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SCHRIFTEN AUS DEM NACHLASS WOLFGANG HARICHS ......Wolfgang Harich (1923–1995) zählt zu den wichtigen und streitbaren Intellektuellen des 20. Jahrhunderts. Befreundet mit Georg Lukács,

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SCHRIFTEN AUS DEM NACHLASS WOLFGANG HARICHS – Band 10

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SCHRIFTEN AUS DEM NACHLASS WOLFGANG HARICHS – BAND 10 Mit weiteren Dokumenten und Materialien herausgegeben von Andreas Heyer

Wolfgang Harich

Nicolai Hartmann

Der erste Lehrer

Tectum

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Die Veröffentlichung des vorliegenden Bandes wurde gefördert durch die

Wolfgang Harich

Nicolai Hartmann. Der erste Lehrer Schriften aus dem Nachlass Wolfgang Harichs. Band 10.Mit weiteren Dokumenten und Materialien herausgegeben von Andreas Heyer© Tectum – Ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2018 E-Book: 978-3-8288-6958-5(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Werk unter der ISBN 978-3-8288-4124-6 im Tectum Verlag erschienen.)Umschlagabbildung: © Privatbesitz Anne Harich

Alle Rechte vorbehaltenBesuchen Sie uns im Internetwww.tectum-verlag.de

Ergänzende Bildnachweise: 81 | Ernst Haeckel: Anthropogenie oder Entwickelungsgeschichte des Menschen. Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge über die Grundzüge der menschlichen Keimes- und Stammes-Geschichte, Leipzig: Engelmann, 1874; 237 | Ernst Haeckel: Discomedusae: Bildtafel Nr. 8 aus Kunstformen der Natur, 1899; 358 | Bundesarchiv Bild 116-119-22-03, Erich Becher.jpg; 365 | Bundesarchiv, Bild 183-2008-0826-500 / CC-BY-SA 3.0; 379 | Bundesarchiv, Bild 183-19204-2120 / CC-BY-SA 3.0; 518 | Bundesarchiv, Bild 183-E1102-0036-001 / Franke, Klaus / CC-BY-SA 3.0; 572 | Bundesarchiv, Bild 183-T00411 / CC-BY-SA 3.0; 574 | Bundesarchiv, Bild 183-35699-0001 / CC-BY-SA 3.0; 632 | Freier Bestand Universitätsbibliothek Heidelberg; 653 | Deutsche Fotothek, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index. php?curid=6539049; 807 | Bundesarchiv, Bild 183-H0611-0500-003 / CC-BY-SA 3.0

Bibliographische Informationen der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Angaben sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Zur Edition

Wolfgang Harich (1923–1995) zählt zu den wichtigen und streitbaren Intellektuellen des 20. Jahrhunderts. Befreundet mit Georg Lukács, Bertolt Brecht und Ernst Bloch wirkte er als Philosoph, Historiker, Literaturwissenschaftler und durch sein praktisches politisches Engagement. Letzteres führte nach seiner Verhaftung von 1956 wegen Bildung einer »konterrevolutionären Gruppe« zur Verurteilung zu einer zehnjährigen Haftstrafe. Die nachgelassenen Schriften Harichs erscheinen nun erstmals in einer elfbändigen Edition, die das reichhaltige Werk dieses undogmatischen Querdenkers in seiner ganzen Breite widerspiegelt: von seinen Beiträgen zur Hegel-Debatte in der DDR über seine Abrechnung mit der 68er-Bewegung im Westen bis zu seinen Überlegungen zu einer marxistischen Ökologie.

Die Edition würdigt Wolfgang Harich als Philosophen, Literaturhistoriker, Feuilleto-nisten, als praktischen Streiter für die deutsche Einheit und die ökologische Umorien-tierung. Sie wird im Herbst 2013 eröffnet mit drei Bänden zur klassischen Deutschen Philosophie des Idealismus sowie zum Verhältnis von Materialismus und Idealismus.

Zum Herausgeber

Andreas Heyer, Dr. phil., Jg. 1974, Politikwissenschaften und Jura. Von 2000 bis 2002 war er Stipendiat der Graduiertenförderung des Landes Sachsen-Anhalt, im Anschluss dann Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaften an der Martin-Luther-Univer-sität Halle-Wittenberg. 2003 promovierte er u. a. bei Iring Fetscher mit einer Arbeit über Diderots politische Philosophie. 2005 erschien in zwei Bänden das Lehrbuch Die französische Aufklärung um 1750. Zwischen 2003 und 2007 war er Mitarbeiter des DFG-Projekts Sozialutopien der Neuzeit. Er ist Autor zahlreicher Publikationen zur Geschichte der politischen Utopien der Neuzeit sowie zur Philosophie in der DDR. Im Zuge dieser Arbeiten entstand sein besonderes Verhältnis zu den Schriften Wolfgang Harichs, das sich in mehreren Veröffentlichungen niederschlug. Seit 2012 arbeitet er mit Unterstützung durch Anne Harich an der Herausgabe der nachgelassenen Schrif-ten Wolfgang Harichs.

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Editionsplan (Stand August 2018)

1. Frühe Schriften (in 3 Teilbänden)2. Logik, Dialektik und Erkenntnistheorie (erschienen)3. Widerspruch und Widerstreit – Studien zu Kant (erschienen)4. Herder und das Ende der Aufklärung (erschienen)5. An der ideologischen Front. Hegel zwischen Feuerbach und Marx (erschienen)6. Vorlesungen zur Philosophiegeschichte (in 2 Teilbänden, erschienen)7. Schriften zur Anarchie (erschienen)8. Ökologie, Frieden, Wachstumskritik (erschienen)9. Georg Lukács – Dokumente einer Freundschaft (erschienen)10: Nicolai Hartmann. Der erste Lehrer11: Arnold Gehlen. Eine marxistische An thro po lo gie?12: Friedrich Nietzsche. Dokumente einer Feindschaft13: Politik und Philosophie in der zweiten Lebenshälfte14: Kulturelle Herausforderungen 15: Schlüsseldaten deutscher Geschichte: 1953, 1956, 1968, 198916: Autobiographie

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Inhaltsverzeichnis

Nicolai Hartmanns Philosophie als permanente Herausforderung Wolfgang Harichs (Andreas Heyer) 11

Teil I: Einleitung und Biographie

Einleitung 57

Zur Geschichte von Leben, Werk und Wirkung 103

Teil II: Die Dialoge

Erwägungen zu Nicolai Hartmann. Versuch einer marxistischen Selbstverständigung in zehn Dialogen nebst einem Anhang 181

I. Über Nicolai Hartmanns Aktualität 181II. Über Materialismus und Idealismus 202III. Über den konsequenten Materialismus der neuen Ontologie 235IV. Über den inkonsequenten Materialismus der neuen Ontologie

(Fortsetzung: Zur Problematik des idealen Seins) 272V. Über die Stellung der neuen Ontologie im zeitgenössischen Kampf

zwischen Materialismus und Idealismus 309VI. Über die Stellung der neuen Ontologie im zeitgenössischen Kampf

zwischen Materialismus und Idealismus (Fortsetzung: Ihr Verhältnis zu anderen philosophischen Richtungen, I) 357

VII. Über die Stellung der neuen Ontologie im zeitgenössischen Kampf zwischen Materialismus und Idealismus (Fortsetzung: Ihr Verhältnis zu anderen philosophischen Richtungen, II) 409

VIII. Über die Stellung der neuen Ontologie im zeitgenössischen Kampf zwischen Materialismus und Idealismus (Weitere Fortsetzung: Ihr Verhältnis zu anderen philosophischen Richtungen, III) 456

IX. Über Georg Lukács’ Weg zu Nicolai Hartmann 515X. Über die Stellung der neuen Ontologie in den Klassenkämpfen

ihrer Zeit 585

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Teil III: Varianten

Zu den Bildungsfaktoren 669

Zum Neukantianismus 746

Zu den historischen und geistigen Voraussetzungen 752

Georg Lukács und Nicolai Hartmann 761

Exkurs über Lenin und Linke 773

Zur Lebensgeschichte 775

War Nicolai Hartmann ein Idealist? Zu einer Arbeit von Erhard Albrecht 816

Teil IV: Briefe und Dokumente

1. Brief an Robert Steigerwald (10. Januar 1983) 8672. Gliederung für ein geplantes und in Vorbereitung befindliches

Werk über Nicolai Hartmann (05. Januar 1984) 8733. Brief an Aloys Joh. Buch (13. Fe bru ar 1984) 8774. Brief an Lothar Berthold (14. Juni 1984) 8835. Brief an Frida Hartmann (09. Oktober 1985) 8896. Brief an Frida Hartmann (22. Oktober 1985) 8937. Brief an Frida Hartmann (26. November 1985) 8978. Brief an Frida Hartmann (01. Dezember 1985) 9019. Brief an Renate Heimsoeth (02. Dezember 1985) 90410. Brief an Frida Hartmann (11. Dezember 1985) 90611. Brief an die Humboldt-Universität (30. Dezember 1985) 90912. Brief an die Akademie der Wissenschaften der DDR

(30. Dezember 1985) 91013. Brief an Frida Hartmann (03. Januar 1986) 91014. Brief an Klaus Höpcke (09. Januar 1986) 91215. Brief an Frida Hartmann (06. März 1986) 91316. Fragen zu Nicolai Hartmann (06. März 1986) 917

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17. Brief an Frida Hartmann (14. März 1986) 93218. Brief an Frida Hartmann (24. März 1986) 93319. Brief an Frida Hartmann (08. April 1986) 93520. Brief an Frida Hartmann (12. Mai 1986) 94021. Brief an Frida Hartmann (19. Juni 1986) 94222. Brief an Frida Hartmann (05. September 1986) 94523. Brief an Gerd Reifarth (Herbst 1986) 94624. Brief an Frida Hartmann (01. Mai 1987) 94725. Brief an Lothar Berthold (26. August 1987) 94926. Brief an den Reclam-Verlag, an Roland Opitz (06. Januar 1988) 95327. Brief an Frida Hartmann (08. Januar 1988) 95628. Brief an den Reclam-Verlag, an Roland Opitz (21. Januar 1988) 95829. Brief an Thomas Grundmann (07. Juli 1988) 95930. Brief an Hans-Martin Gerlach (08. Juli 1988) 96131. Brief an Olaf Hartmann (12. August 1988) 96232. Brief an Josef Stallmach (27. September 1988) 96533. Brief an Lothar Berthold (15. Oktober 1988) 96834. Brief an Aloys Joh. Buch (27. Mai 1989) 96935. Brief an Olaf Hartmann (01. August 1989) 97136. Brief an das Collegium Humanum (01. August 1989) 97137. Plan: Nicolai Hartmann. Ausgewählte Werke in drei Bänden 972

Anhang 975

Abkürzungsverzeichnis 975

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Andreas Heyer

Nicolai Hartmanns Philosophie als permanente Herausforderung Wolfgang Harichs

In einem Brief an Robert Steigerwald vom 10. Januar 1983 (Abdruck in Teil IV) er-klärte Harich: »Nun kann natürlich ich nicht als löbliches Musterexemplar einer Entwicklung hin zum Marxismus – und das heißt allemal: hin zur Arbeiterklasse und ihrer revolutionären Partei – gelten; weiß der Himmel nicht. Ich habe Schwankungen hinter mir, so ungeheuerlich, dass die von Erich Engel (Regisseur, Mitarbeiter Brechts, AH) sich daneben sehr bescheiden und harmlos ausnehmen. Aber: Es hat sich bei mir nie um solche Schwankungen gehandelt, die von dominierenden Strömungen der bürgerlichen Philosophie im Zeitalter des Imperialismus bestimmt gewesen wären. ›Auffangbarriere‹ für den ›gesunden Menschenverstand‹, namentlich der naturwissen-schaftlich gebildeten Intelligenz, war und ist der Positivismus, und gegen den bin ich jederzeit gefeit gewesen, ganz egal, ob Hollitscher oder Havemann oder Karl Schröter positivistisch auf mich einredeten. ›Auffangbarriere‹ für geisteswissenschaftlich orien-tierte Intellektuelle mit Linksneigung war die ›Kritische Theorie‹ der Frankfurter Schule – mich hat sie nie berührt, nie im Geringsten beeinflusst. Um von Neothomis-mus, Existenzialismus, Psychoanalyse, Strukturalismus usw. gar nicht zu reden. Mit Bloch bin ich zwar freundschaftlich verbunden gewesen – und verbündet in dem Be-streben, aus der DZfPh eine einigermaßen interessante und niveauvolle Zeitschrift zu machen. Aber all seine philosophischen ›Extras‹ ließen mich kalt, was er sehr wohl spürte. Zu verdanken habe ich diese – bei all meinen Eskapaden seltsame – Standfes-tigkeit und Geradlinigkeit auf dem ureigensten Fachgebiet dem Umstand, dass ich mich dem Marxismus-Leninismus als Nicolai-Hartmann-Adept genähert habe. Leider ist das in keinem nennenswerten philosophischem Opus zu Buche geschlagen. Vor

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12 Nicolai Hartmanns Philosophie als permanente Herausforderung Wolfgang Harichs

1956 absorbierten mich Vorlesungs- und Redakteurstätigkeit, nach 1964 Feuerbach-Phi-lologie und Jean-Paul-Forschung, und Anfang der siebziger Jahre folgte Besessenheit von Zukunftsforschung und politischer Ökologie; Letzteres übrigens auch wieder durch die frühe Nicolai-Hartmann-Rezeption vorbereitet, die mich die Stalinschen ›Grund-züge‹ hatte sehr Ernst nehmen und daher den ersten ›Grundzug‹ schon 1948/1949 mit ökologischem Illustrationsmaterial anreichern lassen, weshalb denn, als die Zeit erfüllt war, der ›Club of Rome‹ mich wie ein coup de foudre traf.«

Diese Aussage ist richtig und falsch, der Wissenschaftler sieht sich genötigt, hoffentlich mit guten Gründen, dem autobiographischen Zeugnis zu widersprechen (was ja zumeist mit einiger Gefahr verbunden ist). In der Tat: Dicke philosophische Bücher lagen von Harich 1983 nicht vor, seine Vorlesungen an der Berliner Humboldt-Universität waren in Vergessenheit geraten. Die Dissertation war nie gedruckt worden. Doch aus ver-schiedenen Editionen ließ sich der Name Harich nicht tilgen (beispielsweise bei Rudolf Haym und den Texten der Philosophischen Bibliothek), auch wenn die Partei die frühe Heine-Ausgabe durch die neue Edition von Hans Kaufmann ersetzt hatte. Zudem gab es durchaus Aufsätze, die philosophisches Interesse voraussetzen, philosophischen Inhalt besitzen und die Kenntnis ihres Autors in den Bereichen Geschichtsphilosophie und Philosophiegeschichte (nicht zufällig wählte der Herausgeber diese Formulierung als Titel für den Band 6 dieser Edition, der die Vorlesungsmanuskripte Harich präsentiert) illustrieren. Genannt zu werden verdient beispielsweise der Beitrag Über die Erfindung des Schönen, erschienen 1953 in der Sinn und Form.1 Und auch die eigenständigen Bücher, die nach der Entlassung aus der Haft entstanden waren, haben einen mehr oder minder sichtbaren philosophischen Hintergrund, ein Fundament, auf dem sie ruhen: Die Studien zu Jean Paul ebenso wie die Auseinandersetzung mit dem Anar-chismus (Band 7) und der ökologischen Herausforderung (Band 8).

Gleichwohl ist es aber doch eines der Hauptanliegen dieser Edition, den eigentlichen philosophischen Harich endlich bekannt zu machen und der Öffentlichkeit vorzustel-len. Die entsprechenden Bände zu Hegel (Band 5), zur Logik (Band 2), zu Kant (Band 3) und Herder (Band 4 und 1.2) sind als Bausteine dieser Arbeit zu verstehen. Eine hervorgehobene Stellung nimmt dabei natürlich das Manuskript Widerspruch und Widerstreit ein, das ein wichtiger Beitrag zur Weiterentwicklung der marxistischen

1 In: Sinn und Form, Heft 6, 1953, S. 122–166.

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13Nicolai Hartmanns Philosophie als permanente Herausforderung Wolfgang Harichs

Philosophie ist.2 Eben dies gilt auch für Harichs Stellungnahmen in den Debatten um die Logik und um Hegels Philosophie sowie beider Verhältnis zum Marxismus.

Das vorliegende Buch enthält Harichs Auseinandersetzung mit Nicolai Hartmann, die für ihn die achtziger Jahre prägte – immer wieder unterbrochen von anderen, tagesak-tuellen Herausforderungen (wir werden darauf zurückkommen). In der Edition ver-ankert wurde es nach den Ausführungen, Texten, Dokumenten, Briefe, Manuskripten an und über Georg Lukács (Band 9), eingeordnet vor den Bänden zu Arnold Gehlen und der An thro po lo gie (Band 11) sowie den Äußerungen des permanenten Kampfes gegen Friedrich Nietzsche (Band 12). Diese Chronologie ist durchaus nicht zufällig. Lukács war für Harich seit den fünfziger Jahren die große Autorität in Fragen der Philosophie- und Literaturgeschichte, zu ihm war er (wie auch in den Texten dieses Bandes nachzulesen ist) von Hartmann aus »übergegangen«, d. h. Hartmanns materi-alistische und atheistische Philosophie hatte Harich der Selbstauskunft nach zugänglich gemacht für den Marxismus und die Errungenschaften von Lukács.

Eben genau aus diesem Grund wollte er ja Hartmanns Philosophie durch den Marxis-mus gewürdigt wissen (im Rahmen kritischer Aneignung und Auswertung). Dies sei im Prinzip eine Verpflichtung für den Marxismus, der auf diese Weise seine eigenen Ergebnisse präzisieren und noch unbearbeitete Themenfelder spezifizieren und teilwei-se sogar füllen könne. In dem Brief an Robert Steigerwald schrieb er in diesem Sinne: »Mich hatte, unter Nicolai Hartmanns Einfluss, an einem kommunistischen Wider-standskämpfer die von diesem oft beschworene 11. Feuerbach-These gestört, wobei ich etwa so gedacht hatte: ›Was soll das heißen: Die Welt? Der Andromeda-Nebel auch? Da wird doch wohl das Maul etwas voll genommen. Gemeint sind die sozialen und politischen Verhältnisse auf der Erde, einem Krümelchen des Krümels, genannt Gala-xis. Außerdem kommt es auf die Richtung der Veränderung an. Und die Veränderung zum Besseren, zum Höheren bedarf selbstverständlich zutreffender Erkenntnis, also auch richtiger Interpretation der ›Welt‹. Die ganze Entgegensetzung von Interpretieren und Verändern läuft auf üblen Pragmatismus hinaus.‹ So hatte ich gedacht. Dann jedoch war mir, etwa im März 1945, von besagtem Kommunisten – er ist jetzt 74 Jahre alt und lebt in Düsseldorf, Du kannst ihn Dir als Zeugen angeln – Lenins Empiriokriti-zismus in die Hand gedrückt worden, und nun fiel es mir wie Schuppen von den Augen: ›Das ist ja im Kern der Standpunkt Nicolai Hartmanns, aus dessen Metaphysik der Erkenntnis. Die Kommunisten sind also doch keine Pragmatisten, sie haben eine sehr

2 Abgedr. in: Band 3, S. 53–314.

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14 Nicolai Hartmanns Philosophie als permanente Herausforderung Wolfgang Harichs

Ernst zu nehmende Philosophie, erkenntnistheoretisch jedenfalls die richtige. Sie er-kennen das An-sich-Sein einer vom Bewusstsein unabhängigen Realität an, sie bejahen sogar die Abbildtheorie.‹ So dachte ich nun.«

Natürlich schweben die genannten Schriften und Überlegungen Harichs nicht im luftleeren Raum, sie sind vielmehr Teil einer intellektuellen Genese, die mitten in den Wirren des Zweiten Weltkrieges ihren Anfang nahm. In seinen Briefen an Ina Seidel hat Harich auch über seine Studienzeit und Hartmann berichtet. Es bietet sich an, die entsprechenden Zitate hier wiederzugeben:3

Herbst 1941: »Ich gehe ja in freien Stunden sehr oft zur Berliner Universität, höre Spranger, Hartmann, Dovifat und Seeberg. Aber ich muss bei aller Zurückhaltung, Bescheidenheit und Ehrfurcht vor der Leistung doch sagen, dass den meisten Univer-sitätsprofessoren irgendetwas fehlt an wirklicher innerlich-kosmischer Weite. Sie sind zu sehr Spezialisten, zu wenig lebensvoll, zu wenig ›Hans Dampf in allen Gassen‹. Sie durchmessen den Geisteskomplex nur an einer Stelle, dort loten sie allerdings bis zum Grunde (wenn nicht auch dieses Illusion ist) durch. Aber im Ganzen gesehen, schaffen sie nur Ausgangspunkte. (Linie, Fläche oder Raum werden nicht erfasst und nicht gewonnen!)«

Herbst 1941: »Seitdem das neue Semester begonnen hat, gehe ich als Gasthörer zur Universität, höre ›Geschichte der Philosophie im Grundriss‹ bei Odebrecht, ›Kant‹ in einer herrlichen Interpretation bei Spranger und ›Ethik‹ bei Hartmann. Die Beschäf-tigung mit der Philosophie gibt mir großartige Anregungen.«

07. April 1942: »Ich beendete in den Tagen gerade meine erkenntnistheoretische Arbeit, ein dickes Manuskript, das ungefähr 250 eng beschriebene Schreibmaschinenseiten umfasst und wandte mich damit an Spranger.4 Spranger las die Arbeit und fand sie gut, sprach mit dem Universitätsrektor, und es wurde mir die Zulassung zum Studium erteilt. Das geht in besonderen Fällen auch ohne Abitur und ohne Ausgleichsdienst. Jedoch kann mir die Zulassung bei Faulenzerei jederzeit wieder entzogen werden. Ich muss also in diesem Punkte auf der Hut sein. Jedenfalls habe ich das, was ich erreichen wollte, erreicht und fühle mich jetzt als eingetragener stud. phil. et theol. und gut

3 Abgedr. in: Band 1.1, S. 71–107. Zitat 1, S. 77, Zitat 2, S. 81 f., Zitat 3, S. 85, Zitat 4, S. 91, Zitat 5, S. 92.

4 Abgedr. unter dem Titel Einführung in die Erkenntnistheorie in: Band 2, S. 405–550.

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15Nicolai Hartmanns Philosophie als permanente Herausforderung Wolfgang Harichs

bezahlter Beamter der japanischen Botschaft sehr wohl. Ich habe für das nächste Se-mester belegt ein Kolleg bei Prof. Nicolai Hartmann (Erkenntnistheorie), ein Kolleg bei Prof. Spranger (Hegel), eines bei Prof. Seeberg (Dogmengeschichte), eines bei Prof. Wetzlaff-Eggebert (Klopstock, Lessing, Wieland) und eines bei Prof. Schering (Arbeitspsychologie).«

11. Juni 1942: »Gerade klingelt mein Wecker und ruft mich zur Nachmittagsvorleseung. Ich muss mich beeilen; denn ich darf ein so bedeutendes Ereignis, dass Nicolai Hart-mann über Aristoteles spricht, keinesfalls versäumen.«

19. August 1942: »Es wurden im Juli seitens des OKW ein Haufen Unabkömmlich-keitsstellen aufgehoben, darunter auch meine an der japanischen Botschaft, und zu meinem größten Leidwesen erhielt ich denn auch einen Einberufungsbefehl zum 1. August, der mich unbedingt den Lederfauteuils der Botschaft, dem nach Art der mittelalterlichen Scholastiker disputierenden Seminarzirkel meines verehrten Lehrers Nicolai Hartmann, meiner eigenen gemütlichen Bude, den schönen Augen meiner Freundinnen, den Zauberberggesprächen mit Professor Kitayama und – last not least – meiner Mutter entreißen wollte.«

Nach dem Krieg nannte Harich in dem autobiographischen Text Meine Lehrer als Nummer Siebzehn und Achtzehn: »17) Eduard Spranger, Professor für Philosophie und Pädagogik, Verfasser von Lebensformen, Wilhelm von Humboldts Humanitätsidee, Psychologie des Jugendalters, Schillers Geistesart, Goethes Weltfrömmigkeit. Bei ihm hörte ich fünf Semester lang Vorlesungen und besuchte seine Seminare. Am lehrreichsten: Die große Vorlesung über Kant, die große Vorlesung über Hegel, die große Vorlesung über Platon, das Seminar über Schillers philosophische und ästhetische Schriften. Ausgezeichneter Interpret der Philosophie für Anfänger. In seinem eigenen Philoso-phieren: Verblasener Schöngeist, liberaler Trottel. 18) Nicolai Hartmann, Professor für Philosophie. Ich hörte fünf Semester lang alle seine Vorlesungen und alle seine Semi-narübungen und las seine sämtlichen Bücher. Von ihm lernte ich: Sorgfältiges Studie-ren der Philosophen im Original, Logik, klare begriffliche Unterscheidungen. Er verhalf mir zu einem materialistischen Standpunkt in der Erkenntnistheorie und machte mich zum Gegner aller Spielarten des modernen subjektiven Idealismus (Positivismus, Re-lativismus, Pragmatismus usw.). Besonders beeindruckten mich seine Vorlesung über Hegel sowie seine Einführungsvorlesung in die Philosophie.«5

5 Abgedr. in: Band 1.1, S. 121.

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16 Nicolai Hartmanns Philosophie als permanente Herausforderung Wolfgang Harichs

So Harichs Selbstauskunft. Das Lernen bei (Spranger und) Hartmann gehörte – nach den Erfahrungen im Elternhaus – zu seinen frühesten wissenschaftlichen und intellek-tuellen Prägungen. Und das Gelernte wirkte fort.

* * * * *

In Harichs wissenschaftlichem und philosophischem Schaffen ist kaum ein Bestandteil seines Denkens isoliert zu betrachten, ganz im Gegenteil: Die unterschiedlichen Berei-che überschneiden sich, bedingen einander, sind voneinander abhängig, setzen sich gegenseitig voraus, die eine These nimmt – explizit oder implizit, ausgesprochen oder im Hintergrund wirkend – Bezug auf die andere.

Die Werke der fünfziger Jahre, die in der Nachlass-Edition präsentiert werden, zeigen dieses für Harich typische Denk- und Schreibverfahren deutlich an. Die unterschied-lichen Debatten und Diskussionen, die die junge DDR-Philosophie prägten – gemeint sind die Themen Logik, philosophische Verallgemeinerung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, der Streit um Hegel und die klassische deutsche Philosophie des Idealis-mus, die Auseinandersetzung mit dem Erbe-Verständnis – sind in seinen Schriften voll präsent. Wer sich, wie Harich, in der einen Angelegenheit positionierte, der wurde bereits für die anderen Fragestellungen als Zeuge oder Gegner reklamiert.6 Innerhalb dieses durchaus großen und umfassenden Spannungsfeldes waren die unterschiedlichs-ten Positionen möglich, je nachdem, wie man diese oder jene geistige Herausforderung für sich beantwortete. Natürlich fanden diese Meinungsbildungsprozesse und The men-er schlie ßungen nicht »unbeaufsichtigt« statt – die SED war als herausgehobener Dis-kussionspartner präsent, es gab aber durchaus die Möglichkeit, das zeigen die Debatten um die Logik sowie, teilweise, zeitverzögert, um Hegel, eigene Überlegungen gegen die offizielle Position durchzusetzen. Freilich um den Preis, selbst Dogmen zu schaffen (teilweise im Verbund mit gleichzeitig stattfinden Maßnahmen gegen den jeweils entsprechenden Philosophen).

Es ist nicht die einfachste Angelegenheit, in die derart entstandenen Gedankengebäu-de einzudringen: So haben wir bei Georg Lukács jene äußerst merkwürdige Mischung aus Parteiliteratur und echter Philosophie; bei Bloch die permanente Zerrissenheit zwischen Bejahung des Sozialismus, DDR-Opportunismus und dem 1956 zumindest einmal kurz (auf jeden Fall viel zu selten) eingelösten Anspruch, endlich »Schach statt

6 Hierzu: Heyer: Die Hegel-Debatte in der frühen DDR-Philosophie und ihre Ursprünge, in: Band 2, S. 11–118.

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17Nicolai Hartmanns Philosophie als permanente Herausforderung Wolfgang Harichs

Mühle«7 zu spielen. Hans Mayer konnte neben Erich Honecker das Goethe-Jubiläum ausrufen und gegen das Romantik-Bild der SED ankämpfen.8 Für Harich sind ähnliche Ambivalenz festzustellen. Auch er übernahm Aufgaben für die Partei (beispielsweise die Kritik an Günther Jacoby), teilweise deckten sich seine Anschauungen mit denen der SED (was für die meisten Intellektuellen in den ersten Jahren der DDR durchaus konstatiert werden muss). Aber immer sagte er auch seine eigene Meinung, mit mehr persönlichem Risiko als die gerade Genannten – vom Streit um Brecht, den er seit 1949 verteidigte, angefangen über die Schlüsseldaten der deutschen Geschichte (1953, 1956) bis hin zu seinen Ansätzen des Ausbaus der marxistischen Philosophie (mit Rekurs neben Hartmann etwa auch auf Arnold Gehlen). Gemeinsam mit Brecht nutzte er die Energien des Arbeiteraufstandes von 1953, gemeinsam mit Lukács forderte er 1956 nicht weniger als die Reformierung des real existierenden Sozialismus.

Harich selbst hat seine Annäherung an die SED in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre in einem Brief an Frida Hartmann (vom 09. Oktober 1985, IV. Teil) beschrieben als »meinen noch gänzlich unreifen Liebesfrühling mit dem Marxismus, dem ich es schuldig zu sein glaubte, alle nach Hegel und Feuerbach entstandene bürgerliche Phi-losophie, und ganz besonders die, die mich beeindruckt hatte, total und rigoros ver-werfen zu müssen.« Aber, auch das darf man nicht vergessen, die Erledigung von Parteiaufträgen war immer ein Stück weit innere Selbstverpflichtung, war Teil jenes Gefühls, für das Gute, das Bessere zu stehen und einzutreten, sie war zudem die Be-dingung, um als eigener schöpferischer Denker hervortreten und wirken zu können. Anders formuliert: Ohne Ja zur SED keine partielle Kritik an der SED – mit dem Ziel der Entwicklung, Verbesserung von Partei, Staat und marxistischer Philosophie. In den Erinnerungsbüchern von Werner Mittenzwei und Hans Mayer – um zwei Beispiele zu nennen – werden diese Denk- und Verhaltensmuster sehr gut präsentiert und so nach-vollziehbar.

Rückblickend erscheinen heute die Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie sowie zur Geschichtsphilosophie als jene große Klammer, die Harichs Werke in seinen mit-einander verschränkten Facetten zusammenhielt. Seit ihrer Edition (in den Bänden 6.1 und 6.2) lässt sich nunmehr Harichs Denken der fünfziger Jahre in seinem Gesamtzu-

7 In seinem Vortrag Hegel und die Gewalt des Systems, gehalten am 14. November 1956 an der Berliner Humboldt-Universität, abgedr. in: Bloch: Philosophische Aufsätze zur objek-tiven Phantasie, Frankfurt am Main, 1985, S. 481–500, das Zitat S. 483.

8 Hierzu, mit zahlreichen Verweisen etc.: Heyer: Der gereimte Genosse. Goethe in der SBZ/DDR, Baden-Baden, 2017.

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sammenhang erblicken – von der interpretatorischen Vermessung der antiken Philo-sophie bis hin zu den tagesaktuellen Herausforderungen der politischen Debatte und Kultur. Und es können auch die unzähligen kleinen Zeitungsartikel aus seinen jour-nalistischen Jahren gut verortet werden.

An dieser komplexen Struktur, die immer verschiedene Dinge im Blick hat, änderte sich auch nach Harichs Haftentlassung kaum etwas. Nach wie vor stand da nicht »das« eine Thema, sondern es trat immer ein Themenbereich in den Vordergrund, manchmal für kürzere Zeit, so die erneute Beschäftigung mit Kant und Hegel oder die Kritik des Anarchismus, manchmal für längere Zeit, so die Hinwendung zur ökologischen Frage. Gerade das Thema Ökologie, welches Harich ein knappes Jahrzehnt herausforderte (von ca. 1972 bis 1982) zeigt dieses Nicht-rasten-können gut an. Denn die Ökolo-gie-Problematik kündigte sich an während der Arbeiten zur Anarchie (gemeint ist das Manuskript Die Baader-Meinhof-Gruppe) und erschloss sich Jahr für Jahr immer neue Problemfelder (hierzu gleich ausführlicher). Nicht zuletzt, das kann in den Texten dieses Bandes ebenfalls nachgelesen werden, führte ihn die Ökologie auch ein Stück weit zurück zum Nachdenken über Hartmann.

So sehen wir Harich in den achtziger Jahren erneut in verschiedenen Kämpfen, Dis-kussionen, stehend vor Herausforderungen, die auf dem ersten Blick vielleicht gar nicht so viel miteinander zu tun haben, aber doch zusammengehören und durch mehr ver-bunden sind als die Überlegungen Harichs. Anne Harich hat in den Erinnerungen an ihren Mann diese Verschränkungen eindrucksvoll illustriert.9 Es lohnt, in der gebotenen Kürze (im Verbund mit den gebotenen Interpreten- und Chronistenpflichten) etwas genauer zu schauen, welche Themenfelder es waren, mit denen sich Harich in den achtziger Jahren auseinandersetzte:

* * * * *

1) Der 8. Band dieser Edition – Ökologie, Frieden, Wachstumskritik – zeigt auf, wie sich Harichs ökologisches Konzept seit der Publikation von Kommunismus ohne Wachstum (1975), weiter entwickelte. Bis in die frühen achtziger Jahre hinein erschienen von ihm Texte, Interviews, er wirkte als Redner und Diskutant – aber ausschließlich im Westen, zu keinem Zeitpunkt in der DDR. Auch wenn nach 1982 mehrere Jahre keine Publi-kationen zur Ökologie mehr von ihm erschienen, so blieb ihm das Thema doch wich-tig, es kommt immer wieder zur Sprache, beispielsweise noch in seinem letzten Buch

9 Harich, Anne: Wenn ich das gewusst hätte. Erinnerungen an Wolfgang Harich, Berlin, 2007.

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Nietzsche und seine Brüder. Harich selber lebte durchaus nach ökologischen Prinzipien (was man nicht von jedem Theoretiker der Ökologie sagen kann), er hatte kein Auto, verzichtete auf Spraydosen und anderes mehr. Zudem versuchte er auch in den acht-ziger Jahren mehrfach, die staatlichen Stellen, Behörden und die jeweils handelnden Personen der DDR gegenüber den ökologischen Fragen aufgeschlossener zu machen, durch den Druck seines Buches, durch den Druck von Aufsätzen und Artikeln, durch öffentliche Diskussionen, nicht zuletzt durch die Publikation wichtiger linker ökolo-gischer Schriften aus dem deutschsprachigen Westen und dem englischen Sprachraum. Alle diese Vorhaben scheiterten. 1989 versuchte Harich dann Mitglied der neu gegrün-deten Grünen Partei der DDR zu werden, er schrieb für sie den Entwurf eines Partei-programms, aber auch mit diesem Engagement konnte er sich nicht durchsetzen. 1991 schließlich erschien als seine letzte direkte Wortmeldung zur Ökologie (wenn man von den entsprechenden Passagen in Nietzsche und seine Brüder absieht): Die interpretie-rende Rezension Weltrevolution jetzt. Zur jüngsten Veröffentlichung des Club of Rome.10

Es ist in diesem Sinne nicht überraschend, dass die Ökologie auch in den Hartmann-Ma-nuskripten präsent ist (in dem Eingangs zitierten Brief an Robert Steigerwald klang dies bereits an). An Hartmann und Lukács wird gerügt, dass ihre philosophischen Gebäude die ökologische Problematik nicht aufnehmen könnten:11 »Beide sind, un-terschiedslos präökologische Philosophen, und da dies bei Lukács seiner Theorie der ›irreversiblen prozessierenden Komplexe‹ Grenzen setzt, zeigt er sich außer Stande, über entscheidende Mängel von Hartmanns Schichtenkonzeption hinaus zu kommen.« Und, speziell zu Hartmann – mit Blick auf dessen mangelnde Rezeption gerade im bürger-lichen Milieu. »Vielleicht hätte an diesem Punkt der Zukunftsschock der siebziger Jahre, ausgelöst durch die Kassandrarufe des ›Club of Rome‹, entscheidender Anstoß zur Formierung der Grünen, einen Wandel einleiten können. Denn die ›neue Onto-logie‹ betont die Abhängigkeit der Gesellschaft von der Natur. Aber die speziell ihrer Naturphilosophie immanente Theorie der dynamischen und der organischen Gefüge lässt ausgerechnet die ökologischen Komplexe außer acht. Dieser Mangel bringt sie sogar gegenüber einem romantisch-reaktionären Irrationalisten wie Ludwig Klages ins Hintertreffen, gar nicht zu reden von den neuen Jüngern, die im Zuge erwachender Besinnung auf die gefährdete Naturbasis menschlichen Lebens der Anthroposophie Rudolf Steiners zugeführt worden sind, oder von dem Echo, das die lähmend pessi-mistische Idee einer ›Evolution zum Tode‹ findet.«

10 Abgedr. in: Band 9, S. 290–301.11 Nicht nachgewiesene Zitate entstammen dem vorliegenden Band.

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Aber das letzte Wort zum Thema Ontologie-Ökologie sei damit nicht gesprochen. Harich nahm die marxistische Philosophie (samt ihrer Entwicklungspotentiale) in die Pflicht: »Und da der Sozialismus/Kommunismus – so ist heute hinzuzufügen – zugleich dazu berufen ist, der kapitalistisch unlösbaren Krisenkomplexe unserer Zeit Herr zu werden, sie zu bewältigen mittels jener von Wissenschaft geleiteten Politik, die Hartmann grundsätzlich an ihm Ernst nahm, so muss vom dialektischen Materialismus der ent-wickelten sozialistischen Gesellschaft verlangt werden, dass er beim Überschreiten der zeitbedingten Grenzen, an denen Lukács’ Kritik der ›neuen Ontologie‹ Halt macht, auch zur philosophischen Grundlegung ökologisch bewährter Zukunftsforschung, Zukunftsgestaltung beiträgt. Geschieht dies, so wird die zentrale Doktrin der Hart-mannschen Naturdialektik, seine für die Herausbildung moderner Systemtheorie bahnbrechende Leistung, eben die Lehre von den dynamischen und den organischen Gefügen, an ihrer nach den Kriterien positiver Wissenschaften empfindlichsten Lücke vervollständigt sein, und es wird damit, uno actu, auch der schwächsten Seite seiner politischen Ideologie die stärkste an Marx, Engels, Lenin unmittelbar kontraponiert werden: Die Fähigkeit, wenn die Zeichen der Zeit auf Sturm stehen, Auswege aufzu-zeigen. Eins ist vom anderen nicht mehr zu trennen.«

Gegenüber Frida Hartmann schilderte Harich am 09. Oktober 1985 die Entwicklung wie folgt: »In den siebziger Jahren war ich von der ökologischen, der ›grünen‹ Welle ergriffen, voll Bedauern darüber, dass in der Philosophie der Natur neben den dynami-schen und den organischen Gefügen die Öko-Gefüge fehlen. 1974/1975 warf mich, während ich zu dieser Thematik ein Buch schrieb, ein schweres Herzleiden nieder. Ich musste mich einer Bypass-Operation unterziehen und wurde drei Jahre später invali-disiert. Zweieinhalb Jahre habe ich mich dann bei den ›Grünen‹ in Österreich, der Bundesrepublik, Spanien, der Schweiz und Westberlin herumgetrieben. Als ich Ende 1981 in die DDR zurückkehrte, hoffte ›man‹, mich zur Abfassung eines ›differenzie-renden‹ Buches über Nietzsche bewegen zu können. Nachdem ich mich über ein Jahr lang mit dieser unerquicklichen Materie befasst hatte, bat ich um Gnade: ›Lasst mich zu meinem Nicolai Hartmann zurückkehren. Ich glaube, der war der größte und der für uns lohnendste deutsche Denker im 20. Jahrhundert. Und das Umstrittensein des späten Lukács passt mir nicht. Zu dem muss es ein klares Ja geben, das aber nur be-gründet werden kann, wenn wir uns ein adäquates Hartmann-Bild erarbeiten.‹ ›Man‹ erhörte mich. ›Man‹ zahlt mir seitdem für Hartmann-Forschung ein Stipendium, bis zur Höchstgrenze dessen, was ein Invalidenrentner dazuverdienen darf.«

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2) Am 8. März 1979 bat Harich brieflich bei Erich Honecker um die Erteilung seiner Ausreisegenehmigung aus der DDR. Ein Text, in dem er auch kurz auf Jean Paul und die Ökologie zu sprechen kam (darüber, wie die Ökologie in den Vordergrund rückte und Jean Paul für einige Zeit verdrängte): »Natürlich setze ich mich dem Vorwurf aus, mit vorliegendem Ausbürgerungsantrag jetzt dieselbe Entscheidung zu treffen, die ich noch vor kurzem, im Sommer 1977 – und das obendrein öffentlich, in westlichen Massenmedien – an einigen Schriftstellern und Künstlern der DDR hart gerügt habe. Bitte übersehen Sie, Herr Vorsitzender, nicht den Unterschied: Ich wollte damals drohendem kulturellen Substanzverlust der Republik entgegenwirken, und solchen Verlust ihr selber zuzufügen, würde ich schuldig sein nur dann, wenn ich meinem ursprünglich eigenen Metier – der Publizistik, Kritik und Philologie, der Bearbeitung des Grenzgebiets von Literaturwissenschaft und Philosophiegeschichte – in den letzten Jahren noch treu geblieben wäre. Davon indes kann gar keine Rede sein. Schon mein zweites, umfangreicheres Buch über Jean Paul (erschienen 1974) habe ich nur ungern, mit schlechtem Gewissen vollendet, überzeugt, mir den Luxus nutzlosen Tuns zu leisten, und mich darüber hinwegtröstend mit dem Hintergedanken, mein gestiegenes Autoren-Renommee anschließend sogleich in die ökologisch-wachstumskritische Waag-schale werfen zu können. Womit gesagt ist: Die Republik verlöre in mir, wenn sie mich gehen ließe, gar keinen Kulturschaffenden mehr, sondern einen von futurologischen Ängsten besessenen Fanatiker, der im Land selbst sich bestenfalls auf die Rolle eines halbwegs loyalen Querulanten reduzieren ließe, ihr im Westen dagegen, bei der Schwä-chung der dem Klassenfeind zu Gebote stehenden technologisch-industriellen Kraft, noch gute Dienste zu leisten im Stande wäre.«12

Über Jean Paul hatte Harich in den Jahren nach seiner Haftzeit intensiv gearbeitet. Es entstand (neben anderen Schriften und verschiedenen Manuskripten) 1974 die große Monographie Jean Pauls Revolutionsdichtung. Versuch einer Deutung seiner heroischen Romane. Das Werk erschien in Ost und West gleichzeitig (es war zudem, von einigen Aufsätzen (Nietzsche, Hartmann) abgesehen, seine letzte größere Publikation in der DDR).13 Am 21. März 1988 jährte sich der Geburtstag von Jean Paul zum 225. Mal. Dieses Jubiläum vor Augen hatte Harich in den achtziger Jahren mehrere Versuche unternommen, Jean Paul in irgendeiner Art und Weise in die Erbepflege der DDR

12 Abdr. in Band 8, S. 139–143, Zitat S. 142.13 Harich: Jean Pauls Revolutionsdichtung. Versuch einer Deutung seiner heroischen Romane,

Berlin, 1974. Auch: Reinbek bei Hamburg, 1974.

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einzubeziehen. Neben persönlichen Gesprächen setzte er dabei auch (über das gerade zitierte Beispiel hinaus) auf Briefe und Eingaben an die herrschenden Personen.

Nach seiner Bitte, wieder im Kulturleben der DDR Berücksichtigung zu finden, hatte Erich Honecker am 2. April 1987 ihm geschrieben – Harich zitierte es in einem er-neuten Schreiben an Honecker (29. Fe bru ar 1988):14 »Wörtlich fügten Sie dem hinzu: ›Besonders hoffen wir, dass Sie als ein profunder Kenner des Werkes von Jean Paul dazu beitragen werden, seinen 225. Geburtstag am 21. März 1988 gebührend zu würdigen. Das Ministerium für Kultur wird sich mit Ihnen über die Gestaltung dieses Jubiläums verständigen.‹« Allein, so Harich weiter, es sei nichts passiert: »An sich würde es mir mein Stolz verbieten, mich hierüber bei Ihnen zu beschweren. Der umfangreichste Teil meiner wissenschaftlichen Lebensleistung ist zu eng mit der Jean-Paul-Forschung verknüpft, als dass nicht der Verdacht nahe läge, ich wolle das bevorstehende Jubiläum benutzen, mich in den Vordergrund zu drängen. So war ich schon im Begriff, völlig zu resignieren. Leider haben sich mittlerweile bestimmte ideologische Diskussionen, das Erbe betreffend, in einer Richtung entwickelt, die es mir verbietet, Zurückhaltung zu üben, wenn ich nicht der Reaktion Vorschub leisten will.«

Die Unterfangen und Vorschläge Harichs scheiterten, so dass der Geburtstag in der offiziellen Politik der DDR außen vor blieb und nicht gewürdigt wurde. Harich ver-fasste in den Monaten rund um das Jubiläum weitere Texte zu Jean Paul, die ungedruckt blieben – die DDR war schlichtweg nicht bereit, ihn in dieser Angelegenheit zu Wort kommen zu lassen. (Auf derselben Linie liegt die permanente Boykottierung einer Neuauflage von Jean Pauls Revolutionsdichtung mit fadenscheinigen Ausreden und Ausflüchten.) Die Beschäftigung mit Jean Paul war eine, die ganz bestimmte Kontexte zumindest implizit mitdachte. Natürlich ist dabei zuvorderst Georg Lukács zu nennen, auf den Harich in seinen Texten auch explizit verwies – gerade dann und dort, wo sich der ungarische Philosoph nicht oder kritisch zu Jean Paul geäußert hatte. Über seine Jean-Paul-Monographie schrieb Harich in Mein Weg zu Lukács: »Das größte Lob, das man mir gespendet hat, war der als Tadel gemeinte Vorwurf Günter de Bruyns, ich hätte Lukács in puncto Jean Paul nur ergänzt, statt mit seiner Methode zu brechen.

14 Harich: Brief an Erich Honecker vom 29. Fe bru ar 1988, 3 Blatt, maschinenschriftlich, adressiert an Herrn Erich Honecker, Generalsekretär des Zentralkomitees der SED und Vorsitzenden des Staatsrates der DDR.

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Oh nein, mit dieser Methode breche ich nicht! Es gibt keine bessere. Wahrscheinlich deswegen, weil es die von Marx ist.«15

Hinzu treten methodische, thematische und inhaltliche Setzungen, die dem ungarischen Philosophen geschuldet sind bzw. auf diesen verweisen. Gleichzeitig bedeutete das Ja zu Jean Paul für Harich erneut die Thematisierung seines kulturpolitischen bzw. kul-turphilosophischen Konzepts. In dem Aufsatz Der entlaufene Dingo, das vergessene Floß hatte er 1973 am Beispiel Heiner Müllers seine Auffassungen vertreten, was zahlreiche entsetzte Aufschreie nach sich zog.16 Neben allen tagesaktuellen Dimensionen trans-portierte der Text ein entscheidendes und charakteristisches Moment des Denkens Harichs: Das Bekenntnis zur klassischen literarischen Form als Grundbedingung der die Zeiten überdauernden künstlerischen Gestaltung. Die Übereinstimmung mit den Konzeptionen von Georg Lukács, Nicolai Hartmann und auch Arnold Gehlen ist an dieser Stelle mit den Händen zu greifen.

3) Harichs permanenter Kampf gegen Nietzsche, der sich in den achtziger Jahren in-tensivierte und, durch die neuesten Entwicklungen, radikalisierte, ist bis heute bekannt. Der 12. Band bietet einen Überblick derjenigen Briefe, Eingaben, Beschwerden usw., die er, parallel zu seinen Arbeiten über Hartmann, verfasste. Daher können die folgen-den Ausführungen zur Darstellung der damaligen Debatte hier genügen.17

Sein Verhältnis zu Nietzsche beschrieb Harich 1982 wie folgt: »Meine Bekanntschaft mit Nietzsche begann in den Jahren 1938/1939. Ich gehörte damals, als Vierzehn- bis Sechzehnjähriger in Neuruppin einem philosophisch-literarisch-musikalischen Zirkel des Bayreuther Bundes an, dessen dortige Ortsgruppe von einem Studienrat Dr. Wer-ner Kuntz geleitet wurde. Dieser war vor 1933 SPD-Mitglied gewesen, dachte aber nicht entfernt daran, uns mit marxistischem Gedankengut vertraut zu machen, sondern führte uns in Kant, Schopenhauer, Wagner, Nietzsche und Oswald Spengler ein. Das spielte sich ab vor dem Hintergrund der damaligen Sudetenkrise und des beginnenden Zweiten Weltkriegs. In dieser Situation vertrat meine Mutter die Ansicht, zu Kriegen käme es vor allem deswegen immer wieder, weil die Menschen nicht genügend Phan-

15 Abgedr. in: Band 9, S. 117–121.16 Harich: Der entlaufene Dingo, das vergessene Floß. Aus Anlass der Macbeth-Bearbeitung

Heiner Müllers, in: Sinn und Form, Heft 1, 1973, S. 189–254.17 Die Ausführungen dieses Punktes folgen meinem Beitrag: Die Nietzsche-Debatte in der

DDR der achtziger Jahre, in: »Ins Nichts mit ihm!« »Ins Nichts mit ihm?« Zur Rezeption Friedrich Nietzsches in der DDR, Berlin, 2016, S. 21–34.

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tasie hätten, sich vorzustellen, was ein Krieg ist. Damit ich davon eine realistische, il-lusionslose Vorstellung gewönne, gab sie mir systematisch die im Ersten Weltkrieg spielenden Bücher von Barbusse, Glaeser, Remarque, Renn, Arnold Zweig und anderen Kriegsgegnern zu lesen. Unter dem Einfluss dieser Lektüre lernte ich den gleichzeitig genossenen Nietzsche nachhaltig und von Grund auf verabscheuen. Auch später hat er mich nie interessiert, geschweige denn irgend einen Einfluss auf mich ausgeübt. Nachdem ich mich dem Marxismus zugewandt hatte, akzeptierte ich die einschlägigen Darlegungen Franz Mehrings und besonders Georg Lukács’ als das endgültige und abschließend Zutreffende, was über Nietzsche gesagt werden kann. An dieser Überzeu-gung halte ich auch heute nach wie vor fest.«18

Von 1979 bis 1981 war Harich im Westen politisch und publizistisch aktiv – er wid-mete sich, wie gezeigt, dort der ihm so wichtigen ökologischen Frage. Während seines Aufenthaltes im Westen konnte er auch – viel besser und deutlich näher vor Ort als einige seiner späteren Kritiker – Anzeichen eruieren, die er dahingehend deutete, dass nicht nur in den bürgerlichen Schichten des Westens, sondern auch in linken Kreisen die Philosophie von Nietzsche wieder Gegenstand der Diskussion wurde. Nach seiner Rückkehr in die DDR war er dadurch für dieses Thema sensibilisiert und setzte sich frühzeitig dafür ein, dass Nietzsche nicht auch im sozialistischen Teil Deutschlands »salonfähig«, noch nicht einmal diskussionsfähig werde. Den verschiedenen Bestrebun-gen zur wissenschaftlichen Aufarbeitung von Nietzsches Philosophie (auch wenn diese zuvorderst kritisch sein sollte) stand er von Anfang an mahnend gegenüber. Die ihm von staatlicher Seite angetragene Beschäftigung mit Nietzsche lehnte er ab. An Aloys Joh. Buch schrieb er im Fe bru ar 1984 (Teil IV): »In der DDR bin momentan, soweit ich sehe, ich der einzige, der über Nicolai Hartmann arbeitet. Ich kriege dafür, zusätz-lich zu meiner Invaliden- und meiner Intelligenzrente, ein Stipendium aus dem Kul-turfonds des Kultusministeriums in der Höhe, die für Invalidenrentner eben noch zulässig ist. Genau genommen zahlt man es mir für Forschungen über Nietzsche, der mir aber so widerwärtig ist, dass die Beschäftigung mit ihm, wie sich 1982 herausstell-te, mir geradezu Depressionen verursachte; auch möchte ich nicht dazu beitragen, ihn irgendwie aufzuwerten, und zwar nicht einmal durch eine polemisch gehaltene Dar-stellung – abgesehen davon, dass ich einen polemischen Ton höchstens über 30 Seiten durchhalten kann.«

18 Harich: Brief über Nietzsche, in: Heyer (Hrsg.): Wolfgang Harich in den Kämpfen seiner Zeit, Hamburg, 2016, S. 275 f.

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In den fünfziger Jahren hatte Harich mit Blick auf die Erbepflege der DDR mehrfach angemahnt, dass die unterschiedlichen Bereiche und Anknüpfungspunkte an die überlieferten Traditionen in einem intakten Verhältnis zueinander stehen müssen. Mit anderen Worten: Wenn beispielsweise Goethe oder Bach oder Heine intensiv im So-zialismus rezipiert würden, dann müssten ähnliche Bestrebungen auch Kant oder Hegel gelten.19 In der Hegel-Denkschrift formulierte er dies 1952 wie folgt: »Dabei dürfte kein Zweifel darüber bestehen, dass z. B. ein Germanist, der Schiller verstehen will, auch etwas von Kant und von Schillers ästhetischen und philosophischen Schrif-ten wissen muss. Es dürfte auch kein Zweifel darüber bestehen, dass wenn man über eine marxistische Interpretation dieser Themen verfügt – man sie auch ausnutzen muss.«20

Dieses Verfahren wurde von Harich in den achtziger Jahren erneut angewandt. Er verknüpfte dergestalt die Fälle Lukács (damit auch Hartmann) und Nietzsche. Es war eine relativ einfache Frage, die er stellte: Warum beschäftige man sich mit Nietzsche, warum drucke man Nietzsche, wenn gleichzeitig das Werk und die Philosophie von Lukács nach wie vor unter dem Bannstrahl vergangener Zeiten stünden?21 Oder von der anderen Seite formuliert: Müsse man nicht zunächst mit der Rehabilitierung von Lukács beginnen, um überhaupt jenes Fundament zu schaffen, besser: zu reaktivieren, auf dem man sich mit Nietzsche ernsthaft beschäftigen könne?22 (Dieses Argument wurde dann in seinem Beitrag in der Sinn und Form zentral.)

Von offizieller Seite (Höpcke, Hager, Schirmer, Hahn etc.) wurden Harich immer wieder Versprechungen gemacht: Dass seine Stimme wichtig sei, dass er Gehör finde, dass er Teil der Debatte werde. Doch dies waren nur Ablenkungsmanöver, denn wo immer es ging, unternahm die Partei, assistiert von ihren philosophischen Schergen, alles, um Harich weiter zu isolieren, ihn mundtot zu machen, ihn aus jedweder De-

19 Exem pla risch nachzulesen in seinen Auseinandersetzungen mit Hegel und Heine sowie den entsprechenden Positionierungen der SED. Die einschlägigen Texte Harichs druckt der 5. Band.

20 Abgedr. in: Band 5, S. 129.21 Wichtig ist zudem die von Werner Mittenzwei eingeleitete und von Harich begrüßte

leise und stille, selbstverständlich mit Kritik verbundene neue Annäherung an Lukács. Die Art und Weise, wie das Lukács-Jubiläum 1985 begangen, vor allem aber inhaltlich gefüllt wurde, sah Harich dann als echten Rückschritt an.

22 Anne Harich hat die Erinnerungen an ihren Mann (Wenn ich gewusst hätte) um diese »Leitfrage« aufgebaut und bietet wichtige Einblicke, Hinweise etc., die für die Forschung unverzichtbar sind.

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batte und Öffentlichkeit herauszuhalten. Gerade das unwürdige Gezerre um seinen Lukács-Aufsatz zeigt deutlich an, welch falsches Spiel die Partei mit ihm trieb. Als Kommunist, als Marxist – der war Harich mehr als viele andere – versuchte er alles, um seinen Lukács-Aufsatz in irgendeiner Form in der DDR zu publizieren: Doch es half nichts, er musste sich erneut an »den Westen« wenden. Obwohl Harich sich immer gesträubt hatte, erschien Mehr Respekt vor Lukács! in der Wiener Zeitschrift Aufrisse.23

Man muss diese Konstellation vor Augen haben, um Harichs Rolle und sein Engagement in der Nietzsche-Kontroverse richtig beurteilen zu können. Anders als üblicherweise zu lesen ist, ging es ihm am Anfang (in den frühen achtziger Jahren) vor allem darum, eine öffentliche Debatte über Nietzsche gerade zu vermeiden. Mehrfach verwies er darauf, dass, wenn er seine Meinung und Position öffentlich äußern würde (was die Partei und namentlich Schirmer und Höpcke mehrfach vorschlugen und zugleich »hintenherum« mit irgendwelchen Tricks, Manövern etc. verhinderten), ein »Rummel«, »noch angefacht etwa durch den empörten Widerspruch feingeistig gestimmter libe-raler Seelen vom Schlage eines Hermlin«, kaum zu vermeiden wäre.24

Im fünften Heft des Jahres 1986 der Zeitschrift Sinn und Form veröffentlichte Heinz Pepperle den Aufsatz Revision des marxistischen Nietzsche-Bildes?, der letztendlich Harichs Kritik herausforderte.25 Seine Antwort erschien, nach vielen Querelen, genau ein Jahr später unter dem analogen Titel. Diese zwei Beiträge lösten wegen ihrer antagonistischen Ausrichtung dann die Nietzsche-Debatte aus, die durch Stephan Hermlin und dessen Rede auf dem X. Schriftstellerkongress der DDR im November 1987 weiter angeheizt wurde. Mit Behauptungen – wie: »Für Harich manifestiert sich Kulturpolitik vor allem durch Verbote und Vernichtung (…).«26 – und durch entstellende Zitate eines privaten Briefes von Harich an Hermlin stellte er diesen mehr als nur bloß. Sein Referat ende-te mit dem Sätzen: »Wo eine solche Stimme sich erhebt, warten andere auf ihren Einsatz. Es ist die Stunde der gebrannten Kinder. Auch ich bin ein gebranntes Kind.«27 Doch es erhoben sich nach Harich keine Stimmen, die ihm in der DDR zur Seite sprangen, ganz im Gegenteil verschärfte sich noch die Kritik an ihm. Hermann Kant

23 Neu abgedr. in zwei Versionen in: Band 9, S. 433–461.24 Harich: Brief über Nietzsche, S. 285.25 Pepperle, Heinz: Revision des marxistischen Nietzschebildes?, in: Sinn und Form, Heft 5,

1986, S. 934–969.26 Hermlin, Stephan: Rede, in: X. Schriftstellerkongress der DDR. Plenum, 24–26. November

1987, Berlin, Weimar, 1988, S. 73.27 Hermlin: Rede, S. 77.

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verglich Harich mit Pol Pot28 und im ersten Heft der Sinn und Form von 1988 wurde Hermlins Rede erneut abgedruckt – diesmal waren ihm als Adjutanten beispielsweise Manfred Buhr und Gerd Irrlitz zur Seite gestellt.29

Harich hat in Briefen und Gesprächen beklagt, dass er in der DDR auf diese »Bloß-stellungen«, »Demütigungen«, Kritiken nie reagieren konnte und durfte. »Die Replik auf die Angriffe in SuF, Heft 1, 1988, wurde mir mit der Begründung verwehrt, dass man Nietzsche nicht unnötig hochspielen und dadurch erst populär machen wolle. Das ist völlig verlogen, da längst wieder Schrift über ihn, die ihn loben, erschienen sind und andere, von Autoren dieses Landes verfasste, die ihn ›differenziert‹ zu beurteilen empfehlen, zum Druck vorbereitet werden.«30 Er sprach von den »gehässigen, verleum-derischen Angriffen«.31 Und er zog daraus den Schluss: »Eine solche Behandlung kann ich mir unmöglich gefallen lassen.«32

Die Fotos, die dem gerade erwähnten Kongressband des X. Schriftstellerkongresses beigegeben sind, zeigen Hermlin und Kant lachend neben ihrem Freund Erich Hone-cker. Und es war schon eine wirklich merkwürdige Koalition die da entstanden war: Kant, Hermlin, Irrlitz, Buhr (dazu die erwähnten Hager, Höpcke, Hahn, Schirmer etc.) und viele andere sahen sich genötigt, »ihre Freiheit«, das »freie Denken«, »ihre sozialistische Zukunft« zu verteidigen gegen den »Öko-Stalinisten« (so ja der Autor der Jungen Freiheit Günter Maschke mit Blick auf Kommunismus ohne Wachstum) Harich,

28 Kant, Hermann: Rede, in: X. Schriftstellerkongress der DDR. Plenum, 24–26. November 1987, Berlin, Weimar, 1988, S. 44 f. Kant sprach dort von Harichs »Polpotterien«.

29 Das Heft 1, 1988, der Sinn und Form enthielt die Beiträge: Stephan Hermlin: Von älteren Tönen, S. 179–183; Rudolf Schottlaender: Richtiges und Wichtiges, S. 183–186; Thomas Böhme: Das Erbe verfügbar besitzen, S. 186–189; Klaus Känder: »Nun ist dieses Erbe zu Ende …«!?, S. 189–192; Gerd Irrlitz: »Ich brauche nicht viel Phantasie«, S. 192–194; Hans-Georg Eckardt: Im Schnellgang überwinden?, S. 195–198; Stefan Richter: Spekta-kulär und belastet, S. 198–200; Manfred Buhr: Es geht um das Phänomen Nietzsche!, S. 200–210; Heinz Pepperle: »Wer zuviel beweist, beweist nichts«, S. 210–220.

30 Harich: Brief an Reinhard Mocek, 7 Blatt, maschinenschriftlich, 12. November 1988, adressiert an Professor Dr. Reinhard Mocek, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Sektion Marxistisch-Leninistische Philosophie, Interdisziplinäres Zentrum für Wissen-schaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte.

31 Harich: Brief an Gregor Schirmer, 2 Blatt, maschinenschriftlich, 14. Oktober 1988, adres-siert an Professor Dr. Gregor Schirmer, stellv. Leiter der Abt. Wissenschaft beim ZK der SED.

32 Harich: Brief an Gregor Schirmer, 1 Blatt, maschinenschriftlich, 25. Januar 1988, adressiert an Professor Dr. Gregor Schirmer, stellv. Leiter der Abt. Wissenschaft beim ZK der SED.

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der für ebendiese Freiheit – in ihrer wirklichen Bedeutung – Jahre des Leides im Zucht-haus in Bautzen verbracht hatte. Nationalpreise und Gratifikationen, Posten und Titel des sozialistischen Staates konnte er in dieser Zeit und in den Jahrzehnten danach nicht annehmen – das zuerst unterscheidet ihn von den gerade Genannten.

Es ist hier nicht der Platz, die Debatte in der Sinn und Form in ihren verschiedenen Facetten exakt nachzuzeichnen. Herausgegriffen sei der zentrale Punkt, dessen Inten-tionen in den bisherigen Ausführungen bereits anklangen. Es war die Kritik an Lukács, die Harichs Stellungnahme herausforderte und motivierte: »In Georg Lukács greift er (Pepperle, AH) den überragenden Exponenten der Nietzsche-Kritik des Marxismus an.«33 In seinem Beitrag hatte Pepperle Lukács (mit seinem Schaffen) zwar durchaus positiv erwähnt, diesen aber tatsächlich weder in die Tradition marxistischer Nietz-sche-Kritik eingereiht, noch dessen Position gleichsam als Folie seiner eigenen Ausfüh-rungen benutzt. Und so verbergen sich hinter dem offensichtlichen Lukács-Lob Mo-mente der Kritik, die Harich registrierte. Ein Beispiel: »In der Tat gehört Nietzsches Lehre von der ewigen Wiederkehr zu seinen unschuldigen Gedanken, und Lukács’ Polemik ist in diesem Punkte überzogen.«34

Was Harich zudem wirklich störte, war, dass Pepperle – eben genau hier verließ er Lukács – die Verbindung von Nietzsches Philosophie mit dem Faschismus ein Stück weit kappte: »Es stimmt, dass Nietzsche von den Nazis geplündert wurde und dass sich vieles bei ihm findet, was der faschistischen Ideologie zutiefst widerspricht. So war Nietzsche kein Antisemit, er fühlte sich als Europäer und verabscheute den Nationa-lismus und Chauvinismus. (…) Doch dies ist nur eine Seite. Es gibt auch eine andere. Erstens waren es eben doch Nietzsches Worte, die die Faschisten im Munde führten (…). Nietzsche hat Lehren vertreten und Gedanken formuliert, die tatsächlich, wie Ernst Bloch einmal schrieb, ›faschistisch brauchbar‹ waren.«35 An dieser Stelle wollte und musste Harich intervenieren, denn es widersprach zutiefst seiner Weltanschauung

33 Harich: Revision des marxistischen Nietzschebildes?, S. 1018. Weiter heißt es dann: »Und deren übrige, ebenfalls nicht zu verachtende Verfechter, von Franz Mehring über Hans Günther bis zu Stepan Odujew und Heinz Malorny, würdigt er keiner Silbe. So entsteht ein Ungleichgewicht, durch das seine Verteidigung marxistischer Positionen, sollte sie beabsichtigt sein, Schlagseite kriegt: nach rechts. Ich will versuchen, sie vorm Kentern zu bewahren.« (Ebd.)

34 Pepperle: Revision des marxistischen Nietzschebildes?, S. 937.35 Pepperle: Revision des marxistischen Nietzschebildes?, S. 965. Gegen diese Einschätzung

waren schon in der SBZ, in den ersten Jahren der DDR viele Argumente von gewichtigen Stimmen geltend gemacht worden, siehe die entsprechenden Nachweise bei: Kapferer,

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und Geschichtsphilosophie, Nietzsche als Missbrauchsopfer zu sehen, denn das impli-ziert, dass er auch richtig gebraucht werden könne. Harich hatte immer, darin wusste er sich mit Lukács, Bloch, Paul Rilla, Hans Mayer und vielen anderen einig, darauf hingewiesen, dass die Nazis Hegel, Goethe, Herder, viele Aufklärer und die meisten Vertreter der klassischen idealistischen Philosophie verfälscht hätten, um sie in ihre Traditionslinien einbeziehen zu können. (Mit Blick auf die Einordnung der Romantik schieden sich dann beispielsweise die Geister.) Bei Nietzsche, so seine unumstößliche Position, sei eine Verfälschung nicht nötig gewesen.

Yves Deville, der sich als Übersetzer und Herausgeber um Harich und Lukács in Frank-reich echte Verdienste erwarb, hat Nietzsche und seine Brüder im Schaffen Harichs verankert: »Harich hat in seinem Kulturleben viele Kämpfe ausgefochten, immer zu Gunsten eines zu Unrecht Angegriffenen oder Verkannten. Er ist für Brecht eingetre-ten – dem ›Formalismus‹ vorgeworfen worden war –, er hat für Hegel eine Lanze ge-brochen – dieser sollte in der DDR der 1950er Jahre der Bedeutungslosigkeit anheim-fallen –, er hat sich um das Werk Georg Lukács’ stark verdient gemacht, um die Anerkennung der Ontologie Nicolai Hartmanns und für ein neues Verständnis von Jean Paul gekämpft. Er machte sich stets Gedanken über die Probleme von Wandel und Kontinuität der kulturellen Werte in einem Land, das den Sozialismus aufbaut. Doch sein ausgesprochen integrativer Geist sperrt sich, als Nietzsche ihm in die Que-re kommt. Nietzsches Werk erregt bei ihm nur Kritik und Widerwillen.«36 Harich erscheint bei Deville anders als üblich nicht als ewiger »Nörgler«, sondern habe ganz bewusst Entscheidungen für und wider philosophische Lehren und Theoreme getroffen.

Und ein Weiteres ist wichtig: Deville sieht die Kontinuität der Nietzsche-Kritik Harichs: »Harich legt genauso viel Elan in seine Widerlegung Nietzsches wie in seine früheren solidarischen Hilfeleistungen bei anderen Denkern. Er zeigt den gleichen Mut und die gleiche Entschlossenheit, diesmal aber erfüllt er zähneknirschend den selbstgestellten Auftrag. Seine Verdrossenheit gegenüber Nietzsche ist schon alt, älter als seine Hin-wendung zum Marxismus oder die Gründung der DDR, sie tritt in den 1980er Jahren

Norbert: Das Feindbild der marxistisch-leninistischen Philosophie in der DDR, 1945–1988, Darmstadt, 1990.

36 Deville, Yves: Mit Leib und Seele wider den philosophischen Irrationalismus. Anlässlich der Übersetzung von Harichs Nietzsche-Streitschrift ins Französische, in: Heyer: Harich in den Kämpfen seiner Zeit, S. 310.