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880 © Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Berlin · Stahlbau 77 (2008), Heft 12 Leben und Werk von Johann Andreas Schubert bestechen durch eine überragende Universalität und Methodenvielfalt. Beein- druckend ist vor allem Schuberts Fächerspektrum an seiner langjährigen Wirkungsstätte, der Kgl. Polytechnischen Schule zu Dresden; es reicht von der Mathematik und technischen Mecha- nik über die Maschinenkunde bis hin zum Straßen- und Wasser- bau sowie zum Eisenbahn- und Brückenbau. Beeinflusst durch sein erfolgreiches Mitwirken an den Kommissionsentwürfen für die großen vogtländischen Eisenbahnviadukte leitete Schubert um 1850 einen Lehrgebietswechsel zum Baufach ein, dem er bis zu seinem Lebensende nachgehen sollte. Wenig bekannt ist die Tat- sache, dass sich auch Franz Reuleaux, der wohl bekannteste und umstrittenste deutsche Maschinenwissenschaftler des ausgehen- den 19. Jahrhunderts auf Schuberts vakant gewordene Professur im Maschinenfach beworben hatte. Anhand des verwickelten Be- rufungsvorganges soll Fragen des Paradigmenwechsels in den Technikwissenschaften sowie der Wechselwirkungen zwischen Bau- und Maschinenmechanik nachgegangen werden. Schubert and Reuleaux – missed chance for a paradigm change? – On the 200th anniversary of the birth of Johann Andreas Schubert (1808–1870). The appeal of the life and work of Johann Andreas Schubert is to be found in its outstanding uni- versality and the diversity of the methods. What is most impres- sive is the broadness of Schubert’s work at the Royal Polytechnic School in Dresden, where he remained for many years; it extends from mathematics and applied mechanics to mechanical en- gineering, from building roads and canals to building railways and bridges. Influenced by his successful contribution to the Commission’s designs for the great Vogtland railway viaducts, Schubert switched to teaching construction engineering around 1850, a subject to which he remained dedicated for the rest of his life. Less well known is the fact that Franz Reuleaux, without doubt the best-known and most controversial mechanical en- gineering theorist in Germany at the close of the 19th century, ap- plied for the post of professor of mechanical engineering left va- cant by Schubert. Questions regarding the paradigm change in the engineering sciences plus the interaction between theory of structures and mechanics of machines are investigated here by means of the complex appointment process. 1 Einführung In der Geschichte der Technischen Universität Dresden zählt Johann Andreas Schubert neben Gustav Anton Zeu- ner und Heinrich Barkhausen sicherlich zu den herausra- genden Wissenschaftlerpersönlichkeiten. Mehr noch, der charaktervolle Lehrer genießt bis heute über die Grenzen der Bildungseinrichtung hinweg eine gewisse Popularität in Geschichtsdarstellungen und musealen Präsentationen, die vor allem von seinen praktischen Leistungen ausgeht [1]. Während man aber Zeuner eindeutig zum Begründer der wissenschaftlichen Schule der technischen Thermody- namik benennen kann und Barkhausen als der internatio- nal angesehene Pionier der Schwachstromtechnik gilt, ist das Lehrgebiet von Schubert weit gespreizt und reicht von der Buchhaltung über die Mathematik, technische Mecha- nik, Maschinenlehre und Maschinenkonstruktion bis hin zum Strassen- und Wasserbau sowie Eisenbahn- und Brückenbau. Zeitweise lehrte er sogar die Fächer Geodä- sie und Astronomie. Gewöhnlich firmiert eine solche Breite wissenschaftlicher Betätigung unter dem Begriff „Polytechnik“, und Schubert ist sicher einer der letzten Po- lytechniker gewesen, welche den Kanon der damaligen technischen Disziplinen beinahe vollständig vertreten konnten. Lediglich zu den technologischen Fächern des Maschinen- und Bauingenieurwesens sowie zur chemi- schen Technik verspürte Schubert wenig Affinität. Den- noch war es auch zu seiner Zeit, um die Mitte des 19. Jahr- hunderts, höchst ungewöhnlich, mit einem solch breiten fachlichen Spektrum aufwarten zu können. Polytechni- sche Bildung bedeutete, in einem Hause die wichtigsten Grundlagen der sich herausbildenden Ingenieurwissen- schaften zu vereinen. Nach dem Vorbild der Pariser École Polytechnique suchte man auch in Sachsen die Gewerbe- förderung durch die Gründung von polytechnischen Schulen wissenschaftlich zu unterbauen. Selbst eine tradi- tionelle „monotechnische“ Bildungseinrichtung wie die Freiberger Bergakademie durchbrach im Verlauf der Indu- strialisierung in einem bemerkenswerten Differenzie- rungsprozess ihren engen Bezug auf das Montanwesen. Doch auch die namhaften Ingenieurwissenschaftler an der École Polytechnique und an den technischen Spe- zial- und Eliteschulen in Frankreich waren zumeist auf ein spezielles Lehrfach fixiert. Größen wie Marie Henri Navier und Jean Victor Poncelet beherrschten noch die einheitlichen mechanischen Grundlagen des Bau- und Maschinenwesens. Im deutschsprachigen Raum sehen wir in Julius Ludwig Weisbach, dem Freiberger Kollegen Schuberts, einen vergleichbaren „Polytechniker“, welcher die Mathematik, Ingenieur- und Maschinenmechanik, Maschinenlehre, Geodäsie und Markscheiderei virtuos beherrschte. Der als „Vater des wissenschaftlichen Ma- Schubert und Reuleaux – ein verpasster Paradigmenwechsel ? zum 200. Geburtstag von Johann Andreas Schubert (1808 –1870) Klaus Mauersberger Fachthemen DOI: 10.1002/stab.200810100

Schubert und Reuleaux – ein verpasster Paradigmenwechsel? – zum 200. Geburtstag von Johann Andreas Schubert (1808–1870)

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880 © Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Berlin · Stahlbau 77 (2008), Heft 12

Leben und Werk von Johann Andreas Schubert bestechen durcheine überragende Universalität und Methodenvielfalt. Beein-druckend ist vor allem Schuberts Fächerspektrum an seinerlangjährigen Wirkungsstätte, der Kgl. Polytechnischen Schule zuDresden; es reicht von der Mathematik und technischen Mecha-nik über die Maschinenkunde bis hin zum Straßen- und Wasser-bau sowie zum Eisenbahn- und Brückenbau. Beeinflusst durchsein erfolgreiches Mitwirken an den Kommissionsentwürfen fürdie großen vogtländischen Eisenbahnviadukte leitete Schubert um1850 einen Lehrgebietswechsel zum Baufach ein, dem er bis zuseinem Lebensende nachgehen sollte. Wenig bekannt ist die Tat-sache, dass sich auch Franz Reuleaux, der wohl bekannteste undumstrittenste deutsche Maschinenwissenschaftler des ausgehen-den 19. Jahrhunderts auf Schuberts vakant gewordene Professurim Maschinenfach beworben hatte. Anhand des verwickelten Be-rufungsvorganges soll Fragen des Paradigmenwechsels in denTechnikwissenschaften sowie der Wechselwirkungen zwischenBau- und Maschinenmechanik nachgegangen werden.

Schubert and Reuleaux – missed chance for a paradigmchange? – On the 200th anniversary of the birth of JohannAndreas Schubert (1808–1870). The appeal of the life and work ofJohann Andreas Schubert is to be found in its outstanding uni-versality and the diversity of the methods. What is most impres-sive is the broadness of Schubert’s work at the Royal PolytechnicSchool in Dresden, where he remained for many years; it extendsfrom mathematics and applied mechanics to mechanical en-gineering, from building roads and canals to building railwaysand bridges. Influenced by his successful contribution to theCommission’s designs for the great Vogtland railway viaducts,Schubert switched to teaching construction engineering around1850, a subject to which he remained dedicated for the rest of hislife. Less well known is the fact that Franz Reuleaux, withoutdoubt the best-known and most controversial mechanical en-gineering theorist in Germany at the close of the 19th century, ap-plied for the post of professor of mechanical engineering left va-cant by Schubert. Questions regarding the paradigm change inthe engineering sciences plus the interaction between theory ofstructures and mechanics of machines are investigated here bymeans of the complex appointment process.

1 Einführung

In der Geschichte der Technischen Universität Dresdenzählt Johann Andreas Schubert neben Gustav Anton Zeu-ner und Heinrich Barkhausen sicherlich zu den herausra-genden Wissenschaftlerpersönlichkeiten. Mehr noch, der

charaktervolle Lehrer genießt bis heute über die Grenzender Bildungseinrichtung hinweg eine gewisse Popularitätin Geschichtsdarstellungen und musealen Präsentationen,die vor allem von seinen praktischen Leistungen ausgeht[1]. Während man aber Zeuner eindeutig zum Begründerder wissenschaftlichen Schule der technischen Thermody-namik benennen kann und Barkhausen als der internatio-nal angesehene Pionier der Schwachstromtechnik gilt, istdas Lehrgebiet von Schubert weit gespreizt und reicht vonder Buchhaltung über die Mathematik, technische Mecha-nik, Maschinenlehre und Maschinenkonstruktion bis hinzum Strassen- und Wasserbau sowie Eisenbahn- undBrückenbau. Zeitweise lehrte er sogar die Fächer Geodä-sie und Astronomie. Gewöhnlich firmiert eine solcheBreite wissenschaftlicher Betätigung unter dem Begriff„Polytechnik“, und Schubert ist sicher einer der letzten Po-lytechniker gewesen, welche den Kanon der damaligentechnischen Disziplinen beinahe vollständig vertretenkonnten. Lediglich zu den technologischen Fächern desMaschinen- und Bauingenieurwesens sowie zur chemi-schen Technik verspürte Schubert wenig Affinität. Den-noch war es auch zu seinerZeit, um die Mitte des 19. Jahr-hunderts, höchst ungewöhnlich, mit einem solch breitenfachlichen Spektrum aufwarten zu können. Polytechni-sche Bildung bedeutete, in einem Hause die wichtigstenGrundlagen der sich herausbildenden Ingenieurwissen-schaften zu vereinen. Nach dem Vorbild der Pariser ÉcolePolytechnique suchte man auch in Sachsen die Gewerbe-förderung durch die Gründung von polytechnischenSchulen wissenschaftlich zu unterbauen. Selbst eine tradi-tionelle „monotechnische“ Bildungseinrichtung wie dieFreiberger Bergakademie durchbrach im Verlauf der Indu-strialisierung in einem bemerkenswerten Differenzie-rungsprozess ihren engen Bezug auf das Montanwesen.

Doch auch die namhaften Ingenieurwissenschaftleran der École Polytechnique und an den technischen Spe-zial- und Eliteschulen in Frankreich waren zumeist aufein spezielles Lehrfach fixiert. Größen wie Marie HenriNavier und Jean Victor Poncelet beherrschten noch dieeinheitlichen mechanischen Grundlagen des Bau- undMaschinenwesens. Im deutschsprachigen Raum sehen wirin Julius Ludwig Weisbach, dem Freiberger KollegenSchuberts, einen vergleichbaren „Polytechniker“, welcherdie Mathematik, Ingenieur- und Maschinenmechanik,Maschinenlehre, Geodäsie und Markscheiderei virtuosbeherrschte. Der als „Vater des wissenschaftlichen Ma-

Schubert und Reuleaux – ein verpasster Paradigmenwechsel ?zum 200. Geburtstag von Johann Andreas Schubert (1808–1870)

Klaus Mauersberger

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DOI: 10.1002/stab.200810100

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schinenbaus“ gerühmte Ferdinand Redtenbacher hinge-gen war am Karlsruher Polytechnikum ganz dem Maschi-nenfach zugewandt. Recht eigentlich setzte erst in dernächsten Generation ein Differenzierungsprozess ein,welcher Spezialisten ihres Faches hervorbrachte. Hierzuzählen, vereinfacht zugeordnet, Franz Grashof (Festig-keitslehre), Karl Culmann (Graphostatik), Franz Reu-leaux (Kinematik / Getriebelehre), Carl Bach (Maschi-nenelemente), Alois Riedler (Verbrennungsmaschinen),Aurel Stodola (Dampfturbinen) sowie der bereits er-wähnte Zeuner (technische Thermodynamik). Dieser Pro-zess, den man mit „wissenschaftlicher Konsolidierung“ dertraditionellen Ingenieurwissenschaften beschreiben kann,ging mit einem Paradigmenwechsel einher, welcher imFalle Schuberts einmal am Beispiel seines Lehrgebiets-wechsels um 1850 und der Bestellung seines Nachfolgersuntersucht werden soll. Über Schubert ist sehr viel ge-schrieben worden, vor allem sein Biograf Arthur Weichold[2] hat in den 1960er Jahren eine enorme Fülle an Archiv-material zusammengetragen. Doch gerade der hier vorge-stellte Sachverhalt entbehrt bei Weichold einer wissen-schaftshistorischen Einordnung und Wertung. Vorliegen-der Beitrag soll eine erste Annäherung dazu liefern.

2 Schuberts Lehrtätigkeit im polytechnischen Fächerkanon

Schubert, aus ärmlichen Verhältnissen stammend, konntenur durch glückliche Umstände die Bildungsprivilegienseiner Zeit durchbrechen: Seine Zieheltern, der LeipzigerPolizeipräsident Ludwig Ehrenfried von Rackel und des-sen Ehefrau, gewährten ihm gediegene Ausbildung,zunächst an der Thomasschule in Leipzig. Besonders alsZögling am Freimaurerinstitut in Dresden-Friedrichstadtwurde ihm dann in den Jahren 1821–24 eine solide Schul-bildung zuteil. Unter der Ägide Schuberts wurde dieseSchule später als „Lehr- und Erziehungsanstalt für Kna-ben“ zu einer Art öffentlichen Realschule ausgebaut.

Schubert entdeckte als Zögling seine Begabung für daskünstlerische Zeichnen, was ihn bewog, um die Aufnahmein die Akademie der Künste nachzusuchen. Dort gelang esihm zwar nicht, in die Bildhauer-Klasse aufgenommen zuwerden, dennoch entsprach auch das Studium der Archi-tektur an der zugehörigen Bauschule seinen musischenNeigungen. Festgehalten sei, dass Schubert zunächst kei-neswegs eine technische Ausbildung im Auge hatte.

So ist es denn erneut ein Zufall gewesen, welcher Schu-bert an die benachbarte Technische Bildungsanstalt führte(Bild 1). Bekanntlich bewirkte die schwierige ökonomischeSituation Sachsens zu Beginn des Industriezeitalters eineprivate und staatliche Förderung der technischen Bildung,von der man sich eine Belebung von Gewerbe und Industrieerhoffte. Anfangs ging es freilich darum, Mechaniker undTechniker auszubilden, erst später nahm eine höhere, wis-senschaftlich fundierte, technische Unterweisung Konturenan. Schubert fand zunächst eine Anstellung als Lehrer fürBuchhaltung, stieg aber unter der Mentorschaft des Mathe-matikprofessors Gotthelf August Fischer schnell zu einemvielseitigen und angesehenen Mitglied des Lehrkörpers auf.1830 wurden ihm die Fächer konstruierende Geometrieund Mechanik übertragen, zwei Jahre später war er bereitsErster Lehrer der mathematischen und technischen Wissen-schaften und erhielt das Prädikat eines Professors. Paralleldazu war er als Lehrer der mathematischen Wissenschaft ander Bauschule tätig. Seine Lehrveranstaltungen in denGrundlagenfächern sowie im Maschinenfach spannten ei-nen weiten Bogen: Buchhaltung, Mathematik (Zahlenrech-nung, Algebra, höhere Mathematik), Projektionslehre, Me-chanik, Maschinenlehre, Entwurf von Maschinen sowie seit1842 höhere Geodäsie und Astronomie. An der Reorganisa-tion der Ausbildung mit dem Ziel eines verstärkten wissen-schaftlichen Unterrichts war Schubert als „TechnischerHauptlehrer“ maßgeblich beteiligt. So erhielt die Bildungs-anstalt 1835 ein neues Organisationsstatut, 1838 erfolgteeine Erweiterung der Lehrpläne auf die Baufächer, 1851spiegelte auch die Namensgebung „Kgl. PolytechnischeSchule“ den Anspruch auf eine höhere technische Bildungwider [3] (Bild 2).

Bild 1. Die Brühlsche Terrasse in Dresden mit Pavillon derTechnischen Bildungsanstalt (1828–1833); Photographie vonHermann Krone (um 1857) (Quelle: Krone-Sammlung der TUDresden)Fig. 1. Brühl Terrace with Technical Academy pavilion(1828–1833); Photograph by Hermann Krone (c. 1857)(Source: Krone Collection, Dresden TU)

Bild 2. Die Polytechnische Schule am Antonsplatz, Schu-berts Wirkungsstätte von 1846–1869; Lithographie vonE. Müller (um 1850) (Quelle: Kustodie der TU Dresden)Fig. 2. The Polytechnic School at Antonsplatz, Schubert’splace of work from 1846 to 1869; Lithograph by E. Müller(c. 1850) (Source: Collections Dept, Dresden TU)

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In der Ausbildung von Ingenieuren mangelte es in denGründerjahren der Bildungsanstalt an Lehrmaterial. Demwurde mit „Eigenproduktionen“ abgeholfen. Hierzu zähl-ten lithographierte Musterzeichnungen und Vorlegeblättergenauso wie Modelle von Mechanismen und Maschinen,welche bei einem Modellbauer in Auftrag gegeben wurden.Besonders in den Anfangsjahren waren dererlei visuelleMittel für einen anschaulichen Unterricht willkommen [4].Die Bibliothek enthielt unter anderen die deutschsprachi-gen Standardwerke zur Mechanik, welche zunächst (bis1833) von der Kommerzien-Deputation zur Verfügung ge-stellt worden sind. Diese gingen freilich kaum über den Wis-sensstand der in die polytechnische Bildung hinein wirken-den Kameralwissenschaften hinaus. Englische und franzö-sische Literatur vermisst man weitgehend. Auch SchubertsErstling mechanisch-technischer Fachliteratur, das 1832herausgegebene „Handbuch der Mechanik für Praktiker“rekurriert auf Autoren wie Franz Joseph Ritter von Gerstner(Prag) und Johann Albert Eytelwein (Berlin), vermag aberauf ganz eigenständige Weise mit praktikablem Wissen auf-

zuwarten (Bild 3). Es ist Schuberts Buch mit den meistenFormeln, wobei die Anwendung der höheren Mathematikaußen vor bleibt. Hier wird eine Eigenart der deutschen In-genieurausbildung deutlich, theoretisches Wissen sehr engmit praktisch-empirischen Kenntnissen zu verflechten.Wenn auch die von szientistischen Leitbildern geprägte po-lytechnische Maschinenlehre des berühmten französischenDreigestirns Navier, Poncelet und Gustave Gaspard Corio-lis in Dresden noch nicht rezipiert wurde bzw. werdenkonnte, so lag doch 1829 nachweislich eine Übersetzungdes „Essai sur la composition des machines“ (1811) von JoséMaria Lanz und Augustin de Bétancourt vor [5], das da-mals weitestgehend systematische Werk zur kinematischenMaschinenlehre überhaupt. Bei genauem Hinsehen er-kennt man, dass sich Schubert beim Bau der zum Teil heutenoch erhaltenen Getriebemodelle vom bekannten Klassifi-kationsschema dieses Lehrbuches aus der Monge-Schuleleiten ließ (Bild 4). Abzulesen ist das auch seinem zweitenLehrbuch, den zweibändigen „Elementen der Maschinen-lehre“ (1842–44), deren Tafelbände zwar nicht kinematischsondern technologisch geordnet, auf französische Musterzurückgreifen. Trotz einer gewissen Elementarisierung derTechnikobjekte bleibt die Behandlung des Maschinenpro-blems insgesamt ganzheitlich (Material, Fertigung, Bewe-gung, Festigkeit) und die Diktion verbal-deskriptiv.

Indessen hatte es mit Schuberts Ausflug ins Unter-nehmertum in den Jahren 1836–39 einen ersten Ein-schnitt in seine Lehrtätigkeit gegeben. Bekanntlich endetedas Experiment „Actien-Maschinenbau-Anstalt Übigau“mit einem finanziellen Fiasko (Bild 5). Schubert stand amEnde als Direktor zwischen den Forderungen seiner Ak-tionäre und einer trostlosen Auftragslage – und scheiterte.Der ambitionierte Professor projizierte seine wissenschaft-lichen Leitlinien in einen Maschinenbaubetrieb, welcherseiner handwerklichen Grundlagen noch nicht entwach-sen war. Dies konnte nicht aufgehen. War schon der Ein-satz von Aktienkapital ein unternehmerisches Wagnis, soließen die Verheißungen eines wissenschaftlich intendier-

Bild 3. Titelblatt von Schuberts „Handbuch der Mechanikfür Praktiker“ (1832) (Quelle: Sächsische Landes- und Uni-versitätsbibliothek Dresden)Fig. 3. Frontispiece of Schubert’s „Handbuch der Mechanikfür Praktiker“ (manual of practical mechanics) (1832)(Source: Saxony State & University Library, Dresden)

Bild 4. Fünf Getriebemodelle aus Zedernholz, Messing undEisen (1829–1834), nach Plänen Schuberts durch denModellbauer Rehme angefertigt (Quelle: Getriebemodell-sammlung der TU Dresden)Fig. 4. Five transmission models made from cedar wood,brass and iron (1829–1834) built by the modelmaker Rehmeaccording to Schubert’s drawings (Source: MechanismsCollection, Dresden TU)

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ten Maschinenbaus noch einige Zeit auf sich warten.Schubert wollte es aber aller Welt beweisen, dass man mitIngenieurverstand und theoretischen Kenntnissen in derPraxis etwas leisten könne. Die ökonomischen Realitätenfreilich zermürbten ihn. In seinem Scheitern auf diesemPraxisfeld dürfen wir auch ein erstes Motiv für den Wech-sel in das Baufach erkennen. Dort erhoffte sich Schubertnach seiner Mitwirkung beim Entwurf der vogtländischenEisenbahnviadukte eine erfolgversprechende Umsetzungseiner theoretischen Modelle zur Bemessung von Gewöl-bekonstruktionen im Massivbrückenbau.

Zunächst aber kehrte Schubert 1839 gänzlich in denUnterrichtsbetrieb der Technischen Bildungsanstalt zu-rück. Ein Gemälde aus dieser Zeit zeigt den jungen Profes-sor als etwa Dreißigjährigen mit den Attributen seinerHaupttätigkeit: gebeugt über eine technische Zeichnung

und flankiert von einem Getriebemodell (Bild 6). Falls die-ses Gemälde wirklich Ludwig Kriebel (geb. 1823) zuge-schrieben werden kann [6, S. 32] und nicht seinem Studi-enfreund Hermann Gärtner, wie es bei Weichold nochnachzulesen ist, wäre es die qualitätsvolle Arbeit einesca.18-Jährigen aus dessen Studentenzeit und für Schubertsicher ein wohlfeiles Konterfei, in welchem ein gewissesSelbstbild des (Hochschul)lehrers mitschwingt (Hoch-schule im Sinne der höheren technischen Bildung, dieSchubert anstrebte). Warum er sich nicht mit dem sattsambekannten Übigauer Produkt „Saxonia“ abbilden ließ, liegtwohl auf der Hand: Er war, wie aus Selbstzeugnissen her-vorgeht, stolz, „das erste Lokomotiv in Deutschland“ ge-baut zu haben, seine Identität aber sollte er fortan dochstärker im Fortführen seiner Lehrer- und Wissenschaftler-laufbahn begründen. Und in derTat gründete sich sein An-sehen bei Schülern und Kollegen vor allem auf seine Lehr-tätigkeit und seine menschlichen Umgangsformen. Seinbesonderes Charisma entsprang zweifellos umfassendemWissen, Eloquenz, Charakterstärke und Bescheidenheit.

Die 1840erJahre waren denn auch eine äußerst produk-tive und kreative Zeit für den Wissenschaftler. Dies geht auchaus der Dichte der von ihm verfassten Artikel und Fach-bücher hervor. Die erwähnten „Elemente der Maschinen-lehre“ bildeten gewissermaßen den Abschluss ganzheitlicherBetrachtungen des Maschinenproblems (Bild 7). Fortanmeldete er sich noch zweimal mit Publikationen über einespezielle Maschinentheorie zu Wort, 1848 über Druckturbi-nen und 1850 mit einem Beitrag zur Berichtigung der Turbi-nentheorie. Zwischen diesen beiden Lehrbüchern veröffent-lichte er einen Artikel zurTheorie des Segnerschen Wasserra-des. Doch war in dieser Zeit der Zenit seines theoretischenSchaffens im Maschinenfach bereits überschritten, mehrnoch, Schubert musste seine fachlichen Grenzen auf diesemGebiet nachdrücklich erkennen. Indessen hatten ihm seineKollegen Weisbach in Freiberg und Redtenbacher in Karls-ruhe den Rang abgelaufen, so dass selbst der Schubert-Schüler Moritz Rühlmann 1881 zu Recht rückblickend vonder prägenden Weisbach-Redtenbacher-Periode im wissen-schaftlichen Maschinenbau schreibt [7, S. 430].

Schubert, welcher die Ergebnisse der beiden promi-nenten Maschinenwissenschaftler in Zweifel zog und de-ren vermeintliche Irrtümer zu berichtigen suchte, sah sicheiner harschen Erwiderung von Weisbach ausgesetzt, diewissenschaftlich zu widerlegen ihm nicht recht gelingenwollte. Weisbach und Redtenbacher hatten auf dem Ge-biet hydraulischer Maschinen damals bereits Experimenteim Großen wie im Kleinen herangezogen. So ist bekannt,dass Zeuner in seiner Freiberger Zeit für seinen Lehrerumfangreiche Serien von Messungen durchführte, die inmehrere Fachbücher und schließlich in seine bekannte„Experimental-Hydraulik“ (1855) einflossen. Auch Redten-bacher stützte seine theoretischen Erwägungen durch Ver-suchsreihen an vorhandenen Wasserkraftanlagen. Dietheoretische Brillanz der französischen Maschinenlehrenutzend, vor allem in der Einbeziehung des „Prinzips derlebendigen Kräfte“, kamen beide unter Einbeziehung ex-perimenteller Ergebnisse zu praktisch verwertbaren Lö-sungen bei derVorausberechnung von Wasserkraftmaschi-nen, deren Allgemeinheitsgrad deutlich über SchubertsAnsätze hinausreichte. Die große Popularität und die vie-len Auflagen ihrer Lehrbücher sprechen für sich. Schubert

Bild 5. Dampfschiff „Königin Maria“ vor Schloss und Ma-schinenbau-Anstalt Uebigau (um 1837) (Quelle: StadtarchivDresden)Fig. 5. The steamship „Königin Maria“ in front of ÜbigauPalace and Mechanical Engineering Institute (c. 1837)(Source: Dresden City Archives)

Bild 6. Johann Andreas Schubert (1808–1870); Gemälde vonA. M. Ludwig Kriebel, um 1840 (Quelle: Deutsches MuseumMünchen)Fig. 6. Johann Andreas Schubert (1808–1870); Painting byA. M. Ludwig Kriebel, c. 1840 (Source: Deutsches Museum,Munich)

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erging sich daher in ein Klagelied über die „seltene Bruta-lität“ der Angriffe auf ihn (Weisbach galt gewiss nicht alsein aggressiver Kritiker), ohne überzeugende Alternativenvorweisen zu können [8, S. V]. Auch diese Einsicht, gewissnur im Stillen vollzogen, mag zu seinem Wunsch nach ei-nem Wechsel des Lehrgebietes beigetragen haben. Mögli-cherweise waren seine alten Neigungen zu einer Bauinge-nieurtätigkeit wieder aufgebrochen.

3 Der Lehrgebietswechsel Schuberts

Der äußere Anstoß, sich erneut mit dem Baufach zu befas-sen, kam bekanntlich aus Schuberts Gutachtertätigkeitbeim Bau der Göltzsch- und Elstertalbrücke. Darüber istsehrviel geschrieben worden, so dass hier eine kurze Skizzevorgelegt werden soll. Woran sich die Schubert-Rezeptionreibt, ist der Umstand, dass Schuberts Leistung bei derEinweihung der Brückenbauwerke nicht hinreichend ge-würdigt worden ist. Der Hinweis auf den OberingenieurRobert Wilke sowie die örtlichen Bauleiter FerdinandDost und Hermann Kell auf den Gedenktafeln an denBrücken hat die Vertreter der Heimat- und Regionalge-schichte in einer Weise bewegt, als wäre dem populärenSchubert ein großes Unrecht angetan worden. Mindestseit der nachträglichen Würdigung Schuberts auf einer vonder Reichsbahn im Jahr 1936 initiierten Tafel wird der „ge-niale Konstrukteur“ in den Vordergrund gerückt und seinAnteil am Brückenentwurf zur „Erbauerfrage“ hochstili-siert. Dies passte auch in die selektive Erberezeption derDDR, in welcher nunmehr für den Ingenieuroffizier Wilkekein Platz mehr auf den Podien sozialistischen Fort-schrittsdenkens gewesen ist. Erst in den 1980er Jahrenkam es zu einer Revision eindimensionaler Schubert-Bil-der, welche seine Leistungen ins rechte Licht rückte, zu-gleich aber in wissenschaftliche und soziokulturelle Kon-texte einzubinden suchte. Nunmehr wurden beideHauptakteure des Entwurfs und der Bauplanung, Schu-bert und Wilke, in Relation zueinander gesetzt [9].

Unter dem Aspekt der „Ingenieurkulturen“ wird dabeider Versuch unternommen, in Schuberts Ringen um einegeschlossene Brückentheorie auch legitimatorische undapologetische Interessen seines Berufsstandes zu erken-nen. In der Tat lässt sich damit die zunehmende Akzep-tanz wissenschaftlich fundierter Ingenieurbauwerke be-gründen. So können wir heute in Schubert und Wilkenicht allein zwei Antipoden unterschiedlicher Ingenieur-kulturen sehen, sondern müssen in ihrem oft konträrenHerangehen auch die Notwendigkeit kooperativen Wir-kens von „Empirikern“ und „Theoretikern“ bei der Lösungkomplexer Praxisaufgaben erkennen. Vertieft wird dieseErkenntnis bipolarer Komplementarität im technischenSchaffensprozess in einem weiteren Beitrag über die„Konstruktion verwissenschaftlichter Praxis“ [10]. Schu-bert wird in diesem Zusammenhang bescheinigt, das wis-senschaftsgeleitete technische Handeln ein gutes Stückvorangebracht zu haben. Gleichwohl wird der empirisch-intuitiven Komponente in der Professionskultur Wilkesdie ihr gebührende Bedeutung für die Dauerhaftigkeit, Zu-verlässigkeit sowie technologische und ökonomische Rea-lisierbarkeit bei der Errichtung eines solchen Bauwerkeseingeräumt (Bild 8).

Was in den Würdigungen Schuberts besonders auf-fällt und entsprechende Beiträge ganz unterschiedlicherCouleur durchzieht, ist die von ihm ausgehende und anihm festgemachte Wissenschaftsgläubigkeit. Es hat denAnschein, das von Schubert und anderen geprägte Para-digma wissenschaftsorientierter Ingenieurkultur und dasdamit einhergehende Idealbild einer theoriegeleiteten In-genieurwissenschaft habe reife Früchte getragen. Und eshat ferner den Anschein, die Tragfähigkeit dervorgestelltenTheorien und Methoden werde in keiner Weise hinter-fragt. Allein das Faszinosum „Theorie“ in seinen Katego-rien „exakte Berechnung“, „Formelhaftigkeit“, „abstrakteLehrsätze“ etc. steht für eine neue Qualität wissenschaft-lichen Herangehens sowie für dessen umfassende Praxis-relevanz, ja sogar für das Vertrauen in eine überragendeLeistungsfähigkeit, die keinem Zweifel unterliegen. Immerwieder taucht in Aufsätzen das Ikon der „genauesten stati-schen Berechnung“ als Markenzeichen Schuberts auf. Für

Bild 7. Tafel (Detail Verbindungselemente) aus Schuberts„Elemente der Maschinenlehre“ (1844) (Quelle: SächsischeLandes- und Universitätsbibliothek Dresden)Fig. 7. Plate (details of connecting elements) from Schubert’s„Elemente der Maschinenlehre“ (elements of mechanicalengineering) (1844) (Source: Saxony State & UniversityLibrary, Dresden)

Bild 8. Baustelle der Göltzschtalbrücke; Lithographie vonW. Bäßler (um 1850) (Quelle: Kustodie der TU Dresden)Fig. 8. Göltzsch Valley Viaduct under construction Litho-graph by W. Bäßler (c. 1850) (Source: Collections Dept,Dresden TU)

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eine populärwissenschaftliche Darstellung mag das ange-hen, es verwundert nur, wenn auch Wissenschaftler vomFach derlei Aussagen ungeprüft übernehmen. Die Attri-bute gegenwärtiger Entwurfsprozesse werden gewisser-maßen in die Geschichte hineinprojiziert [1, S. 78–82].

Wir können jedenfalls davon ausgehen, dass Schu-berts Schaffen um 1845 von derlei Leitbildern durchdrun-gen war. Die erfolgreiche Verwirklichung „seines“ Brücken-entwurfes (Bild 9) war für Schubert die beste Bestätigung,in dieserWeise fortzufahren. Im Gegensatz zu seiner ange-fochtenen Turbinentheorie war seine 1845 erstmals publi-zierte Stützlinientheorie offenbar von praktischem Erfolggetragen. Seinem Kommissionsbericht hatte Schubertstolz eine „Kurzgefasste Theorie der Kreisrundbogen-Brückengewölbe“ angehängt, welche bei den Ministeria-len durchaus Wirkung hinterließ [10, S. 30]. In einem Vor-trag vor der Versammlung Deutscher Architekten und In-genieure in Gotha hob Schubert im November 1846 dannauch die Notwendigkeit und Berechtigung einer Prüfungund Beurteilung der Brückenentwürfe auf der Grundlage(s)einer Theorie hervor und qualifizierte damit sein „Rich-teramt“ zu einer „wissenschaftlich-praktischen Sache“[11]. Er zeigte ferner auf, dass namentlich bei der Auswahlder Bogenformen gewölbetheoretische (sprich: gewölbe-statische) Begründungen herangezogen werden konnten.Dazu sei es notwendig gewesen, die herkömmliche Stütz-linientheorie einer „wissenschaftlichen und experimenta-len Revision“ zu unterziehen. Dies habe er in seinemneuen Lehrbuch „Theorie und Konstruktion steinernerBogenbrücken“ (Bild 10), deren ersterTeil im Folgejahr er-schien, zur Zufriedenheit vollzogen. Der zweite Teil desBrückenbuches erschien nach seiner Entpflichtung ausder Überwachungskommission für die vogtländischen Ei-senbahnbrückenbauten im Jahr 1847. Diese Zeit zeugt voneinem wahren Schaffensrausch. Mit welcher Besessenheitsich Schubert dem Thema Brückenbau gewidmet hat, be-legt schließlich eine weitere Veröffentlichung „Über dieStützung und Construktion der geraden, insbesondere derschiefen Wölbungen“ im Jahr 1854. Da war der Lehrge-bietswechsel zum Baufach bereits vollzogen. Es war zu-gleich die letzte größere Publikation Schuberts.

Und es waren wohl die letzten größeren Backstein-brücken,welche Schubert zu solchen wissenschaftlichen An-strengungen führten. In der Praxis des Massivbrückenbausüberwogen sichtlich die technisch-organisatorischen und

Bild 9. Schubert zugesprochene Entwürfe der Göltzschtalbrücke; oben: unter Schuberts Federführung entstandener ersterEntwurf (1845), unten: endgültiger Entwurf der Kommission mit den Korrekturen zur Pfeilergründung (1846)(Quelle: Weichold [2], Abb. 69)Fig. 9. Designs for the Göltzsch Valley Viaduct attributed to Schubert; top: first design to appear after Schubert was appoin-ted Chairman (1845), bottom: final design of the Commission with corrections to the pier foundations (1846)(Source: Weichold [2], Fig. 69)

Bild 10. Titelblatt von Schuberts „Theorie der Constructionsteinerner Bogenbrücken“ (1847), früher Versuch einer gewöl-betheoretischen Lösung praktischer Probleme (Quelle: Säch-sische Landes- und Universitätsbibliothek Dresden)Fig. 10. Frontispiece of Schubert’s „Theorie der Constructionsteinerner Bogenbrücken“ (theory of the construction of ma-sonry arch bridges) (1847), an early attempt at an archtheory solution to practical problems (Source: Saxony State& University Library, Dresden)

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logistischen Herausforderungen [12]. Auch die Entwicklungdes Eisenbrückenbaus, namentlich der Fachwerkbrückenaus Schmiede- und Gusseisen boten kaum Anlass für einEindringen von Schuberts Theorien und Methoden in dieBaupraxis. Allerdings feierte die Gewölbetheorie mit demAufkommen von Stahlbetonbrücken um die folgende Jahr-hundertwende eine wissenschaftliche Neubelebung. Anteilan der Dynamisierung der Baustatik hatten seinerzeit auchdie Dresdner Ingenieurwissenschaftler und „Schubert-Nachfolger“ Claus Köpcke, Otto Mohr, Georg ChristophMehrtens und Willy Gehler. Nachgerade muss freilich dieUnzulänglichkeit der Modellvorstellungen von Schubertkonstatiert werden. Seine Stützlinientheorie ging von einemStarrkörpersystem aus und berücksichtigte keine Elastizitä-ten. Sie war gewiss unfertig, aber sie war ein Beitrag in einerEntwicklungskette. Wenn Karl-Eugen Kurrer in seiner Ana-lyse der Schubertschen Modellvorstellungen zu der Ein-schätzung gelangt, dieser habe die Entwicklung der Stütz-linientheorie in die Irre geführt, so relativiert er zugleich,dass Schubert „sehr klar das ein Vierteljahrhundert späterentstehende Konzept der Einflusslinie im Brückenbau inAnsätzen erahnt“ habe [13]. Dies zeigt uns, in einer Meta-pher von Thomas Hänseroth ausgedrückt, dass Schubert imRingen um eine angemessene Theorie „tastend Neuland be-treten“ habe [9, S. 164]. Einem Paradoxon gleicht es schon,wenn er dabei auf der Grundlage einer „falschen“ – sprichunvollkommenen – Theorie einen passablen Entwurf vor-legte, der gerade wegen seiner vermeintlichen theoretischenStrenge und rechnerischen Überprüfbarkeit von der Kom-mission angenommen wurde.

Im Übrigen war Schuberts „exakte Berechnung“ sehrwohl mit Faustregeln und Erfahrungswerten untersetzt,und die Tatsache, dass zusätzlich experimentelle Untersu-chungen zur Bauteilprüfung herangezogen worden sind,verweist auf eine Methodenfindung, die weit über die An-wendung des mathematischen Kalküls hinausging. Dasszientistische Ideal Schuberts konnte in seiner Zeit nochnicht aufgehen. Erst nach längeren methodischen Ausein-andersetzungen formte sich ein spezifisch ingenieurwis-senschaftlicherAnsatz im Maschinenbau und im Bauinge-nieurwesen, welcher sich ausgangs des 19. Jahrhundertsauch in der Praxis als zunehmend tragfähig erweisensollte. Erste Vorboten davon sollten von den Bewerbernum Schuberts Maschinenbauprofessur ausgehen.

Wir sehen Schubert mithin um 1850 in einer Phase„bautheoretischer Euphorie“. Nach wie vor ist er hoch moti-viert gewesen, es den Eleven und dem industriellen Publi-kum zu zeigen, dass man theoretische Prinzipien erfolgreichin die Praxis umsetzen könne. Noch im Winter 1848/49 wid-mete er bei einem Lehrdeputat von 33 Vorlesungsstundenganze 18 der Mechanik, Maschinenlehre und Maschinenent-werfen, aber bereits 15 der Geodäsie sowie der Straßen- undWasserbaukunde. Bis 1852 hatte er dann die Mechanik undMaschinenlehre abgegeben, 1854 folgte als letztes Maschi-nenfach die Entwurfslehre (Maschinenkonstruktion). Alsneue Lehrfächer kamen Allgemeine Baukunde, Brückenbausowie Entwurf von Brücken hinzu [3, S. 23–26].

4 Die langwierige Suche nach einem Nachfolger

Dem indessen zum Direktor der Technischen Bildungsan-stalt berufenen Julius Ambrosius Hülsse (Bild 11) kam im

Jahr 1852 die Aufgabe zu, sich nach einem Nachfolger fürSchubert im Maschinenfach umzusehen. Diesen Vorgangkönnen wir bei Weichold nachlesen, allerdings mit einigenFehlinterpretationen behaftet. Weicholds Unterstellung,Hülsse habe bei der Besetzung von Stellen in autokrati-scher Manier „monarchistisch gesinnte Männer“ und sol-che, von denen Ergebenheit zu erwarten sei, bevorzugt,gehört in das Reich der Legende [2, S. 393]. Im Gegenteil,der Direktor zeigte bei der Beurteilung der Bewerbungendurchaus Weitblick und war offen für Neuerungen. Dochder Reihe nach: Nachdem das Sächsische Innenministe-rium am 14. April 1852 die Einrichtung einer Professur fürMaschinenlehre in der Nachfolge Schuberts anerkannthatte, richtete sich Hülsse am 23. Mai in drei ähnlich ge-haltenen Schreiben an namhafte Fachkollegen mit derBitte, eine geeignete Person für diese Stellung in Vorschlagzu bringen [14, Bl. 17–24]. Die Adressaten seiner Nach-frage waren die Professoren Bernhard Schneider am Her-zoglichen Collegium Carolinum zu Braunschweig, Ferdi-nand Redtenbacher am Polytechnikum Karlsruhe sowieMoritz Rühlmann (über Direktor Karl Karmarsch) an derPolytechnischen Schule Hannover. Hülsse legte hinsicht-lich der fachlichen Voraussetzungen der Bewerber auf dieavisierte Professur besonderen Wert auf die Beherrschungder naturwissenschaftlichen Grundlagen sowie auf einegewisse Breite der zu behandelnden Kraft- und Arbeitsma-schinen. Hülsses Vorstellungen über das Verhältnis vonTheorie und Praxis in der Ausbildung von Maschinen-bauern kommt in seiner Forderung zum Ausdruck, dieProbanden müssten ausdrücklich die Anwendung derhöheren Mathematik beherrschen, zugleich aber über Pra-xiserfahrung in der Maschinenkonstruktion verfügen.

Schneider stellte Hülsse zwei Vorschläge in Aussicht,hinterfragte aber zunächst die materiellen Bedingungen,

Bild 11. Julius Ambrosius Hülsse (1812–1876),Direktor der Polytechnischen Schule Polytechnikum von1850–1873; Photographie von Hermann Krone (um 1870)(Quelle: Krone-Sammlung der TU Dresden)Fig. 11. Julius Ambrosius Hülsse (1812–1876), Director of thePolytechnic School, 1850–1873; Photograph by HermannKrone (c. 1870) (Source: Krone Collection, Dresden TU)

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welche an eine solche Professur geknüpft waren. Darauf-hin empfahl er seinen Schüler Werner als befähigten Kan-didaten. Redtenbacher antwortete nur kurz, er sähe in sei-nem Umfeld niemanden, den er empfehlen könne, erwürde aber Anzeige machen, wenn sich in nächster Zeitjemand finden sollte. Rühlmann, der sich als Schüler vonHülsse (Chemnitz) und Schubert (Dresden) zählenkonnte und der ersteren vertraulich als sein „Gönner undFreund“ anredete, brachte sich in einem Moment senti-mentaler Rückerinnerung sogar selbst ins Spiel, fragte al-lerdings ausdrücklich, was ihn in Dresden gehaltlich er-warte, wenn er seine gut dotierte Stellung in Hannoveraufgäbe. Bald bedauert er sein „albernes Heimweh“ undbringt als geeignete Persönlichkeit August Ritter, den spä-teren Lehrstuhlinhaber für Ingenieurmechanik an der THAachen, in Vorschlag, der auch von seinem Göttinger Leh-rer Wilhelm Weber wärmstens bekräftigt wurde.

Das Berufungsverfahren zog sich jedenfalls in dieLänge. Indessen hatten die beiden Redtenbacher-SchülerCarl Moll und Franz Reuleaux, sie bezogen im Juli 1852nach Abschluss des Studiums in Berlin eine gemeinsameWohnung und bemühten sich um ein Matrikel an der dor-tigen Universität, den Vorabdruck „Die Festigkeit der Ma-terialien“ (1853) aus ihrem in Bearbeitung stehendengrößeren Werk „Constructionslehre für den Maschinen-bau“ (1854) beim Verlag Vieweg in Braunschweig veröf-fentlicht. Daraufhin waren Hülsse und auch Schneider of-fenbar auf die beiden jungen Maschinenwissenschaftler,sie zählten Anfang 1854 gerade einmal 23 bzw. 24 Jahre,aufmerksam geworden. Und in der Tat wartete der Vorab-druck der „Festigkeitslehre“ mit einigen „neuen“, wohlauch neu verpackten Erkenntnissen auf. Rühlmann wür-digte nachgerade vor allem das Faktum, darin wäre erst-mals die Elastizitätsgrenze zum Kriterium für die Bauteil-festigkeit erklärt worden [7, S. 433]. Zudem hatten die bei-den Junioren, dies geht aus dem Vieweg-Archiv hervor, am6. November 1853 dem Verlag ein komplettes Programmfür den Aufbau einer Maschinenbau-Schule an der Braun-schweigerTechnischen Bildungsanstalt vorgelegt [15], wel-ches auch Fischer zu Ohren gekommen sein dürfte. Beidehielten sich mit einem an Sendungsbewusstsein grenzen-den Selbstwertgefühl befähigt, „den Maschinenbau mitErfolg lehren zu können“. In ihrem aus Bonn abgesende-ten Schreiben an Eduard Vieweg verweisen sie darauf,dass an den Bildungsanstalten in den „norddeutschen„Städten Dresden und Hannover für den Maschinenbaunur Unzureichendes geleistet werde. Bereits in Karlsruhehegten die beiden noch unbekannten Nachwuchswissen-schaftler hochfliegende Pläne. Ihre Absicht, die Maschi-nenbau-Eleven in einem eigenen Verein zu verselbständi-gen und sich unabhängig zu machen, stieß nicht eben aufWohlwollen in ihrer Bildungsanstalt.

Auf der Suche nach wissenschaftlichen Konstruk-tionsprinzipien verkörpert die „Constructionslehre“ nachden Arbeiten Redtenbachers einen wichtigen Schritt, denMaschinenentwurf von seiner Unterordnung unter die an-gewandte Mechanik zu befreien. Wegen seiner hervorra-genden Gliederung, seines klaren Stils und der geradezumustergültigen Zeichnungen erregte dieses Lehrbuchgroße Aufmerksamkeit. Äußerst interessant und neuartigerscheint das letzte, auch gesondert abgedruckte, Kapitelüber den Maschinenbaustil (Bild 12). Indem Reuleaux

darin eine maschinenbauliche Formgebung aus der Ein-heit von Festigkeitsverhalten, Funktion und ästhetischenBeziehungen postulierte, erfasste er die Spezifik der tech-nisch-konstruktiven Gestaltung in originellerWeise. Wennauch vieles an den Auffassungen des Historismus orien-tierte und den zeittypischen Architekturstilen entlehntwar, enthält dieses Kapitel innovative und richtungwei-sende Gedanken [16].

Man sollte nun meinen, die günstige Aufnahme ihresErstlingswerkes habe die Aussichten von Moll und Reu-leaux in Dresden begünstigt. Doch leider zogen sich diebeiden Anwärter den Unwillen ihres Lehrers Redtenba-cher zu, welcher sie des Plagiats bezichtigte. Dies war einstarker Tobak, galt doch Redtenbacher seinerzeit als diegrößte Autorität im wissenschaftlichen Maschinenbau imdeutschsprachigen Raum (Bild 13). DerVorwurf von Redten-bacher ist sicher nicht ganz stichhaltig, er ist aber auchnicht völlig abwegig. Henning Reuleaux, ein Urenkel vonFranz Reuleaux, hat den Plagiatsvorwurf und die Quere-len um die Bewerbung, auch unter Hinzuziehung von Do-kumenten aus dem Nachlass seines Vorfahren, eingehenduntersucht; darauf konnte dieser Beitrag zurück greifen[17]. Ein abschließendes Urteil steht freilich noch aus.

Hatte sich der Karlsruher Professor zunächst nur be-deckt gehalten, so verhielt er sich auf die dringende Nach-frage Hülsses vom 13. Januar 1854, wie er es denn mit sei-nen „Musterschülern“ Moll und Reuleaux halte, äußerstindifferent [14, Bl. 48]. Zunächst lobte er in seinem Ant-wortschreiben vom 24. Januar die beiden, die es trotz un-genügender Vorkenntnisse durch Fleiß und anerkennens-werte Fähigkeiten zu guten Fortschritten gebracht hätten.

Bild 12. Kapitellformen und Zapfenverbindungen – Analogievon Architektur- und Maschinenbau-Formgebung aus Reu-leaux’ „Constructionslehre“ (1854) (Quelle: Sächsische Lan-des- und Universitätsbibliothek Dresden)Fig. 12. Types of capital and types of spigot – the analogybetween forms in architecture and forms in mechanical en-gineering, from Reuleaux’ „Constructionslehre“ (theory ofconstruction) (1854) (Source: Saxony State & UniversityLibrary, Dresden)

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Zugleich rügte er aber ihr Verhalten, welches unbeschei-den und anmaßend sei. Ihre Selbstüberschätzung ginge soweit, dass sie ein Buch nach seinem, Redtenbachers, Sys-tem zu publizieren beabsichtigten und darin seine Kon-struktionen benutzten, ohne dass er ihnen die Zustim-mung gegeben habe. Im Weiteren ging Redtenbacher aufseinen Briefwechsel mit Reuleaux in dieser Sache ein, derleider zu keiner Klärung der Plagiatsvorwürfe geführthabe. Im Gegenteil, die Beschuldigten beharrten nunmehrdarauf, eine ganz eigenständige Arbeit liefern zu wollen,die in keiner Weise das Wissen ihres Lehrers „mißbrau-che“. Und er schließt: „Geradewegs empfehlen kann ichihn (Reuleaux) nicht, abrathen will ich aber auch nicht“[14, Bl. 60–61]. Mit der Deutlichkeit der vorausgehendenZeilen kommt dies einer Ablehnung gleich.

Hülsse mochte aber, nachdem er bereits im Dezem-ber 1853 vergeblich zum Berliner Gewerbeinstitut gereistwar, um zwei Kandidaten (Corssen und Wiebe) zu gewin-nen, Moll und Reuleaux eine Chance geben. Als Schnei-der in einem Brief an Hülsse vom 11. Januar 1854 Moll,dessen persönliche Bekanntschaft er soeben in Braun-schweig gemacht hatte, wärmstens empfohlen hatte [14,Bl. 29], musste er dies wie ein Rettungsanker für das Beru-fungsverfahren empfunden haben und suchte deshalb beiRedtenbacher um Rückenhalt. Zeitgleich hatten sich diebeiden Bewerber überdies mit einer Denkschrift „Über einProgramm für eine Maschinenbau-Schule“ [14, Bl. 49–54]an das damals zuständige Sächsische Innenministeriumgewandt und boten sich gleichsam im „Doppelpack“ an,die gesamte Maschinenbauausbildung in Dresden auf denneuesten Stand zu bringen. Ihr Plan war ziemlich verwe-gen, auch richtungweisend, sogar Hülsse zeigte sich beein-druckt. In getrennten Schreiben vom 25. Januar 1854 [14,Bl. 54–55] bitten sie Hülsse um eine wohlwollende Prü-fung ihrer kurz vorher von Moll persönlich überreichten

Denkschrift und Weiterleitung an den Mininsterialdiri-genten Christian Albert Weinlig. Moll spricht dabei dieHoffnung aus, dass „die Regierung eines der gewerbthätig-sten deutschen Staates...ohne weiteres die Mittel besitzen(wird), eine Einrichtung ins Leben zu rufen, welche für diegesammte Industrie fördernd und von Werth ist.“ AuchReuleaux stellt „segensreiche Erfolge“ für den Maschinen-bau in Aussicht. Wie nun sollte diese segensreiche Ein-richtung aussehen?

Es ist augenscheinlich, dass vorliegende Denkschriftauf jenem Programm rekurrierte, das sie im Jahr zuvor derBraunschweiger Einrichtung offeriert hatten. Ausgehendvon der wirtschaftlichen Bedeutung des Maschinenwesenswird die gegenwärtige Ausbildung von Maschinenbauernanalysiert, welche sich zwischen den Polen praktisch-em-pirischer und hochtheoretischer Behandlung des Stoffesbewege. Was fehle, sei ein Brückenschlag zwischen bei-den, sei die konsequente Ausrichtung wissenschaftlicherMethoden auf den Maschinenentwurf. Man müsse end-lich zu den allgemeinen Prinzipien für die Konstruktiondurchdringen. Eine Maschinenbau-Wissenschaft könnedaher gut an der von ihnen (Moll & Reuleaux) vorgelegtenBehandlung des Maschinenproblems in der soeben er-schienenen „Constructionslehre“ anknüpfen. Es gehedarum, den Maschinenbau im wissenschaftlichen Sinnelehrbar zu machen und ihn in einer eigenständigen Ma-schinenbau-Schule an den Polytechnika zu verankern.Die übliche enzyklopädische Behandlung des Stoffesmüsse einer systematischen weichen.

Institutionell war „ihre“ Maschinenbau-Schule alsHort einer Fachwissenschaft hierarchisch aufgebaut. Siebildete in einem Stufensystem Monteure und Meister (ein-jährig), Konstrukteure und Werkführer (zweijährig) sowiein der oberen Abteilung Ingenieure aus, wobei letztere diewahrhaft wissenschaftliche Ausbildung der Maschinen-bauer krönen sollte. Praktische Arbeiten waren in diesemPlan nicht mehr vorgesehen, die Zöglinge sollten sich viel-mehr vor dem Studium einer Art Praktikum in einer Ma-schinenfabrik unterziehen. Äußerst modern und zukunfts-weisend wirkt auch der Vorschlag der Verfasser, die Zög-linge unter der Aufsicht der Lehrer in einem Verein besserzu vernetzen und eine gemeinsame Kommunikationsbasiszwischen den einzelnen Abteilungen zu schaffen. Zudemkönnten die Studierenden in Konstruktionsbüros Auf-tragsarbeiten aus der Industrie ausführen, welche sierechtzeitig mit der Praxis in Fühlungnahme brächten.Schließlich legten sie die Lehrinhalte für diese „lebens-kräftige und zweckentsprechende Einrichtung“ vor, wel-che ausschließlich auf eine Fachschule orientiere.

Es spricht für Hülsse, dass er die innovativen Impulsedieses Entwurfes erkannte und förderte. Doch begab ersich damit auch in das Spannungsfeld der KarslruherQuerelen, die den Verfassern noch einige Zeit anhängensollten. Zunächst forderte er Moll und Reuleaux auf, ihmeine Bewerbung mit ausführlichem Lebenslauf zu liefernund persönlich in Dresden vorstellig zu werden. Moll wardieser Einladung bereits am 18. Januar nachgekommen,bei Reuleaux verzögerte sich dieser Besuch offenbarkrankheitsbedingt. Zugleich ließ Hülsse das Erstlingswerkder Bewerber ausführlich begutachten. Im Falle seinesDresdner Kollegen, des Professors für Mathematik undMechanische Festigkeitslehre Osmar Fort, fiel dieses sehr

Bild 13. Jacob Ferdinand Redtenbacher (1809–1863), Be-gründer des wissenschaftlichen Maschinenbaus in Deutsch-land, Professor für Maschinenlehre am PolytechnikumKarlsruhe (Quelle: [7])Fig. 13. Jacob Ferdinand Redtenbacher (1809–1863), founderof scientific mechanical engineering in Germany, professor ofmechanical engineering at Karlsruhe Polytechnic (Source: [7])

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zu Gunsten der Verfasser aus [14, Bl. 45–46]. Wie auchspäter Rühlmann, hob Fort den mutigen Ansatz hervor,die Festigkeitskriterien neu zu bestimmen und den unter-schiedlichen Materialeigenschaften, namentlich der Ela-stizität gegenüber den herkömmlichen BruchannahmenVorrang zu geben. Auch lobte er die Fähigkeit der Auto-ren, Erfahrungswerte „in ein mathematisches Gewandeinzukleiden“. Etwas diffuser fällt das Urteil des ehemali-gen Schubert-Schülers Max Maria von Weber aus, der dasWerk offenbar nur flüchtig gelesen hatte.

Am 6. Februar 1854, Moll und Reuleaux wohnten undarbeiteten seit September 1853 in Bonn, reichten die Kan-didaten ihre ausführlichen Lebensläufe ein [14, Bl. 77–81].Reuleaux ging in seinem auf die Auseinandersetzung mitRedtenbacher ein, vermutlich um weiteren Misshelligkei-ten vorzubeugen. Der gründlich vorgehende Hülsse hattesich gleichzeitig (am 11. Februar) an Ewald FriedrichScholl gewandt, der sich mit seinem Handbuch „Führerdes Maschinisten“ (1843) einen guten Namen als Maschi-nenbaupraktiker erworben hatte. Er bat den damals in derGräfl. Einsiedelschen Eisengießerei in Lauchhammer täti-gen Scholl, ihn doch gelegentlich in Dresden wegen besag-ter Angelegenheit aufzusuchen [14, Bl. 63–65]. Schollmusste schon deshalb Interesse an einem guten Ausganghaben, weil es sich ja um Franz Reuleaux, seinen Stief-sohn handelte. Auch wenn er es lieber gesehen hätte, wenndieser eine Laufbahn in der Maschinenbauindustrie einge-schlagen hätte, so setzte er sich doch nachdrücklich fürseinen Ziehsohn ein. Möglicherweise nahm Scholl auchEinfluss darauf, dass die beiden Kandidaten von ihrerDoppelbewerbung abließen.

Moll, der auf rasche Antwort Hülsses gehofft hatte,wurde Ende Februar ungeduldig darüber, dass sich dieAngelegenheit hinzog. Am 11. März verband er seineNachfrage mit einer sanften Mahnung und den Verweisauf weitere Optionen. Erst am 27. März erwiderte Hülsse,das Budget lasse zwei Professuren nicht zu und es werdeauch nichts definitiv entschieden, ehe er nicht auch Reu-leaux persönlich kennen gelernt habe. Selbiger begab sichdaraufhin umgehend nach Dresden, mietete sich am30. März im Hotel „Stadt Rom“ ein und ließ Hülsse wis-sen, dass er jeder Zeit bereit stehe, vorzusprechen. AuchMoll avisierte Hülsse den Besuch seines Freundes undnahm die Mitteilung zum Anlass, noch einmal die leidigeGehaltsfrage anzuschneiden. Er muss sich sehr sicher ge-wesen sein, wenn er weiter um ein doppeltes Salärfeilschte. Seine Begründung: „Der Maschinenbau ist heut-zutage ein so ausgedehntes Feld, das die Kraft des Einzel-nen nicht mehr ausreicht, ihn in all seinen Theilen gleich-zeitig zu lehren“, war freilich stichhaltig. Moll räumte im-merhin ein, dass er und sein Kollege sich im Falle einerBerufung dazu verpflichteten, keinen Ruf an eine andereSchule anzunehmen. Indessen teilte Weinlig am FolgetagReuleaux schriftlich mit, die Etatverhältnisse ließen ge-genwärtig keine voll umfängliche Umsetzung ihres Planeszu. Mit der ironischen Bemerkung, dass es ihm angesichtsder engen Verkettung der beiden „vielversprechenden undtüchtigen jungen Männer“ Leid täte, einen von ihnenscheitern zu sehen, schloss er die Korrespondenz konzili-ant mit vorzüglicher Hochachtung [14, Bl. 68–73].

Nachdem Moll auf der Rückreise von den gescheiter-ten Unterhandlungen mit seinem Freund in Berlin zusam-

mengetroffen war, avisierte er Hülsse am 9. April, dass ervon seiner Bewerbung zurückstehe. Sie beide würden abergern in dieser neuen Situation den Faden wieder anknüp-fen und zu diesem Behuf erneut nach Dresden reisen. Siebäten ihn umgehend um einen Besuch. Eine Zusammen-kunft hat dann auch tags darauf um 10.30 Uhr in HülssesDirektorat am Antonsplatz stattgefunden, so dass sichReuleaux abermals Hoffnungen machen durfte. Warenauch zwei gut dotierte Vollprofessuren aus fiskalischenGründen nicht durchzusetzen, so könnte sich wenigsteneiner von ihnen mit einer Professorenstelle schmücken.Taktisch nicht eben klug, reichte Reuleaux am 22. Aprilein Schreiben mit aktuellen Zeichnungen von sich nach,in welchem er versicherte, keinen Druck auf seinenFreund ausgeübt zu haben. Diskret bat er Hülsse, im wei-teren Schriftwechsel gegebenenfalls Moll durchblicken zulassen, dass er nur wegen seines mehr zusagenden Lebens-laufes den Vorrang bekommen habe [14, Bl. 74–76].

Indessen holten Reuleaux die KarlsruherZwistigkeitenein. Der Konflikt spitzte sich in einerWeise zu, dass überzo-gene Kritiken gegen die „Constructionslehre“ lanciert wur-den, welche die Autoren als Verleumdungen auffassen muss-ten. Sie machten dem bestellten „Rezensenten“ sogar eineKlage anhängig [17, S. 29–38]. Zudem wurde Hülsse ausKarlsruhe eine solche „Rüge“ eines anonymen Redtenba-cher-Schülers vorgelegt, mit der Bitte, diese zur Kenntnis zunehmen und für einen Abdruck derZurechtweisung im Po-lytechnischen Centralblatt vorzulegen. Hülsse reagierteäußerst sachlich und war dabei bestrebt, sich aus derlei In-trigen herauszuhalten. Er verwahrte sich ferner in seinerEntgegnung vom 4. Mai 1854, das Centralblatt für persönli-che „Polemik“ zu missbrauchen. Damit legte er fairerweiseeine Lanze für Reuleaux ein. Dennoch ist er offensichtlich

Bild 14. Johann Bernhard Schneider (1809–1883), Professorfür Maschinenbau und Maschinen-Entwerfen an derPolytechnischen Schule/Polytechnikum zu Dresden(1854–1882) (Quelle: Kustodie der TU Dresden)Fig. 14. Johann Bernhard Schneider (1809–1883), professorof mechanical engineering and machine design at thePolytechnic School in Dresden (1854–1882)(Source: Collections Dept, Dresden TU)

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unter Druck geraten und suchte nunmehr aus mannigfa-chen Gründen nach einer Lösung, die fern der öffentlichgemachten Brisanz der vorliegenden Bewerbung den Beru-fungsvorgang in ruhigeres Fahrwasser steuern sollte. Reu-leaux muss davon Wind bekommen haben. Am 22. Mairichtet er eine Nachfrage an Hülsse und bedrängte ihn,doch endlich eine bindende Erklärung abzugeben. Diesebekommt er einige Tage später: Es ist die bedauernde Ab-sage und die Mitteilung, es werde ein anderer zum Professorfür Maschinenlehre berufen [14, Bl. 77–85]. Bereits am24. April hatte Hülsse dem Ministerium Professor Schnei-der (Bild 14) aus Braunschweig in Vorschlag gebracht.

Dessen Einstellungs-Verordnung erfolgte am 8. Mai[18]. Warum Hülsse Reuleaux noch einige Zeit bis zu sei-ner Benachrichtigung hingehalten hat, geht aus den Aktennicht hervor. Die Gründe seiner Absage können wir nurvermuten, denn die Gehaltsfrage wäre nach Molls Rück-tritt nur ein vorgeschobenes Argument gewesen. Allerdingshätte die Gehaltsforderung für auch nur eine Professur(1200 Taler Jahresgehalt, im Braunschweiger Programmsogar 1500 Tlr. – ausgelobt waren maximal 800 Tlr.) an-fangs maßvoller ausfallen können. Erst als die Felle weg-zuschwimmen drohten, reduzierte Moll diese Forderungund beschied sich offenbar auf die minder dotierte Assi-stentenstelle. Berufen wurde nicht ein 24-jähriger Nach-wuchswissenschaftler, sondern der 45-jährige Schneider,Maschinenbauer der alten Schule. Reuleaux wurde 1856auf Betreiben Zeuners an das Eidgenössische Polytechni-kum nach Zürich berufen. In seiner BerlinerZeit (1875 be-gründete er dort die Maschinenkinematik) avancierte erzu einem der bekanntesten und umstrittensten Maschi-nenwissenschaftler überhaupt. Moll hingegen scheitertezunächst an einer Hochschullehrerlaufbahn und geriet ineine tiefe Krise.

5 Fazit und Ausblick

Es blieb mithin alles beim Alten. Der mit Schubert fastgleichaltrige Schneider, welcher sich nun selbst zur Wahlgestellt hatte, ist offenbar ein solider Lehrer gewesen,Lehrbücher hat er allerdings keine veröffentlicht. Ein Um-krempeln der Maschinenbau-Ausbildung war von ihmnicht zu erwarten gewesen. Reuleaux, der sich mit der ge-troffenen Entscheidung nicht abfinden mochte, richteteam 2. Juni 1854 noch einmal ein beschwörendes Schrei-ben an Hülsse [14, Bl. 94], in welchem er sich erneut ge-gen die in Umlauf gebrachten Gerüchte verwehrte und dieEigenständigkeit seines literarischen Bestrebens rechtfer-tigte. Die ehrenrührige Diktion dieses Schreibens scheintaber bei Hülsse keinen Eindruck hinterlassen zu haben.Die Würfel sind gefallen. Der von Moll und Reuleaux vor-geschlagene Weg wäre durchaus verheißungsvoll gewesen.Dazu bedurfte es aber keines Generationswechsels. SelbstRedtenbacher baute die Mechanische Abteilung in Karls-ruhe zu größerer Eigenständigkeit aus und nannte sie ab1860 „Maschinenbau-Schule“ (sic!). Zwei Jahre späterwurde dort eine zweite Maschinenbau-Professur einge-richtet. Auch in Dresden nannte sich die Fachabteilung Aab 1865 „Mechanisch-technische Schule“.

Aufschlussreich am Dresdener Berufungsvorgang war,dass der Name Schubert im gesamten Schriftwechsel keineRolle spielte. Es scheint so, als sei die Nachberufung am

damaligen Inhaber der Professur vorbeigegangen. Hatteder „Bauingenieur“ Schubert kein Interesse mehr an sei-nem vorherigen Lehrfach oder agierte Hülsse über denKopf von Schubert hinweg? Zunächst muss festgehaltenwerden, dass Direktor Hülsse mit seinem Dienstvorgesetz-ten Weinlig enge persönliche Kontakte pflegte, die der An-stalt hinsichtlich Kapazitätserweiterung und Etaterhöhunggewisse Vorteile brachten. Allein die Herauslösung vonHülsses Lehrfach, der Mechanischen Technologie, aus derMaschinenlehre kommt einer zusätzlichen halben Profes-sur im Maschinenwesen gleich (die Volkswirtschaftlehrekam auch den anderen Abteilungen zu Gute). HülssesWeitsicht zielte damals auf den Ausbau der Lehramtsaus-bildung, welche vor allem dem Grundlagenstudium der In-genieure auf dem Gebiet der Mathematik und Naturwis-senschaften zum Nutzen sein sollte. Die finanziellen Vor-stellungen von Moll und Reuleaux zum Ausbau einerMaschinenbau-Schule passten daher nicht in die fiskali-schen Realitäten der 1850er Jahre. Es kann nicht ausge-schlossen werden, dass Hülsse mit dem wissenschaftlichenAusbau des Maschinenwesens Pläne verfolgte, die überSchuberts Vorstellungen vom Fach hinausreichten, mandarf aber davon ausgehen, dass er Schubert schon in Um-rissen vom Fortgang der Verhandlungen informierte bzw.konsultierte. Die Polytechnische Schule war seinerzeitnoch so übersichtlich, dass dem kleinen Lehrerkollegiumkaum ein solcher Vorgang entgehen konnte. Warum auchsollte sich Schubert einschalten, hatte er doch selbst denLehrgebietswechsel initiiert. Gleichwohl passt es in dasBild des autoritären Hülsse, dass er Personalentscheidun-gen nach diskreten Konsultationen mit Weinlig selbst trafund das Kollegium oft außen vor ließ. Politische Gründe,wie Weichold insistiert, hatte das mitnichten. Aufschluss-reich wäre es zu wissen, ob sich Schubert und Reuleaux jebegegnet sind. Es gibt keinen Hinweis darauf. Reuleaux’Ziehvater Scholl verweist auf einen Treff mit Schubert inRiesa im Februar 1854, bei welchem dieser ihn mündlichzu Hülsse nach Dresden gebeten habe. Da es um die Kan-didatur Moll und Reuleaux ging, muss Schubert zumindestpartiell eingeweiht gewesen sein.

Es bleibt festzuhalten: Mit der Ausdifferenzierung derIngenieurwissenschaften spreizte sich auch das Diszipli-nengefüge des Maschinenwesens auf. Die Ganzheitlichkeitdes Objektes „Maschine“ wurde in ihre Elemente zerlegtund zum wissenschaftlichen Gegenstand unterschiedlicherLehr- und Fachgebiete. Vor allem die Maschinenkonstruk-tion erhob sich wegen ihrer Praxisrelevanz zu einemHauptfach. An der Polytechnischen Schule in Dresdenhatte Schubert mit der Behandlung von Maschinenelemen-ten und Bewegungsmechanismen diese Entwicklung ein-geleitet. Die Zeit des universellen Maschinenwissenschaft-lers war allerdings vorbei. Jüngere Kräfte drängten nachund suchten nach allgemeinen Konstruktionsprinzipienund systematischen (heuristischen) Methoden des Maschi-nenentwurfs. Zu ihnen zählten Moll und Reuleaux. Schu-bert, der sich mit zunehmendem Alter durchaus seinerGrenzen bewusst wurde, trug diesem Prozess durch eineneuerliche Fixierung auf das Baufach Rechnung. Wir dür-fen Schubert auch als den weitsichtigen Anreger begreifen,dessen Werk erst bei seinen Schülern auf fruchtbaren Bo-den fiel. Die wissenschaftlichen Autoritäten im Maschi-nenwesen waren in dieser Ära Weisbach und Redtenba-

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cher. Schubert reichte im theoretischen Tiefgang an beidenicht heran, aber sein Beitrag zu Kompilation und Ver-schmelzung unterschiedlicher Wissensformen (praktisch-empirisch, theoretisch, visuell) ist nicht zu unterschätzen.

Reuleaux (Bild 15) hingegen hatte sich noch nichtgänzlich vom Lehrgebäude Redtenbachers loslösen kön-nen. Programmatisch betrat er mit seinen Vorstellungenzur Ausbildung von Maschinenbauern Neuland. Die Vor-würfe des Plagiats hatten aber seinen Ehrgeiz angefacht,ganz Eigenständiges zu leisten. Seine „Zwanglauflehre“,deren Grundlagen er in den 1860er Jahren formulierte, giltnoch heute als der kühnste heuristische Entwurf der Ma-schinenwissenschaften des 19. Jahrhunderts [19]. SeineSymbolsprachen und Zeichensysteme hatten sogar denPhilosophen Ludwig Wittgenstein inspiriert. Ob eine Be-rufung von Reuleaux nach Dresden neben einem Genera-tionswechsel auch einen Paradigmenwechsel im wissen-schaftlichen Maschinenwesen bewirkt hätte, bleibt dahin-gestellt. Der überambitionierte und streitbare Reuleauxhätte sicher der Dresdner Bildungsanstalt seinen Stempelaufgedrückt. Doch blieb seine „Maschinenwissenschaftder Deduktion“ zunächst auch nur Programm. Es bedurfteeines ausgedehnten Konsolidierungsprozesses, ehe dieszientistischen Leitbilder im Maschinenwesen sich wirk-sam entfalten konnten. Reuleaux neigte noch dazu, denTheorienapparat zu überfrachten. Vor allem das moderneExperimentalwesen, Maschinenlaboratorien und Materi-alprüfungsanstalten, trugen zu einem ausgewogenen Ver-

hältnis von Theorie und Praxis bei. Dies vollzog sich unterengagierter Mitwirkung von Reuleaux vor allem in seinerZeit an der TH Berlin und wird oft an den methodischenAuseinandersetzungen mit Alois Riedler festgemacht, dieeinen Paradigmenwechsel einleiteten [20].

Nach Berlin führte auch der Weg eines hochbegabtenSchülers und Mitstreiters von Schubert: des BauingenieursEmil Winkler. Bei ihm fand die Universalität und methodi-sche Offenheit seines Lehrers aus Dresdner Zeit einennachhaltigen Resonanzboden. Bereits 1868, also noch zuLebzeiten Schuberts, gelang es ihm erstmals, die Gewölbeauf der Grundlage der Elastizitätstheorie zu behandeln unddas Konzept der Einflusslinie zu entwickeln. Als Winkler1877, zwei Jahre nach dem Erscheinen von Reuleaux’ „Ki-nematik“ an die Bauakademie nach Berlin berufen wurdeund dort zum Vorstand der Bauingenieurabteilung und so-gar zum Rektor der späteren TH Berlin-Charlottenburg auf-rückte, erweiterte er die elastizitätstheoretische Fundierungder Baustatik [21, S. 146–158 und 230–235] und musste sichauch, namentlich in der Gewölbe- und Fachwerktheorie,mit kinematischen Modellvorstellungen auseinandersetzen.Der parallel zum „Methodenstreit“ um die kinematischeMaschinenlehre ausgetragene Disput um die methodischeOrientierung der Baustatik (energetisches versus kinemati-sches Modell) eskalierte bekanntlich in den 1880er Jahrenin einer vehement geführten fachlichen Auseinanderset-zung zwischen Winklers Nachfolger Heinrich Müller-Bres-lau und Otto Mohr [21, S. 249–257], die durch Mehrtenseine Reprise erfuhr.

Was in Berlin bzw. zwischen Berlin und Dresdenäußerst lautstark ausgetragen wurde, hat freilich in Dres-den weitaus stiller, weit weniger kontrovers und ohne Ge-nerationenkonflikt stattgefunden. Die leitenden Protago-nisten Zeuner und Ernst Hartig standen für ausgleichendeKonzepte. Zeuner setzte mit fachlicher Autorität, aber un-prätentiös seine „Figuren“. Den Reuleaux holte er sich ingemäßigter Form durch die Hintertür wieder herein:durch die Berufung von dessen BerlinerAssistenten TrajanRittershaus, der bei Zeuner, Reuleaux und Culmann inZürich studiert hatte. Als Privatdozent vertrat Rittershausin Berlin bis zu seiner Übersiedelung nach Dresden dieFachkombination Kinematik, Maschinen-Elemente undMaschinenentwerfen, was für ein ganzheitliches Konzeptder Maschinenkonstruktion spricht. Der seit ihrer gemein-samen Züricher Zeit eng mit Reuleaux befreundete Zeu-ner war ein Mann des Ausgleichs, so dass sich in Dresdenin den letzten Dezennien des 19. Jahrhunderts sehr un-spektakulär eine Methodenvielfalt ausbreiten konnte, dieuns heute noch als äußerst kreativ und kommunikativ er-scheint. Rittershaus, der namentlich die Getriebelehreund die zugehörige Lehrsammlung in Dresden auf einenmodernen Stand brachte [22], knüpfte dabei auch an Be-stehendes an, wozu durchaus Schuberts weit gespanntesKonzept einer Maschinenlehre gehörte. Ihm zur Seitestand mit Ludwig Burmester ein Mann, der sich von derdarstellenden Geometrie aus dem Ingenieurwesengenähert hatte. Denn es waren nicht nur die Maschinen-bauer und Bauingenieure, welche sich der technikwissen-schaftlichen Theorieentwicklung verschrieben hatten.Auch im Rahmen der Mathematisch-Naturwissenschaft-lichen Abteilung, die 1890 mit der Erhebung des DresdnerPolytechnikums in den Rang einer Technischen Hoch-

Bild 15. Franz Reuleaux (1829–1905), Photographie im Vi-sitkarten-Format als Professor für Maschinenbaukunde amEidgenössischen Polytechnikum Zürich (um 1860) (Quelle:Universitätsarchiv der TU Dresden, Nachlass Zeuner)Fig. 15. Franz Reuleaux (1829–1905), photograph in busin-ess card format as professor of mechanical engineering atthe Swiss Federal Institute of Technology in Zurich (c. 1860)(Source: University Archives, Dresden TU, Zeuner bequest)

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schule in der Allgemeinen Abteilung aufging, wurden fürdie Studenten der Mechanischen- und der Bauingenieur-abteilung Grundlagen gelehrt. Hierzu zählten die darstel-lende Geometrie und die technische Mechanik mit ihrerauffälligen Affinität zur Getriebelehre und zur Fachwerk-theorie. Auf den Lehrstuhl für darstellende Geometriewurde Burmester 1872 berufen. Er begriff das Grundla-genfach durchaus von seiner applikativen Seite. Seit 1879las er die Geometrie der Bewegung und übertrug als einerder ersten die Geometrie höherer Kurven auf die Getrie-belehre [23, S. 13–15].

Beiträge zur Getriebelehre kamen auch von einerSeite, von welcher man sie kaum erwarten durfte, dertechnischen Mechanik im Rahmen der Bauingenieurab-teilung. Der dortige Lehrstuhlinhaber für Eisenbahnbau,Wasserbau und Graphostatik, Otto Mohr, machte sich vorallem mit seinen bahnbrechenden Arbeiten zur grafischenStatik und Festigkeitstheorie einen Namen. Weniger be-kannt sind seine Arbeiten zur geometrischen Konstruk-tion der Beschleunigung am Kurbelgetriebe (1880), zurgrafischen Kinematik (1887) sowie zur Kinematik und Ki-netik ebener Getriebe (1903/04). Bei Mohr mag diese Viel-seitigkeit aber nicht verwundern, zeichnete sich seine wis-senschaftliche Tätigkeit doch durch ein übergreifendesDenken aus. Mohr nahm regen Anteil an den methodi-schen Auseinandersetzungen in den Technikwissenschaf-ten seiner Zeit und lieferte Beiträge dazu, die weit übersein Berufungsgebiet hinausgingen [23, S. 13]. Als Mohr1894 von Zeuner die technische Mechanik übernahm undzur Allgemeinen Abteilung überwechselte war ein breiterZugang, der auch die Behandlung kinematischer und ge-triebetechnischer Probleme einschloss, nicht mehr unge-wöhnlich. Hier schließt sich der Kreis zu Schubert, dessenlangjährige Pionierarbeit sich als anregend, ja unverzicht-bar erwiesen hat.

Literatur

[1] Mauersberger, K.: Mythos Schubert – Legendenbildung umeinen sächsischen Techniker. In: M. Hascher, S. Luther, D.Szöllösi (Hg.): Sachsen in der Wissenschafts- und Technikge-schichte. Festschrift für Friedrich Naumann (=FreibergerForschungshefte, Geschichte, D 218), TU Bergakademie Frei-berg 2005, S. 73–95.

[2] Weichold, A.: Johann Andreas Schubert. Lebensbild einesbedeutenden Hochschullehrers und Ingenieurs aus der Zeitder industriellen Revolution. Leipzig 1968.

[3] Hülsse, J. A.: Die Königliche Polytechnische Schule (Tech-nische Bildungsanstalt) zu Dresden während der ersten 25Jahre ihres Wirkens. Dresden 1853.

[4] Mauersberger, K.: Die Getriebemodellsammlung. In:Sammlungen und Kunstbesitz der Technischen UniversitätDresden. Hg. vom Rektor der Technischen Universität Dres-den. Leipzig und Dresden 1996, S. 29–38.

[5] Kreyher, W.: Versuch über die Zusammensetzung der Ma-schinen von Lanz und Betancourt. Berlin 1829. (=Dt. Über-setzung von Lanz, J. M., Betancourt, A.: Essai sur la composi-tion des machines, Paris 1808.)

[6] Conrad, D., Hänseroth, T., Mauersberger, K. (Hg.): JohannAndreas Schubert. Ein sächsischer Lehrer und Ingenieur. 19.März 1808 – Katalog zur Sonderausstellung im Verkehrsmu-seum Dresden aus Anlaß des Todestages vor 125 Jahren. Dres-den 1995.

[7] Rühlmann, M.: Vorträge über Geschichte der TechnischenMechanik. Leipzig 1885.

[8] Schubert, J. A.: Beitrag zur Berichtigung der Theorie derTurbinen. Dessau 1850, Vorwort.

[9] Hänseroth, T.: J. A. Schubert und R. Wilke – die Hauptak-teure der Brückenprojekte Göltzsch- und Elstertalbrücke.Antworten auf die „Erbauerfrage“. In: Sächsische Heimat-blätter 47 (2001) H. 3, S. 156–164.

[10] Hänseroth, T.: Die Konstruktion „verwissenschaftlichter“Praxis: Zum Aufstieg eines Paradigmas in den Technikwissen-schaften des 19. Jahrhunderts. In: Hänseroth, T. (Hg.) Wis-senschaft und Technik. Studien zur Geschichte der TU Dres-den (=175 Jahre TU Dresden, Bd. 2, hrsg. von R. Pommerin).Köln, Weimar, Wien 2003, S. 15–36.

[11] Schubert, J. A.: Die Ueberbrückung des Göltzsch- und El-sterthals auf der sächsisch-bayerischen Eisenbahn. In: Allge-meine Bauzeitung, Wien, 11(1846), S. 382–392.

[12] Beyer, P.: 150 Jahre Göltzschtal- und Elstertalbrücke imsächsischen Vogtland. Plauen 2001, S. 42–61.

[13] Kurrer, K.-E.: Auf der Suche nach der wahren Stützlinie inGewölben. In: Humanismus und Technik, Bd. 34, Jahrbuch1990, Berlin 1991, S. 36.

[14] Gesamter Berufungsvorgang in: Sächsisches Hauptstaats-archiv Dresden (SHStA), Nr. 15265.

[15] Vieweg-Archiv der UB Braunschweig, V1R:61, Nr. 12.[16] Mauersberger, K.: Suche nach dem Attribut der Technik.

Zum Maschinenbaustil des 19. Jahrhunderts. In: form+zweck,Berlin 17 (1985)Heft1, S. 15–20.

[17] Reuleaux, H.: Beiträge zur Geschichte der Familie Reu-leaux (unveröffentlichtes Manuskript), Berlin 2007; Teil 2,S. 28–37; Teil 3, S. 5–20 und 29–38.

[18] SHStA, Nr. 15092, Bl. 48 c–g und 48 u–z.[19] Mauersberger, K.: Franz Reuleaux und die Kinematik – ein

kühner heuristischer Entwurf der Maschinenwissenschaftenim 19. Jahrhundert. In: Dahlemer Archivgespräche, hg. vomArchiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft, Bd. 11,Berlin 2005, S. 88–111.

[20] Mauersberger, K.: Von Karmarsch bis Reuleaux – verallge-meinernde technikwissenschaftliche Konzepte im 19. Jahr-hundert. In: Banse, G. (Hg.): Allgemeine Technologie zwi-schen Aufklärung und Metatheorie. Johann Beckmann unddie Folgen. (=Cottbuser Beiträge zur Philosophie der Technikund der Technikwissenschaften). Berlin 1997, S. 45–64.

[21] Kurrer, K.-E.: Geschichte der Baustatik, Berlin 2002.[22] Mauersberger, K.: Maschinenbau an der TU Dresden. Ein

Beitrag zur Geschichte der Fakultät Maschinenwesen. Illu-strierter historischerAbriss mit Auswahlbibliografie, TU Dres-den, 2007.

[23] Mauersberger, K.: Zur Geschichte der Getriebetechnik anderTH Dresden vor Lichtenheldt. In: Wiss. Z. Techn. Univers.Dresden 50(2001)3, S. 9–18.

Autor dieses Beitrages:Dr.-Ing. Klaus Mauersberger, Direktor der Kustodie der Technischen Uni-versität Dresden, 01062 Dresden

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