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SCHRIFTENREIHE DER FÜRST DONNERSMARCK-STIFTUNG BAND II

SCHRIFTENREIHE DER FÜRST DONNERSMARCK-STIFTUNG BAND II · 2005. 3. 21. · Ruth Weies autobiographische Aufzeichnungen zu lesen war für mich ein Schritt in eine Welt, die mir bisher

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SCHRIFTENREIHE DER FÜRST DONNERSMARCK-STIFTUNGBAND II

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RUTH WEIE

ENGEL UND KAKERLAK

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INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8Mein Körper = mein Feind … oder ? . . . . . . . . . . . . . . . . 9Familienkaleidoskop . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13Ich weiß nicht, was soll es bedeuten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15Schokosplitter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17Mauern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19Männer und die weite Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22Amore am Abhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24Hinter den Kulissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25Ich interviewt Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26Freud und Leid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28Zu spät . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28Spieglein, Spieglein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30Sommer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31Freizeitgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33Was will ich mehr? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35So erlebt man Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37Darf’s ein bisschen Reise sein? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39Engel, gibt’s die? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43Der verliebte Kakerlak . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44Die Stiftung und ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47Theater, alles Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50Eine Tür steht offen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53Angst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54Freund Alkohol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57Sehnsucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61Wunsch und Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62Ende in 30 Sekunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64

Herausgeber:Fürst Donnersmarck-Stiftung – Freizeit, Bildung, BeratungSchädestr. 9-13, 14165 BerlinTel. (030) 847 187-0Fax (030) 847 [email protected]

verantwortlich:Annemarie Kühnen-Hurlin

Redaktion:Annemarie Kühnen-Hurlin, Josie Stamm, Hilke Dethlefs

Gestaltung:Enno Hurlin

1. Auflage Februar 2005

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VORWORT

Ruth Weies autobiographische Aufzeichnungen zulesen war für mich ein Schritt in eine Welt, die mir bisherweitgehend unbekannt war.

Ich war und bin immer noch berührt, ich habegelacht, habe geschmunzelt und ich habe sehr viel nach-gedacht.

Ihre Aufzeichnungen sind – abgesehen von demjeden Leser berührenden persönlichen Schicksal – einBild der Zeit vor und nach dem Krieg und ein Bild Ber-lins vor und nach der Mauer. Sie legen Zeugnis ab vomLeben einer tapferen, humorvollen und klugen Frau.

Ich wünsche diesem Buch viele Leser, alte und junge.Seine Botschaft ist ewig: Mut zum Leben und mehr Zeitzum Leben!

Hilke Dethlefs

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MEIN KÖRPER = MEIN FEIND … ODER ?

21. Januar 1923, 9.00 Uhr. Das Wunschkind vonLuise und Ernst Weie hat die schützende Hülle des Mut-terleibes verlassen. Ich bin da. Auf die Frage meiner Mut-ter, ob das Kind gesund sei, wirft die mit den letztenArbeiten beschäftigte junge Schwester einen flüchtigenBlick auf mich Neugeborenes und sagt: „Ja, ein ganz ent-zückendes kleines Mädchen.“ Aus dem Krankenhaus ent-lassen wurde meine Mutter jedoch eine Woche später, miteinem Kind, dessen Hüften ausgerenkt waren. Seltsam.

Die Hüften wurden eingerenkt, wie sich das gehört,mich verpackte man in einen schönen weißen Gips. DieBeine zog man zu diesem Zweck kräftig nach außen ineine Froschbeinstellung und meldete mich der Krüppel-fürsorge. Untersuchung auf Untersuchung musste ichüber mich ergehen lassen und die Worte meiner Mutterhören: Das Kind ist ganz gesund geboren. Man muss esmir im Krankenhaus fallen gelassen haben. Mit stereoty-per Regelmäßigkeit kam vom Arzt der Satz: „Machen wirmal den Trendelenburg.“

Ich stellte mich dazu erst auf das eine, dann auf dasandere Bein und am Popo entstand eine typische Falte(wie man mir Jahre später erklärte). Ja, Hüftluxation,bemerkte dann der Arzt. Als ich ein kleines bisschenVerstand hatte, erfasste ich die Tragik des Geschehens.Ich gab künftig den Ärzten die medizinisch richtige

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ICH

Ich, wer bin ich, was bin ich, wie kam ich zu meinemIch.

Aus vielen Bausteinen formte sich etwas, das diesesHeft mit Leben, seinem Leben, erfüllen will.

Am 21. Januar 1923 wurde ich geboren und warbereits zu diesem Zeitpunkt anders als andere, ich kammit einer Behinderung zur Welt, nichts gerade Erstre-benswertes, aber aus der Masse hob ich mich heraus.

Dieses Besonderssein hielt 81 Jahre an, auf ungleichlangen Beinen nicht ganz geradem Rücken und mit knall-rot gefärbten Haaren – wenn das Massenware ist … .

Ein weiterer wichtiger Punkt in meinem Leben: Ichwollte dazu gehören – nicht bescheiden abseits stehen.Nehmen wir als ersten Baustein die Schule.

Intelligenz – ph – Nebensache. Was mich ziert istFleiß, ganz großer Fleiß. Er brachte mir sehr gute Zeug-nisse ein und machte mich zu einer der besten Schülerin-nen (außer in Mathematik und Geometrie).

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dert worden. 70 Jahre führte ich ein Leben, über das zuklagen ich keine Veranlassung habe. Ich war zwar behin-dert, humpelte und konnte höchstens 2 Stunden hinterei-nander laufen, aber ich war stets in der Lage, körperlichUnmögliches so zu gestalten, dass ich es bewältigenkonnte.

Meinem Schicksal bin ich dafür dankbar.So brachte ich die Schulzeit, 40 Jahre Arbeitsleben

und einen Teil meines Rentnerdaseins guten Mutes hintermich. Aber dann kam das Alter mit seinen Beschwerdenhinzu. Denen konnte ich nicht ausweichen. Den Anfangmachte mörderisches Sodbrennen. Dessen Ursache stellteein Röntgenarzt durch puren Zufall fest: Ich habe einLoch in der Magenwand, daher der Reflux. Dann melde-ten sich die Lungen zu Wort. Ich, die nie im Lebengeraucht hat, habe eine Raucherlunge, ungerecht! MeineKollegen und Kolleginnen rauchten von morgens biszum Feierabend wie die Schlote und alle Schadstoffe ver-krochen sich in meinen Bronchien. Nochmals: Unge-recht!

Von abgenutzten Gelenken will ich gar nicht reden.Da wären noch meine Augen zu erwähnen: Makuladege-neration, grüner Star links, grauer Star rechts. Einen Trostgab mir der Augenarzt bei meinem letzten Besuch: Ganzblind werden Sie nicht.

Der jetzige Zustand reicht mir schon, aber ich weiß,dass meine Sehfähigkeit weiter abnehmen wird. Sie liegtzur Zeit trotz starker, sehr starker Brillengläser bei 29%.

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Anamnese. Den gequälten Blick meiner Mutter werde ichnie vergessen. Mögen meine Eltern in Frieden ruhen.Aber ist es eine Schande, ein behindertes Kind zur Weltzu bringen?

Fünf Jahre waren ins Land gegangen, ich stapfte mitmeinen kleinen Beinchen tapfer durchs Leben. Eine Rou-tineuntersuchung machte der guten Entwicklung einjähes Ende. Aufgrund der auseinander gezerrten Beinewar im Hüftbereich Gewebe abgestorben. Mich hatte diePerthes’sche Krankheit erwischt. Also raus mit dem altenZeug; Es folgten drei Operationen, wie sie in späterenJahren nie wieder ausgeführt wurden. Aber zu meinerZeit war die Medizin noch nicht so weit. Ich versucheknapp zu schildern: Linkes Bein heraus aus der Pfanne,neue Pfanne oberhalb der alten gebildet, abgestorbenesGewebe herausgeschnitten, Rest zusammengesetzt undzugenäht. Rechte Seite nur mal mehr mal weniger totesGewebe abgeschält. Ergebnis: linkes Bein 14cm kürzerals das rechte. Gefiel dem Operateur nicht. Die Künt-schersäge war gerade erfunden, aber noch nicht ärztlichanerkannt. Mit dieser Säge schnitt mir Dr. Kreuz 7cm desrechten Oberschenkels heraus.

Die Krankenhauskosten der letzten Operation muss-ten meine Eltern selber bezahlen. Als ich wieder auf denBeinen stand, war ein Bein 7cm kürzer als das andere.Ausgleich erfolgte von da an durch Erhöhung einesSchuhes.

An den windschiefen Hüften ist seither nichts verän-

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FAMILIENKALEIDOSKOP

Vater und Tochter

Mein Vater war ein ruhiger Mensch, trotzdem wohlbestückt mit den Merkmalen des Skorpion geboren. Erhatte unendlich viel gelesen in seinem Leben, das Gele-sene gut verarbeitet: Er wusste sehr, sehr viel. Am Abendsaßen wir drei um den Tisch und Vater fing an zu erzäh-len. Er sprach über irgendein Thema, flüssig, mit wohlge-setzten aber nicht übertriebenen Worten. Mutti und ichhörten gebannt zu – und machten stets denselben Fehler.Wir unterbrachen seinen Redefluss mit einer Frage, einerBemerkung und der Faden war abgeschnitten. Mein Vaterklappte den Mund zu und geschlossen blieb er auch,manchmal bis zum nächsten Morgen.

Die Sonntagvormittage, außer denen des Sommersmeiner Backfischzeit, sind mir wie ein leuchtendes Mal indas Netzwerk meiner Erinnerungen gegraben. MeinVater und ich gingen Hand in Hand durch Alt-Berlin.Wir durchstöberten die alten Straßen, die Spreebrücken,die Museen. Über alles wusste mein Vater Bescheid. Ichstaunte und ich verehrte ihn.

Bis zum Alter von 5 Jahren kam zu mir der Weih-nachtsmann höchstpersönlich. Ich bedauerte nur lebhaft,dass Vati, stets kurz bevor der Weihnachtsmann an dieTür klopfte, etwas zu besorgen hatte. Schließlichbemerkte ich Vatis Schuhe und seine Hosenbeine am –

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Na fein. Trotzdem fahre ich mit dem elektrischen Roll-stuhl durch belebte Straßen, nur etwas langsamer.

Natürlich ist mein Leben durch die Behinderunggeprägt. Wäre ich glücklicher oder auch nur zufriedener,wenn ich nicht behindert wäre? Gewiss hätte mein Lebeneinen anderen Verlauf genommen. Zu meinem Vorteil?Ich weiß es nicht, ich glaube nicht.

Den letzten Streich spielte mir eine 5-stufige Treppe,die mich das Schicksal oder meine Nachlässigkeit imNovember 2003 herunterfallen ließ. Ergebnis: dreifacherUnterschenkelbruch und völlige Geh- sowie fast totaleStehunfähigkeit. An deren Beseitigung arbeite ich zwar,aber ob meine Bemühungen zu einer radikalen Besserungführen werden?

„Halt! Ruth Melanie Weie, wie kannst Du es wagen,mein Innerstes, Intimstes, streng Gehütetes fremden Leu-ten preiszugeben! Habe ich Dir nicht immer treu gedient,meine Bedürfnisse so klein wie möglich gehalten, um direin trotz aller Widrigkeiten gutes Leben zu ermögli-chen?“

„Körper, ach Körper – und ich dachte, das wäre mei-ner Selbstdisziplin und meinem Fleiß zuzuschreiben“

„Überschätze dich nicht, mach dich darauf gefasst,dass sich auch deine Seele zu Wort melden wird.“

Beiseite: „Und dabei habe ich noch gar nichts ent-hüllt.“

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Jahrzehnte später, Krieg und Diktatur waren insLand gegangen, ich wohnte längst in Berlin-West,besuchte mich meine Mutter die vier Wochen, die ihr dieDDR als Rentnerin gewährte. Es waren schöne, anstren-gende Wochen. Übrigens auch mein Vater kam alsOstrentner zu mir, blieb aber nur zwei Wochen.

ICH WEIß NICHT, WAS SOLL ES BEDEUTEN

Wie ein leuchtender Silberfaden streifen bittersüßeGefühle durch die Brust. Die Mundwinkel verziehen sichzum stillen Lächeln, die Augen schließen sich halb, Sehn-sucht erfüllt mich. Gedanken, erinnerungsschwer, eilenJahrzehnte zurück, bleiben ruhen in der Kindheit.

Ein Bild voll Schönheit und Harmonie: ich inmitteneiner Kinderschar, neben mir mein erster Freund (ich war7, er war 10) auf einem Berliner Hinterhof mit kleinemovalen Gärtchen, voll von Blüten, einem Kastanienbaum.Gleißender Sonnenschein auf schwarzgrauem Kopfstein-pflaster. An der Mauer zum Nebengrundstück ein stin-kendes Müll- und Toilettenhäuschen. Es war unser Para-dies, in dem wir spielten, spielten, spielten.

Ein Jahr später zogen wir in eine bessere Gegend undbessere Wohnung. Das Schönste an dieser Wohnung war

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Weihnachtsmann. Ich ließ mir nichts anmerken, ichspielte die Rolle mit. So ist es geblieben bis jetzt: Wennich verzaubert werden will, lasse ich es auch zu. Sei esdurch Theater (selbst zu spielen oder als Zuschauer), imKino, vor dem Fernseher, in Büchern. Für kurze Zeit demAlltag entfliehen, in eine fremde, meinetwegen auchirreale Welt zu schlüpfen – ist das nicht schön?

Mutter und Tochter

Ach, wie konnte ich mit meiner Mutter lachen. Wirlachten über den schönsten Witz aber mehr noch überjede kleinste, nichtigste Kleinigkeit.

So etwa ab 14 Jahren wurde ich sonntagnachmittagsunleidlich. Meine kluge Mutter musste den häuslichenFrieden retten. Sie sagte nur: „Los, zieh dich an!“ und wirfuhren zu einer der großen Berliner Straßen mit den vie-len Schaufenstern. Ich wollte die Waren nicht haben, i bewahre! Nur mich satt sehen an den glanzvollen Aus-lagen, an den herrlichen Dekorationen. Kamen wir zuHause wieder an, war die Welt für mich und damit fürmeine Eltern, die unter dem Gezicke hatten leiden müs-sen, zu Ende.

Dass meine Mutter noch so lachen konnte … . Siehatte es nicht leicht mit mir, dem behinderten Kind. Siemassierte mich Morgen für Morgen bis ich 20 war, dannkonnte ich nicht mehr mit ansehen, wie sie sich quälte.

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SCHOKOSPLITTER

Eine Tasse nachtschwarzer Kaffee, eine Tafel Schoko-lade. Und die Welt erstrahlt in rosarot und himmelblau,lässt trübe Gedanken, Sorgen und Leid in dunklen Höh-len verschwinden oder wenigstens so ähnlich ergeht esmir seit längerer Zeit. Keine Angst, die trüben Gedankenkommen wieder. Nichts geht verloren, alles kommt wie-der. Es kommen auch die Pfunde an meinem Körperzurück, Gramm für Gramm.

Vor 1⁄2 Jahr wog ich 20 Pfund weniger. Kismet.Es gab andere Zeiten, Zeiten in denen ich mit

bescheideneren Mitteln zufrieden war. Ich denke anmeine Jahre zwischen 10 und 15 zurück. Hatte ich meineSchularbeiten gemacht, ging meine Mutter oftmals mitmir spazieren. Es war stets der gleiche Weg: von der Mar-kusstraße zur Weberwiese, in das Kaufhaus Jandow, dasbald in Hermann Tietz, später in Hertie umbenanntwurde, und noch ein Stück die Frankfurter Allee entlangzum Einheitspreisgeschäft EPA, später Kepa geheißen.

Dann marschierten wir den gleichen Weg zurück. Ichhatte stets meine Mutter untergefasst. So hatte ich Haltund konnte den Spaziergang gut bewältigen. Dieserimmer gleiche Gang war schön, aber das Schönste warsein Anfang. Uns schräg gegenüber befand sich ein Kon-fitürengeschäft. Und in diesem Geschäft gab es gefüllteSchokolade mit dem Namen „Alcosta“ für 35 Pfennig.

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für mich ein kleiner Balkon, der auf einen engen aberarchitektonisch interessanten Hinterhof führte. DieSonne mühte sich vergeblich, ihn zu erreichen. Es machtemir nichts aus. Ich saß wie verzaubert auf diesem Balkon,konnte mich kaum von ihm trennen und beobachtete fas-ziniert den sich je nach Tageszeit vergrößernden oder sichzurückziehenden dreieckigen Sonnenstreifen an demgegenüberliegenden turmartigen Treppenhaus.

Mit zunehmendem Erwachsenwerden änderte sichder Ursprung meiner Sehnsucht. Es war Krieg, die Jungs,die Männer an der Front. Und da musste das Foto alsErsatz herhalten, ein Bildnis, das von starker Sehnsuchtumhüllt war!

Wie jeder andere ging auch dieser Krieg einmal zuEnde. Bombenterror und Kriegswirren hatten uns allesgenommen, was wir uns einst angeschafft hatten. DieLebensmittelrationen waren kärglich, sie sicherten dasÜberleben. Da kam schon so manches Mal die Sehnsuchtnach einer Scheibe Weißbrot, nach einem Kotelett oderWurst aus Fleisch und nicht aus Undefinierbarem auf. Anschöne Kleidung und später an farblich Zusammenpas-sendes war überhaupt nicht zu denken.

Als ich die Schule beendet hatte, arbeitete und meineigenes Geld verdiente, sehnte ich mich danach, eines derfernen Länder nach dem anderen kennen zu lernen. Undwas ist jetzt im hohen Alter? Ich habe es noch nichtherausgefunden. Aber das bittersüße Ziehen in der Brustist da. Ich weiß nicht, was soll es bedeuten.

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mittel für uns drei, meinen Vater, meine Mutter und michgekauft. Für Luxusgüter wie Schokolade blieb nichtsübrig.

Als allmählich der wirtschaftliche Aufschwungbegann, kauften sich meine im Westen wohnenden Kolle-ginnen ab und zu eine Tafel Schokolade und gaben mirstets zwei Karos ab. Von diesen kleinen Karos aß ich nureins, das andere nahm ich meiner Mutter mit. So verfuhrich längere Zeit, bis ich durch die bissige Bemerkung mei-ner Tante erfuhr, dass meine Mutter sich Tag für Tag zumNachmittag ein Stück Kuchen kaufte. Ich lebte im Haus-halt meiner Eltern, Kuchen erhielt ich nur sonntags. Daskleine Stückchen Schokolade, mit dem ich meine ganzeTochterliebe ausgedrückt hatte, aß ich von nun an selbst.

MAUERN

Sonntag, 13. August 1961. Ich war seit dem Vortag inLichtenberg bei meinen Eltern. Zur damaligen Zeitbedurfte es keines Passierscheines mehr, eine Eintragungvon Ankunfts- und Abreisetag im Hausbuch genügten,und die Westlerin war gnädig vom Osten aufgenommen.

Mein Vater schlief, meine Mutter und ich saßen beimFrühstück. Wir hatten einander so viel zu erzählen, dass

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Diese 35 Pfennig war meine sparsame Mutter bereit, zuAnbeginn eines jeden Spazierganges zu opfern.

Die Tafel wurde schwesterlich geteilt. Meine Mutterverschlang ihre Hälfte, während ich mir genüsslich Stückfür Stück in den Mund schob: Tempi passati. Schöneunwiederbringliche Zeiten, von denen ich allein übriggeblieben bin. Die Häuser fielen den Bomben im 2. Welt-krieg zum Opfer, die Alcosta-Schokolade gibt es längstnicht mehr, meine Mutter ist tot, meine damalige körper-liche Beweglichkeit hat sich schon lange in totale Roll-stuhlabhängigkeit verwandelt.

Der Krieg begann, mit ihm die Zeit der Lebensmittel-marken, auf die es so etwas Unnützes wie Schokolade, dienoch dazu nicht in Deutschland wuchs, nicht gab, unddie Ersatzmittel Kaffeeersatz, Butterersatz, Seifenersatzusw. . Schokolade wurde anfangs durch Zuckerwarenersetzt. So gab es ab und zu in einem großen Konfitüren-geschäft jenseits der Spree pro Person ein kleines TütchenZuckerperlen oder ähnliches. Und das mit Anstellen.Mutti und ich stellten uns natürlich an. Ich muss sagen,wir zogen, wenn wir unseren Teil ergattert hatten, fröh-lich ab.

Es folgte eine lange Durststrecke. Die Kriegswirrenhatten uns in den russisch besetzten Teil Berlins verschla-gen. Ich arbeitete seit 1946 als Grenzgängerin im ameri-kanischen Teil. Dadurch erhielt ich nach der zweiseitigenWährungsreform (Ostmark bzw. DM) einen kleinen TeilWestgeld, also DM. Dafür wurden zusätzliche Lebens-

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ten ermöglichte man es uns, die große Mauer, dieberühmte chinesische Mauer zu sehen und nicht nur das,nein, auch zu erklimmen. Frau Neukirchen-Diem setztealle ihre Kräfte daran, mich in meinem Rollstuhl die fürein solches Unterfangen eigentlich zu steile Mauerhinaufzuschieben. Der Leiter unserer Reisegruppemusste mithelfen. Ich sollte die erste Rollstuhlfahrerinauf der „großen Mauer“ sein, meine beiden vortrefflichenHelfer schafften dies.

Ich fühlte mich wie … ich weiß das Gefühl nicht inWorte zu fassen. Es war mächtig, es war einmalig.

Eine dritte Mauer erschütterte mich bis ins Mark: DieKlagemauer in Jerusalem. Ich bin nicht religiös, schon garnicht mosaischen Glaubens. Die Klagemauer übte aufmich einen „Zauber“ aus; vielleicht verursachten diesauch die vielen vor der Mauer in demütiger Haltung ste-henden Menschen, jeder von ihnen Sorgen beladen undvoller Hoffnung auf Besserung in irgendeiner Form.Auch ich schrieb meine Wünsche auf Zettel und stecktesie in die Ritzen der Mauer. Nach Jerusalem waren wirauf einer der Reisen der Fürst Donnersmarck-Stiftunggelangt, eine der unvergesslichen Begegnungen mit frem-den Ländern.

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wir nicht im Entferntesten daran dachten, dass Schwer-wiegendes uns erwartete. Mitten im schönsten Geplauderund Gelächter brachte uns die Hauswartsfrau die Kundevon der Errichtung der Mauer – mitten durch und umBerlin. Sie erzählte mit Genuss (ihr war nicht das Glückzuteil, Westgüter von Kindern oder anderen Verwandtengeschenkt zu bekommen) von der uns bevorstehendenTrennung durch diese Mauer. Ich wusste, dass sich dieDDR einfach wehren musste gegen den Flüchtlingsstromaus ihrem Arbeiter- und Bauernstaat in den goldenenWesten.

Die unabänderliche Tatsache ließ mich versteinern.Das Gesicht meiner Mutter war auf einmal ganz kleingeworden. Wir verbrachten den Tag wie die Sonntagezuvor – äußerlich. Unser Inneres … , lebte es überhauptnoch? Muss doch wohl. Spät am Abend packte ich meineSachen, meine Mutter füllte mein Kochgeschirr undbegleitete mich zum S-Bahnhof-Friedrichstraße. Dortnahmen wir Abschied, Abschied für wie lange? Wirwussten es nicht. Der Abschied war innig, aber von bei-den Seiten beherrscht. Nur meine Blase konnte ich nichthalten. So liefen mir die Tränen eben durch die Hose aufden Bürgersteig. Was machte das schon in einer solchenSituation!

Sommer 1989. Frau Neukirchen-Diem nahm michmit auf eine Reise Behinderter aus Baden-Württembergnach Peking. Neben vielem anderen schönen Interessan-

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um nicht zuviel laufen zu müssen). Wie genoss ich meineReisen! Ich genoss sie auch später, als sich meine Behin-derung arg verschlimmert hatte und ich auf die Rundrei-sen verzichten musste. Ich nahm meinen Rollstuhl mit,ließ mich von Helfern schieben und die Sehenswürdig-keiten der bereisten Länder hinauf- und hinunterkurven.Von wegen, Du kannst nicht laufen und die Welt ver-schließt ihre Schätze vor Dir. Weit gefehlt. Nur zahlenmusst Du. Aber wofür hatte ich denn jahrzehntelanggearbeitet??

Also: ich zahlte und genoss.In diesem meinem Umzugsjahr zieht mich nichts in

die Ferne. Ich labe mich an der Bequemlichkeit, die mirmeine Wohnung bietet und dem Grün vor der Terrasse.

Und dabei habe ich nicht all das gesehen, was ichsehen wollte: Peru, arabische Scheichtümer, eine Fahrtmit der Transsibirischen Eisenbahn.

Fairerweise muss ich gestehen, dass meine schönstenReisen die waren, auf denen ich mich unsterblich verliebthatte. „Liebe auf Zeit“, wie mein Wahlspruch war.

Männer, das ist so eine Sache. Ich bin mehr für geis-tige Tätigkeiten als für langweilige Hausarbeit geschaffen.Also beschloss ich, ledig zu bleiben, zu arbeiten und zugenießen. Selbstverständlich auch Männer. Aber jedenMann nur auf Zeit. Das erlaubte mir den Zugriff auf mehroder weniger schräge Vögel. Auf jeden Fall auf besondereMenschen. Sie mussten jünger als ich und durften nielangweilig sein.

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MÄNNER UND DIE WEITE WELT

Ich sitze auf meiner Terrasse, schaue in den parkähn-lichen Garten vor mir, mein Blick streift umher, bleibteine Weile an den schnell sich verformenden Wolken hän-gen. Von den anderen zur Seniorenwohnanlage gehören-den Mietern dringt kein Laut, kein Fernseher quakt, keinRadio dröhnt, kein Hund bellt. Ich genieße die Stille,hatte ich doch mehr als 40 Jahre an einer überaus ver-kehrsreichen Straßenkreuzung gelebt. Ich fühle mich wieim Sanatorium.

Mein in den Jahren zuvor alles andere beherrschenderWunsch zu verreisen, hält sich in Grenzen, verschwindetschließlich fast ganz. Ja, meine Reisen … es waren durchmeine Behinderung „behinderte Reisen“. Wie gern wäreauch ich mit Tornister und Feldflasche losgezogen, um dieWelt zu erobern. Ging nicht. Teure Bahnreisen mit der„Touropa“ musste ich mir aussuchen. Dafür nahmen Hel-fer meinen Koffer flink wie Wiesel zu sich, stützten michbeim Einsteigen in den Zug und was der Annehmlichkei-ten mehr war. Mein Gepäck sah ich erst im Hotelzimmerwieder. Wenn das keine, einer Behinderten angemessenenBequemlichkeiten sind! Dafür sparte ich, dafür blechte ich.

Auf Rundreisen in aller Welt bildete ich mich in derersten Woche immer weiter, immer weiter. Zwei bis dreiErholungswochen am Meer folgten. Faul im Sand liegen,ab und zu im Meer schwimmen (nur im flachen Wasser,

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Thai-Frauen zu?: „I love you Sir“. Anfangs erwiderte ichnoch verwundert: „I’m a woman“, später amüsierte esmich nur.

Und ein drittes Erlebnis. Ich bin in Marokko. Es istspäter Abend, die Zeit, in der man auf die Straße geht undgenüsslich promeniert. Ich trage ein schwarzes plissiertesKleid, eines der „Kofferkleider“, die derzeit in Modewaren, der großen Hitze wegen ohne Ärmel. JungeFrauen, verschleiert, nur Augen und Hände sichtbarkommen mir immer wieder sehr nahe, so nahe, dass ihreHände meinen Arm streifen und dieser Blick aus großenkohlrabenschwarzen Augen: heiß und begehrlich!

Wie viele Frauenherzen habe ich wohl in meinemLeben geknickt.

HINTER DEN KULISSEN

Wer mich besucht, findet eine Wohnung vor, die gutaufgeräumt aber bewohnt ist. Kennt er mich nur ober-flächlich, wird er mich für einen recht ordentlichen Men-schen halten. Diese seine gute Meinung zerstäubt in alleWinde, sobald sich eine Schublade, eine Schranktür öff-net. Die Schubladen- und Schrankbewohner starren ihmhilflos, verzweifelt entgegen. Sie möchten heraus aus

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Samy borgte ich Geld, die restlichen ausstehendenTausender auf die ich lange warten musste, erhielt ich vonseinem Arbeitgeber, den ich zufällig kannte, zurück. Sigiborgte sich regelmäßig ein paar Hunderter und zahltesolange pünktlich zurück, bis seine Großmutter in einAltenheim kam und er keinen Zugriff auf ihre Rentemehr hatte. Wegen ausstehender 500,– DM zeigte ich ihnan und trug dazu bei, dass er in den Knast kam. Helden-tat? Na, heute zweifle ich. Die Reihe fortsetzen? Nee,würde zu intim. Die leben ja noch alle.

AMORE AM ABHANG

Was für seltsame Erinnerungen mich plötzlich befal-len; ich geh die Treppe zur Berliner U-Bahn hinab. Eineheiße Hand legt sich mir flach auf den Rücken. Ich wendeden Kopf und blicke in die erregten, begehrenden Augeneiner Frau. Sie merkt, dass ich das falsche Objekt bin. Esblieb nicht die einzige heiße Hand in meinem Leben.

Thailandreise mit Frau Neukirchen-Diem, also derFürst Donnersmarck-Stiftung. Mein Haar ist kurzgeschnitten, ich trage einen hellen Hosenanzug mitblauen Schleifchen auf den Schultern und vorn. Ichkomme mir sehr weiblich vor, aber was rufen mir wiederund wieder die in den offenen Bars auf Freier wartenden

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Ich wollte nicht die arme Behinderte sein, ich wollte mit-spielen im Karussell des Lebens. Es hat uns beiden gutgetan, nicht wahr?

Komm, sei ehrlich. Sicher, oft war ich an der Grenzemeiner Leistungsfähigkeit, aber wenige Minuten still sit-zen, durchatmen und weiter ging es.“

So lebten wir. Ich und Ich bis … !Eine Woche vor meinem 80. Geburtstag durchschoss

mich ein Gedanke blitzartig, heimtückisch: Nun hast dudas Recht dich gehen zu lassen, losgelassen von jeder All-tagshektik zu ruhen, zu rasten, Löcher in die Luft zu star-ren. Mein Beinbruch setzte diesen dummen Satz in dieTat um, in dem er mich für 3 Monate ins Krankenhaussteckte. Ich kam am 19. Februar 2004 nach Hause undwar nicht mehr dieselbe, die am 18. November 2003 ihreWohnung verlassen hatte.

Keine Angst, das Notwendigste an Körperpflege undAufräumen mache ich, ich will ja nicht vergammeln. Abersonst? Ich rücke meinen Rollstuhl vor den Fernseher,stelle eine große Tasse Kaffee auf den Schreibtisch nebenmich, eine Tafel Schokolade lege ich daneben und – dannschlafe ich ein. Und das unmögliche Leben hält mich wei-ter in seinem Bann. Ich will es ändern, will meine alte Tat-kräftigkeit wieder aufnehmen – und kann es nicht.Erstarrt an Körper, Geist und Seele fühle ich mich wohl!Ich verstecke mich nicht, hilf mir!“ „Na wie denn. End-lich bist Du vernünftig geworden.“ „Nein! Ich wolltedoch nie vernünftig sein.“

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ihrer Enge, sich recken und strecken dürfen, Kleidermöchten wieder glatt sein. Aber was tue ich, die böseHerrin? Immer noch mehr kaufe ich, immer voller stopfeich die Behältnisse.

Weh mir, wenn ich etwas suchen muss. In dem Wirr-warr Einzelnes auf Anhieb zu finden, ist dem Geschick-testen nicht möglich. Also gehe ich auf die Pirsch. Ichdurchsuche Ort eins, nichts, Ort zwei, nichts, Ort dreiauch nichts. Mit der Zeit werde ich nervöser, immer hek-tischer. Auf dem Höhepunkt meiner verzweifelten Suchedurchströmt mich wohlige Ruhe. Ich setze mich, über-lege einen Augenblick, wo ich den betreffenden Gegen-stand zuletzt hatte, was ich mit ihm gemacht habe undwie durch Zauberkraft weiß ich: Da liegt, steht, hängt,was ich haben wollte. Ein – jetzt gezielter – Griff genügt,und ich halte in der Hand, was sich mir eine Zeit lang ver-borgen hatte.

ICH INTERVIEWT ICH

„Wie geht es dir jetzt, alt und ausgelaugt wie du bist?Geschont hast du dich ja nie, immer nur Geist, Hände, jaselbst deine kaputten Beine bewegen!“

„Sch… , liebes Ich! Fühlst du dich etwa von mir ver-nachlässigt? Es ging dir gut die vergangenen Jahrzehnte.

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Sachen entstanden, in denen ich mich dann am Montagmeinen Kolleginnen präsentierte. Ich war stolz auf meineSchöpfungen, aber was sagten die Kolleginnen? „Schön.Aber wenn Du dazu noch Stiefel anhättest …“ Das tatweh. In einem extrem kalten Winter gelang es mir, einPaar Stiefel von der Krankenkasse genehmigt zu bekom-men. Ich fühlte mich wie eine Königin, zog am Montagmein neuestes, wieder recht hübsches, selbst entworfenesund -geschneidertes Kleid und vor allem die Stiefel an.Ich erntete verlegene, gequälte Blicke. Erst in diesemAugenblick wurde mir bewusst, dass man bereits längereZeit schon keine Stiefel mehr zu feinen Kleidern trug.

Die nachfolgende Begebenheit liegt länger zurück.Ich wohnte damals in Ostberlin und arbeitete im ameri-kanisch besetzten Teil der Stadt. Wie bekannt, gab es inBerlin zwei Währungen: das viel begehrte Westgeld unddas weniger kaufkräftige Ostgeld.

Ich erhielt 90% Ost- und 10% Westgeld. Für daskostbare Westgeld kaufte ich hauptsächlich Lebensmittelfür meine Eltern und mich, die es im russisch besetztenSektor nicht gab.

Ein paar wenige Westmark nur behielt ich zurück.Und diese sparte ich. Ich legte buchstäblich Pfennig aufPfennig. Wofür? Um mir eine Goldkette in Bandformkaufen zu können. Der Tag, an dem ich das erforderlicheGeld zusammen hatte, kam. Ich kaufte die heiß begehrteKette – und musste feststellen, dass dieser Schmuck nurnoch von alten Frauen getragen wird.

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FREUD UND LEID

Was überwiegt bei mir? Obwohl mein Leben nichtleicht war, möchte ich der Freude den Vorrang geben. Esbedurfte durchaus nicht des Überschwangs der Gefühle,um mit meiner Welt zufrieden zu sein; die kleinen Freu-den waren es, die mich in den Bann zogen, die mich rück-schauend auf mein Leben sagen lassen: Es war trotz Ver-stümmelung, Schmerzen, Beeinträchtigungen im Alltagschön und ich habe das Beste aus den Restbeständengemacht.

Kein Bombenterror im Zweiten Weltkrieg, keinLeben am Existenzminimum nach dem Krieg, kein Ärgermit Bekannten, Verwandten, im Büro – nichts brachte esfertig, mir für längere Zeit die gute Laune zu nehmen.Unglücklich auf Dauer war ich nie. Glückliches Naturell?

ZU SPÄT

Eine Zeitlang trugen die modebewussten Frauen Stie-fel zu Kleidern, sah hübsch aus. Ich musste orthopädischeSchuhe tragen und hatte keine Stiefel. Eine lange Zeitnähte ich meine Kleider selbst. Reichlich verrückte

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Raum zurück, wenn ich über dessen Schwelle mit demrechten Fuß gestolpert war. In Brasilien musste ich unbe-dingt die Nachkommen der Woodoo-Priester aufsuchen.Ob ihr Zauber heutzutage noch irgendeine Bedeutunghat, war mir gleich. Ich ließ mir natürlich ein Amulettschenken und unter Beschwörungsgemurmel umhängen.Ich trug das Amulett lange. Warum ich mir trotzdem denBeinbruch zugezogen habe? Na, wer weiß?

SOMMER

Ende Juli 2004, Sommer im Kalender. Aber wie siehtdieser Sommer hier in Nordostdeutschland aus? Mit demThermometer bekommt man Mitleid, wenn man sieht,wie sich die Quecksilbersäule quält, millimeterweisehöher zu steigen, der Himmel kleidet sich in Grau, dasbei uns Frauen zum Glück aus der Mode gekommen ist,Regen ergießt sich in kurzen megakräftigen Schauern und– und – und alles ist anders als die Sommer meiner Kind-heit und Jugend.

Sonntagmorgens bereitete meine Mutter Kartoffelsa-lat, 3 Koteletts (meins besonders fett, was ich liebte) undeine Thermoskanne mit Malzkaffee. So versorgt und miteiner Decke bewaffnet, fuhren wir aus der Stadt hinaus

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SPIEGLEIN, SPIEGLEIN

Wie oft sah ich in den Spiegel, zupfte hier und zupftedort, schöner wurde ich nicht. Wie hätte das auch ange-hen können. Die linke Hüfte war durch die Entfernungder alten und Neubildung der rechten Gelenkpfanne fla-cher als die rechte, am linken Bein fehlten mir sieben,ganze sieben Zentimeter, die mit einem orthopädischenSchuh ausgeglichen werden mussten, einem wortwörtli-chen „Klotz am Bein“. Auf meiner Nase vergnügte sichseit dem 11. Lebensjahr eine Brille. Meine Kleidungkonnte noch so schön sein, dem Schönheitsideal ent-sprach ich nie, zumindest äußerlich nicht.

Solange ich arbeitete, also bis zu meinem 60. Lebens-jahr, schminkte ich mich ziemlich stark, später bekamennur noch die Augen und der Mund kräftige Farben. Bei-nahe hätte ich die Haare vergessen. Meine Naturfarbe istein freundliches, langweiliges Mujjelbraun. Ich probierteeinige dunkle Rottöne aus, um dann Jahr um Jahr beiTiefschwarz zu bleiben, solange bis die alternde Gesichts-haut und der schwarze Schopf lächerlich aussahen. Wieich zu meinem Pumuckelrot kam, steht an anderer Stelle.

Schönheit drückt mich also nicht, dafür bin ich aber-gläubisch. Gibt keinen Sinn? Ach Quatsch, ist doch Teildes Aberglaubens. Die erste Kastanie, die mir im Herbstbegegnet, muss ich haben und bis zum nächsten Herbstaufheben. Als ich noch laufen konnte, ging ich in einen

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langweilig und ich sammelte in ein geknüpftes Einkaufs-netz Unmengen der Kiefernzapfen. Diese waren fürunseren eisernen Küchenofen wahres Gold: sie branntenwie Zunder und erzeugten eine herrlichen Wärme. Mitdiesem prall gefüllten Netz stieg ich in die S-Bahn. Fahr-gäste über Fahrgäste kamen dazu – und plötzlich brachein Geschimpfe um mich herum los, wie ich es nie vor-und nachher erlebt hatte: Meine Kienäppel piekten denLeuten an die Beine, aber mir doch auch! Aus lauter Vor-freude über die Freude, die ich meiner Mutter mit demHeizmaterial bereiten würde, störten mich die Pieksernicht. Als ich ausstieg, hatte ich einige blutige Schrammenan den Beinen.

FREIZEITGESTALTUNG

Jetzt im Alter frage ich mich: Wo nahm ich die Krafther, all das im Leben zu bewältigen, was ich „erlebenwollte“? So begnügte ich mich beispielsweise währendmeiner Berufstätigkeit mit vier bis fünf Stunden Schlaf.Mir jetzt unfassbar. Entschuldige, armer Körper, aberversteh doch bitte: Ich wollte Geld verdienen und außer-dem leben, vieles erleben, das Leben nicht vor dem Fern-seher an mir vorbeirauschen lassen. Und ich schaffte es.

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ins Grüne, jahrelang nach Rahnsdorf. Ein paar Schrittezum Wald, Decke ausgebreitet und der Sonntag, unserSonntag, begann. Wir lagerten auf der Decke, aßen, tran-ken, schliefen oder dösten so vor uns hin, den Blick hochhinauf in die Baumwipfel schweifen lassend. Meine unru-hige Mutter stand irgendwann auf und sammelte Beerenoder Blümchen. Zufrieden mit uns und der Welt fuhrenwir abends heim.

Wenn uns Langeweile überwältigte, packten wirunseren Kram zusammen und machten den für michunvergesslichen Spaziergang durch den Wald zum Bahn-hof Wilhelmshagen. Ja, damals konnte ich noch laufen.Der Weg war so schön, dass er mir nichts, aber auch garnichts ausmachte.

Als der Krieg vorüber war und sich das Leben zunormalisieren begann, fuhr ich an den Sommersonntagenmit einer Kollegin zum Strandbad Wannsee. Irmgard undich legten uns in den sonnenwarmen Sand. Nicht nur,weil es so schön war, seine Stullen mit sandigen Fingernzu essen, nein, wir wollten braun werden, kaffeebraunwie die Neger. Irmgard erreichte ihr Ziel nach unver-schämt kurzer Zeit, bei mir trat der volle Erfolg nicht ein.

Ich fuhr noch lange, nachdem sich die Freundschaftzerschlagen hatte, ins Strandbad. Von der Havel zum S-Bahnhof Nikolassee musste ich meist laufen, nur in denSchulferien fuhr manchmal ein Sonderbus für einen Gro-schen.

Eines Tages war mir der kienäppelübersäte Weg zu

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ben eintauschte, ist unbezahlbar. Ebenso unvergesslichschön waren Fernreisen der Fürst Donnersmarck-Stif-tung. Diese nicht ganz so teuer wie oben.

Während meiner Reisen erfuhr ich eine wundersameVerzauberung, wie ich mich auch im Kino, im Theater, imKonzertsaal gern von der Atmosphäre einfangen lasse.

Jahrzehntelang gaben mir Bücher das Gefühl, derWelt entrückt zu sein. Viel zu früh haben dann meineAugen Einhalt geboten.

WAS WILL ICH MEHR?

Als Kind war ich ganz niedlich, mit der Betonung auf„ganz“ als Verkleinerungsform. Ich wurde älter, abernicht schöner. Eines Tages erkannte ich: Eine Schönheitwirst du nie! Wäre ja auch kaum möglich gewesen mitdem durch Operationen um 14 cm verkürzten Körper.Ich begann nach Auswegen zu suchen. Ich fand sie auchund kann heute, in der Rückschau, nur sagen: Meinearme Mutter!

Sie nähte meine Kleider, zwar nach den üblichenGrundschnitten, aber nach meinen Anweisungen für Ver-änderungen. Wie oft musste Mutti trennen und neunähen, weil ich nicht so aussah, wie ich aussehen wollte.

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Zweier Helfer bediente ich mich: Kaffee und Schlaftablet-ten. Hat sich bewährt, bis heute.

Die Lust zu lesen und die Reiselust habe ich von mei-nem Vater geerbt. Ich habe all die Länder bereist, die ernicht erkunden konnte, weit über den Globus verstreut.Angefangen hat es mit den Kraft-durch-Freude-Reisen(einfach und billig) in den Harz, nach Thüringen und insAllgäu. In den Nachkriegsjahren, in denen ich den über-wiegenden Teil meines Geldes in Ostmark ausbezahltbekam, verbrachte ich den Urlaub in der MärkischenSchweiz am Scharmützelsee.

1957 begann das eigentliche Reisen. Ich fuhr an dieItalienische Riviera nach Finale Ligure und verliebte michunsterblich in das Land. In den darauf folgenden Jahrendurchstreifte ich Italien von Nord nach Süd, von denGebirgen zu den Seebädern und den unvergleichlichschönen Städten mit ihrem kulturellen Erbe. Inzwischenkann ich sagen, dass ich von Südafrika bis Spitzbergen,von Kalifornien bis China, Indonesien, von New Yorkbis Brasilien fast alles gesehen habe. Gewiss, das Geld istweg, aber die Erinnerungen an all dies Erlebte, dasunendlich vielfältig Fremde kann mir keiner nehmen.

Meine Reisen wurden mit zunehmendem Grad derBehinderung teurer und teurer, denn reiste ich anfangsmit einem kleinen Stock, so wurden es zuletzt Reisen mitHelfern und im Rollstuhl. Die Reise nach Indien undNepal verschlang beispielsweise etwa 10.000,– DM. Wasfür eine stolze Summe. Aber das, was ich dafür an Erle-

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SO ERLEBT MAN GESCHICHTE

Es ist Nacht, die Nacht vom 8. zum 9. November1989. Ich liege im Bett, der Fernseher ist eingeschaltet.Das Programm interessiert mich nicht. Ich döse vor michhin, schlafe ab und zu kleine Runden. Das Rad derGeschichte dreht sich an mir vorbei. Auf dem Bildschirmerscheint eine amtliche Person, liest ein Papier vor. Ichhöre nicht hin, ich registriere nichts, ich schlafe erneuteine Runde.

Als ich erwachte, quoll der Bildschirm vor aufge-wühlten Menschen über, man lachte, man weinte, manumarmte sich. Eine Menschen von Menschen trennendeMauer gab es nicht mehr. Ich weinte und lachte mit denAbbildern der glücklichen Menschen. Zwar waren meineEltern tot, aber was für ein herrliches, durch keine Mauerbegrenztes Leben würde nun beginnen. So dachte ich.

Einige Zeit später zog ich aus, mit meinem Rollstuhldie Stätten meiner Jugendzeit zu erforschen, die ich seitKriegsende nicht mehr gesehen hatte – ich wollte die neuerrichteten Bauten, die umgestalteten Straßenzüge, kurzdie Verschandelung meiner Erinnerungen, nicht sehen.Ich fuhr durch den Tiergarten, die Straße des 17. Juni ent-lang, erreichte das Brandenburger Tor, die Linden, denAlexanderplatz ließ ich hinter mir, um mich meinemdamaligen Kiez zu nähern. Wallner-Theater-Straße, Iff-landstraße, Markusstraße, ich fand nichts wieder, sah nur

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Durch die Behinderung fiel ich sowieso auf. Warumsollte ich mich nicht mit Kleidung und auch Frisuren ausder Masse stärker herausheben?! Das Sich-Herausheben-Wollen zieht sich wie ein roter Faden durch mein Leben.

Meine Kleidung kaufte ich, nachdem meine Mutterzu alt geworden war, von der Stange. Es kam der „LangeLook“ und es kam meine große Stunde des Selberma-chens. Ich ging an einem Freitag ins KaDeWe, kaufteschreiend grünen Stoff, stand am Sonnabend so früh wieimmer auf, schnitt zu, setzte mich an die Nähmaschine …ja und am Sonntagabend war der Hosenanzug fertig. Soverbrachte ich meine Wochenenden – außer natürlich imUrlaub – 10 Jahre lang. Ich nähte mir, wie man sich den-ken kann, reichlich verrückte Sachen. Sachen, die ich mirnie im Leben im Geschäft fertig hätte kaufen können.

Vor ein paar Jahren, bereits im „Greisenalter“(kommt nicht von mir, steht in alten Büchern) setzte ichdem Gedanken des Herauswagens aus der Masse dieKrone auf: Ich lasse mir von diesem Zeitpunkt an dieHaare pumuckelrot färben. Gefällt kaum jemandem.Mich macht es fröhlich. Was will ich mehr?

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standen einige Wohnungen leer, das heißt, ihrer Bewoh-ner beraubt.

Doch zurück zu meiner Reise in die Vergangenheit.Ich bewegte meinen Rollstuhl immer weiter ostwärts biszum Straußberger Platz. Das Kaufhaus, unser Kaufhaus,von Jandow über Tietz zu Hertie gab es noch, unteranderem Namen natürlich. Die Weberwiese, auf der ichals Kind so viele Kuchen gebacken hatte – der Sandkastenwar einfach ein Juwel – hatte man mit Wohnhäusernbepflanzt.

Am Straußberger Platz kehrte ich um. Ich musste denganzen Weg ja wieder zurück – das mit einem so genann-ten „Selbstfahrer“, einem mit Armkraft betriebenen Roll-stuhl. Nach acht Stunden kam ich zu Hause wieder an,körperlich total kaputt, aber glücklich und zufrieden. Ichhabe diese Tour nie wiederholt.

DARF’S EIN BISSCHEN REISE SEIN?

5. September 2004. Anstatt fremden Kulturen aufeinem fremden Kontinent nachzuspüren, sitze ich selbst-vergnügt auf meiner Terrasse. Sonnendurchglühte roteRosen lachen mich an, gelbe Dahlien sind etwas hochmü-tiger, die weißen und die gelben Astern halten sich zurück

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einheitliche, gesichtslose Wohnhäuser. Ich hatte nichtsanderes erwartet, empfand dementsprechend auch keineEnttäuschung. In mein Inneres kehrte Ruhe ein. Erst jetztkonnte ich das Kapitel „Jugend, Krieg, Bombenhagel“abschließen.

Ich durchquerte die Siedlung, die man dort errichtethatte, in der ein Haus wie ein Ei dem anderen glich.Plötzlich erblickte ich einen alten Mauerrest, ein altesStraßenschild – darauf „Raupachstraße“.

Wie gebannt blieb ich stehen. Ein Stück meiner Kind-heit lag vor mir. Dieses Stück Berlin: Wallner-Theater-,Iffland- und Raupachstraße, in das meine Eltern 1933zogen, war überwiegend von jüdischen Bürgernbewohnt. Es handelte sich zum größten Teil um vor-nehme, wohlhabende, gebildete Juden. Wie viel Zeit habeich in einer dieser Familien zugebracht? Und vor allem,wie habe ich die Gesellschaft dieser Menschen inmittenall ihrer Vornehmheit genossen?

Beim Anblick des alten Straßenschildes kamen mirmeine jüdischen Mitschülerinnen in den Sinn, die einesTages allesamt von der Schule verschwunden waren. Aberdas Leben ging weiter.

An einen Spätsommerabend erinnere ich mich. Esdämmerte. Auf dem einzigen Balkon uns schräg gegen-über saß Rebekka, ein stimmbegabtes 14jähriges jüdi-sches Mädchen und sang, begleitet von ihrer Laute, einbittersüßes wehmütiges Lied in einer fremden Sprache.Kein anderer Laut war zu hören. Am nächsten Morgen

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Meine erste Schiffsreise. Der erste Aufenthalt war aufden Färöer-Inseln. Das Schiff lag auf Reede, wir wurdenin kleinen Booten an Land gebracht. Ehe ich mich versah,hatte mich ein Seemann auf den Arm genommen unddem Maat auf dem Boot in die Arme geworfen – über dasWasser hinweg.

Je näher wir Island kamen, um so stürmischer wurdenWind und See. Das Schiff, ein alter italienischer Kasten,tanzte auf den Wellen. Haltestangen waren nicht vorhan-den. So krallte ich meine Fingernägel in die Fugen derHolztäfelung. Mit wild klopfendem Herzen in derHosentasche, aber ohne zu stürzen, langte ich in dem Teildes Schiffes an, in den ich wollte. Nach Verlassen derisländischen Hauptstadt war die See spiegelglatt. Dafürfuhren wir drei Tage durch den dicksten Nebel. Von allenSeiten ertönten Nebelhörner. Ein gespenstischer Warnruf.

Plötzlich rissen die Wolken auf. Die Sonne schien,aber es war kalt im Eismeer. Als ich einmal im Freien ander Reling stand und vor mich hinträumte, bemerkte icham Horizont zwei oder drei winzige sonnenbeschieneneschneeweiße Spitzen. „Land in Sicht“ schrie ich, mankam heraus und bald gebärdeten wir uns trunken vorFreude wie die Seefahrer aus alter Zeit.

Die Spitzen, die dem Namen „Spitzbergen“ alle Ehremachten, kamen näher, wurden größer und entpupptensich als Gletscher. Wir ankerten in der Magdalenenbucht.Ich zögerte längere Zeit mit dem Landgang. Ich wusste,der konnte mir nicht das bieten, was ich von meinem

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wie ein scheues Geschwisterpärchen. Und das Grünwuchert, von einem Beschneider im Zaum gehalten, alswolle es in alle Winde schreien: Sommer, geliebter Som-mer, geh nicht von uns, noch nicht!

Ich bin in diesem Jahr nicht verreist und werde in dendiesem Jahr 2004 verbleibenden Monaten nicht verreisen.Eine total ungewohnte Haltung von mir. War doch dasReisen mein Leben lang, bisher wenigstens, stets die Zeit,in der ich spürte, dass ich lebe. Und abgesehen davon, dassmein Geld für den Umzug, für Umbauten in der neuenWohnung, für einen langen Klinikaufenthalt verflogen ist:Ich habe nicht mehr das Bedürfnis, alles von der Welt zusehen, was mir auch nur im Entferntesten möglich ist.

Ich sehe in den Spiegel. Ruth, du wirst alt! Ist eswirklich so unerträglich, alt zu sein? Ich bin voll gestopftmit Erinnerungen. Wie wäre es, wenn ich sie einmal sor-tieren, mich an ihnen erfreuen würde?!

Meine zweite Italienreise kommt mir in den Sinn:Berlin-Hannover mit dem Zug, Übernachtung, nächsterMorgen warten auf den Sonderzug, den „Reisebürozug“nach Italien. War einigermaßen pünktlich. (Wie warm dieSonne scheinen konnte) um 23.45 Ankunft Station Ter-mini in ROM. Ich hastete wie wild zum Bahnhofsaus-gang, und als ich römischen Boden betreten hatte, fing ichan zu heulen wie ein Schlosshund. Ich war in Rom.Unfassbar! So bis in die tiefsten Tiefen meiner Seeleerschüttert war ich nur noch ein einziges Mal: 45 Jahrespäter, als ich in Indien war.

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ENGEL, GIBT’S DIE?

Mit Bernd zusammen machte ich Jahre nach der ers-ten Chinareise eine weitere, in vieler Hinsicht denkwür-dige Reise nach China, kreuz und quer durch das Landbis nach Hongkong.

Wir hatten eine ganz normale Rundreise gebucht undselbstverständlich angegeben, dass ich im Rollstuhl sitze.Auf dem Frankfurter Flughafen traf die Gruppe zusam-men. Niemand nahm besondere Notiz von meinem Roll-stuhl. Der chinesische Reiseleiter ließ sich nichts anmer-ken. Wie wir später erfuhren, hatte man ihn nicht übermein Handicap informiert.

Die Mitreisenden verhielten sich mir gegenüberanfangs höflich aber ein wenig kühl. Bald war der Banngebrochen. Gewiss, Bernd half mir, wo er nur konnte,aber kleine, zusätzliche Hilfen brauchte ich vor allem,wenn er sich um den Rollstuhl kümmern musste. Undsiehe da: diese zu Anfang so kühlen Menschen um michherum waren allesamt bereit zu helfen. Wenn ich eineHand brauchte, wurde sie mir entgegengestreckt. Es gingwie von selbst. Einzelne Mitreisende hatten regelrechtAufgaben übernommen. Eine herzliche Gemeinschaftentwickelte sich zwischen uns. Längere Strecken schobmich der Reiseleiter Mr. Wang. Dabei plauderten undlachten wir, was das Zeug hält.

Als wir am Ufer des Yang Tse Kiang dabei waren, das

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Platz auf dem Schiff erlebte, nämlich das Kalben derGletscher. Immer wieder durchdrang ein Ton die Stille,wie das langsame Zerreißen eines starken Bandes. Eingroßer Eisbrocken hatte sich von der Eismasse gelöst.Mit Getöse fiel der Klumpen in die See, Wasser spritztehoch auf. Übrigens auf Spitzbergen hatten wir bei abso-luter Windstille zwei Grad minus, nicht mehr.

Ungeheuer beschwerlich war mir die Rundreisedurch die Sowjetunion. Ich konnte ganz gut laufen, aberbegrenzt, bitte schön. Und wenn ich eine Reise mit Flug-zeughopsen von Stadt zu Stadt buche, denke ich an jed-wede Erleichterung. Ja, denkste! Mussten wir Fremdenvor der einheimischen Bevölkerung oder sollten die Sow-jetbürger vor uns Westgeldträgern geschützt werden – ichhab es nicht rausbekommen. Jedenfalls verlief die Reisedergestalt, dass wir unmittelbar nach Erreichen des jewei-ligen Flughafens in einen VIP-Raum gejagt wurden. Undder lag unsäglich viele Stufen hoch oben. Nun ja, uner-reichbar für das Volk. Öfter kam es vor, dass unser Flugaufgerufen wurde, nachdem wir die letzte Stufe erklom-men hatten. Was blieb uns übrig? Wir mussten hinunter-hasten und hatten noch den langen Weg zum Gate zubewältigen. Missen möchte ich diese Reise trotz alledemnicht. Moskau mit seinen goldenen Kuppeln, die Sibiri-sche Steppe, der riesige Baikalsee, die Sibirer mit den ver-schlossenen Gesichtern und dann die lachenden Gesich-ter der Kirgisen und der muslimischen Völker. Welch einweites Reich. Was ist geblieben?!

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vielleicht witzig aus! Hi, hi – in das Hotel Zarzis in derOase Zarzis in Südtunesien. Ich war von Anfang an soverschossen in dich, dass ich dir überall hin folgte. Damitdu mich nicht fortscheuchst, habe ich mich immer unterdein Taschentuch gelegt.“ „Igitt!“ „Es war so schön, dichzu beobachten, wenn du nach dem Frühstück mit deinemkomischen Ding auf die Promenade am Meer fuhrst, dichin die kühle Morgensonne setztest und es dir ganz offen-sichtlich wohl ergehen ließest.“

„Von Zeit zu Zeit schautest du auf die beiden Palmenam Ufer, dann sahst du den Wellen zu. Kein andererMensch war weit und breit zu sehen. Was du wohlgedacht haben magst?“ „Nichtstun.“

Später legtest du dich auf deine Liege. Ich krochunter die Auflage. Ich hörte es gern, wenn du dich mitanderen Leuten unterhieltest. Und wenn du dann deineRunden im Thermalbad zogst und dich zum Trocknenpitschnass in eine sonnendurchglühte Ecke des Hotelssetztest. Oft bist du durch das Dorf gefahren, weißt dunoch? Da war der Markt an bestimmten Tagen, von demdu dich gar nicht trennen konntest. Es gab ja aber auch soviel bunten Kram zu sehen. Die Gewürze in den großenSäcken kitzelten meine Nase, deine scheinbar nicht. Vielemännliche Dorfbewohner grüßten dich, was ich nicht solustig fand. Und dann unterhieltest du dich auch nochmit ihnen, ihr lachtet miteinander und tatet sehr vertraut.Oh, was ich litt!

Dass meine Brüder und Schwestern dich in deinem

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Atelier eines Malers aufzusuchen, kam ein kleiner chine-sischer Junge zu mir und bat mich in allerbestem Eng-lisch, mich zu seinem Großvater bringen zu dürfen. Neu-gierig geworden, ließ ich ihn gewähren. Der Jungebrachte mich zu dem Maler, zu dem wir wollten. DerJunge schob mich vor ihn hin, und der Maler verneigtesich vor mir. Er sagte – auch er sprach gut Englisch – wiehoch er die Ehre schätze, die ich seinem Land zuteil wer-den lasse, indem ich es trotz meiner Einschränkungbereise. Ich hatte Tränen der Rührung in den Augen.

Die Reise ging weiter. Meine Helfer wurden nichtmüde, mir beizustehen.

Ja, Engel gibt es!

DER VERLIEBTE KAKERLAK

„Hallo Ruthi, mach endlich Pause und lass michmal!“ Ich:„Wie bitte? Ach, da ist doch keiner.“ „Doch ichbin einer. Du kennst mich. Ich bin der kleine Kakerlakaus Tunesien, der Dich immer so verliebt angelächelt hat.Du weißt nicht? Schade.“

„Ja, ich kenne dich schon viele Jahre. Damals kamstdu mit deinem komischen Ding auf vier Rädern, das dumit den Händen vor- und zurückgeschoben hast – das sah

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DIE STIFTUNG UND ICH

Meine Eltern taten alles in ihren Kräften stehende,meine Kindheit auf das Beste zu gestalten. Sie war schön,harmonisch, von Liebe umgeben. Und doch – vollkom-men war sie nicht. Meine Eltern waren sich selbst genug.Sie hatten keine Freundschaften, kamen nur hin und wie-der mit meiner Tante, der Schwester meiner Mutter, undihrer Familie zusammen.

Ich hatte stets einen Kreis Gleichaltriger um mich,aber mir fehlte der Umgang mit Erwachsenen. DiesenMangel spürte ich schmerzvoll mein halbes Leben. EinenMenschen als Freundin bzw. Freund konnte ich mir ver-schaffen, aber keinen Freundeskreis.

So drückte mich um 1970 meine Einsamkeit wiedereinmal mächtig. Als ich die Zeitung durchblätterte, ent-deckte ich eine Spalte mit Namen und Telefonnummernvon Behindertenverbänden. Eine Nummer nach deranderen erwies sich als untaugliches Objekt: Jugendgrup-pen, Blinde, Gehörlose, nur geistig Behinderte. Nocheine Nummer. O bitte nicht wieder ein Reinfall! Undsiehe da: Zwar war auch hier nicht das Richtige für mich,doch man gab mir den Tipp, mich an die Fürst Donners-marck-Stiftung in Zehlendorf zu wenden. Dieser Ratkrempelte mich und mein ganzes Leben um. Dort war ichvon Menschen umgeben, noch dazu fast alle wie ichbehindert. Ich war Gleiche unter Gleichen.

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Zimmer aufsuchten, musst Du entschuldigen. Sie warennur neugierig auf meine große Liebe. Leider hast du vielevon ihnen erschlagen. Nicht verstanden habe ich, dass dudir jeden Abend die Show des Entertainers mit seinenläppischen Vorführungen ansehen musstest. Es war sokalt nach Sonnenuntergang.

Wenn die Zeit deiner Abreise gekommen war und duden Koffer packtest, wurde ich unendlich traurig. EinigeJahre hintereinander kamst du ja wieder zu meinemGlück. Doch dann bliebst du aus. Du hättest weiter kom-men können, wenn auch das Hotel den Besitzer gewech-selt hatte.“ „Das verstehst du nicht. Ich weiß, dass dasHotel im großen und ganzen erneuert wurde. Da sagteich mir: Der alte Charme ist dahin!

Aber hör mal Kakerlak, was du mir da so vermittelthast, freut mich und streichelt meine Seele. Aber sag mirdoch bitte aufrichtig: Wie bist Du nach Berlin, in meineWohnung gekommen und hast sogar einen Umzug über-standen?“ „Tja, das ist mein Geheimnis. Nimm dasGanze als ein orientalisches Märchen. Du bist doch fürokkulte Dinge, wie ich an anderer Stelle in diesem Buchgelesen habe.

Nun leb wohl! Ich werde dich nie wieder belästigen –aber es hat mir unendlich wohl getan, dir meine uner-füllte Liebe einmal, nur einmal im Leben, gestehen zudürfen. Hab Dank und schreib weiter.“

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friedlich weiter. Damit keine Missverständnisse aufkom-men: Frau Neukirchen-Diem war telefonisch unterrich-tet.

Und die unvergesslichen Reisen! Die kleine Reisenach Wien war ja noch harmlos. Aber dann ging es nachThailand, nach Leningrad, später, nachdem Frieda Morydas Regime übernommen hatte, an Mosel und Rhein,nach Israel, nach Indonesien, nach Irland, Spanien. Ach,und einige Male waren wir in Bridgend und lernten walli-ser Gastfreundschaft sowie natürlich Land und Leutekennen.

Nach Frau Neukirchen-Diems Pensionierung wur-den Haus und Garten modernisiert. Es war schön, alsalles fertig war, aber die alte Heimeligkeit gab es nichtmehr. Nun wehte ein anderer Wind, ein modernerer. Warer besser?

In meinem ganzen Leben war ich immer wiedergezwungen, flexibel im Kopf zu bleiben; so konnte ichauch aus der neuen Situation große Vorzüge für michgewinnen. Es gab von jetzt an viele Seminare. Ich belegtealles, was ich nur irgend gesundheitlich schaffen konnte.Ich denke z.B. an die Schreibwerkstatt, in der ich spiele-risch lernte, Lyrik, Poesie und Prosa zu schreiben.Obwohl es nur für die Schublade war – außer einigenArtikeln, die in die WIR-Zeitung kamen – brachte es mirsehr viel.

Nachdem auch Frieda Morys Zeit in der Schädestraßezu Ende war, veränderte man das Innenleben der Villa

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In der schönen Villa hatte ich meine zweite Heimatgefunden. Dort störte es niemand, wenn ich langsamer alsein Gesunder lief, viele, viele liefen noch viel langsamer.Ich lernte, Behinderung jeglicher Art als etwas Selbstver-ständliches hinzunehmen. In der Schädestraße brauchtemein Körper nicht perfekt zu sein. Frau Neukirchen-Diem und ihre Mitarbeiter taten alles, uns das Lebenangenehm, fröhlich, schön zu gestalten.

Ich wurde Mitglied einer Gruppe jüngerer Frauenund Männer – das hatte ich mir ausgebeten – und vorallem in der Theatergruppe, der ich heute noch angehöre.

Der Theatergruppe gebührt ein Extrakapitel.Mit Fleiß, Geschick, Gespür, Liebe zur Sache und

was sonst dazu gehört, sorgte Frau Neukirchen-Diem fürunser Wohl, das Wohl ihrer „Donnersmärcker“. Wir tra-fen nicht nur zum Plaudern und Kaffeetrinken zusam-men, es gab lehrreiche Seminare und nicht zu vergessen,die vielgeliebten „Kulturellen Wochen“, in denen wir inTheater, Museen usw. gingen und vor allem in der Villaübernachteten. Letzteres war einfach himmlisch. Kamenwir spät abends von einer Veranstaltung zurück, kochteLilo Tee. Wir, na ja, nicht alle, einige von uns, setzten unszusammen, tranken den heißen Tee und schwatzten. Wirfühlten uns einfach wohl miteinander. Keinem geschahetwas.

Eines nachts fiel zwar Luise aus dem Bett, aber siehatte, bevor sie fiel, das Deckbett herunter und sichdarauf geworfen. So schlief sie bis zum frühen Morgen

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angehörte, und ich bin immer noch dabei, inzwischenjedoch nur noch passiv.

Als ich irgendeine Gruppe suchte, brauchte mandringend jemand für die Jungmädchenrolle der Clara in„Pygmalion“. Herr Martin, der mich in der Schädestraßeempfing, redete sich den Mund fusselig, um mich zumMitmachen zu überreden. Ich war doch so schüchternund da sollte ich auf einer Bühne und vor Publikum spie-len? Was für ein abwegiger Gedanke! Letztendlich hat esHerr Martin doch geschafft, mir eine Zusage mit Vorbe-halt abzuringen.

Also gut, ich lernte meine kleine Rolle; es kam derTag, an dem ich als erste auftrat und mit klitzekleinemzitterndem Stimmchen: „Taxi, Taxi!“ rief. Ach, und wieman mich lobte! Erst Jahre später erfuhr ich, wie grauen-haft schlecht ich anfangs war.

Nach und nach spielte ich mich ein. Das Theaterspie-len machte mir immer mehr Freude. Wir waren einekleine Truppe, die, besonders als Heinz Abicht dazu kam,viel Spaß miteinander hatte. Und das, was wir unserenZuschauern boten, wurde dankbar angenommen. HerrMeissner leitete die Gruppe; nach kleinem Zwischenspielmit Ersatzleuten kam Bernd Kummer. Er war ja gut, sehrgut für die Theatergruppe, aber dass ich nicht mehr diejungen Mädchen auf der Bühne spielen durfte – ich weißnicht, das war bitter!

Meine erste Rolle bei Bernd war die der alten MartheRull im „Zerbrochenen Krug“.

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aufs Neue. Es bekam teilweise einen ziemlich pompösenTouch. Ich denke da hauptsächlich an das Bistro. EinigeWände bekamen einen Lamellenüberzug, viele Fensterweiße Gardinen. Alles ist hell und freundlich. Der alte,etwas plüschige Charme meiner Anfangszeit in der Schä-destraße ist dahin, so wie auch außerhalb der Fürst Don-nersmarck-Stiftung die Zeit nicht stehen geblieben ist.Eine neue Zeit scheint mit dem letzten Wechsel in derLeitung angebrochen zu sein. Wenn dann das Haus wie-der randvoll mit Personen, vielleicht auch jüngeren,gefüllt ist, stellt sich sicher das momentan etwas verlorengegangene Gefühl der „zweiten Heimat“ wieder ein.

THEATER, ALLES THEATER

Reizwort: Theater. Mit sieben fing es an. Brav an derHand meiner Eltern und mit stolzgeschwellter Brust zogich viele Sonntagnachmittage in die „Plaza“, ein Theaterim Osten Berlins, unserer Wohnung sehr nahe. Dass eseinmal zu meinem am längsten währenden und innigstenHobby gehören würde, selbst auf der Bühne zu stehen –nein, so vermessen war ich nicht. Das Schicksal beschertemir den Kontakt zur Fürst Donnersmarck-Stiftung.

Sie war die erste aller Schädestraßengruppen, der ich

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anderen Menschen verzaubern zu lassen, bzw. selbst zuverzaubern, Menschen zum Lachen zu bringen, Men-schen in Rührung zu versetzen? Mit wie viel Freude, mitwie viel Herzblut habe ich dazu beigetragen.

EINE TÜR STEHT OFFEN

Tapp, tapp, tapp. Schneller, los, noch ist die Woh-nungstür offen. Geschafft. Ich bin drin – und da ist auchRuth schon und macht sie zu. – Oooch, was für eineMenge Rot auf dem Fußboden, leuchtend rot von derFlurtür bis zur Terrasse. Ich passe gut dazu mit meinemzarten weißen Fell.

Die Wände sind weiß, die Decke ist weiß. Die hellenMöbel machen sich gut dazu. Ich muss mal kratzen. Hi, hi,dem Nachbarn meiner Herrin habe ich neulich ziemlichtiefe Schrammen in die Schrankwand geritzt. Und dabeiwollte ich doch nur probieren, wie das Holz ist. Nein, hierist nichts zu sehen. Alles glatt wie vorher. Ein Glück.

Der kuschelige Teppichboden gefällt mir. Hiermöchte ich bleiben. Es wäre ganz lustig, wenn ich mal soüber die Porzellane, das Silber, die vielen dicht bei dichtstehenden Bücher streichen könnte. Wie das durcheinan-der purzeln würde!

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Wir hatten viel Erfolg mit dem „Krug“, nicht nur hierin Berlin, nein wir gingen damit auf Tournee nach Walesund spielten ihn dort drei Mal auf richtigen Bühnen inCardiff, in Swansea und einmal im Walliser Kohlenrevier.

Auch als die Alte hatte ich meine Erfolge, vor allemim Rheinsberger Bilderbogen als ungeliebte EhefrauFriedrichs des Großen. Bei jeder Aufführung durchlebteich das bedauernswerte Schicksal dieser in die Einsamkeitverbannten, vom Preußenhof Verstoßenen aufs Neue.

Ein Theaterstück folgte auf das andere. Meine besteLeistung war die Mutter in der „Glasmenagerie“. Wirspielten zwischendurch Kabarett mit mir als Diseuse. Ichgab die „Potsdamerin“ im Sprachgesang, eine Frau, dienichts sehnlicher wünscht, als aus ihrem vornehmenKäfig auszubrechen. In einem zweiten Beitrag fragte ichdas Publikum: „Warum soll eine Frau kein Verhältnishaben?“ Die Frage hat mir bisher niemand beantwortet,aber auch keiner übel genommen.

Was hatten wir noch einstudiert? „Nebel“, „Geister-komödie“, „Rheinsberg“, „Ein toller Tag“!

Längst laufe ich nicht mehr auf der Bühne. Bernd hatmeine Rollen so zugeschnitten, dass ich auf einem Flecksitzen bleiben kann. So war es mir bisher immer möglichmitzuspielen, eben auch ohne mich zu bewegen.

Das Theater, die Bühne: ein Märchen, ein Traum,unnützer Ballast? Vielleicht für den einen und den ande-ren. Aber wie öde und trostlos wäre unser Dasein, hättenwir keine Möglichkeit, unsere Phantasie spielen, uns von

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meine Mutter verbieten wollen? Jahre später erriet ich dasRätsel.

Nachdem ich die Fotografien eines Reisebuches vonJack London studiert hatte, machte ich mich an das Leseneines ganzen Buches. Alles mit sieben Jahren. Ich ver-schlang „Die letzten Tage von Pompeji“. Nicht mit demVerstand allein las ich, nein meine ganze Fantasie durch-litt den vernichtenden Ausbruch des Vesuvs und denUntergang von Pompeji. Ich zitterte mit den Figuren desBuches um ihr Leben. So weit, so gut.

Wenn das Kind versteht, was es liest, warum soll esnicht. Hätte ich als Eltern sicher auch gedacht. Was meineEltern nicht wissen konnten, war, dass meine Fantasiefleißig weiterarbeitete, als das Buch schon längst wiederin Reih und Glied stand. Obwohl ich wusste, dass derBerliner Boden erdbebensicher ist, krallte sich Angst vorErdbeben in meinem Innern fest und begleitete mich jah-relang. Ohne im geringsten religiös zu sein, betete ich vorjedem für mich wichtigen Ereignis: „Lieber Gott, lass einErdbeben erst kommen, wenn der Geburtstag, Weih-nachten, ein schöner Ausflug usw. vorbei sind!“

Meine Furcht vor Erdbeben war grenzenlos. War sieeine Vorahnung des sich allmählich anbahnenden 2. Welt-krieges? Im Nachhinein erscheint mir der Gedanke nichtabwegig, zumal ich mit dem Okkultismus auf gutem Fußstehe und vielleicht nicht unwichtig zu bemerken: MitKriegsausbruch verschwand diese Angst. Sie wich einerviel größeren.

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Huch, da kommt Ruth. Sie hat mich noch nicht ent-deckt. Was für viele Grünpflanzen sie hat. Aber nein, amFenster keine Gardinen? Und gerade dort kann ich michso herrlich verstecken.

Miau.Jetzt habe ich auch diese Wohnung gesehen. Zur Ter-

rasse schlüpfe ich hinaus. Ich komme wieder!Tapp, tapp, tapp. Im Weiterlaufen denke ich: Wie ver-

schieden doch menschliche Wohnungen aussehen kön-nen. Diese hier erscheint mir ganz jung, gar nicht so, wieman sich die Behausung alter Menschen vorstellt.

ANGST

Nachdem ich lesen gelernt hatte, das ging wie imFluge, erschloss sich mir der wohl gefüllte Bücherschrankmeiner Eltern. Ich durfte lesen, was ich wollte. Lediglicheinige wenige Seiten im Gesundheitsbuch verbot mirmeine Mutter, die Seiten mit Organen, Knochen, Adern,Nerven des Menschen. Mit meinen damals noch lächerli-chen unschuldigen sieben Jahren sah ich inmitten desKörpers ein Gewirr von durcheinander laufenden Linienund verschiedenen Klecksen. So angestrengt ich auchnach Verborgenem suchte, ich fand nichts. Was hatte mir

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sich in ihrem Leben erworben hatten. Ein Opfer derFlammen wurde der Hausstand.

Ich erlebte den Krieg von Anfang bis Ende in Berlin.Wenn Angst messbar wäre, wie viel hatte ich wohl ertra-gen müssen?!

FREUND ALKOHOL

Lasst mich eine dunkle Seite meines Lebens enthül-len. Dunkle Seite, was heißt hier „dunkle Seite“? Diesmüsste etwas sein, das mich in tiefste Tiefen gestampfthat. Landläufig betrachtet, ist es wohl so, aber wie habeich diese Zeit erlebt – sie war für mich eine der schönstenmeines Lebens. Nicht zu vergessen, das „Danach“ hatmich zu dem Menschen geformt, der ich immer seinwollte.

Es begann, wie so vieles, ganz harmlos. Nach meinemersten Italienaufenthalt begann ich Italienisch zu lernen.Von acht Stunden Büroarbeit ausgelaugt, benötigte icheine Aufmunterung. Diese fand ich in Form von jeweilszwei Likör-Ostereiern. So bescheiden fing es an.

Aber das Schicksal nahm bereits seinen Lauf. AnSonnabenden bummelte ich gern so an die vier Stundendurch die Steglitzer Kaufhäuser. Um zu einem derartigen

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Freunde wurden Soldat, kamen an die Front, fielenoder wurden verwundet. Die Fenster mussten verdunkeltwerden. Ein äußerst wertvoller Besitz wurde für michvon da an eine Taschenlampe, ohne die ich auf der Straßehilflos war. Lebensmittel und Kleidung waren rationiert.Schulunterricht fand abwechselnd Vor- und Nachmittagsstatt, letzteres um Heizmaterial auszunutzen.

Ich gewöhnte mich schnell an das karge Leben.Jugend hilft über so vieles hinweg. Über vieles, nicht überalles, nicht über das, was ab 1943 über die Heimat herein-brach. Ich spreche von dem unmenschlichen Bombenter-ror. So „bescheiden“ die Angriffe begannen, so grausamerentwickelten sie sich. Immer öfter ertönten die Luft-schutzsirenen, man fasste nach bereitstehenden Koffernmit Papieren und vielleicht einigen Wertsachen undsuchte so schnell wie möglich den Luftschutzkeller auf.Man setzte sich, ergeben in sein Schicksal, ein Radioappa-rat gab die neuesten Luftschlagmeldungen durch. Wirwussten „Starke Verbände über Nienburg/Weser“, dasgalt uns. Und dann hörte man die Bombeneinschläge,man spürte das Erzittern der Erde. Die Einschläge wur-den stärker, sie wurden wieder schwächer. Davongekom-men!

Meine Angst vom Alarm bis zur Entwarnung warunmenschlich. Zweimal haben uns die Bomben das Haus,den Besitz genommen. Ich besitze kein Andenken anmeine Kindheit und Jugendzeit, aber wie viel grausamererfasste es meine Eltern, die alles das verloren, was sie

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Stolz fast über. Oft übernachteten die Kollegen nachsolch alkoholischem Abendspaß in meiner kleinen Ein-zimmerwohnung auf Sesseln und Teppichen. „DasNachtlager von Granada“. Zwei schöne Jahre verbrachteich auf diese Weise. Theater, Konzertsäle, Kino, schöneKleidung – all dies existierte für mich nicht mehr. Weinund Bier waren längst zu harten Sachen geworden.

Ein weiteres Vierteljahr ging ins Land, das mir nichtmehr so unbeschwert erschien. In den ersten Monatendes Jahres 1977 musste ich mich bereits mehrere Montagekrankmelden, so auch am 4. April. In der Stimme meinesVorgesetzten schien eine Drohung zu liegen. Ein Schleierriss vor meinen Augen auf. Ich erkannte: „Du bist Alko-holikerin, du musst da raus!“ Der Alkohol vom Wochen-ende lähmte meine Knochen, zum Glück aber nicht meinGehirn. Ich wollte auf Biegen und Brechen eine Entzie-hungskur im Krankenhaus machen. Mein Hausarzt hatteUrlaub. In meiner Not rief ich Herrn Wegner, Sozialar-beiter in der Fürst Donnersmarck-Stiftung, in der ich seitJahren bestens bekannt war, an, schilderte ihm meineNot, fand ein offenes Ohr und wurde schließlich mit Ire-nes, eines Mitglieds des Chors der Stiftung, Auto in dieKlinik Havelhöhe gebracht.

Da saß ich nun sieben Wochen freiwillig in der „Psy-che“. Ich lernte viel, in dem ich mir zwei Freunde (hinter-einander wohlgemerkt) nahm, die gebildet waren undsuperreiche Erfahrung mit dem Alkohol hatten. IhreErfahrungen gaben sie gern an mich weiter, waren aber

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Gewaltmarsch in der Lage zu sein, musste ich meineWohnung in wildem Chaos zurücklassen. Fröhlichgestimmt durch all die schönen Waren, die ich gesehen,aber nicht gekauft hatte, kam ich dann am frühen Nach-mittag nach Haus.

Einmal passierte es. Ich betrat die unaufgeräumteWohnung und das chaotische Durcheinander sah mich sofeindselig an, dass ich dachte, in den Erdboden versinkenzu müssen. Außerdem hatte ich Durst. Ich öffnete eineFlasche Wein, füllte ein großes Wasserglas und stürztedies wie ein Verschmachtender hinunter. Oh, wie wurdemir … . Ich ließ ein zweites Glas folgen. Hatte ich davorUnordnung gesehen – halb so schlimm. Noch ein drittesGlas, ich wurde müde, legte mich mit dem Gefühl, einenschönen Tag verlebt zu haben, ins Bett und schlief biszum nächsten Morgen.

Ja, so fing es an, harmlos, direkt unschuldig. Dienächste Stufe begann, als ein junger Kollege zu uns kam,der jeden Mittag eine Flasche Wodka und eine FlascheCola kaufte und nicht allein trinken wollte. In mir fander eine willige Kumpanin. Ich trank wacker mit undverrichtete meine Arbeit. Ich stand meinem Kollegen innichts nach und erfuhr die wundersame Befriedigung, in einer Aktivität endlich einmal nicht behindert zusein.

Als ich in eine Clique junger Kollegen aufgenommenwurde, deren einziger Feierabendspaß darin bestand, mit-einander in einer Kneipe zu sitzen, quoll mein Herz vor

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SEHNSUCHT

Die Abendsonne durchflutet das Zimmer, lässt denroten Teppichboden noch auffälliger die Wohnung be-herrschen. Ich sitze gemütlich, ja, gemütlich kann manauch in seinem Rollstuhl sitzen, und genieße. Was? Ja, was… vielleicht nur das faule Leben. Dort, wo sich mein Son-nengeflecht befindet, beginnt es zu prickeln. Sehnsucht?

Ein großer Sack voller Sehnsüchte liegt mir auf derSeele. Ich erinnere mich zum Beispiel an die Sehnsucht,tanzen zu können. Zehn, zwölf Tanzschritte, für diemeine Kraft reichte, genügten mir nicht. Nein, ich wollteNächte durchtanzen, so wie es meine Freundinnen mach-ten. Es tat mir weh, wenn sie von ihren Erlebnissenerzählten. Welche Lust hätte es mir bereitet, Stadt undLand auf einem Fahrrad zu durchstreifen. Statt dessenblickte ich den an mir vorbeisausenden Radlern nur sehn-süchtig nach.

Oder die vielen sehnsuchtsvollen Stunden nachdemwieder einmal eine Liebe zerbrochen war. Das Herz tatweh, der Magen krampfte sich zusammen, der Darm ließimmer lockerer …

Sehnsucht verursachte auch ein Kunstwerk, eine ganzeigene unbestimmte Sehnsucht nach etwas, das nicht zubenennen war.

Sie gehört zu meinem Leben, die Sehnsucht. Wie ödeund langweilig wäre mein Leben ohne sie.

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nicht in der Lage, sich selbst aus den Krallen der Sucht zubefreien.

Nachdem ich wieder auf die Menschheit losgelassenworden war, begann die schwerste Phase des Entzugs, derEinstieg in das normale Leben, das Leben ohne den allzufreundlichen Helfer Alkohol.

Einen Arbeitsplatz behielt ich zwar, verlor aber mei-nen früheren Posten, d.h. ich wurde ganz schön herunter-gestuft. In der Firma herrschte seit meinem Abmarsch inden Entzug Alkoholverbot. Zwei meiner Kollegen warenwegen ihres Alkoholkonsums entlassen worden. Die Cli-que bestand nicht mehr.

Langsam, ganz langsam normalisierte sich mein der-zeit noch völlig durcheinander gewirbeltes Innenleben,und ich entwickelte mich dank des Erlebten zu einemneuen Menschen, besser gesagt: Nun wurde ich erst einMensch, der mühelos aus sich herausgehen konnte. Mei-nen letzten Tropfen Alkohol trank ich am 4.4.1977. Ichschaffte es, ohne Alkohol ein zufriedenes Leben zu füh-ren, indem ich jedem ohne Ansehen der Person, der mirmit einem Gläschen Wein etwas Gutes tun wollte, sagte:„Danke nein, ich bin Alkoholikerin“.

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begraben wir auch diesen Traum.„Mädel, geh ins Büro, da verdienst Du immer Dein

Geld“ war ein ständig sich wiederholender Spruch mei-ner Mutter. So ging ich eben resigniert auf die HöhereHandelsschule und anschließend vierzig Jahre ins Büro.Ich hatte mich also für diesen Beruf entschieden und binnicht schlecht damit gefahren.

Was wäre gewesen, wenn ich statt einer Arbeitsstelleeinen Ehemann gesucht hätte? Sorgen und Kümmernissehätte mir das Leben nicht erspart, sie wären nur andererArt gewesen. Eine Zeit lang dachte ich es mir schön,einen Ehemann zu haben, mit mindestens meinem Ein-kommen, weiter arbeiten zu gehen und den Haushaltdurch eine Haushaltshilfe erledigen zu lassen. Den Mann,der mit meinem Plan auch einverstanden wäre, suche ichheute noch.

Die feierabendliche Zerstreuung verschaffte ich mirdurch mehrere Theater- und Konzertabonnements. Dassich mehr als 30 Jahre selbst Theater spielen werde (wennauch nur auf einer internen Bühne) – auch so kann dieWirklichkeit aussehen.

So in meinen besten Jahren, in denen die Arbeitmeine Zeit diktierte, sah ich neidvoll auf die älteren, gutgekleideten, wohlbehüteten Damen, in Konditoreien sit-zend, Kaffee trinkend, Torte essend, miteinander plau-dernd. So wollte auch ich meine Zeit nach der Pensionie-rung verbringen. Wieder trennen Wunsch und Wirklich-keit Welten.

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WUNSCH UND WIRKLICHKEIT

„Was wäre wenn … ?“ Wer hat diese Frage noch nieversucht zu lösen. Ich machte keine Ausnahme. Ich fülltediese Frage randvoll mit meinen offenen und geheimenWünschen an. Als ich die Schule noch besuchte, wollte ichbereits Lehrerin werden. Erst Jahre später wurde mirbewusst, dass es mir schwer fällt, etwas so zu erklären,dass es der andere leicht begreift. Die Erkenntnis kam mir,nachdem ich häufig Nachhilfeunterricht gegeben hatte.Mein Kinderverstand stellte sich die Frage, ob mir derLehrerinnenberuf unter dieser Voraussetzung Freudegemacht hätte. Er signalisierte mir ein glattes „Nein“. DenGedanken, dass mein hinkender Gang zum Gespött derSchüler und Schülerinnen werden würde, verdrängte ich.

Der große Bücherschrank meiner Eltern verlocktemich zum Lesen, Lesen, Lesen. Was wollte ich werden?Bibliothekarin. Ich malte mir aus, wie ich, durch keineweiteren Pflichten unterbrochen, später, wenn ich großgenug bin, Buch für Buch würde lesen können. Wie vielnüchterner der Arbeitstag einer Bibliothekarin aussieht,wusste ich als Kind nicht – und hätte ich vielleicht auchnicht geglaubt. Es kam ganz anders. Das erforderlicheStudium scheiterte schlichtweg an der Möglichkeit, zurUni zu gelangen. Wir wohnten sehr verkehrsungünstig.Und tagtäglich mit meinem behinderten Körper größereUmsteigeaktionen durchführen – nein, danke, lieber

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Diese Konditoreien gibt es kaum mehr, ich zieheFernseher, Computer, Spaziergang durch Einkaufszen-tren dem fantasielosen „Konditern“ vor.

Sind Wünsche jetzt, da das Leben immer schneller anmir vorüberfliegt, meine Tage vielleicht gezählt sind,offen geblieben? Eigentlich nicht. Ich war stets in derLage, das Beste aus allen Lebenslagen zu machen, dasheißt natürlich auch, dass ich manch einen Wunsch wie-der fein säuberlich in die Schublade legen und eine andereLösung meiner Bedürfnisse suchen musste.

ENDE IN 30 SEKUNDEN

Das war’s. Die Erinnerungen an mein bisherigesLeben habe ich niedergeschrieben, wie sie mir in den Sinnkamen, bunt durcheinander gewürfelt, wie mein Lebenwar.

Auch von meinen Gefühlen steht das eine und dasandere, offen dargeboten oder zwischen den Zeilen.

Großartiges, Denkwürdiges werde ich in den mirnoch verbleibenden Jahren kaum erleben.

War’s das?

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