

ein riesiger Klotz.

»Laß bloß die Fenster zu«, warnte Tendyke, als Zamorra seine Tür­scheibe nach unten surren lassen wollte. »Wir haben schließlich ’ne Kli­maanlage. Wenn du ein- und aussteigst, mach schnell. Ansonsten haben

wir nämlich innerhalb weniger Augenblicke die prachtvollste Mücken­plage hier drinnen . . .«

Zamorra nickte. »Aber wenn wir aussteigen müssen, kriegen wir die

Mückenstiche trotzdem.«

»Ich habe mit den Biestern einen Nichtangriffspakt«, behauptete Ten­dyke. »Aber im Ernst, Professor. Draußen kannst du um dich schlagen. Hier im Wagen ist das weniger gut, vor allem während der Fahrt. Al­so . . .«

»Okay«, dehnte Zamorra und versuchte, den Südstaaten-Slang nach­zuahmen. Tendyke grinste.

»Wir fahren erst mal zum Hafen«, sagte er. »Dort sehen wir uns ein

wenig um. Inzwischen dürften die ersten Pubs schon wieder zum Früh­schoppen geöffnet haben. Vielleicht gibt uns jemand einen Tip, wo wir

Monsieur Ombre, den Schatten, finden können.«

»Hoffen wir’s«, sagte Zamorra wenig überzeugt.

Er war nicht hundertprozentig sicher, ob nicht doch dämonische Kräfte

am Werk waren, wenigstens aber Schwarze Magie. Sein Amulett hatte

vorhin, kurz nach der Landung, einmal schwach angesprochen. Aber ehe

er sich darum kümmern konnte, war die Reaktion bereits wieder vorbei, und er konnte nicht mehr feststellen, was das Amulett erkannt hatte.

Auf Tendykes Anraten hin hatte er auf sein »Markenzeichen«, den wei­ßen Leinenanzug, verzichtet und sich in Jeans und ein buntes Hemd ge­worfen. Der Abenteurer hatte ihm die Sachen zur Verfügung gestellt.

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Zamorra wunderte sich darüber. »Man sieht dich doch grundsätzlich nur

in Leder. Wie kommst du an diese Klamotten?«

»Lag im Kleiderschrank rum«, war die Antwort. Er hatte Zamorra noch

einen breitrandigen Strohhut auf den Kopf gestülpt und glaubte, ihn da­mit passend ausstaffiert zu haben. Immerhin schützte die breite Krempe

vor der heißen Sonnenstrahlung. Tendyke selbst trug wieder die weichen

Stiefel, Lederjeans und ledernes Fransenhemd; die Gürtelschnalle wur­de von einem großen Rebellenflaggenmotiv geziert. Am Gürtel hing ein

schmales Holster, darin steckte die Pistole, die Zamorra verschmähte. Zamorra war sicher, daß sein Amulett ausreichte, das er unter dem of­fenen Hemd vor der Brust trug. Es war nur zum Teil verdeckt. Zamorra

hoffte, daß niemand auf dumme Gedanken kam und es ihm abzunehmen

versuchte. Er hätte es zwar mit einem einzigen Gedankenbefehl sofort zurückrufen können, aber derlei Aktionen gingen selten ohne Gewaltan­wendung ab . . .

Tendyke startete den Motor des Geländewagens und gab Gas. Das bul­lige Fahrzeug machte einen Satz vorwärts.

Zamorra war gespannt, ob sie anhand der vagen Andeutungen diesen

Mann namens Ombre tatsächlich finden würden . . .

Leonardo deMontagne empfand ein leichtes Ziehen. Es zog ihn in nörd­liche Richtung, einem schwachen Magneten nicht unähnlich. Sollte dort sein Ziel liegen?

Er richtete sich langsam auf. Er hatte alles versucht, aber mehr konn­te er nicht feststellen, ohne um Unterstützung bitten zu müssen. Er ver­wünschte die Schwäche dieses Amuletts. Er war Besseres gewohnt. Aber

es war schon ganz gut, daß es überhaupt arbeitete.

Nun, wenn der darin steckende Geist ihm so nicht helfen wollte, kam

Leonardo auch aus eigener Kraft zurecht.

Norden also. Leider konnte er die Entfernung nicht feststellen, die

er zurückzulegen hatte. Aber es würden schon keine tausend Kilometer

sein. Da er überhaupt etwas spüren konnte, würde das andere Amulett in relativer Nähe sein.

Er brauchte sich also erst einmal nur in Richtung Norden zu bewegen. Dann würde das Bild wohl schon deutlicher werden. Vermutlich war er

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einfach noch zu weit entfernt. Es war ohnehin schon erstaunlich, daß ein

Amulett das andere anpeilen konnte – wenigstens annähernd. Leonardo deMontagne verformte sich. Er nahm eine andere Gestalt

an. Die eines großen Vogels, dessen Äußeres seiner Fantasie entsprach. Er wußte nicht, welche Vogelarten hier heimisch waren, und so war die

Gestalt willkürlich gewählt. Sein wehender Mantel verschmolz mit den

Armen zu großen, kräftigen Flügeln, und mit wildem Schlag der Schwin­gen erhob der Dämon sich in die Luft. Ein riesiger schwarzer Raubvogel strich nach Norden. Einige Men­

schen auf den Straßen und kleinen Ansiedlungen, die er überflog, sahen

ihn am Himmel und erschauerten. Dieser riesige Vogel war das personi­fizierte Böse . . .

Der Mississippi war ein breiter Strom, der in einer Breite von annähernd

einem Kilometer an Baton Rouge vorbei zog. Ruhig bewegten sich die

Fluten. Ein seltsamer Glanz lag auf der grauen, gewellten Fläche, wo

das Sonnenlicht sich spiegelte. Große Schiffe befanden sich auf dem

Strom, andere lagen im Hafen. Vorwiegend Frachter und Schleppzüge, aber auch ein paar weiße Vergnügungsdampfer waren zu sehen, im al­ten Western-Stil mit den riesigen Schaufelrädern an den Seiten, von de­nen sie angetrieben wurden. Alles wirkte wie eine große Filmkulisse. Im

Hafen ragten die mächtigen Gitterkonstruktionen der Ladekräne auf. Si­gnalhörner röhrten, Motoren dröhnten und wummerten. Der Wind trug

Befehle und Schreie herüber, das Quietschen von Winden und das Kra­chen hart aufgesetzter Lasten. »Wenn du etwas genauer hinsiehst, erkennst du unter dem Glanz auch

das Elend«, sagte Tendyke. »Eine ganze Menge Elend sogar. Und kannst du dir vorstellen, daß dieser breite Strom im vorigen Jahr nur halb so

breit war? Das war in der großen Dürreperiode. Der Mississippi, der

sonst bis weit in den hohen Norden hinauf schiffbar ist, war ein totes

Rinnsal. Hier in Baton Rouge hörte alles schon auf. Weiter fuhren die

großen Frachter nicht mehr, weil sie sonst steckengeblieben wären. Eini­ge Transportunternehmer haben die erzwungenen Liegezeit nicht über­standen und mußten hochverschuldet aufgeben. Eine Menge der Lasten

konnte auf die Straße und die Schiene umgeschichtet werden, aber trotz­dem war überall der Teufel los.«

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»Unvorstellbar, wenn ich mir diesen breiten Strom ansehe«, sagte

Zamorra. »Sonst gibt’s doch hier immer Überschwemmungen en mas­se . . .«

»Richtig. Es ist noch gar nicht so lange her, daß man es endlich ge­schafft hat, den Mississippi einigermaßen zu zähmen. Aber auch die mo­dernen Deiche werden immer wieder mal unterspült und weggerissen, wenn man nicht aufpaßt.«

»Bei uns in Europa pflegte man in jeden Deich etwas Lebendiges ein­zubauen«, sagte Zamorra. »Der Aberglaube sagte, daß nur ein solcher

Deich halten würde. Fehlte das Lebendige, brach der Deich bald darauf. Gewissermaßen ein Blutopfer, um den Meeres- oder Flußgott zu besänf­tigen.«

Tendyke nickte. »Ich erinnere mich dumpf. Einer eurer großen Dichter

hat doch eine Gruselgeschichte draus gemacht, nicht? ›Der Schimmelrei­ter‹ . . .«

»Was sich so Gruselgeschichte nennt«, brummte Zamorra. »Außerdem

war das nicht einer unserer Dichter, sondern ein Deutscher.«

»Ist das ein Unterschied? Franzose oder Deutscher dürfte dasselbe

sein wie Floridaner und Texaner . . . es wird Zeit, daß ihr eure Grenzen

abbaut.«

Er lenkte den Geländewagen auf einen Parkplatz. »Ab hier schauen

wir uns mal um«, sagte er und stieg auf. Er drückte einem Halbindianer

einen halben Dollar in die Hand. Der faltengesichtige Parkplatzwächter

bezog den Ford Bronco daraufhin in seine Aufmerksamkeit mit ein. »Wie viele Lokale gibt es eigentlich, die wir zu durchforschen haben?«

»Pubs, kleine Hinterhofwerkstätten, Händler . . . ich schätze, insge­samt werden es schon ein paar hundert Anlaufadressen sein. Den Rot­lichtbezirk dürfen wir auch nicht vergessen . . . wenn wir Glück haben, erfahren wir ziemlich schnell, wo Ombre sich aufhält, wenn wir Pech

haben, suchen wir übermorgen noch.«

»Vielleicht sollten wir auf den Abend warten«, überlegte Zamorra. »Dann treffen wir mehr Leute. Wen hat dein Informant überhaupt ge­fragt?«

»Keine Ahnung. Irgend jemanden. Aber Namen sind ohnehin Schall und Rauch.«

»Ach, ja. Vielleicht auch der Name Ombre . . .«

»Dann versuch’s doch mit Hellsehen«, schlug Tendyke vor. Zamorra

schüttelte den Kopf. »Dafür bin ich nicht zuständig«, sagte er.

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Sie schlenderten über den Gehsteig. Eisengitter versperrten zu ebener

Erde Türen und Fenster. Lichtreklameschilder waren abgeschaltet. Za­morra konnte sich vorstellen, daß es bei Dunkelheit hier hoch her ging. Er schlug nach einer Stechmücke, die sich auf seinen linken Handrücken

setzen wollte. »Hier grenzt wohl eine Kneipe an die andere . . .«

»Und ein Billig-Hotel ans andere. Hier kriegst du noch Zimmer, wenn

überall sonst die Häuser ausgebucht sind, bloß schlafen kannst du da

nicht. Entweder ist es zu laut, oder du wirst bestohlen . . .«

»Reizend . . .«

Ein Dutzend Meter entfernt verprügelten zwei Halbwüchsige einen

barfüßigen Negerjungen. Als Zamorra drohend auf sie zu marschierte, ergriffen sie die Flucht. Der Geschlagene raffte sich auf, sah Zamorra

an, seine Augen wurden groß, und dann rannte er ebenfalls davon. Tendyke schüttelte den Kopf. »Es ist nicht gut, sich überall einzumischen«, sagte er. »So etwas kann

Ärger geben.«

Zamorra winkte ab. »Glaubst du, ich schaue zu, wenn jemand von Stär­keren zusammengeschlagen wird?«

»Vielleicht hat der Kleine die beiden anderen bestohlen . . .«

»Klar. Weil er Neger ist, wie?«

Tendyke faßte Zamorra am Arm und zwang ihn, sich halb zu drehen

und dem Abenteurer ins Gesicht zu sehen. »Wir sind beide weit genug herumgekommen, Zamorra«, sagte er.

»Wir haben uns beide schon auf dem Gala-Empfang und in den Slums

herumgetrieben und wissen, was uns an Glanz und Elend in der Welt erwartet. Wir können nichts daran ändern. Wir können die Reichen und

Mächtigen nicht arm machen, und wir können die Armen und Schwachen

nicht reich und glücklich werden lassen. Falls du auf die Idee kommst, hier Moralpredigten halten und Streetworker-Sozialarbeit machen zu

wollen – dann such dir jemanden, der dir zuhört und es dir glaubt. Aber

wir haben etwas anderes vor.«

»Wir können . . .«

»Stopp, Zamorra«, unterbrach Tendyke. »Es ist schön, sich um Schwa­che und Unterdrückte zu kümmern. Meinst du, mir hat die Szene vorhin

gefallen? Aber hier scheuchst du die beiden Bengel weg, und an der

nächsten Ecke haben sie den Schwarzen wieder in der Mangel. So etwas

muß man anders anpacken. Und dafür sind wir momentan nicht gerüstet. Okay? Wir suchen Ombre! Sonst nichts.«

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»Na schön. Trotzdem werde ich mir nicht vorschreiben lassen, was ich

zu tun und zu lassen habe«, brummte Zamorra. »Vielleicht hätten wir

den Jungen fragen sollen . . .«

»Wäre ’ne Idee gewesen . . . zu spät.«

Sie schritten weiter. Hier und da begegneten sie anderen Menschen

aller Hautfarben, die sich in Baton Rouge ein Stelldichein gaben. Vor ei­nem Haus wurde getanzt. Ein Casettenrecorder lieferte die Musik dazu. »Wie wird es hier erst am Abend sein?« überlegte Zamorra, »wenn sie

jetzt schon ausflippen . . .«

»Am Abend sind die hier dann garantiert müde. Und ruhig.«

Er trat durch eine Tür, hinter der eine Treppe abwärts führte. Zamor­ra folgte ihm vorsichtig, nachdem er sich vergewissert hatte, daß laut Reklameschild in diesem Keller »Daddy French« Alkohol an seine Gäste

ausschenkte. Tendyke schob einen Vorhang am Ende der Treppe zur Sei­te und trat in eine kleine Kneipe. Zamorra rümpfte die Nase. Es stank

nach verschüttetem und verschaltem Bier. Ein fetter Mischling polierte

mit einem grauschleierüberzogenen Tuch Gläser, die nicht blank werden

wollten. In einer Ecke saßen zwei Männer und unterhielten sich leise. Ein paar nackte Glühbirnen an der Decke ersetzten Lampen und spende­ten ein schummeriges Licht. Fenster schien es nicht zu geben. In einer

Ecke des Raumes wirbelte leise summend ein Wandventilator warme Fri­schluft ins Kneipeninnere. Eine Frau mittleren Alters in einem gefleckten Kittel trat aus einem

Nebenraum. Sie hatte eine nicht zu übersehende Ähnlichkeit mit dem

fetten Mulatten hinter der Theke und begann, Stühle hochzustellen und

auszufegen. Es sah so aus, als sei das hier eines der Lokale, die durchge­hend geöffnet hatten und in denen man die ruhigen Vormittagsstunden

nutzte, um einigermaßen sauberzumachen, ohne Gäste verscheuchen zu

müssen. Zamorra blieb in der Nähe des Ausganges stehen, während Tendyke

zur Theke ging. Die beiden Männer am Tisch sahen auf, streiften die

Pistole an seinem Gürtel mit einem kurzen Blick und unterhielten sich

dann weiter. »Ich suche einen Freund«, sagte Tendyke leise. Der Mulatte polierte

ungerührt an dem Glas weiter und beachtete den Abenteurer nicht wei­ter. Tendyke legte die Hand auf die Theke. Als er sie wieder zurückzog, lag ein Geldschein neben einer Bierpfütze. »Wen?«

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»Ombre.«

»Kenne ich nicht«, hörte Zamorra den Wirt sagen. Er sah, wie Tendyke

einen weiteren Geldschein opferte. »Ich kenne ihn nicht. Wenn Sie nichts trinken wollen, gehen Sie«,

brummte der Fette. »Sie nehmen den anderen Gästen die Plätze weg.«

»Haha«, machte Tendyke grimmig. Er wollte die beiden Scheine wie­der an sich nehmen, aber der Mulatte faßte schneller zu. Er sah Tendyke

drohend an. Zamorra straffte sich. Er roch Ärger. Aber Tendyke legte es nicht auf

eine Konfrontation an. Er machte einen Schritt zurück. »Wenn du Ombre siehst, sag ihm, daß ein Freund ihn sucht. Ich denke,

daß er mich eher finden wird als ich ihn.«

Damit wandte er sich um. Zamorra gab ihm den Weg frei und folgte ihm dann die Treppe hinauf

wieder nach draußen. Die beiden Männer, die sich unterhalten hatten, erhoben sich auf einen

Wink des Mulatten. Ohne ein Wort zu sagen, verließen sie gemächlich

das Lokal.

Der große, schwarze Vogel glitt über eine Stadt hinweg. Eine Hafen­stadt. Der Vogel landete am Stadtrand und verwandelte sich ungese­hen in einen Menschen zurück. Ein unauffälliger Mann in Alltagsklei­dung schlenderte am Straßenrand auf das Ortsschild zu. »Baton Rouge, Hauptstadt des Staates Louisiana«, las er. Damit wußte er zumindest genau, wo er sich befand. Früher hatte er

nicht darauf geachtet. Aber daß er jetzt die Stadt vom Namen her kannte, half ihm noch nicht

viel weiter. Er mußte den Amulettträger finden. Aber der Sog war schon stärker geworden. Leonardo deMontagne

fühlte, daß er in der Stadt selbst nicht fündig werden würde. Der Mann, den er suchte, befand sich außerhalb. Der Dämon verwandelte sich wieder in einen Vogel. Mit schnellem Flü­

gelschlag hob der riesige Gefiederte sich wieder in die Luft. Er drehte

einige Kreise und orientierte sich. Er sah ein ausgedehntes Waldgebiet in der Nähe der Stadt. Dort irgendwo befand sich jener, den er suchte . . .

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Sie schlenderten weiter. Ein Polizeiwagen glitt leise die Straße entlang; die Beamten schienen entweder den Bewohnern der Hafengegend oder

den Steckmücken gegenüber kontaktscheu zu sein, denn sämtliche Fen­ster des Wagens waren geschlossen. Daß an einigen am Straßenrand ge­parkten Fahrzeugen die Kühlerfiguren und Radioantennen abgebrochen

worden waren, fiel ihnen entweder nicht auf, oder es berührte sie nicht. Zamorra und Tendyke schenkten sie keine besondere Aufmerksamkeit.

An einer schmalen Kreuzung glaubte Zamorra sekundenlang den Ne­gerjungen wiederzusehen, der nach seiner »Rettung« geflüchtet war, aber der Junge war zu schnell wieder verschwunden, als daß der Pa­rapsychologe ihn hätte identifizieren können.

»Dieser erste Versuch war ja nicht gerade ermutigend«, sagte Zamor­ra.

»Wie würdest du es denn anstellen, Mister James Bond?«

Zamorra tippte sich an die Stirn. »Du glaubst doch nicht im Ernst, daß es etwas bringt, durch die Pubs zu marschieren und die Wirte nach

Ombre zu fragen. Einer hat dir schon was gehustet, bei den anderen wird

es kaum anders sein.«

»Ich höre immer noch keinen Gegenvorschlag.« Tendyke deutete auf den Polizeiwagen, der schon weit entfernt war. »Wir könnten ihn ja über

Lautsprecher ausrufen lassen, wie?«

»Frag nicht, wo er sich aufhält«, sagte Zamorra. »Sondern laß ihm

durch so viele Leute wie möglich ausrichten, daß du ihn an einem be­stimmten Treffpunkt zu einer bestimmten Zeit erwartest.«

»Au weh«, sagte Tendyke. »Was habe ich denn wohl eben getan? Was

habe ich dem Wirt erzählt?«

»Du hast ihm keinen Treffpunkt genannt. Nur erwähnt, daß Ombre

dich wohl finden würde.«

Der Abenteurer schnipste mit den Fingern. »Das reicht völlig aus in

diesen Kreisen.«

»Da scheinst du dich ja sehr gut auszukennen . . .«

»Soll ich dir das jetzt übelnehmen?« Tendyke blieb vor der Tür eines

weiteren Lokals stehen. »Ich gehe hinein und horche mich wieder um. Wenn es nicht klappt, können wir ja anschließend mal deine Patentme­thode anwenden.«

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Zamorra hob die Brauen und nickte. Tendyke betrat das Lokal. Der Pa­rapsychologe hielt es für recht albern, wie sein Freund hier vorging. So

dumm stellten sich nicht einmal die Fernsehdetektive an. Aber er wußte

auf Anhieb auch nicht zu sagen, wie er es anstellen konnte. Er hatte kei­ne detektivische Erfahrung in diesem Sinne. Wesentlich einfacher wäre

es gewesen, wenn er selbst mit diesem Ombre schon einmal Kontakt ge­habt hätte und dieser tatsächlich ein Schwarzzauberer wäre. Dann hätte

Zamorra ihn mit dem Amulett aufspüren können. Aber so, nur auf einen

vagen Verdacht hin . . . Aber vielleicht gab es noch eine andere Möglichkeit. Eine, auf die Ten­

dyke wohl nicht kam, weil er sie nicht kannte. Caermardhin, Merlins unsichtbare Burg! Von dort aus gab es die Möglichkeit, jeden Menschen irgendwo auf

der Welt aufzuspüren, es sei denn, er schirmte sich so total ab, daß er

für tot gelten mußte. Voraussetzung: man wußte etwas über ihn. Zamor­ra beschloß, diesen Versuch zu starten, wenn es anders nicht ging. Sie

würden dazu zwar nach Europa zurückfliegen und Merlins Burg in Wales

aufsuchen müssen, aber wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Es würde nur ein wenig dauern. Aber Zamorra war sicher, daß Merlins Stellvertreter Sid Amos ihm

helfen würde, Ombre zu finden. In der Nähe ertönte ein schriller Pfiff. Zamorra wirbelte herum, konnte

aber niemanden dort entdecken, wo der Pfiff ertönt war. Er wollte gerade

Tendyke in die Kneipe folgen, um zu sehen, ob der Mann in Leder sich

diesmal etwas geschickter anstellte, als ein dunkelgrüner Lieferwagen

heranrollte. In dem geschlossenen Kasten glitt eine Schiebetür auf, noch

während das Fahrzeug direkt vor der Kneipentür stoppte. Zamorra sah

zwei Männer im Laderaum. Einer winkte ihm zu. »He, Mann, hast du mal Feuer?« Er schwenkte

eine Zigarette zwischen den Fingern. Zamorra war zwar Nichtraucher, ein Feuerzeug trug er aber meistens

bei sich. Vorwiegend, weil so manche dämonische Kreatur das Feuer

kaum weniger fürchtet als das Weihwasser . . . Er griff in die Tasche und suchte, während er an den Wagen trat. »Oh,

verflixt. Hab’ die falsche Hose an . . .« Sein Feuerzeug befand sich in der

Anzugtasche in Florida. »Macht nichts, mon ami«, sagte der Mann mit der Zigarette. Blitz­

schnell packte er zu. Seine Hände rissen Zamorra in den Lieferwagen,

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der im gleichen Moment anfuhr. Die Schiebetür krachte ins Schloß. Za­morra wollte sich aus dem Griff des angeblichen Rauchers befreien, aber

da griff der zweite ein. Er erwischte Zamorra so, daß der Professor sich

nicht mehr wehren konnte. Auch mit seinen Judo- und Karatetricks kam

er hier nicht mehr voran. Der erste Mann hatte die kalte Zigarette fallengelassen. Er ballte bei­

de Fäuste und schlug zu. Zamorra spürte einen reißenden Schmerz und

krümmte sich zusammen. Er bekam kaum noch Luft. Als er wieder eini­germaßen denken konnte, lag er auf dem harten Metallboden des Wa­gens, und die beiden Männer kauerten neben ihm. »So«, zischte der Schläger. »Und jetzt erzählst du uns erst mal, warum

du l’ombre bestohlen hast!«

Tendyke machte es wie beim ersten Mal. Er orientierte sich, marschierte

bis zur Theke vor und sprach den Mann dahinter an. Der hellhäutige Bur­sche mit dem krausen Braunhaar und dem Oberlippenbart, sah Tendyke

erstaunt an. »Ombre suchst du? Na, stelle sich das mal einer vor.«

Tendyke nickte. Anscheinend wurde er hier bereits fündig. Es wun­derte ihn nur wenig. Der Mann, der ihm diesen Namen genannt hatte, hatte ihm auch gesagt, daß dieser Ombre im Hafenviertel recht bekannt sei. Deshalb hielt Tendyke die direkteste Methode noch für die nützlich­ste. Daß sein Ermittler l’ombre selbst nicht aufgestöbert hatte, war ver­ständlich – es hatte nicht zu seinem direkten Auftrag gehört. Solange

nicht hundertprozentig erwiesen war, daß dieser Schatten mit dem Ne­ger Ombre identisch war, der Su Ling nach Florida gebracht hatte, wollte

Tendyke erst einmal selbst nachfassen und die Erstbegegnung sich vor­behalten. »Wo kann ich ihn finden?« erkundigte Tendyke sich. Der Keeper hinter dem Tresen grinste ihn an. »Dreh dich mal freund­

lich um, Mister«, sagte er. Tendyke hatte keine Schritte gehört. Die beiden Männer, die hinter ihm aufgetaucht waren, mußten sich

völlig lautlos bewegt haben. Tendyke sah noch eine Faust groß wie eine Baggerschaufel heranflie­

gen. Dann setzten seine Sinne aus.

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Der Dämon näherte sich seinem Ziel. Er wußte, daß er jetzt ganz nah

dran war. Die Gestalt des schwarzen großen Raubvogels kreiste über

einem wild wuchernden Wald am Stadtrand. Aber er konnte nichts ent­decken, was auf eine menschliche Behausung hinwies.

Sollte der Amulettträger ein wilder Waldmensch sein, der hier außer­halb der Zivilisation lebte? Das war kaum vorstellbar. So hatte er nicht ausgesehen.

Leonardo deMontagne versuchte Gedankenimpulse aufzuspüren. Aber

er konnte nichts erkennen. Dort unten befand sich niemand.

Trotzdem – kamen die Impulse, die ihn wie mit einem Magneten ange­zogen hatten, eindeutig von hier und nicht aus der Stadt.

Eine Täuschung?

Eher mochte sich das Amulett geirrt haben und der Geist, der darin

wohnte. »Eysenbeiß«, zischte der Vogel aus halb geöffnetem Schnabel. »Solltest du mich hereinlegen wollen, mach dich auf etwas gefaßt!«

Es kam keine Reaktion. Wahrscheinlich hielt es der Geist im Amulett gar nicht für nötig zu antworten. Immerhin hatte es Leonardo ja schon

einmal nicht geschafft, ihm beizukommen.

Der Vogel landete verdrossen auf einem freistehenden Ast am Wald­rand. Er verwandelte sich wieder in seine ursprüngliche Gestalt zurück. Das Amulett, während des Fluges vom Federkleid verborgen, glitt förm­lich in seine Hände, während er auf dem Ast kauerte.

Wenn die ursprünglichen Angaben stimmten, mußte er ganz nahe dran

sein – und jetzt wollte er überprüfen, weshalb er keine Lebenszeichen

wahrnahm. Keine Gedanken, keine Bewußtseinsaura . . . nichts.

Gerade so, als befände sich hier kein Mensch.

Heiß durchzuckte es ihn.

Sollte das Amulett hier nur einfach so liegen? Vielleicht hatte sein Be­sitzer es deponiert? Aber wo? Leonardo mußte es finden!

Irgendwo zwischen den Bäumen oder im Unterholz mußte das Ver­steck sich befinden!

Plötzlich entdeckte er die Seile, die an den Ästen hingen . . .

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»Was zum Teufel soll das heißen?« knurrte Professor Zamorra. Er ver­suchte sich hochzustemmen, aber die beiden Männer hinderten ihn dar­an. Er hatte flach auf dem harten Metallboden des Lieferwagens liegen-zubleiben, und er spürte jedes Schlagloch als unangenehm harten Stoß. Vorn in der halb abgeteilten Fahrerkabine hockte ein Mann am Lenkrad, der sich nur für seine Aufgabe interessierte und dabei keine Rücksicht auf das nahm, was sich hinten abspielte. Wahrscheinlich würde er nicht einmal merken, wenn Zamorra die beiden anderen Männer überwältigte. »Los, Kerl. Rede. Wie hast du das gemacht?« fragte der Schläger. »Vielleicht könnt ihr mir mal erzählen, wovon ihr redet«, verlangte

Zamorra. Er erhielt einen Schlag mit der flachen Hand ins Gesicht. »Das bringt nichts. Der Kerl ist zäh«, sagte der andere Mann. »Viel­

leicht sollte ich ihn mal ein bißchen mit dem Messer kitzeln, damit er

begreift und redet.«

Der Schläger untersuchte schnell und geschickt Zamorras Taschen. Er

ließ dem Parapsychologen keine Chance. Er nahm ihm Brieftasche und

Ausweispapiere ab, steckte sie ein, nachdem er den Ausweis überprüft hatte. »Zamorra«, sagte er. »Das klingt ein bißchen nach Mafia.«

Der andere grinste. »Dann hat die Mafia bald einen Mann weniger, was, Cimy?«

Er griff in die Tasche und zog ein Springmesser hervor, das er auf­schnellen ließ. Als Zamorra sich wieder bewegen und zum Angriff aus

der Ruhelage übergehen wollte, erwischte ihn ein Schlag, der ihn fast betäubte. Er schlug mit dem Hinterkopf auf das harte Metall. Benom­men blieb er liegen. Es hatte keinen Sinn. Die Kerle paßten höllisch auf. Hier im Wagen

hatte er gegen sie keine Chance, angeschlagen, wie er war. Er wünschte sich, es mit dämonischen Kreaturen zu tun zu haben.

Dann hätte er wenigsten das Amulett gegen sie einsetzen können. Den Dhyarra-Kristall konnte er auch nicht benutzen. Den hatte er in

Florida gelassen. Das Messer berührte sein rechtes Ohr. »Auf die Muschel kannst du be­

stimmt verzichten, Zamorra, oder wie immer du heißt«, sagte der Mes­sermann. »Wer nicht reden will, braucht auch keine Ohrmuscheln.«

»Ihr seid ja wahnsinnig«, sagte Zamorra gepreßt. »Ich weiß wirklich

nicht, wovon ihr redet.« Immer noch tanzten bunte Flecken vor seinen

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Augen. Er spürte leichte Übelkeit. Keine gute Ausgangsbasis, einen wei­teren Gegenangriff zu riskieren. Und da war dieses verdammte Messer

an seinem Ohr. »Du hast l’ombre bestohlen«, sagte der Schläger. »Und wir wollen wis­

sen, warum. Und vor allem, wie!«

»Ich kenne l’ombre nicht einmal«, stieß Zamorra hervor. »Du lügst schlecht, mein Bester«, sagte Cimy, der Schläger. »Erstens

hat dein Komplize sich vorhin nach ihm erkundigt, und zweitens trägst du den Beweis ja an dir. Ihr wollt l’ombre wohl eine Falle stellen, wie?«

»Was für einen Beweis?«

»Für den Diebstahl«, sagte Cimy. Er griff zu und umschloß das Amulett mit beiden Händen. Er fand sofort den Verschluß und hakte es von der

Kette ab, um es sich aufrichtend mit in die Höhe zu nehmen. »Das hier«, sagte er. »Du mußt wirklich reichlich bescheuert sein, Za­

morra. Ich frage mich, wie so ein Ausbund an Dummheit es geschafft hat, l’ombre dieses Prachtstück abzunehmen!«

Zamorra starrte ihn fassungslos an. Jetzt wurde es interessant!

Tendyke wußte, daß er nicht lange ohne Besinnung gewesen sein konnte. Er sah, daß seine Umgebung sich nicht verändert hatte – er befand sich

nach wie vor in dem Lokal. Der Keeper mit dem krausen Haar und dem

Oberlippenbart beugte sich über ihn. Er hielt Tendykes Pistole in der Hand. Neben ihm standen die beiden Männer, die unvermittelt hinter dem

Abenteurer aufgetaucht waren. Der ihn niedergeschlagen hatte, zuckte

mit den Schultern. »Sorry, Buddy. Aber wahrscheinlich hättest du dich

anders nicht von diesem Schießprügel getrennt, wie?«

Tendyke sah in die schwarze Mündungsöffnung. Er erkannte, daß die

Waffe entsichert war. Der Keeper brauchte bloß den Finger krumm zu

machen. »Was soll das?« fragte Tendyke. »Darf man neuerdings in eurem Eta­

blissement keine Fragen mehr stellen?«

»Oh, er drückt sich gewählt aus«, sagte der Keeper. »Was heißt hier

neuerdings? Du warst doch noch nie hier. Was willst du von l’ombre?«

»Mit ihm reden. Darf ich mich aufrichten?«

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»Da unten gefällst du mir besser, Freundchen. Du bist kein Freund von

l’ombre, wie du es behauptest. Sonst wußtest du, wo du ihn erreichen

kannst. Also . . . worum geht es?«

»Seid ihr so was wie seine Leibwächter?«

»Wir stellen hier die Fragen. Also . . . ?«

»Mit Namenlosen unterhalte ich mich nicht«, sagte Tendyke. »Schon

gar nicht mit Leuten, die so aggressiv reagieren, wenn man nach jeman­den fragt.«

»He, du . . .«

Sekundenlang irrte die Pistolenmündung etwas ab. Darauf hatte Ten­dyke gewartet. Er rollte sich zur Seite und rempelte die beiden anderen

Männer dabei an. Sie taumelten und suchten nach Halt. Tendyke flog

herum und traf die Kniekehle des Mannes, der noch am besten auf den

Beinen stand. Jetzt kippte auch der. Der Keeper war nicht in der La­ge, die Waffe abzufeuern, ohne seine Komplizen zu gefährden. Tendyke

schnellte sich hoch. Er explodierte förmlich in einem wilden Wirbel von

Schlägen. Die drei Männer flogen zur Seite. Dem Keeper entfiel die Pi­stole. Tendyke fing sie am Lauf auf, warf sie hoch und bekam sie auffan­gend mit der rechten Hand am Griff zu fassen. Sofort sprang er ein paar

Schritte zurück in Richtung der Tür. Als die drei Männer sich aufzurap­peln versuchten, blickten sie ihrerseits in die Pistolenmündung. Tendyke erreichte den Ausgang. Die Tür war abgeschlossen worden.

So etwas ähnliches hatte er schon vermutet. Deshalb also war Zamorra

anscheinend nicht nachgekommen. Vermutlich versuchte der Parapsy­chologe inzwischen, durch einen anderen Eingang hereinzukommen. »Es gibt Dinge, die kann man mit mir nicht machen«, sagte Tendyke

ruhig. Er kam wieder in den Schankraum zurück. Gelassen hob er den

Leder-Stetson auf, den er vorhin verloren hatte, und drückte ihn sich

wieder auf den Kopf. »Jetzt machen wir das Spielchen mal anders herum. Wer seid ihr?

Warum habt ihr mich angegriffen?«

»Wir mögen es nicht, wenn sich Fremde zu sehr um unsere Dinge küm­mern«, sagte der Mann, der Tendyke vorhin niedergeschlagen hatte. »Da

haben wir uns gedacht, daß wir dich mal ein bißchen befragen.«

»Glaube ich euch nicht. Hat Ombre euch das aufgetragen?«

»Nein, verdammt.«

»Warum wollt ihr dann nicht, daß ich mit ihm rede, he? Da ist doch

was faul. Wo finde ich Ombre? Raus mit der Sprache . . .«

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Page 59: Schrei, wenn der Dämon kommt

»Du findest ihn garantiert nicht«, sagte der Keeper. »Den findet keiner, wenn er nicht gefunden werden will. Was bist du eigentlich? Ein Bulle?

Oder ein Teck?«

»Weder Polizist noch Detektiv«, sagte Tendyke. »Es ist nur so, daß ich

mit Ombre reden möchte, weil er mich vor kurzem besuchte.«

»Ah«, der Keeper grinste. »Und nun möchtest du zurück haben, was

er dir stibitzt hat?«

Tendyke seufzte. »Schweift nicht ab, Leute. Also . . . wo ist Ombre zu

finden? – Wie heißt er eigentlich wirklich?«

Die gerade noch grinsenden Gesichter verhärteten sich. »Du kannst machen, was du willst, Buddy. Aber hier erfährst du nichts. Und du soll­test dich jetzt ganz schnell dünn machen, solange du es noch kannst.«

Tendyke schüttelte den Kopf. »Ihr könnt mir nicht drohen.«

»Glaubst du, dein Begleiter könnte dir helfen?« fragte der Keeper kühl. »Dein Pech, Mann. Den haben wir nämlich auch.«

Tendyke zuckte zusammen. Da steckte doch mehr hinter, als er an­fangs angenommen hatte. Es war kein Zufall, daß er niedergeschlagen

worden war! Man hatte sie getrennt! Er glaubte es dem Keeper sofort. »Dann«, sagte er, »werde ich andere Seiten aufziehen. Bisher war ich

ja noch ganz friedlich. Aber ich kann auch anders. Jetzt will ich wissen, mit wem ich es zu tun habe . . .«

Im nächsten Moment war er in der Schankstube allein. Die drei Män­ner waren von einer Sekunde zur anderen wie vom Erdboden ver­schluckt!

Yves Cascal hatte von einem Moment zum anderen das Gefühl, daß er in

seinem Versteck nicht mehr sicher war. Gefahr drohte! Und diese Gefahr war ganz nah! Das Amulett verriet es ihm, aber es

ließ nicht erkennen, auf welche Weise es die Gefahr spürte und sie Cascal mitteilte! Nur eine leichte Erwärmung konnte der Neger feststellen. Und

irgendwie ahnte er, daß jener Unheimliche hinter der Gefahr steckte, den

er damals auf der Lichtung gesehen hatte. Die Annäherung . . . Das mußte es sein. Plötzlich war der Schatten froh, nicht eingeschlafen zu sein. Seine Mü­

digkeit war wie weggeblasen. Hätte er bereits geschlafen, wäre ihm die­

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Page 60: Schrei, wenn der Dämon kommt

ser Gefahrenimpuls womöglich entgangen. Jetzt aber hatte er vielleicht noch Zeit, Gegenmaßnahmen zu treffen. Worin bestand die Gefahr? Wer war der Unheimliche? Oder handelte

es sich um noch etwas anderes?

Er verließ die Hütte. Draußen war nichts zu erkennen, was auf eine

Gefahr hindeutete. Aber das Amulett erwärmte sich bereits stärker. Der Neger preßte die Lippen zusammen. Wie sollte er sich gegen et­

was zur Wehr setzen, das er nicht kannte, das er nicht einmal sah? So­lange er nicht wußte, worin die Gefahr bestand, konnte er nichts gegen

sie tun. Er konnte nur schleunigst von hier verschwinden. Er sah nach oben. Von einem der Bäume hing ein Seil herunter. Aber

plötzlich warnte ihn ein Instinkt, dieses Seil zu benutzen. Oder ging die

Warnung auf eine geheimnisvolle Weise von seinem Amulett aus?

Es gab keinen anderen Weg von der Hütte fort – es sei denn, er schuf ihn sich. Entschlossen drang er in das dichte Unterholz ein. Rasch bog

er Äste und Zweige zur Seite. Zwängte sich zwischen ihnen hindurch. Er murmelte Verwünschungen. Es ging nicht so einfach, wie er es sich

gewünscht hätte. Eine Schneise blieb zurück, wo er sich bewegt hatte. Teilweise waren die Zweige des Dickichts so miteinander verwoben, daß

sie eine undurchdringliche Fläche bildeten, die ihn zu Umwegen zwang. Er konnte sich nicht geräuschlos bewegen. Äste knackten, Laub raschel­te. Es stimmte ihn verdrießlich. Es war eine seiner Eigenarten, daß er

sich völlig lautlos bewegen konnte – nur klappte das hier nicht. Er versuchte, das Gestrüpp, hinter sich so weit wie möglich wieder zu

schließen. Er verflocht die Zweige, so gut es eben ging. Und dann hielt er plötzlich in der Bewegung inne. Das Amulett war fast schmerzhaft heiß geworden. Yves spähte durch das dichte Laub. Er fühlte die Gefahr. Sie war da,

sie hatte die Hütte erreicht! Plötzlich wußte er, weshalb ein Instinkt ihn

davor gewarnt hatte, die Seile zu benutzen. Von dort kam der Feind! Er fiel förmlich vom Himmel, war plötzlich da. Eine schwarze, unheim­

liche Gestalt, groß, fast zu groß für einen Menschen. Schwarzes Leder, ein schwarzer, wallender Umhang. Harte, kantige Gesichtszüge, lange, schlanke Finger, deren Nägel lang wie Krallen waren. Augen glühten. Ei­ne bösartige Ausstrahlung ging von dem Riesen aus, wehte bis zu Cascal herüber. Der Schatten hielt den Atem an.

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Page 61: Schrei, wenn der Dämon kommt

Er erkannte den Unheimlichen. Er war es, der damals auf der Lichtung

aufgetaucht war. Der auch ein Amulett besaß . . . der in einer feurigen

Lohe verschwunden war . . . Mit einem jähen Ruck fuhr der Unheimliche herum. Er starrte genau

dorthin, wo Yves Cascal sich im Unterholz verbarg!

Zamorra atmete tief durch. Er sollte l’ombre das Amulett abgenommen

haben?

Seine Gedanken überschlugen sich. Diese Männer irrten sich. Wie ka­men sie darauf, daß dieses Amulett jenem Ombre gehören sollte? Es

konnte nur bedeuten, daß sie es schon einmal bei ihm gesehen hatten. Genauer gesagt, eines der anderen . . . Die sieben Amulette waren äußerlich identisch. Vom bloßen Ansehen

her konnte man sie nicht unterscheiden. Aber bei engerem Kontakt oder

beim Benutzen bemerkte man die Unterschiede schon. Damals, als, Sid

Amos Zamorra sein Amulett zusätzlich zur Verfügung gestellt hatte, um

Merlin zu erwecken, hatte Zamorra sofort fühlen können, welche der

beiden Silberscheiben Merlins Stern war und welche eines der anderen

Amulette. Ombre, der geheimnisvolle Schatten, mußte also einen der sieben

Sterne von Myrrian-ey-Llyrana besitzen! Das erklärte natürlich eine gan­ze Menge . . . Vor allem aber dieses Mißverständnis . . . Der Mann betrachtete die Silberscheibe aufmerksam, als habe er sie

noch nie aus der Nähe gesehen. »Du bist der erste, der es geschafft hat, l’ombre zu bestehlen. Los, wie hast du das ge . . .«

Er kam nicht weiter. Zamorra nahm seine einzige, einmalige Chance wahr, die anderen zu

verblüffen. Er öffnete seine Hand und rief das Amulett! Es reagierte sofort auf den gedanklichen Befehl. Die Hand des kleinen Ganoven war leer. Das Amulett befand sich in

Zamorras Hand. Das sahen die beiden aber im ersten Moment noch gar nicht. Cimy

stieß einen überraschten Schrei aus und betrachtete seine leeren Hän­de. Der Messermann wandte den Kopf. Die Klinge entfernte sich von

Zamorras Ohr.

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Page 62: Schrei, wenn der Dämon kommt

Dessen Fäuste flogen hoch und trafen den Messermann genau auf den

Punkt. Besinnungslos kippte er nach hinten weg. Zamorra drehte sich

halb und nahm Cimy in eine Beinschere. Der Mann stürzte. Zamorra

schaffte es, sich mit einer schnellen Körperdrehung halb über ihn zu

wälzen und den Mann zu betäuben. Dann sprang er auf.

Der Fahrer war endlich aufmerksam geworden. Er machte eine Voll­bremsung. Zamorra taumelte nach vorn gegen die Halbwand, die Fah­rerkabine vom Laderaum trennte. Er fing sich ab. Da richtete der Fahrer

eine Pistole auf ihn. Der Schuß peitschte. Die Kugel pfiff haarscharf an

Zamorras Ohr vorbei und hackte in die Rückwand des Kleintransporters. Es krachte ohrenbetäubend in dem Fahrzeug. Zamorra glaubte taub zu

werden.

»Verdammt, immer auf die Ohren! Muß das sein?« schrie er und warf sich nach vorn. Ein leichter Schlag, richtig plaziert, betäubte den Fahrer, ließ ihn nach vorn auf das Lenkrad kippen. Er berührte die Huptaste, die

sofort das Signalhorn im Dauerton auslöste.

Zamorra hebelte ihn aus dem Fahrersitz und quartierte ihn rechts ein. Fußgänger, durch den Hupton aufmerksam geworden, sahen herüber, konnten aber nicht viel erkennen. Andere Fahrzeuge hupten, die hin­ter dem auf der Straße stehenden Hindernis anhalten mußten. Zamorra

klemmte sich hinter das Lenkrad und setzte den Wagen wieder in Be­wegung. Er fuhr bis zu einer Parklücke am Straßenrand und lenkte den

Lieferwagen erst einmal hinein. Dann nahm er sich die Zeit, das Amulett wieder an seiner Halskette zu befestigen.

Er ging wieder nach hinten. Nachdenklich betrachtete er die Bewußt­losen. Cimy schien ihm noch der Vernünftigste von ihnen zu sein. Der

Fahrer war ihm zu schießwütig, und der Messermann war ihm auch nicht gerade sympathisch.

Also legte er sich Cimy zurecht.

Er konzentrierte sich auf das, was er vorhatte. Seine Finger strichen

über Schläfen und Stirn des Bewußtlosen. Zamorra konzentrierte sich

auf einen bestimmten Kraftfluß und eine bestimmte Bewegungsrichtung

und -folge. Wenig später öffnete Cimy die Augen.

Zamorra ließ ihm keine Chance.

In der Aufwach-Phase war Cimy hilflos. Zamorra versetzte ihn in hyp­notische Trance.

Und dann hatte Cimy ihm Rede und Antwort zu stehen . . .

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Page 63: Schrei, wenn der Dämon kommt

Leonardo deMontagne hatte sofort begriffen, wozu das Seil diente, das

fast vor seinen Augen hing. Blitzschnell packte er zu und schwang sich

waldeinwärts. Er stieß auf mehrere dieser Seile, mit denen er sich dicht unter den Baumwipfeln über das dichte Unterholz hinweg vorwärts be­wegen konnte. Und dann fand er die Hütte!

Die Tür war halb geöffnet. Eine Falle? Nein. Der Dämon entdeckte

auch jetzt keine Gedanken und keine Ausstrahlung eines menschlichen

Bewußtseins. Hier war niemand. Leonardo sah sich um. Plötzlich glaubte

er etwas zu spüren. Außerhalb der Hütte im Unterholz . . .

Alarmiert starrte er dorthin. Aber er konnte nichts und niemanden er­kennen. Das Unterholz war dicht und unter keinen Umständen als Ver­steck geeignet . . .

Die Nähe des anderen Amuletts war jetzt deutlich zu spüren.

Leonardo betrat die Hütte. Mit einem wilden Faustschlag zerschmet­terte er die Tür. Das morsche Holz zerbröckelte sofort. Der Fürst der

Finsternis schleuderte eine Feuerkugel aus seiner linken Hand ins Hüt­teninnere. Im Lichtschein sah er, daß der Innenraum leer war.

Er war genarrt worden!

Jäh riß der Impuls ab, der ihm das Amulett hier gezeigt hatte!

Nur noch – Leere . . .

Nein. Hier war nichts. Der Amulettträger hatte eine falsche Spur ge­legt. Er mußte gemerkt haben, daß Leonardo sich näherte, und hatte ihn

hereingelegt. Der Dämon stieß einen wilden Wutschrei aus. Er setzte die

gesamte Hütte in Brand. Trotz der Fäulnis brannte das Holz sofort. Die

Flammen schlugen lichterloh empor. Leonardo verwandelte sich in den

großen schwarzen Raubvogel zurück und schwang sich senkrecht empor

in die Luft hinauf.

Er schrie abermals vor Wut. Einige Male kreiste er noch über dem

Brandherd, dann wandte er sich stadteinwärts.

Hier draußen hatte er nichts mehr verloren. Hier war der Gesuchte

nicht. Der hielt sich wahrscheinlich irgendwo in der Stadt auf . . .

Dort würde Leonardo erneut mit der Suche beginnen.

»Ich werde ihn finden!« schrie der Riesenvogel. »Und wenn die ganze

Welt darüber untergehen müßte – ich finde ihn!«

Ein verhaltenes, spöttisches Kichern drang aus seinem Amulett.

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Page 64: Schrei, wenn der Dämon kommt

Der Schatten hatte den Atem angehalten. Für ewigkeitslange Sekunden

sah es so aus, als habe der Unheimliche ihn im Dickicht aufgespürt. Das Amulett pulsierte. Es hüllte sich in einen silbrigweißen Lichtschein. Yves erfaßte, daß sich das Phänomen zu wiederholen begann, das damals

auch auf der Lichtung eingetreten war – diesmal nur um ein Vielfaches

langsamer.

Er begriff auch, daß das ein Angriff war.

Sein Amulett – wollte den Unheimlichen angreifen!

»Nein«, keuchte er kaum wahrnehmbar. Nein. Das durfte nicht gesche­hen. Nicht, ehe er den Gegner und seine Fähigkeiten nicht besser kann­te. Er hatte den Asiaten nie vergessen, der auf der Lichtung verbrannt war. Innerhalb weniger Sekunden! Das war das Werk dieses Fremden

gewesen, von dem eine Aura der Bösartigkeit ausstrahlte.

Nein, Amulett! Kein Angriff!

Er umklammerte es mit beiden Händen. Unter seinen Handflächen war

es heiß. Das silberweiße Licht umfloß seine Hände, aber das war auch

alles. Nicht einmal ein leichtes Kribbeln war zu spüren . . .

Allmählich klang die Wärme ab, das Licht verblaßte. Ohne zu wissen

warum, wußte Yves, daß es außerhalb des Strauchwerks nicht zu sehen

gewesen sein konnte.

Der Unheimliche wandte sich ab und drang in die Hütte ein. Als er sie

wieder verließ, setzte er sie in Brand.

Zorn stieg in Yves auf. Sein bestes Versteck, von dem Unheimlichen

aufgespürt, wurde vernichtet! Er konnte es nie wieder benutzen!

Irgendwie mußte er diesen Mann dafür zur Rechenschaft ziehen!

»Aber . . . wie?

Wie jemanden bestrafen, der sich plötzlich in einen Raubvogel verwan­delt und senkrecht nach oben davonfliegt, so, wie Vögel es unter diesen

Umständen eigentlich gar nicht fertigbringen?

Diese Verwandlung . . .

Sie paßte zu dem Unheimlichen. Er sah äußerlich einem Menschen

ähnlich, aber er konnte keiner sein. Was aber dann? Ein Dämon des Voo­doo-Kultes?

»Was auch immer du bist . . . ich werde es herausfinden«, murmelte

Cascal. Er senkte den Kopf und betrachtete sein Amulett. Er war sicher,

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Page 65: Schrei, wenn der Dämon kommt

daß es ihn auf irgend eine Weise vor dem Fremden gerettet hatte. Ein

weiteres ungelöstes Rätsel. Er hatte eine Chance bekommen. Und er war gewillt, sie zu nutzen.

Dazu mußte er aber erst einmal von hier verschwinden, ehe die Flammen

ihn erreichten. Er drängte sich aus dem Dickicht heraus, achtete nicht darauf, daß die

Zweige und Dornen ihm Haut und Kleidung zerrissen, und erreichte das

Tau. Er kletterte gewandt hinauf und versetzte es in Schwingungen, bis

er das nächste Seil erreichte. Gerade noch rechtzeitig . . . Das Feuer breitete sich aus. Wahrscheinlich würde es einen Teil des

Waldstreifens vernichten, ehe es in der Feuchtigkeit wieder verlosch . . . Aber bis dahin war Yves Cascal längst nicht mehr hier . . .

Tendyke trat unwillkürlich wieder ein paar Schritte zurück. Vorsichtig

sah er sich um. Aber die drei Männer blieben verschwunden. Kein neuer Überfall erfolgte. Der Abenteurer bewegte sich jetzt vorsichtig dorthin, wo die drei ge­

rade noch gestanden hatten. Er hatte einen Verdacht, und als er den

Bodenbelag eingehend betrachtete, bestätigte dieser Verdacht sich. Dort war eine Falltür! Sie war gerade so groß, daß alle drei Männer, die dicht beieinander

gestanden hatten, blitzschnell in der Tiefe verschwinden konnten. Der

Mechanismus mußte rasend schnell arbeiten, etwas begünstigt von dem

diffusen Kneipenlicht. Eine Sicherheitsmaßnahme, um notfalls schnell untertauchen zu können . . . oder auch, um andere verschwinden zu las­sen. Tendyke nahm an, daß der Keeper die letztere Möglichkeit bevor­zugt hätte, wenn Tendyke zufällig auf der Falltür gestanden hätte. Im­merhin waren beide Parteien voneinander getrennt worden, so oder so. Er suchte nach dem Mechanismus, der die Falltür auslöste. Es mußte

irgendwo einen versteckten Schalter oder Hebel geben, vielleicht sogar

eine Lichtschranke. Sie mußte von wenigstens einem der drei Männer

zu erreichen gewesen sein. Tendyke versuchte sich zu erinnern, wie, wo

genau und in welcher Haltung die drei gestanden hatten. Aber er konnte nichts entdecken.

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Page 66: Schrei, wenn der Dämon kommt

Das hieß, daß die Falltür aus der Ferne gesteuert wurde, von einem

anderen Raum aus. Das hieß auch, daß es eine Möglichkeit gab, das

Geschehen im Lokal zu beobachten und zu überwachen . . . und daß es

noch jemanden in diesem Haus gab, der aus dem Hintergrund heraus die

Fäden zog und seine Leute »zurückholte«, als ihm die Kontrolle vorüber­gehend zu entgleiten drohte. »Na warte«, murmelte Tendyke. Die Angelegenheit nahm immer grö­

ßere Formen an. Und sie wurde immer undurchschaubarer. Steckte Om­bre selbst hinter dieser Aktion?

Unter Hypnose redete Cimy wie ein Wasserfall! Mit seinen Antworten auf Zamorras Fragen machte er dem Parapsy­

chologen klar, wie schnell hier die Informationen weitergegeben wurden. Rascher konnte die Buschtrommel im afrikanischen Urwald auch keine

Nachrichten übermitteln. Einem Negerjungen war aufgefallen, daß Zamorra die Silberscheibe

trug, von der sich l’ombre, der Schatten, nie getrennt hatte, seit er sie

besaß. Wie lange das nun her war, wußte niemand zu sagen. Aber an­nähernd zwei Jahre bestimmt . . . und niemals war der Schatten seitdem

ohne diesen Schmuckgegenstand gesehen worden. Es hieß, man könne ihn ihm auch nicht abnehmen. Ob jemand es ir­

gendwann einmal versucht hatte, wußte niemand, aber es wurde ange­nommen, daß l’ombre einen solchen Versuch vereitelte. Nun war zum

erstenmal jemandem aufgefallen, daß der Diebstahl anscheinend doch

geklappt hatte. Der Negerjunge – Zamorra entsann sich; es war der Bursche, den er

vor den beiden prügelnden Halbwüchsigen »gerettet« hatte und den er

zwischendurch noch einmal kurz gesehen zu haben glaubte – hatte sei­nen Boß informiert, daß da jemand herumlief, der l’ombre bestohlen hat­te. Daraufhin hatte der Boß seine Leute eingesetzt, um diesen Jemand zu

kassieren, ihm das Amulett wieder abzunehmen und es dem Schatten zu­rückzugeben. »Ombre scheint ja ziemlich bekannt und beliebt zu sein«, murmelte Za­

morra. Kein Wunder, daß niemand sagen wollte, wo man Ombre traf . . . Vielleicht war es aber auch weniger Wertschätzung, sondern eher Re­spekt und Furcht? »Ist Ombre so etwas wie ein Patron der hiesigen Halb­

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welt? Ein Mafia-Boß? Einer, der das Hafenviertel und vielleicht mehr be­herrscht?«

Das »Nein« verblüffte ihn, weil es seine Gedankenkonstruktion schon

wieder zum Einsturz brachte, ehe das Fundament sich verhärten konn­te. Nach Cimys Worten war dieser Ombre eher ein kleines Licht, jemand, der sich irgendwie durchs Leben schlug. Aber es gab keinen Grund für

Zamorra, die Aussage zu bezweifeln. Der Hypnotisierte sprach die Wahr­heit.

»Warum will denn euer Boß, daß ihr mich schnappt und l’ombre das

Amulett zurückgebt? Was könnte ihm das einbringen an Vorteil, wenn

der Schatten tatsächlich so eine unbedeutende Randfigur ist?«

»Da mußt du den Boß schon selbst fragen. Ich weiß es nicht«, erwi­derte Cimy monoton.

»Auch ’ne Idee«, stellte Zamorra fest. »Dann wirst du mich mal zu

euren Boß führen. Ich fahre. Du beschreibst mir den Weg.«

Weigern konnte Cimy sich in seinem Zustand nicht, und Zamorra hü­tete sich, ihn aus der Hypnose zu wecken. Er war gespannt darauf, wer

dieser Boß war und wie er wirklich zu dem Schatten stand.

Zumindest aber mußte er ihn gut kennen und wissen, wo er zu finden

war.

Hoffentlich hatte Tendyke nicht inzwischen eine Dummheit begangen. Er mußte sich ja auch seine Gedanken um Zamorras plötzliches Ver­schwinden gemacht haben . . .

Das Bewußtsein des Magnus Friedensreich Eysenbeiß, das seinerzeit nach der Hinrichtung in das Amulett geschlüpft war, war etwas irritiert. Eysenbeiß hatte das andere Amulett ziemlich deutlich gespürt. Es war

ganz nahe gewesen. Eine falsche Spur, wie Leonardo deMontagne an­nahm.

Er ist dumm, dachte Eysenbeiß verächtlich. Er war immer primitiv, und

er wird es immer bleiben. Er hat nie gelernt, nachzudenken. Was nicht mit Magie geht, geht mit Gewalt, und alles andere berührt ihn nicht . . .

So hatte der Dämon nicht weiter überlegt, was hinter diesem jähen Ab­bruch des Kontaktes stecken mochte. Er hatte die Hütte in Brand gesetzt und war zur Stadt geflogen.

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Eysenbeiß hatte ihn allerdings nicht daran gehindert. Sollte der Mon­tagne eben seine eigenen Erfahrungen in diesem Fall machen! Solange

er nicht um Hilfe bat, bekam er sie auch nicht – zumindest nicht über

das hinaus, was Eysenbeiß ihm ohnehin nicht versagen konnte. Er hatte

zwar eine intensive Kontrolle über das Amulett und konnte sich hervor­ragend absichern, aber er konnte nicht verhindern, daß Leonardo das

Amulett benutzte.

Eysenbeiß machte sich allerdings seinerseits schon Gedanken über

den Vorfall. Der Amulettträger hatte sich in der Nähe befunden. Aber

dann mußte er sich abgeschirmt haben, so perfekt, daß weder der Dä­mon noch die Verbindung Eysenbeiß/Amulett ihn noch bemerken konn­ten.

Das ließ den Schluß zu, daß jenes Amulett eines der jüngeren, stär­keren sein mußte. Eysenbeiß wußte spätestens seit der Verschmelzung

seines Bewußtseins mit seinem eigenen Llyrana-Stern, daß es sich um

die Nummer 4 in der chronologischen Reihenfolge des Entstehens han­delte. Somit blieb nicht mehr viel Auswahl. Nr. 5 oder Nr. 6 . . .

Wer, bei Luzifers Gehörn, mochte die anderen Amulette besitzen, die

seinerzeit in Raum und Zeit verstreut worden waren, als es zum Ent­scheidungskampf zwischen dem damaligen ERHABENEN der Dynastie

und der Zamorra-Crew kam? (siehe Band 307: »In der Lavahölle«)

Eysenbeiß wischte den abschweifenden Gedanken beiseite und kon­zentrierte sich wieder auf das Wesentliche. Gegen ein höherrangiges

Amulett anzutreten, bedeutete äußerste Vorsicht. Denn in diesem Fall konnte er nicht darauf bauen, daß sein Bewußtsein das Amulett Nr. 4 so

weit stärkte, daß es dem anderen gegenüber gleichwertig wurde. Viel­leicht war das nicht einmal möglich . . . Genau konnte er es nicht sagen. Dazu kannte er die Eigenheiten der Amulette selbst zu wenig. Er hatte

zeitlebens nicht genug Gelegenheit gehabt, den Llyrana-Stern zu erfor­schen, weil er nur heimlich damit operieren konnte, um sein Geheimnis

nicht den anderen Höllenkreaturen preiszugeben. Und auch jetzt bekam

er keine Chance. Um das magische Innere der Silberscheibe intensiver

zu erforschen, hätte er seine Verkapselung öffnen müssen und sich damit in die Hand des Dämons gegeben. Aber das wollte er nicht riskieren.

Immerhin war der Dämon, in dessen Besitz er sich jetzt befand, sein

ärgster Feind nach Professor Zamorra . . .

Und nun war er gespannt, was Leonardo deMontagne als nächstes

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unternehmen würde, und er wartete darauf, daß der Dämon nicht mehr

allein vorankam und über seinen eigenen Schatten springen mußte. Aber noch schien es doch nicht soweit . . .

Solange Yves Cascal sich außerhalb der Stadt befand, fühlte er sich rela­tiv sicher. Er hatte gesehen, wie der unheimliche Verwandlungskünstler

sich schnurstracks entfernt hatte. An der in die Innenstadt führenden Ausfallstraße wartete Cascal, bis

einer der zahlreichen Trucks auftauchte, die hier ihr Tempo erheblich

abbremsen mußten. Er sprang aus der Sichtdeckung einer Plakattafel hervor, die die Autofahrer auf Einrichtungen, Sehenswürdigkeiten und

Besonderheiten der Hauptstadt Baton Rouge hinweisen, spurtete los, bis

er schnell genug war, und sprang dann am Heck des Sattelaufliegers

empor. Dort klammerte er sich an den Griffen der hinteren Doppeltür

fest und ließ sich in die Stadt fahren. Er hatte Glück – der schwere Sattelschlepper rollte geradewegs ins

Hafengebiet. Dort würde er wohl seine Fracht abliefern und neue auf­nehmen. Aber das interessierte Cascal weniger. Wichtig war nur, daß er

schnell zurück in die Stadt kam. Daß er sich am hellen Mittag hier sehen ließ, war ungewöhnlich. Aber

wenn er den Unheimlichen hier aufspüren und beobachten wollte, durfte

er nicht warten, bis der Verwandlungsfähige seinerseits ihn wieder fand. Der Schatten war vom Gejagten zum Jäger geworden, und er wollte das

nicht abermals umkehren. Wie konnte er den Unheimlichen aufspüren? Und was sollte er tun,

wenn er ihm gegenüber stand?

Er mußte sich darauf einstellen, daß der andere ihn angriff. Daß er

Cascal töten wollte. Das Verhalten an der Waldhütte deutete unbedingt darauf hin. Vielleicht wollte der Unheimliche in ihm einen Zeugen besei­tigen, der den Mord an dem Asiaten beobachtet hatte. Das erklärte zwar nicht, wie er die Hütte finden konnte . . . aber es war

Cascal schon vor Tagen aufgefallen, daß jemand Fragen stellte und ihm

nachschnüffelte. Er hatte sich nicht weiter darum gekümmert. Offenbar

war das ein Fehler gewesen. Der erste Zorn war verraucht. Das Versteck war verloren, gut. Es wür­

de andere Verstecke geben. Jetzt galt es weniger, den Unheimlichen da­

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für zu bestrafen, sondern ihn davon abzuhalten, daß er Cascal weiter

verfolgte und tötete. Und Yves wollte herausfinden, was es mit jenem an­deren Amulett auf sich hatte. Das seine war ihm schon ein Rätsel, aber

wenn es zwei Exemplare gab . . . dieses Geheimnis mußte er ergründen. Welche Verbindung gab es zwischen ihm und diesem Gestaltwandler, der

sicher alles andere war als ein Mensch. Aber was war er dann?

Cascal berührte sein Amulett. Vielleicht . . . Er erschrak im ersten Moment vor seiner eigenen Idee, die ihm doch

zu fantastisch erschien. Aber hatte er nicht schon genug fantastische

Erlebnisse damit gehabt? Ein einfaches Schmuckstück war es jedenfalls

nicht. Es war eher . . . ein Werkzeug?

Werkzeug konnte man benutzen. Aber wie sollte er das Amulett dazu bringen, jenes andere zu finden?

Yves wurde sich der Gefahr bewußt, in die er sich begab, wenn es tat­sächlich klappte. Aber die Konfrontation mit dem Unheimlichen war un­vermeidbar, und es war besser, wenn der Schatten die Regeln bestimmte. Hier in Baton Rouge hatte er Heimspiel. Hier war er im Vorteil. Er dachte keine Sekunde lang daran, andere um Hilfe zu bitten. Er

war immer ein Einzelgänger gewesen, und er mußte auch mit dieser

Bedrohung fertig werden. Er löste sein Amulett von der Kette und betrachtete es. Leicht glitten

seine Finger über das Material, das sich wieder fast völlig abgekühlt hatte. Nur eine leichte Restwärme war geblieben. Du hast mich damals in den Sumpfwald geführt, zu jener Lichtung.

Du hast mich wohl auch vorhin vor der Annäherung des Wandelbaren

gewarnt . . . also reagierst du irgendwie auf ihn. Oder auf sein Amulett . . . Dann, verflixt noch mal, müßtest du mich doch auch jetzt in seine Nähe

bringen können! Er muß sich doch irgendwo in der Stadt aufhalten, egal in welcher Gestalt! dachte der Schatten. Er fragte sich, ob er den Unheimlichen überhaupt rechtzeitig würde

erkennen können. Er konnte als Vogel auftauchen oder als der riesenhaf­te Mann in der schwarzen Lederkleidung mit dem wallenden Umhang . . . oder als Hund oder Katze . . . oder als ein Alltagsmensch . . . Yves war si­cher, daß sein Gegner jede beliebige Gestalt annehmen konnte. Jeder, der ihm entgegen kam, ob Mensch oder Tier, konnte also der Gegner

sein.

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Yves schloß die Augen. Er hielt die silberne Scheibe an die Stirn. Wie

sollte er es anstellen, sich von dem Amulett den Weg zeigen zu lassen?

Er wartete auf die seltsamen Empfindungen und Impulse, von denen er

wußte, daß sie nicht aus ihm selbst kamen. Das Amulett müßte einen

Schalter haben, dachte er.

Langsam setzte er sich in Bewegung.

Etwas zog ihn in eine bestimmte Richtung . . .

Leonardo deMontagne suchte.

Der Dämon hatte so gehandelt, wie es seine abartige Natur ihm vor­zeichnete. Um seine Kräfte zu erneuern und zu stärken, brauchte er ein

Blutopfer.

Alain Corvier, später Abkömmling französischer Einwanderer, ahnte

nichts Böses, als er seinen Spaziergang machte. Er war Frührentner und

hatte viel Zeit, wenn auch sehr wenig Geld. Aber es reichte gerade so

zum Leben in einem etwas armseligen kleinen Appartement in der Ha­fengegend.

Seit dem Dreißigjährigen vor vier Jahren eine Ladung Eisenträger das

linke Bein und einen Arm zertrümmert hatte, ging es bergab. Er hatte

nichts gelernt, und jetzt bekam er keine Arbeit mehr. Wie sollte er ar­beiten können? Die Knochen waren zwar wieder zusammengewachsen, aber nicht mehr belastbar. Selbst seine täglichen Spaziergänge konn­te er nur auf Krücken gestützt machen. Aber es zog ihn immer wieder

zum Hafen, wo er manchmal mit früheren Arbeitskollegen ein paar Wor­te wechselte oder nach Feierabend ein Bierchen trank, das die anderen

ihm ausgaben; er selbst konnte es sich nicht einmal leisten.

Auch jetzt war er wieder unterwegs. Er tappte langsam dahin, vorbei an den großen Lagerhallen am Hafenrand. Plötzlich sah er einen Mann in

einer seltsamen Kleidung, den er hier noch nie gesehen hatte. Der Mann

war hochgewachsen, und seine Augen funkelten rötlich. Das war unge­wöhnlich, denn er war zwar bleich, aber kein Albino-Typ. Der Fremde

starrte Corvier an.

Dem Frührentner wurde es unbehaglich. Er ahnte, daß dieser Mann

nichts Gutes beabsichtigte, und er wollte nicht hineingezogen werden. Selbst als Zeuge hatte man nichts als Scherereien. Corvier versuchte

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schneller zu humpeln, aber sein Bein begann schon wieder zu schmer­zen. Er kam nicht recht voran.

Der Fremde machte zwei, drei Schritte – und stand direkt bei Alain

Corvier, obgleich mehr als zwei Dutzend Meter zwischen ihnen gewesen

waren.

»Komm mit mir. Ich benötige dich«, sagte der Fremde mit einer

dunklen, rauhen Stimme.

»Wer sind Sie? Lassen Sie mich in Ruhe«, wehrte Corvier ab.

Da berührte der Schwarzgekleidete ihn.

Corvier flog in hohem Bogen durch die Luft. Er wollte schreien, aber

er konnte es nicht mehr. Er prallte irgendwo im Schatten hinter einem

Lagerschuppen auf, unter hohen Bäumen. Rasender Schmerz durchzuck­te ihn, dann konnte er seine Beine nicht mehr fühlen. Er wußte, daß er

diese Stunde nicht mehr überleben würde.

Der Unheimliche stand über ihm.

»Warum?« keuchte Corvier. »Warum, Mister?«

Doch der andere schwieg. Er streckte den Arm aus. Aus seinem Zeige­finger zuckte etwas Schwarzes und zog Linien in den Boden. Um Corvier

entstand ein Kreis, und um diesen Kreis herum bizarre Linien und Zei­chen.

Corvier sah eine dünne rote Nebelwolke aus seinem Mund und den

Nasenlöchern aufsteigen. Seltsam, dachte er. Wieso ist das Blut so ne­belhaft?

Der Unheimliche trank das Blut aus der Luft. Corvier merkte, daß sein

Leben versickerte. Und plötzlich war Erdreich über ihm. Dann war da

nichts mehr.

Er war tot.

Während Leonardo deMontagne ungerührt die Lebensenergie seines

Opfers aufsaugte, glitt dessen vertrocknender Körper ins Erdreich hin­ein. Er verschwand einfach nach unten, als werde er in ein Wasserbecken

und unter dessen Oberfläche hinabgelassen. Schon nach wenigen Minu­ten blieb nichts mehr übrig. Der Leichnam war beseitigt.

Kreis und Zauberzeichen verschwanden ebenfalls. Es gab keine Spu­ren mehr, die auf den Mord hinwiesen. Aber der Fürst der Finsternis

hatte seine Kräfte erneuert und war stärker als vorher geworden.

Sein Gesicht verzog sich zu einem triumphierenden Grinsen. Er hatte

dieses Ritual zum ersten Mal durchgeführt. Normalerweise ließ er sich

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Page 73: Schrei, wenn der Dämon kommt

die Lebenskraft eines Ritualopfers vom Zauberpriester einer schwarzma­gischen Sekte von irgendwo auf der Welt weihen und übermitteln. Doch

Leonardo lernte immer weiter hinzu, je länger er auf dem Höllenthron

saß. Er konnte nun in Ausnahmefällen wie diesem auch selbst für seine

Regenerierung sorgen. Nach dieser Stärkung fiel es ihm leichter, die Suche nach dem Amulett­

träger wieder aufzunehmen. Doch er konnte nirgendwo entsprechende

Impulse registrieren. Es gab einfach kein Echo. Da war es aus der Ferne einfacher gewesen . . . Leonardo wollte sich nicht vorstellen, daß der Amulettträger sich au­

ßer Reichweite begeben hatte. So schnell konnte er nicht sein. Wenn er

ein Silbermond-Druide wäre, der sich per Teleportation innerhalb eines

Augenblicks um Tausende von Kilometern versetzen konnte, hätte Leo­nardo das schon bei der ersten Begegnung gespürt. Das Amulett schien sich abzuschirmen. Es war nicht mehr zu orten. Leonardo mußte es also anders anfassen. Es gab überall auf der Welt

niedere Geister, die man sich dienstbar machen konnte. Der Dämon rief einige von ihnen hier zusammen. Und er befahl ihnen, nach einem Mann

Ausschau zu halten, der ein Amulett besaß, wie er es ihnen beschrieb. Sie schwärmten aus. Der Fürst der Finsternis wußte, daß er so am ehe­

sten Erfolg haben würde. Die Geister waren schnell, und ihnen entging

nichts. Jetzt brauchte er nur noch abzuwarten.

Rob Tendyke war mit seiner Hausdurchsuchung noch nicht weit gekom­men, als Zamorra in Begleitung eines nicht gerade vertrauenerweckend

aussehenden Mannes auftauchte. Sie hatten den Hintereingang benutzt. Der Mann, den Tendyke als einen der Typen aus der ersten aufgesuchten

Kellerkneipe wiedererkannte, machte einen ziemlich geistesabwesenden

Eindruck. »Hast du ihn hypnotisiert?« fragte Tendyke. Zamorra nickte. »Er und noch zwei weitere Figuren haben mich drau­

ßen vor der Tür weggeschnappt. Ich konnte sie dann ausschalten.« Mit wenigen Worten berichtete er von dem Vorfall und auch von dem, was

Cimy ihm unter Hypnose erzählt hatte. »Der Negerjunge als Informant«, sagte Tendyke kopfschüttelnd. »Ha­

be ich dich nicht gewarnt? Hättest du die beiden Schlägerknaben nicht

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verscheucht, wäre der Junge nicht auf dich aufmerksam geworden. Er

hätte die Sache schon überlebt . . . aber jetzt haben wir den Ärger.«

»Und die Spur zu Ombre«, sagte Zamorra. Er wies auf Cimy. »Er zeigt uns den Weg zu seinem Boß, und der wiederum kennt Ombre.«

»Du glaubst doch nicht im Ernst, daß das alles klappt«, sagte Tendyke. »Immerhin hat Cimy mich bereits hierher zurückgebracht. Da er den

Auftrag hat, mich zum Boß zu führen, muß der Drahtzieher der Aktion

sich also in diesem Haus befinden.«

»Bloß habe ich außer einer Falltür ohne erkennbaren Auslösemecha­nismus noch nichts gefunden«, wehrte Tendyke ab. Er erzählte jetzt sei­nerseits. »Wenn ich nur wüßte, was dieses Versteckspiel soll«, schloß er. »Die

schrägen Vögel hätten jetzt schon dreimal Gelegenheit gehabt, mich er­neut zu überfallen. Aber nichts dergleichen ist passiert. Ich komme mir

langsam vor wie ein Hanswurst.«

»Jeder, wie er’s kann«, sagte jemand. Tendyke und Zamorra zuckten zusammen. Praktisch aus dem Nichts

war ein Mann mittleren Alters aufgetaucht. Er stand da, wo sich die Fall­tür befand, auf die in den letzten Minuten keiner der beiden Freunde ge­achtet hatte. Nadelstreifenhose, ein gelbes, bis zum Nabel offenstehen­des Rüschenhemd, glatt zurückgekämmtes schwarzes Haar und etwas

wulstige Lippen, die negroiden Einschlag verrieten. Dazu jede Menge

wuchtiger goldener Ringe, mit Brillanten besetzt, an den Fingern. Tendyke pfiff durch die Zähne. »Ihr Falltürchen ist wirklich schnell, Mister«, gestand er. »Wie machen

Sie das, nach der rasenden Aufwärtsfahrt so gerade und ruhig dazuste­hen?«

»Mein Geheimnis. Ein paar Geheimnisse sollte jeder Mensch haben, finden Sie nicht auch? Hallo, Cimy, du Verräter.«

»Ich habe ihn gezwungen«, sagte Zamorra. »Er konnte nicht anders. Er ist hypnotisiert.«

»Ich weiß. Fürchten Sie, ich würde ihn dafür umbringen, daß er Sie

hergebracht hat?«

Zamorra hob die Brauen. »Die Wahrheit liegt stets im Verstand des Fragenden«, gab er zurück.

»Sie sind der Boß, zu dem Cimy mich führen sollte, nehme ich an.«

»Erraten. Ich denke, wir können uns zivilisiert unterhalten, ja? Aus

Ihren Äußerungen Ihrem Komplizen gegenüber entnehme ich, daß Sie

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wissen, weshalb ich Sie kassieren ließ. Okay, Sie wissen Bescheid. Also

können Sie mir dieses silberne Schmuckstück geben.«

Zamorra tippte sich an die Stirn. »Kommt gar nicht in Frage.«

»Ich werde sie nicht zu l’ombre führen. Diesen kleinen Dienst werde

nämlich ich ihm leisten, nicht Sie.«

»Ihm das Amulett zu geben?«

Der Dandy nickte. »Genau. Sie sind fremd hier. Ich lasse Ihnen die

Wahl. Entweder erfüllen sie meinen Wunsch und verlassen Baton Rouge

lebend, oder ich nehme Ihrer Leiche das Amulett ab und gebe es l’ombre

zurück.«

»Sie sollten die dritte Möglichkeit in Betracht ziehen, Mister Namen­los«, schlug Zamorra vor. »Ich habe kein Interesse, mir Ihr Geschwafel anzuhören. Ich diskutiere

nicht. Ich befehle. Sie werden sich damit abfinden müssen.«

»Und wenn wir nicht gehorchen, holen Sie Ihre drei Gorillas wieder

aus dem Keller, wie?« spöttelte Tendyke. Der Dandy zuckte mit den Schultern. Er sah wieder Zamorra an und

streckte die Hand aus. »Was versprechen Sie sich eigentlich von diesem kleinen Freund­

schaftsdienst Ombre gegenüber?« wollte der Parapsychologe wissen. »Sind Sie auf Ombre angewiesen? Brauchen Sie seine Hilfe, wollen Sie

ihn sich verpflichten?«

»Es könnte so sein. Er wäre mir dankbar«, sagte der Dandy. »Darf ich

jetzt bitten?«

Zamorra schüttelte den Kopf. Er suchte nach einer Chance, auch den

Mann im Rüschenhemd unter hypnotische Kontrolle zu bekommen. Bei Cimy hatte er leichtes Spiel gehabt, der Mann war im Aufwachen aus

seiner Betäubung viel zu benommen gewesen, als daß er überhaupt mit­bekommen hätte, was ihm widerfuhr. Aber der Dandy wußte Bescheid. Und er war wachsam und konzentriert. Vielleicht gehörte er sogar zu

den Menschen, die grundsätzlich nicht zu hypnotisieren waren. Zamorra

hatte es jedenfalls versucht, sobald Tendyke den Dandy ablenkte, aber

es war ihm nicht gelungen. »Gut. Sie hatten Ihre Chance, toter Mann«, sagte der Dandy und

schnipste mit den Fingern. Eine Kamera, deren Objektiv nicht zu sehen war, mußte die Szene in

den Kontrollraum unter der Bar übertragen. Dort reagierte man.

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Page 76: Schrei, wenn der Dämon kommt

Diesmal war zu sehen, wie der Boden der Falltür blitzschnell weg­klappte und auf einer Art Plattform drei Gestalten hochkatapuliert wur­den. Während ihre Plattform wieder wegglitt, schob sich der Boden, auf den die hochgeworfenen Männer wieder prallten, unter sie. Es dauerte gerade eine Sekunde. Es mußte eine Menge Training dazugehören. Aber die drei Männer aus

der Tiefe beherrschten diesen Vorgang ebenso wie ihr Boß. Es waren der

Keeper und die beiden »Gäste«, die Tendyke vorhin schon kennengelernt hatte. Alle drei hielten großkalibrige Pistolen in den Händen. »Knallt sie ab!« befahl der Dandy . . .

Leonardo deMontagne hatte nicht mit einem so schnellen Erfolg gerech­net. Schon kurz nachdem er die Hilfsgeister, Irrwische und dergleichen

mehr ausgesandt hatte, kehrte einer von ihnen bereits mit einer Erfolgs­meldung zurück. »Herr«, zwitscherte er unterwürfig. »Ich sah den Mann, der eine Sil­

berscheibe trägt wie die, die Ihr beschrieben habt. Er befindet sich im

Gebiet des Hafens, ganz in der Nähe.«

»Du bist sicher?«

Leonardo war aufgesprungen. Seine Augen glühten intensiver. Begie­rig starrte er den wesenlosen Schemen an, der vor ihm auf und nieder

tanzte, unsichtbar für menschliche Augen. »Ganz sicher, Herr. Ich konnte die Silberscheibe deutlich sehen. Er

trägt sie vor der Brust. Er stieg aus einem Auto, aber er war nicht allein.«

Das spielte für Leonardo keine Rolle. Er wurde mit jedem Menschen

fertig. Gefährlich würde allenfalls der Amulettträger sein. »Führe mich dorthin!« befahl der Dämon. »Sofort!«

»So folgt mir, Herr. Es ist nicht weit.«

Der Hilfsgeist wirbelte, heftig hin und her zuckend, vor Leonardo her, fort aus dem Lagerbereich am Hafenrand und in belebteres Gebiet. Jetzt, in den Mittagstunden, war der Autoverkehr auch im Bereich der an den

Hafen angrenzenden Straßen stärker geworden, mehr Menschen eilten

hin und her. Aus offenen Fenstern drang Musiklärm. Leonardo hatte sein Äußeres verändert. Der Hilfsgeist war unsichtbar

für die Menschen, aber der Dämon selbst wollte nicht zu sehr auffallen.

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Page 77: Schrei, wenn der Dämon kommt

Er war auf normale Größe geschrumpft und trug jetzt dunkle Alltags­kleidung. So konnte er sich durch die Straßen bewegen, ohne daß sich

jemand an ihn erinnern würde. Diesmal würde ihm der Mann mit dem Amulett nicht entkommen.

Yves Cascal ließ sich treiben. Er achtete nicht darauf, wohin er ging –

er kannte hier ohnehin jede Gasse und jeden Winkel. Das Amulett lenkte

ihn. Wenn er eine falsche Richtung einschlug, ließ es in ihm das Gefühl entstehen, daß er sich von seinem Ziel entfernte, statt ihm näher zu kom­men. Schließlich erreichte er eine der Gaststätten, die auch vormittags und

mittags geöffnet hatten. Ein Lieferwagen stand am Straßenrand vor der

Tür. Der Schatten sah auf dem Beifahrersitz einen offenbar schlafenden

Mann. Mehr konnte er darin nicht erkennen. Er betrachtete die Hausfassade und hatte das Gefühl, daß er hier ei­

gentlich eintreten sollte. Sollte der Unheimliche sich in diesem Haus befinden?

Yves Cascal preßte die Lippen zusammen, bis sie wie ein schmaler

Strich wirkten. Er berührte den Türgriff. Aber die Tür ließ sich nicht öffnen. Sie war abgeschlossen . . . Der Schatten nickte langsam. Es war nicht normal, daß diese Kneipe

jetzt geschlossen war. Also hatte ihn das Amulett wohl richtig gelenkt. Daß hier etwas nicht stimmte, war mit Sicherheit auf die Anwesenheit des Unheimlichen zurückzuführen. Denn Bandenkriege gab es momen­tan hier nicht, und es war ihm auch nicht bekannt, daß Polizei oder Ord­nungsamt dieses Lokal bis auf weiteres geschlossen hätten. Solche Dinge

sprachen sich innerhalb kürzester Zeit herum. Cascal umrundete das Haus, das durch schmale Ritzen von den Nach­

bargebäuden getrennt war. Er huschte vorsichtig hindurch; nichts eignet sich mehr für eine Falle als ein enger Durchgang. Aber niemand bedroh­te ihn. Er fand den Hinterhof und den Hintereingang. Die Tür stand eine

Handbreit offen. Eine Einladung . . . Aber der Schatten war noch nie in eine Falle gegangen. Das hier sah

geradezu danach aus, als würde jemand dahinter auf ihn warten. Nicht mit mir, dachte Cascal. Er sah an der Hauswand hinauf. Oben gab es

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ein paar Fenster, aber selbst im ersten Stock waren sie vergittert. Keine

Chance, dort hineinzugelangen.

Also kehrte er wieder nach vorn, zur Straße, zurück. Vor der abge­schlossenen Kneipentür blieb er stehen. Das Schloß bereitete ihm keine

großen Schwierigkeiten. Er hatte es schon mit viel komplizierteren Sy­stemen zu tun gehabt. Innerhalb von dreißig Sekunden hatte der Schat­ten die Tür lautlos geöffnet und trat ebenso lautlos ein.

Er hörte Stimmen und sah Menschen, aber er wurde selbst nicht gese­hen. Er verharrte. Keiner der drei Anwesenden achtete auf ihn. Da war

ein Mann, der wie ein Filmcowboy gekleidet war, und da war der andere, vor dessen Brust das Amulett hing, das dem Cascals so ähnlich sah.

Was den Schatten verwirrte, war, daß er die Ausstrahlung von Bös­artigkeit hier nicht wahrnehmen konnte, die er damals auf der Lichtung

und vorhin an seinem Versteck gespürt hatte. Warum fehlte sie plötzlich?

Irgend etwas war hier nicht richtig.

Cascal hörte die letzten Worte der Unterhaltung zwischen den beiden

nebeneinander stehenden Männern und dem Paradiesvogel im gelben

Rüschenhemd mit.

»Was versprechen Sie sich eigentlich von diesem kleinen Freund­schaftsdienst Ombre gegenüber?« fragte der Mann mit dem Amulett. »Sind Sie auf Ombre angewiesen? Brauchen Sie seine Hilfe, wollen Sie

ihn sich verpflichten?«

»Es könnte so sein. Er wäre mir dankbar. Darf ich jetzt bitten?«

Yves preßte die Lippen zusammen. Es ging um ihn! Niemand sonst in Baton Rouge, in ganz Louisiana wohl, wurde Ombre genannt. Was

bedeutete das?

»Gut. Sie hatten Ihre Chance, toter Mann.«

Ein Fingerschnipsen.

Dann tauchten drei Bewaffnete aus der Falltür auf. Cascal grinste nicht einmal. Er kannte die Falltür, er kannte auch die Räume darunter, ohne

daß der Besitzer das wußte. Aber die Situation war zu ernst . . .

»Knallt sie ab!«

Da trat Cascal aus seiner Sichtdeckung heraus.

»Ich denke, daß ihr damit noch ein wenig warten solltet, Rooster«, sagte er scharf. »Erst mal will ich wissen, was hier gespielt wird.«

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Die drei Pistolenmänner wirbelten herum. Die Mündungen ihrer Waffen

kreiselten in Richtung des Neuankömmlings. Im gleichen Moment flogen Tendykes Hände empor. Er machte einen

Schritt zurück und richtete seine Smith & Wesson im Beidhandanschlag

auf den Dandy. »Bleibt alle ganz friedlich, oder euer Boß ist tot!«

Automatisch hob der Mann im Rüschenhemd die Hände. Er lächelte

dünnlippig. »Glaubst du im ernst, daß du eine Chance hättest, Mister?« fragte

er spöttisch. »Du kannst mich erschießen, aber danach tragen sie dich

trotzdem als Sieb nach draußen.«

»Gehst du das Risiko ein, Freundchen?« knurrte der Abenteurer. Er ließ den Dandy nicht aus den Augen. Zamorra betrachtete derweil den Ankömmling, der die Unruhe ver­

ursacht hatte. Ein jung aussehender Neger in Jeans, Turnschuhen und

offenem Hemd – und vor seiner Brust sah Zamorra das Gegenstück zu

Merlins Stern. »Monsieur Ombre?« fragte er leise. Der Neger hob die Brauen. »Ja«, sagte er. Er starrte Zamorra durch­

dringend an, versuchte ihn abzuschätzen. Zamorra fühlte, wie schnel­le Impulse zwischen den beiden Amuletten gewechselt wurden, aber er

konnte nicht erfassen, was da an Informationen ausgetauscht wurde –

wenn es das überhaupt war. »Warum verfolgst du mich, Fremder?« fragte Ombre. »Warum stellst

du mir immer nach? Warum versuchst du mich ständig umzubringen?«

Er tastete nach seinem Amulett, daß schwach leuchtete. »Umbringen? Ich verstehe nicht?« sagte Zamorra. »Ich begreife jetzt auch nichts mehr«, entfuhr es dem Dandy. »Du hast

dein Amulett ja noch, Ombre! Aber wieso kann dieser Kerl ein Duplikat davon haben . . . ?«

»Dafür beginne ich zu verstehen, Rooster«, sagte Ombre kühl. »Du

hast wohl geglaubt, du könntest es ihm abnehmen und mir zum Kauf anbieten, wie?«

»Nein! Ich dachte, er hätte es dir gestohlen, und wollte es dir zurück­geben«, verteidigte sich Rooster, der Dandy. Cascal schüttelte den Kopf. »Selbst wenn es mir jemals gestohlen werden könnte, glaubst du doch

wohl, daß ich es mir jederzeit selbst zurückholen würde. Ich brauche

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deine recht zweifelhaften Dienste nicht. Ich kenne dich, Rooster. Aber

deine Tricks kommen bei mir nicht an.«

»Steckt die Kanonen ein, Jungs«, sagte Rooster. »Die Sache ist geklärt. Zum Teufel damit.«

Zögernd ließen die Männer ihre Pistolen sinken, der Keeper steckte

sich seine Waffe hinter den Hosenbund. Rooster deutete auf den weit im Hintergrund stehenden Cimy. »Wie

wäre es, wenn Sie die Hypnose endlich von ihm nehmen würden Mister?«

»Gleich«, sagte Zamorra. »Gleich, Rooster.«

Auch Tendyke entspannte sich jetzt langsam und senkte die Hände

mit der Waffe. Er starrte Cascal an. »Ihre Beschreibung war sehr gut, Ombre«, sagte er. »Wer sind Sie?«

»Tendyke. Sie haben vor kurzem eine junge Chinesin nach Florida ge­bracht, in mein Haus. Sie erinnern sich?«

»An Sie nicht, Tendyke. Sagen Sie Ihren Spruch auf und verschwinden

Sie. Ich habe nichts mit Ihnen zu tun.«

Cascal wandte sich Zamorra zu. »Aber mit dir, mein Bester, habe ich

zu reden. Wer bist du wirklich, großer schwarzer Vogel?«

»Drücken Sie sich deutlicher aus, Ombre«, bat Zamorra. »Ich habe das

dumpfe Gefühl, daß wir aneinander vorbeireden. Ich sehe Sie zum ersten

Mal.«

»Ach.« Cascal legte den Kopf schräg. Er lächelte spöttisch. »Faszinie­rend. Du hast nicht unten auf der Lichtung im Sumpfwald einen Asiaten

getötet? Du bist nicht feuerumhüllt im Nichts verschwunden? Du hast nicht vor knapp einer Stunde eine Hütte im Wald ausgeräuchert? Nein?«

»Nein«, sagte Zamorra. Er begann einen Hauch der Wahrheit zu ah­nen. »Er hält dich für Leonardo«, sagte Tendyke leise. »Das darf nicht wahr

sein. Das verdammte Amulett . . .«

Zamorra nickte. »Ich habe damit nichts zu tun«, sagte er. »Sie reden von einer anderen

Person.«

Cascal lachte leise auf. »Daß es eine Kopie meines Amulettes gibt, muß ich akzeptieren, weil

ich sie hier deutlich vor mir sehe«, sagte er. »Aber daß es noch mehr

davon gibt, kaufe ich dir nicht ab. Allerdings stelle ich fest, daß sich

innerhalb der letzten Stunde etwas an dir verändert hat.«

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»Vorsicht«, warnte Tendyke. »Wenn er vor einer Stunde Leonardo be­gegnet ist, heißt das, daß der Dämon in der Nähe sein muß. Du . . .«

In diesem Moment spürte Zamorra, wie Merlins Stern sich erwärmte. Es ging rasend schnell. Das Amulett vor Ombres Brust leuchtete hell auf. Silberweiße Flam­

men umspielten die Scheibe. »Vorsicht!« schrie der Dämonenjäger. Rooster verzog das Gesicht. »Was wird hier eigentlich gespielt, zum

Teufel?« schrie er. Da war der Teufel da!

Der Dämon hatte das Haus ebenfalls erreicht. Der Lieferwagen, den der

Hilfsgeist erwähnt hatte, stand da. Leonardo deMontagne wies den Geist an, vor ihm das Haus zu betreten, und folgte ihm dann. Er war gespannt darauf, wie der Amulettträger auf seine Entdeckung

reagieren würde. Leonardo wollte ihm erst gar keine Chance geben, sich

zur Wehr zu setzen. Lange genug hatte er sich mit diesem Menschen herumgeärgert, zu

viel Zeit und Kraft verschwendet. Er würde ihn töten und sein Amulett an sich nehmen. Während er durch die Tür schritt, dem Geist folgend, konzentrierte

er sich bereits auf sein Vorhaben, sammelte die vorhin beim Ritualmord

aufgenommene Kraft, um sie mit der Energie seines eigenen Amulettes

sofort abzustrahlen. Er sah Menschen. Vier, fünf, sieben – acht. Zwei davon kannte er, wie er mit jähem Erschrecken feststellen mußte.

Da war dieser seltsame Abenteurer, den er noch nicht völlig durchschau­te, und da war –

»Zamorra!« brüllte er überrascht. »Mein Feind!«

Die Gedanken fuhren in seinem teuflischen Gehirn Karussell. Zamorra

hatte er hier nicht erwartet. War das etwa eine Falle, die ihm gestellt worden war? War es Zamorras Amulett gewesen, das er angepeilt hatte?

War es Zamorra gewesen, den der Hilfsgeist gesehen hatte?

Den Neger registrierte er in diesem Moment nur am Rande, nahm ihn

überhaupt nicht wahr. Zamorra nahm seine ganze Aufmerksamkeit in

Anspruch. Blitzschnell mußte er sich auf die neue Situation einstellen.

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Er verlor ein paar wertvolle Sekunden. Da glühte Zamorras Amulett auf. Grünes Licht floß aus der Silberscheibe, begann Zamorra einzuhül­len. Er baute seinen magischen Schutzschirm auf! Da endlich reagierte Leonardo deMontagne. Er schaltete Zamorras Amulett ab. Auch nach so langer Zeit hatte er immer noch genügend Einfluß auf

Merlins Stern. Und er war der einzige, der es so nachhaltig blockieren

konnte, daß Zamorra anschließend Stunden oder Tage brauchte, um es

wieder zu aktivieren. Jäh erlosch Merlins Stern. Der grünleuchtende Schutzfilm um den Dä­

monenjäger verschwand augenblicklich wieder. Tendyke fuhr herum und

schoß. Die Detonationen krachten überlaut in der Gaststube. Orangerote

Mündungsblitze flammten auf, stießen Kugeln in Leonardo deMontagnes

Dämonenkörper. Da setzte der Dämon seine ganze angestaute schwarzmagische Kraft

gegen den in diesem Augenblick hilflosen Zamorra ein! Eine Feuerlohe

brach aus seinen Händen und jagte auf Zamorra zu, um ihn niederzu­brennen. Jetzt oder nie . . . Und der Fürst der Finsternis brüllte dabei seinen Triumph darüber

hinaus, den verhaßten Feind endlich wehrlos zu erwischen und nieder­machen zu können!

Yves Cascal beobachtete fasziniert. Sein Amulett wurde warm, wurde

heiß, und in diesem Moment spürte er auch wieder die bösartige Au­ra. Da wußte er, daß es tatsächlich noch mindestens ein drittes dieser

Amulette gab. Der Unheimliche, der seine Gestalt verändern konnte, war

nicht mit diesem Mann hier identisch. Der Unheimliche kam! Und er griff sofort an. Um den Körper des anderen Mannes floß jetzt

grünes Licht, verlosch wieder – und dann raste eine brüllende Feuerlohe

aus den Händen des Unheimlichen, der selbst noch lauter brüllte. Die Zeit schien stillzustehen. Wie damals! dachte Cascal, der Schatten. Wie auf der Lichtung, als

der Mongole verbrannte!

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Tendyke schoß. Die drei anderen Pistolenhelden zogen ebenfalls ihre

Waffen, waren aber zu verwirrt, um die ungewöhnliche Situation zu be­greifen. Mit weit aufgerissenen Augen standen sie da und wußten nicht, wessen Partei sie ergreifen sollten.

Es ging auch alles viel zu schnell.

Yves wußte selbst nicht, was er tat. Er gab sich einfach einem zwin­genden Impuls hin. War es das Amulett, das ihn lenkte? Warum sonst sollte er so handeln, wie er es jetzt tat? Er hätte närrisch sein müssen, selbstmörderisch . . .

Er sprang!

Genau in die Feuerlohe hinein, und dann raste ein silberner, schenkel­starker Lichtstrahl aus seinem eigenen Amulett auf den Unheimlichen

zu. Innerhalb von Sekundenbruchteilen war der ganze Raum nur noch

ein Inferno. Das Triumphgebrüll wurde zum schmerzerfüllten Aufschrei. Wie damals!

Der Unheimliche spie eine Klapperschlange aus seinem weit aufgeris­senen Rachen, der Ungeheuerzüge annahm. Die Schlange flog beißend

auf Cascal zu. Der duckte sich. Die Schlange verbiß sich in dem hinter

ihm stehenden Mann. In diesem Moment floh der Dämon. Inmitten des

Feuers stank es bestialisch nach Schwefel, als er im Nichts verschwand. Aus den Augenwinkeln erkannte Cascal einen im Zickzack durch die

Gaststube rasenden Kugelblitz, der Gardinen und Tischdecken in Brand

setzte, Fensterscheiben und Vitrinenglas zerplatzen ließ. Dann verglühte

er zu einem Aschefleck an der Wand.

Der Dandy riß sich die Schlange vom Oberarm und schleuderte sie in

die Flammen.

»Feuer!« schrie Rooster. »Raus hier, schnell! Hilfe!«

Sie stürmten nach draußen. Jemand riß den willenlosen Cimy mit sich

ins Freie. Flammen schlugen durch die offenstehende Tür hinter ihnen

her auf die Straße. Das Glühen von Cascals Amulett war erloschen. Es

war wieder eine kühle Schmuckscheibe, mehr nicht.

Er war geflohen.

Abermals hatte er der Kraft des anderen Amuletts weichen müssen. Ohnmächtiger Zorn tobte in Leonardo deMontagne. Der Schlag, der ihm

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versetzt worden war, war diesmal noch stärker gewesen als damals auf der Lichtung. Und das, obgleich er sich vorher noch gestärkt hatte! Der Fürst der Finsternis zitterte. Er kauerte am Ufer eines Bayous, irgendwo im Süden Louisianas. Wei­

ter hatte er es bei seiner Flucht nicht geschafft. Er hatte die höllischen

Sphären nicht mehr erreicht. Sein Amulett pulsierte, glühte. Etwas in ihm tobte, nicht minder wü­

tend als Leonardo selbst. Wut und Zorn über die neuerliche Niederlage. Darüber, daß es abermals nicht gelungen war, Zamorra zu vernichten, weil sich dieser Neger dazwischengeworfen hatte. Zum zweiten Mal hat­te er sich offen gegen den Fürsten der Finsternis gestellt. Ein neuer, starker Feind . . . Eine Verstärkung für die Zamorra-Crew! Das hatte dem Dämonen-

fürsten gerade noch gefehlt. Zamorra und seine Mitstreiter waren wie

die Hydra der griechischen Sage. Wenn man einen von ihnen erschlug, tauchten zwei neue auf . . . Leonardo erhob sich. Er schwankte, war geschwächt. Narr! tobte die Stimme aus dem Amulett. Das wäre nicht nötig gewe­

sen! Du bist in den Raum gestürmt wie ein hirnloser Tölpel! Du hättest dich erst vergewissern müssen, mit wem du es in Wirklichkeit zu tun

hattest! »Halts Maul«, fauchte der Dämon grob. »Du hättest mich warnen kön­

nen. Du hattest immerhin bessere Möglichkeiten, festzustellen, was los

war! Es war eine Falle, in die ich geriet! Vielleicht – warst du daran gar

nicht so unbeteiligt!«

Wahnsinniger! ich wäre fast ebenfalls vernichtet worden! Leonardo deMontagne lachte bitterböse. »Das soll dir eine Lehre sein –

fürs nächste Mal«, zischte er. »Dann wirst du mich lieber rechtzeitig

warnen!«

Das Amulett antwortete nicht mehr. Vielleicht hatte es keine Argumen­te mehr, vielleicht brauchte es selbst Erholung. Der Dämon wußte es

nicht. Er wußte nur, daß er abermals eine Niederlage hinnehmen mußte. Wenn andere Dämonen davon erfuhren, sank sein Einfluß weiter. Leo­nardos Groll auf Zamorra und den neuen Gegner wuchs immer weiter. Wenn es ihm wenigstens gelungen wäre, ihn mit der Giftschlange zu tö­ten, die er sich für einen solchen Notfall aufbewahrt hatte! Aber er hatte

den Falschen getroffen. Die Klapperschlange hatte den Amulettträger

verfehlt . . .

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Mühsam und verbittert machte der Fürst der Finsternis sich auf den

langen Weg zurück zur Hölle. Niederlagen zu verkraften, fiel ihm von

Mal zu Mal schwerer . . .

Sie starrten in die Flammen, die aus dem Gebäude emporschossen. Feu­erwehrwagen füllten die Straße aus. Armdicke Wasserstrahlen zischten

in das aufbrausende Feuer, versuchten es zu löschen. Aber es hatte sich

so blitzartig und intensiv ausgebreitet, daß wohl nicht mehr viel zu ret­ten war. Deshalb konzentrierten die Männer der Feuerwehr sich auch

darauf, die umliegenden Häuser vor einem Übergreifen des Brandes zu

schützen. Zamorra hatte Cimy aus der Hypnose geweckt. Der Mann hatte keine

Erinnerung an das, was geschehen war. Er war maßlos verblüfft, eben

noch im Lieferwagen gewesen zu sein und sich jetzt auf der Straße vor

dem brennenden Haus wiederzufinden, zwischen Schaulustigen, die den

Feuerwehrleuten die Arbeit zusätzlich erschwerten, weil sie überall im

Wege herumstanden. Rooster war mit einem Krankenwagen fortgebracht worden. Vermut­

lich würde er den Biß der Klapperschlange überleben – falls die im Bauch

des Dämons nicht schwarzmagisch aufgeladen worden war und ihr Gift sich demzufolge verändert hatte. Aber das würde die Zukunft weisen. Yves Cascal war verschwunden. »Du kannst dich beruhigen, Rob«, versuchte Zamorra den darüber ver­

ärgerten Abenteurer zu besänftigen. »Wir haben ja trotzdem Erfolg ge­habt.«

»Erfolg? Nennst du das einen Erfolg? Leonardo ist wieder mal davon­gekommen, und diesen Ombre können wir wieder von neuem zu suchen

beginnen. Und der wird sich jetzt noch bedeckter halten als zuvor . . .«

Zamorra schüttelte den Kopf. »Ich bin mir da nicht sicher«, sagte er. »Weiß der Teufel, woher er das

Amulett hat, aber ich werde den Eindruck nicht los, daß er damit ein

wenig überfordert ist – momentan wenigstens. Ich glaube, er kann es

gar nicht richtig nutzen.«

»Das sah aber gar nicht so aus, als er den Dämon angriff.«

»Weißt du, wie es bei mir früher war, zu Anfang? Da übernahm das

Ding hier«, er klopfte gegen das erloschene Amulett, »einfach selbst die

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Steuerung des Geschehens. Es griff Dämonenwesen an, ehe ich über­haupt wußte, wie mir geschah. Erst später, als ich lernte, damit bes­ser umzugehen, änderte sich das. Ich möchte behaupten, daß es diesem

Monsieur Ombre ebenso geht wie mir damals. Er kann das Amulett noch

nicht sehr lange besitzen.«

»Sicher. Es ist ja noch nicht lange her, daß die Dynastie nahezu alle

Amulette besaß und daß sie zerstreut wurden in Raum und Zeit . . .«

Zamorra nickte.

»Außerdem haben wir noch etwas gelernt«, fuhr er ruhig fort. »Dieser

Ombre hat sich gegen Leonardo gewandt, steht also zumindest nicht auf seiner Seite, nicht auf der Seite der Hölle. Er hat mich gerettet, ist dir

das klar? Wenn er sich nicht dazwischengeworfen hätte, wäre ich jetzt ein Klumpen Asche. So wie Wang Lee . . .«

Tendyke verzog das Gesicht. »Der sah hinterher furchtbar aus«, ge­stand er bedrückt.

»Und dieses Amulett wird Ombre auch gegen dämonische Attacken

schützen, wie mir scheint. Sollte er also damals in deinem Haus auch

nur irgend etwas mitbekommen haben, wird man das Geheimnis ihm

nicht entreißen können.«

»Dein Wort in Merlins Ohr . . .«

Zamorra lächelte. »Den Spruch hat Gryf doch sonst immer darauf . . . fällt dir nichts eigenes mehr ein?«

Tendyke brummte etwas Unverständliches. »Dennoch sollten wir uns

um diesen Burschen bemühen«, sagte er dann. »Er könnte wertvoll für

uns werden . . .«

Zamorra schüttelte den Kopf. »Ich versuche ein wenig, mich in seine

Lage zu versetzen und ihn zu verstehen. Er hat sich zurückgezogen. Das

hätte er eigentlich nicht tun müssen. Aber er wird erst einmal allein

mit dem heutigen Erlebnis fertig werden wollen. Er muß das erst mal verkraften. Wir sollten das respektieren.«

»Hm.«

»Und zu einem späteren Zeitpunkt wiederkommen, wenn er – und wir

auch – unsere Ruhe wiedergefunden haben. In ein paar Tagen, in ein

paar Wochen . . . ich weiß es noch nicht. Und dann sollten wir es auch

etwas geschickter anfangen. Vielleicht schaffen wir es sogar, ihn zu uns

kommen zu lassen.«

»Du bist ein hoffnungsloser Optimist, Zamorra. Ist dir das klar? Ich

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bin mir nicht sicher, ob ich dir zustimmen kann, aber ich denke drüber

nach.«

Zamorra legte ihm die Hand auf die Schulter. »Dann laß uns hier verschwinden, ehe wir von den Mücken zerstochen,

von der Feuerhitze gesotten und von der Zuschauermenge erdrückt wer­den. Es gibt hier bestimmt ein nettes Café, in dem wir uns für ein paar

Stunden niederlassen können . . . und dann schlage ich vor, daß wir Hei­matkurs nehmen. Nicole wartet auf mich, die Zwillinge auf dich . . .«

Tendyke nickte. »In Ordnung. Du darfst mich einladen«, sagte er

trocken.

Yves Cascal spürte, daß die unmittelbare Gefahr vorüber war. Er konnte

sich wieder zu Hause sehen lassen, ohne die Geschwister oder andere

Hausbewohner zu gefährden. Er dachte über die Ereignisse nach. Und über diesen Fremden, der Zamorra genannt wurde und der eben­

falls ein Amulett besaß – nur schien ihm das im Kampf gegen den Dämon

nichts genützt zu haben. Aber Cascals Amulett hatte sie beide geschützt. Yves schüttelte den Kopf. Er verstand nicht, wieso er sich in die Flam­

menbahn geworfen hatte. Er hatte einfach dem Impuls des Amuletts ge­horcht. Er hätte sterben könne wie jener Asiate damals – oder nicht?

Hatte das Amulett gewußt, daß ihm nichts gesehen würde?

Er klopfte gegen die Silberscheibe. »Du bist mir aber inzwischen doch eine Menge Antworten schuldig«,

sagte er leise. »Eine ganz verteufelte Menge.«

Er hatte sich von diesem Zamorra und dem Mann namens Tendyke

zurückgezogen. Zu einem späteren Zeitpunkt hoffte er den Kontakt er­neuern zu können. Jetzt aber nicht. Irgendwie spürte er, daß sie versu­chen würden, ihn für ihre Zwecke zu vereinnahmen – und das wollte er

nicht. Er war immer ein Einzelgänger gewesen, hatte immer auf eigene

Rechnung gearbeitet, und das sollte so bleiben. Der Dämon und Zamorra

hatten sich gekannt. Sie waren bestimmt nicht zum ersten Mal aufeinan­der gestoßen, und Yves war sicher, daß diese Zusammenstöße immer so

turbulent und lebensgefährlich waren wie das Fiasko heute. Aber das – war nicht seine Welt . . .

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Und zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, sein Amulett einschmelzen

zu lassen. Aber das würde er nicht tun. Irgendwie hatte er sich an das verflixte

Ding schon gewöhnt und kam nicht mehr von ihm los. Dieser vertrackte Stern der Rätsel . . .

ENDE