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Berte Bratt Schwester Lise Arzt am Polarkreis – das klingt romantisch. Eirin, die ihren Verlobten als Sprechstundenhilfe begleitet, sieht es schon vor sich, das gemütliche Doktorhaus, die blitzenden Instrumente, mit denen sie hantieren, die Kinder, denen sie die Angst vor dem Doktor nehmen wird. Doch die Wirklichkeit ist ein Schock für sie. Das Dorf Frostviken macht seinem Namen alle Ehre, das Haus ist ein Eiskeller ohne elektrisches Licht, und Arbeit gibt es rund um die Uhr. Die Einsamkeit ist unerträglich für Eirin, die den Betrieb Oslos gewöhnt ist. Dunkelheit, Kälte und zermürbende Alltagsarbeit sind stärker als sie. Sie versagt, als sie bei einer Notoperation assistieren soll, und flieht zurück in die Stadt. Aber ihr altes Leben wieder aufnehmen, als wäre nichts gewesen, das kann sie auch nicht mehr. Sie muß selbst herausfinden, wozu sie fähig ist, und das kann sie nur ohne Halfdan, den sie immer noch liebt. Und eines Tages steht sie ihm als fertig ausgebildete „Schwester Lise“ gegenüber.

Schwester Lise

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Berte Bratt

Schwester Lise

Arzt am Polarkreis – das klingt romantisch. Eirin, die ihren Verlobten als Sprechstundenhilfe begleitet, sieht es schon vor sich, das gemütliche Doktorhaus, die blitzenden Instrumente, mit denen sie hantieren, die Kinder, denen sie die Angst vor dem Doktor nehmen wird. Doch die Wirklichkeit ist ein Schock für sie. Das Dorf Frostviken macht seinem Namen alle Ehre, das Haus ist ein Eiskeller ohne elektrisches Licht, und Arbeit gibt es rund um die Uhr. Die Einsamkeit ist unerträglich für Eirin, die den Betrieb Oslos gewöhnt ist. Dunkelheit, Kälte und zermürbende Alltagsarbeit sind stärker als sie. Sie versagt, als sie bei einer Notoperation assistieren soll, und flieht zurück in die Stadt. Aber ihr altes Leben wieder aufnehmen, als wäre nichts gewesen, das kann sie auch nicht mehr. Sie muß selbst herausfinden, wozu sie fähig ist, und das kann sie nur ohne Halfdan, den sie immer noch liebt. Und eines Tages steht sie ihm als fertig ausgebildete „Schwester Lise“ gegenüber.

Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Bratt, Berte: Gewagt – gewonnen!: Zwei Romane für Mädchen / Berte Bratt. Bindlach: Loewe (LeseRiese) ISBN 3-7855-2696-2 ISBN 3-7855-2696-2 Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung der Erika Klopp Verlag GmbH, Berlin © 1972 by Erika Klopp Verlag GmbH, Berlin © für diese Ausgabe 1994 by Loewes Verlag, Bindlach Umschlagillustration: Ulrike Heyne Umschlaggestaltung: Karin Roder Satz: DTP im Verlag

1 Das stoßweise Gellen der Schiffspfeife verstummte, die emsige Geschäftigkeit an Bord legte sich allmählich. Der Küstendampfer hatte losgemacht, und die Maschine hämmerte in gleichmäßigem Takt.

Die Schiffsreise hatte begonnen. Eirin lehnte sich über die Reling und sah zum Land hinüber. Der

Schuppen auf dem Skoltegrund verschwand. Die Villen an den Berghängen verloren Form und Farbe und gingen in einem fahlgrauen Dunst unter.

Eirin mußte lächeln. Schade, daß heute nicht die Sonne schien. Aber wenn sie den richtigen Eindruck von Bergen gewinnen wollte, dann mußte es ja regnen. Und geregnet hatte es, es hatte gegossen, als sie heute morgen vom Zuge kam, und es hatte genieselt, als sie und Halfdan vormittags einen schnellen Abstecher zum Flöyen hinauf machten, während Tante Bertha ihre Verwandten besuchte.

„Liebe Kinder, ich habe meine leibliche Schwester seit vier Jahren nicht gesehen, und dann soll ich auch nur eine Minute dafür opfern, mit euch auf den Flöyen raufzujockeln?“ sagte Tante Bertha.

Erst an Bord hatten sie sich wiedergefunden. Tante Bertha war in bester Stimmung und gesprächig. Ihre Wangen glühten von einem aufregenden Tag im Schoße der Familie. Wie unwirklich war doch so ein Tag, an dem die Ereignisse vieler Jahre aufgezählt und in die wenigen verfügbaren Stunden hineingepreßt werden müssen, an dem man sich selbst um Jahre zurückversetzt und in Erinnerungen untertaucht, während gleichzeitig die Gegenwart in Gestalt laut redender Kinder und eines vielbeschäftigten Mannes zu Wort kommen will. „Mama, darf ich Tildchen heute abend zu mir einladen?“ – „Frau, kannst du eben mal den Smoking nachsehen, der Abend morgen im Handelsverband schreibt Smoking vor!“ – „Die Waschfrau fragt an, ob sie statt übermorgen schon morgen kommen könnte“ – kleine Bemerkungen, die Tante Bertha zum Bewußtsein brachten, daß ihr Besuch einen Einbruch, einen Riß im Alltag bedeutete und daß dieser Riß sich wieder schließen würde, sobald sie abgefahren war. Schon jetzt würde die Schwester aus der Welt der schönen alten Erinnerungen wieder aufgetaucht und in ihr natürliches Dasein zurückgekehrt sein!

Eirin und Halfdan hatten an einem Fenstertisch auf dem Flöyen still einander gegenübergesessen. Sie hatten nicht viel geredet. Mit

der Aussicht war es auch nichts, denn in dem Nebel und Nieselregen floß alles grau in grau ineinander.

Sie hatten sich ja auch ausgesprochen. Was gesagt werden mußte, war mit wenigen Worten erledigt – ein paar Worten, die sie einander über einem Glase Sekt zuraunten. Ja, denn etwas Geringeres als Sekt tat es nicht – heute nicht. „Ich hab’ dich lieb, Eirin!“

„Und ich dich, Halfdan!“ Und da Eirins Wangen sich tiefer färbten und die samtbraunen

Augen Halfdan voll anschauten, hatte es für einen Augenblick den Anschein, als reue es ihn doch. Warum hatte er so streng an seiner Ansicht festgehalten? Warum in aller Welt hatten sie nicht sofort geheiratet, warum war dies hier nicht die Hochzeitsreise, sondern eine trockene und wohldurchdachte Amtsreise mitsamt Haushälterin und Anstandsdame?

Er beugte sich über den Tisch vor und küßte ihre Hand, die das Glas umschlossen hielt. „Eirin, ich bin sehr dumm!“

Sie sah sich verstohlen um – nein, der Kellner wandte ihnen den Rücken zu. Sie strich Halfdan blitzschnell über das Haar. „Wieso denn, Halfdan? Du bist genau das Gegenteil – du bist sehr klug! Oder jedenfalls – sehr vernünftig!“

Sie sah drollig aus, als sie dies sagte, mit einem kleinen, schalkhaften Blinken im Auge, so daß Halfdan sich wieder fing. Er drückte schnell ihre Hand.

„Einer von uns muß es ja sein, Eirin! Trink aus, wir müssen zum Schiff.“

Auf dem Weg zum Hafen redeten sie nicht mehr. Sie hielten sich nur bei den Händen gefaßt.

Eirin ging in die Kabine, um sich zurechtzumachen. Der weiche, warme, graue Wintermantel war viel zu schön für dieses eklige Regenwetter. Sie legte ihn beiseite, schlüpfte in den Ölmantel und stülpte den kleidsamen Südwester über. Zufrieden schaute sie in den Spiegel. Das gelbe Ölzeug paßte wirklich gut zu ihrer dunklen Hautfarbe und ihrem fast schwarzen Haar.

Die Handtasche – nein, die wollte sie nicht mitnehmen. Es genügte, das Taschentuch und den Kamm einzustecken. Die Handtasche mußte sie in den Koffer einschließen; sie enthielt zuviel Geld!

Sie blieb mit der offenen Tasche in der Hand stehen. Auf der Innenseite war ein kleines Namensschild eingenäht.

„Eirin L. Johnsen“ – ach, der umsichtige, fürsorgliche Halfdan! Wie

sah es ihm ähnlich, ihr eine solide, schweinslederne Handtasche zu schenken mit einem Namensschildchen darin.

Aber da hätte etwas anderes drinstehen sollen! „Eirin Hoek“, hätte da stehen sollen. Oder „Frau Dr. Hoek“. „Frau Kreisarzt Dr. Hoek“!

Der sonderbare Halfdan! Er hatte es durchaus so haben wollen. Eirin ließ sich auf den Rand des Bettes fallen. Sie war nicht einen

Augenblick allein gewesen, seit sie gestern aus Oslo abgefahren waren. Erst jetzt kam es ihr richtig zum Bewußtsein, daß die Reise ins Unbekannte begonnen hatte. Erst jetzt konnte sie wirklich überlegen, jetzt, da all das Getriebe und alle Hetze hinter ihr lagen, die vielen Tage mit Einkäufen und Schneiderei im Hause und Abschiedsbesuchen und dergleichen.

Als sie sich mit Halfdan verlobte, war sie erst zwanzig Jahre alt gewesen. Mit achtzehn kam sie in einen Kreis von Medizinern hinein. Sie war mit den jungen Leuten auf mancher Tanzerei gewesen; sie hatte so viele Krankenhausgeschichten zu hören bekommen, daß es sie schauderte; sie war mit Oskar zum Skilaufen gefahren und mit Fritjof ins Theater gegangen; sie hatte sich immer gut amüsiert und nicht eine Sekunde an eine ernste Freundschaft oder gar an eine richtige Verlobung gedacht – bis Halfdan in den Kreis trat.

Er war älter als die andern. Nun ja, fertig ausgebildete Ärzte waren sie alle, sie absolvierten ihre Assistentenzeit in verschiedenen Krankenhäusern. Aber Halfdan war auch mit dieser Assistentenzeit fertig. „Ein komischer Kauz“, sagte Oskar von ihm. „Der wird Professor, ehe wir uns überhaupt umgeschaut haben“, sagte Fritjof. „Er ist ein hervorragender Bakteriologe, so jung er auch ist“, sagte Nils.

„Uff, aber er ist doch so langweilig, dieser Hoek“, meinte Cilly, die so halb und halb mit Oskar verlobt war.

Und da Eirin immer derselben Ansicht war wie Cilly, fand auch sie Hoek langweilig. Er war wohl so ein richtiger Wissenschaftler, weltfremd und gelehrt und zerstreut – es fehlten bloß noch Schuppen auf dem Rockkragen und Ofenrohrhosen.

Aber die hatte er nicht! Keiner konnte bestreiten, daß Dr. Hoek gepflegt war bis in die Fingerspitzen. „Hoek sieht immer frisch desinfiziert aus“, sagte Fritjof.

Eirin vergaß nie den Abend und den Augenblick, als ihr klar wurde, daß Halfdan im Grunde eine sehr interessante Bekanntschaft war.

Sie waren zu einem Atelierfest bei einem von Oskars Freunden geladen. Da waren allerlei Leute, und sie hatten sich großartig unterhalten. Unter den vielen jungen Männern war auch ein etwas älterer gewesen, der Schriftsteller Storm Torgersen. Eirin hatte seine Bücher gelesen und sich geschmeichelt gefühlt, als er sich auf einem Sofakissen vor ihrem Sessel niederließ und sich ernsthaft über Literatur mit ihr unterhielt.

Er hatte ihr Wein eingeschenkt, das Glas immer wieder von neuem gefüllt, bis sie lachend die Hand darüber hielt und ihm Einhalt gebot. Er zuckte die Achseln und füllte sein eigenes – viele Male.

Als sie endlich gehen wollten – draußen dämmerte schon der Morgen –, traf es sich, daß sie und Torgersen vor den anderen die Treppe hinuntergingen. Plötzlich blieb er stehen und ergriff ihren Arm. Er versuchte, sie an sich zu ziehen. Sie leistete Widerstand, aber er war stark, und während er flüsternd auf sie einsprach, wandte sie den Kopf zur Seite, um seinen Atem zu meiden, der nach Alkohol roch und sie anwiderte.

„Eirin, du hast mich tief beeindruckt. Über dich könnte ich schreiben. Du bist so jung, so froh, so klar – du bist nicht wie die andern. Du könntest mich verstehen…“

Eirin erschrak über den seltsamen Ton in seiner Stimme. Sie versuchte sich von seinem harten Griff zu befreien.

„Lassen Sie mich los, bitte!“ „Eirin, hör mich an!“ „Lassen Sie mich sofort los!“ Sie sagte es im Flüsterton, denn sie wollte keinen Lärm schlagen.

Wenn nur die andern jetzt nicht kämen – was sollten sie denken! - „Eirin, so hör mich doch an! Wir wollen noch irgendwohin

gehen, dann sind wir die andern los und können über alles sprechen.“ Da sein Griff sich noch fester um ihren Arm schloß und Eirin

einen heftigen Schmerz verspürte, schrie sie laut auf. Im selben Augenblick tauchte eine hochgewachsene Gestalt aus

dem Halbdunkel vor ihnen auf. Eirin fühlte, wie sich der Griff Torgersens lockerte, sie sah, wie jemand Torgersen gewaltsam die letzten Stufen hinunterzerrte. Dann hörte sie einen schweren Schlag,

und der Schriftsteller plumpste wie ein Sack auf die Fliesen des Hausflurs.

Und eine Stimme, die sie nie gehört hatte, eine Stimme, die heiser war vor Erregung, drohte:

„Wagen Sie es noch einmal, in meiner Gegenwart eine Dame zu belästigen, Sie betrunkener Straßenlümmel!“

Eirin wußte nicht, wie die nächsten Minuten sich abgespielt hatten. Sie entsann sich noch undeutlich, daß draußen ein Auto anhielt, daß Storm Torgersen wieder auf die Beine kam und daß jemand ihn ins Auto brachte.

Plötzlich stand sie an dem hellen Frühlingsmorgen draußen auf der Straße und weinte in ein großes Herrentaschentuch. Und dann nahm irgend jemand ihren Arm, und kurz darauf wandelten sie und Halfdan Hoek in der aufgehenden Sonne die Kirchenstraße entlang.

Er hatte nicht viel gesagt, bis sie vor Eirins Haustür ankamen. Sie kramte in der Tasche nach dem Schlüssel, und Halfdan wartete, bis sie aufgeschlossen hatte.

Sie reichte ihm die Hand, und er behielt sie fest in der seinen. Er lächelte ihr zu, und plötzlich wunderte sich Eirin, daß sie früher nie bemerkt hatte, wie schön sein Lächeln war.

„So ein kleines Mädchen sollte immer jemand haben, der auf sie aufpaßt“, sagte Halfdan. Er hob ihre schmale kleine Hand zu sich empor und betrachtete sie. „So eine kleine Hand kann nicht um sich schlagen. Die ist dafür nicht gemacht.“

Eirin wußte später nie, wie es zu ihrer einfachen Antwort gekommen war. Und Halfdan hatte sie sicher am allerwenigsten erwartet.

„Willst du nicht morgen – ich meine heute nachmittag zu uns kommen, zu meiner Tante und mir, und bei uns Kaffee trinken?“ fragte sie.

Später, viele Monate später, hatte Halfdan ihr zu erklären versucht, daß sich bei ihr in jenen Sekunden eine schnelle Gedankenreihe abgerollt habe, bevor sie die Einladung aussprach. Diese Gedankenreihe habe etwa folgendermaßen ausgesehen:

„Im Grunde bin ich ihm sehr dankbar; wenn ich doch bloß was für ihn tun könnte! Aber jetzt muß ich machen, daß ich raufkomme. Hoffentlich merkt Tante Bertha nicht, wie spät es ist! Halfdan würde sicher der Tante Bertha gut gefallen. Eigentlich könnte ich ihn doch mal zum Kaffee einladen.“

So lud sie ihn denn ein. Und nachmittags kam er.

„Dieser Kaffee hat über mein ganzes Leben entschieden“, sagte Halfdan, als sie schon verlobt waren. „Ich fand immer, du wärst ein niedliches kleines Ding. Als ich aber sah, wie tüchtig und schnell und geschickt du im Haushalt warst, da verliebte ich mich in dich; und als ich hörte, du seist höflich und rücksichtsvoll gegen deine Tante, da gewann ich dich ganz einfach lieb; und als ich entdeckte, daß du ganz vernünftig reden konntest und nicht nur einen Haufen dummes Zeug, da kam mir allmählich der Gedanke, daß du sicher die einzig Richtige für mich seist; und als Tante Bertha mir erzählte, du habest in deinem ganzen Leben noch nie eine Puderquaste oder einen Lippenstift besessen – da – ja, da – “

„Da hieltest du um meine Hand an“, sagte Eirin. Eirin saß noch immer auf dem Bettrand und grübelte. Wieviel

doch seitdem geschehen war! Tante Bertha war entzückt von der Verlobung. „Hättest du Halfdan nicht genommen, dann hätt’ ich‘n selber

genommen!“ sagte Tante Bertha, deren Sprache immer um einige Grade weniger gepflegt war, je fröhlicher sie war. Und jetzt war sie ganz aus dem Häuschen vor Freude.

Die prachtvolle, liebe Tante Bertha! Sie hatte Eirin Mutter und Vater ersetzt. Sie war die jüngere Schwester ihres Vaters, und Eirin war an dem Tag zu ihr gekommen, als ihr Vater starb. Die Mutter war gestorben, als Eirin noch in der Wiege lag, den Vater verlor sie mit acht Jahren.

Seitdem war Tante Bertha alles für sie gewesen. Sie hatte ihre Kleider genäht, ihre Tränen getrocknet, sie durch alle Kinderkrankheiten hindurch gepflegt, ihre Strümpfe gestopft, sie zu allen Examensfeiern in die Schule begleitet, ihr die Schulaufgaben abgehört – alles hatte Tante Bertha getan. Und Tante Bertha hatte ihr geraten, aufs Handels gymnasium zu gehen – und Tante Bertha hatte ihr gleich hinterher eine Bürostellung verschafft.

Tante Bertha war es auch, die gesagt hatte, sie müsse einen Krankenpflegekursus mitmachen, und zwar je eher, desto besser. Wenn sie Arztfrau werden sollte, mußte sie doch ihrem Mann bei seiner Arbeit helfen können!

Und Eirin besuchte mit einigen Freundinnen zusammen, die sie auch dafür gewonnen hatte, einen Krankenpflegekursus. Sie hatten ihren Spaß bei der Sache. Sie wickelten sich gegenseitig die seltsamsten Verbände um, sie schickten einander zum Jux ins Bett und spielten Krankenhaus, und Eirin setzte eine strenge

Oberschwestermiene auf und maßregelte die andern, so daß die Krankenschwester, die den Kursus leitete, sie zur Ordnung rief.

Dann mußten sie Kinderpflege lernen und bekamen eine Zelluloidpuppe ausgehändigt, die sie aus- und anzogen, badeten und wuschen und am Hinterteil sorgfältig mit Talkum puderten.

Sie fanden das alles zuerst komisch. Aber es machte auch Spaß , mit der weichen, schneeweißen Gaze und der flaumleichten Watte umzugehen – und den jungen Mädchen kitzelte der ungewohnte Krankenhausgeruch in der Nase. Der Kursus fand im Unterrichtssaal eines Schwesternheimes statt. Die Schwestern umschwebte natürlich auch immer ein wenig Ätherduft. Und wenn sie ihnen in den Gängen begegneten, dann versetzte es ihnen einen ganz kleinen Stich; denn sie beneideten sie um die kleidsame Tracht.

Eirin ließ sich kurzerhand ein paar schicke weiße Kittel nähen und kleine Hauben, die ihrem Gesicht sehr schmeichelten – das sollte ihre Schwesterntracht sein. Denn sie war fest entschlossen, Halfdans „Sprechstundenhilfe“ zu werden. Sie wollte ihm bei seiner Arbeit zur Hand gehen, ihm durch dick und dünn zur Seite stehen, sie wollte Glück und Leid und Enttäuschungen mit ihm teilen.

Sie hatte kürzlich amerikanische Arztfilme gesehen und ihre Freude an dem Anblick der blitzblanken Sprechzimmer gehabt mit ihren glänzenden Kacheln, weißen Möbeln, geschliffenen Spiegeln und vernickelten, schimmernden Gegenständen überall.

Halfdan strahlte vor Glück. Er war soeben als Assistenzarzt bei Oberarzt Dr. Brattholm angekommen, einem der tüchtigsten Chirurgen der Stadt. Er genoß die Arbeit. Denn er fühlte, daß Brattholm mit ihm zufrieden war.

„Sie werden Ihre Bakterien auf Eis legen müssen, junger Mann!“ sagte Brattholm. „Sie sind wie geschaffen für die Chirurgie.“

Und Halfdan gehorchte lächelnd. Er packte sein Mikroskop vorläufig weg. Die Bakterien mußte er zurückstellen, er konnte diese Liebhaberei wieder hervorholen, wenn – ja, wenn er einmal Zeit dafür übrig hatte.

Zunächst operierte er Blinddärme und Brüche, und bei größeren Operationen assistierte er. Er konnte mit angehaltenem Atem daneben stehen und den Chef bewundern, wenn dieser eine schwierige Trepanation vornahm oder eine gefährliche Unterleibsoperation ausführte. Brattholm hatte sicherlich recht, wenn er sagte, daß Halfdan zum Chirurgen geboren sei.

Seine Finger waren kräftig und geschickt, und er hatte eine ungewöhnlich sichere Hand. Die Instrumente wurden zu lebendigen, gehorsamen Dienern. Er legte Kanülen ein, er setzte Klammern an, er schnitt, er nähte, alles mit der gleichen Fixigkeit, der gleichen Sorgfalt und Genauigkeit.

„Dr. Hoek näht wie eine ausgelernte Schneiderin“, wagte die Operationsschwester zu scherzen. „Das ist ja die reinste Kunststickerei!

Ich finde, der Doktor macht Unsichtbarkeitsstiche“, sagte die Hilfsschwester, ein molliges kleines Ding von fünfundzwanzig Jahren, die heimlich und hoffnungslos in Hoek verliebt war. Halfdan war übrigens selbst stolz auf seine „Unsichtbarkeitsstiche“. Als er eines Tages – ganz selbständig – ein armes kleines Mädchen zusammenflicken mußte, das mit dem Fahrrad kopfüber gestürzt war und sich das ganze Gesicht zuschanden geschlagen hatte, waren allerdings Kunststopfen und Unsichtbarkeitsstiche am Platze, und das Ergebnis war denn auch so gut, daß Brattholm ihn an den Schultern rüttelte und „Bravo, junger Mann“ sagte.

O ja. Halfdan war in seinem Element. Er hätte keine Arbeit finden können, die ihm besser gefiel.

Im nächsten Jahr wollten sie heiraten. Dann hoffte er eine Station zu bekommen, und mit dem Gehalt eines Stationsarztes konnten sie einen Hausstand gründen.

Einstweilen nähte Eirin Servietten und Handtücher, daß es nur so rauchte, und ihre Aussteuertruhe füllte sich langsam mit Stößen von schimmernd weißer Wäsche.

Eirin stand von dem Bettrand auf. Sie hatte sich ganz in ihre Gedanken versponnen. Langsam kletterte sie nach oben und ging aufs Deck hinaus. Es war noch immer grau und dunstig, und es nieselte. Sie stellte sich an die Reling und starrte auf die Schaumkämme. Und mit den Rändern der Wellen, die der Bug aufpflügte und die eilig über die dunkle Wasserfläche davonliefen, ließ sie, das stetige, einschläfernde „Dunkedonk“ der Maschine im Ohr, ihren Gedanken wieder freien Lauf.

Sie hatten geplant, im Sommer zu heiraten. Es sollte eine Hochzeit werden mit Birkenlaub, mit der ganzen Blütenpracht des Sommers und mit einer lustigen Gesellschaft unter freiem Himmel. Vielleicht zu Johanni! Sie träumten und freuten sich und hatten einander lieb.

Und dann kam der Schlag.

Halfdans Mutter war Witwe. Sie hatte viele Jahre von einer Pension der Firma gelebt, in der ihr Mann angestellt gewesen war. Plötzlich machte diese Firma Bankrott. Die Mutter besaß nichts weiter als ein paar hundert Kronen auf der Bank und die Möbel ihres gemütlichen Zimmers im Altersheim. Hier blieb keine Wahl. Halfdan mußte einspringen. Aber das Altersheim kostete monatlich hundertfünfzig Kronen! Und wenn von einem bescheidenen Assistentengehalt hundertfünfzig Kronen abgezogen werden, so bleibt nicht mehr viel übrig. Ja, auch wenn er Stationsarzt werden sollte, würde es noch knapp sein. Denn Eirin sollte es gut haben. Er wollte nicht heiraten und ihr in engen, trübseligen Verhältnissen ein Dasein zumuten, bei dem sie ewig und immer den Pfennig würde umdrehen müssen.

Halfdans Gesicht wurde müde und grau. Er war enttäuscht, enttäuscht wie ein Kind, das sich monatelang sehnsüchtig auf Weihnachten freut und dann ausgerechnet Heiligabend krank wird.

Entweder mußte die Heirat auf unbestimmte Zeit verschoben werden, oder – oder -

Er grübelte, daß tiefe Furchen sich in seine Stirn eingruben. Oder – er mußte zusehen, daß er mehr verdiente. Viel mehr! Privatpraxis? Nein, nicht jetzt. Er konnte es sich einfach nicht leisten, ein Sprechzimmer einzurichten. Er hatte nicht die Mittel für die Instrumente und die Ausstattung, die sich auf Tausende von Kronen belaufen würden. Er war ratlos.

Da wollte es das Geschick, daß der Kreisarzt in Frostviken starb. Brattholm brachte Halfdan, ohne daß er es allerdings selbst ahnte, auf eine Idee:

„War ein sonderbarer Kauz, der Alte oben in Frostviken. Er fühlte sich, glaube ich, da oben in der Einsamkeit nördlich vom Polarkreis ganz wohl. Kalt und ungemütlich war es da, pfui Spinne! Möcht’ wirklich wissen, ob es so leicht sein wird, die Stelle neu zu besetzen – schön, Hoek, wir müssen jetzt anfangen, ich operiere selbst und überlasse Ihnen die Kunststopferei.“

Es war eine einfache Operation, die da unter den geübten Händen des Oberarztes glatt und schnell vonstatten ging. Und während Halfdan „kunststopfte“, klangen Brattholms Worte ihm noch in den Ohren:

„Möcht’ wirklich wissen, ob es so leicht sein wird, die Stelle neu zu besetzen.“

Vielleicht war das eine Chance, selbst wenn man erst achtundzwanzig war.

Halfdan wälzte sich nachts in seinem Bett hin und her. Ihn peinigte der Gedanke, eine Arbeit wieder im Stich lassen zu müssen, die er liebte, eine Arbeit, so reich an Möglichkeiten – eine vielversprechende Zukunft, alles das, was er sich in dieser Welt wünschte. -

Nein. Nicht alles! Das Allerteuerste, was er besaß, das würde er mitnehmen können. Und was bedeuteten eigentlich Karriere und Ehrgeiz gegenüber dieser einen wunderbaren Gewißheit, daß er Eirins Liebe besaß?

Am nächsten Tage bewarb er sich. Kurze Zeit darauf wurde die Kreisarztstelle in Frostviken mit Dr. Halfdan Hoek besetzt, achtundzwanzig Jahre alt, Staatsexamen summa cum laude, ungewöhnlich vielversprechender Chirurg, Bakteriologe aus Neigung.

„Der Kuckuck hole Sie, Mann!“ schimpfte Dr. Brattholm. „Soll ich den besten Assistenten hergeben, den ich jemals gehabt habe – es ist doch wohl nicht das dreckige Geld, das Sie dahin zieht, Hoek?“

„Nein“, sagte Halfdan leise. „Aber ich bin verlobt und möchte gern heiraten, und dazu hätte ich dann die Möglichkeit.“

Brattholm sah ihn durch seine Brille fest an. „Wenn Ihre Verlobte nicht ein Engel in Menschengestalt ist,

dann hält sie es keine vierzehn Tage in Frostviken aus. Ist sie Osloerin? Aha, nun, ich möchte ungern Ihr Glück zerstören, junger Freund, aber wie gesagt – Frostviken trägt seinen Namen zu Recht. Nicht einmal die Blume der Liebe gedeiht dort oben, obwohl sie, wie man sagt, genügsam und abgehärtet ist. Auf Wiedersehen, Herr Kreisarzt!“

Brattholms Worte ließen Halfdan keine Ruhe. Er war klug, der alte Oberarzt. Vielleicht hatte er recht. Ein einsames Doktorhaus in einem unwirtlichen, windigen Kreis, Dunkelzeit, Winterstürme – ob das etwas für seine feine kleine Eirin war?

Eines Abends sprach er sich ganz offen mit ihr aus – mit ihr und Tante Bertha. Er wußte, Eirin würde seinem Plan zustimmen. Er wußte, sie würde verlangen, daß sie sofort heirateten, und er würde erneut den Beweis erhalten, daß ihre Liebe echt war. Diese Liebe konnte von keinem Wintersturm weggeweht, von keiner Dunkelheit verfinstert, von keiner Polarkälte abgekühlt werden.

Halfdan hörte ihr mit einem matten kleinen Lächeln zu. Wie jung, unbekümmert und vertrauensvoll sie war, sein kleines Mädchen – so sicher und zuversichtlich in ihrer unerschütterlichen Liebe, so voller Optimismus, voller Glaube an die Zukunft und voller gesundem, neugierigem Appetit auf das Leben.

Er wandte sich in seiner Hilflosigkeit an Tante Bertha. Sie saß da, schweigend und nachdenklich, und blickte von einem zum andern.

Plötzlich legte sie ihre breite Faust gegen die Tischkante – eine Angewohnheit von ihr, wenn sie ihren Worten Gewicht verleihen wollte:

„Hör zu, Eirin! Und du auch, Halfdan! Ich denke, wir werden dies Knäuel entwirren können. Nimm Eirin mit dir dort hinauf. Du müßtest ohnehin eine Sprechstundenhilfe haben, nicht wahr? Gut! Eirin braucht keinen Lohn. Dann benötigst du eine Wirtschafterin. Ich bewerbe mich darum. Ich brauche auch keinen Lohn. Es wäre also eine geschickte Finanzoperation von dir, wenn du uns anstellen würdest. Wir bleiben den Winter über oben. Wenn Eirin dann noch immer den Wunsch hat, dich zu heiraten, und sie hat den Mut, Kreisarztfrau in Frostviken zu werden, dann heiratet, und meinen Segen habt ihr!“

„Tante Bertha, du bist – “ Ein Tausendsassa, wollte Halfdan sagen. Aber Eirin unterbrach

ihn hastig. Sie richtete die großen samtbraunen Augen auf ihn – die waren voller Tränen und Vorwürfe.

„Pfui, ihr solltet euch alle beide schämen! Meint ihr, ich sei so ‘n verzogenes Zierpüppchen, das nicht ordentlich zupacken kann? Meint ihr, ich liebe Halfdan, oder aber, ich hätte es darauf abgesehen, eine wohlhabende Arztfrau zu werden mit Persianer und Bridgeklub? Pfui, pfui, daß ihr so an mir zweifeln könnt!“

Und Eirin schluchzte, als sollte ihr das Herz brechen. In diesem Augenblick kamen sich Halfdan und Tante Bertha vor

wie zwei Verschworene. Aber es kostete sie viel Diplomatie und viel Überredungskunst, bis Eirin, wenn auch widerstrebend, dieser Regelung zustimmte und schließlich in bester Stimmung an jenem Oktobertag den Zug nach Bergen bestieg.

Und nun hatte die Reise begonnen. Eirin hörte die Schritte hinter sich. Dann fühlte sie einen Arm um

ihre Schultern und einen wannen Hauch an ihrer Wange. „Da bist du ja!“

„Hmmm“, schnurrte Eirin wie ein junges Kätzchen, das man hätschelt. Sie rieb ihren Kopf an seiner Schulter.

„Schön, daß wir soweit gekommen sind, du!“ „Hmmm.“ „Schau mal! Im Norden hellt es sich auf!“ Eirin blickte in die Ferne. Die Wolkendecke war etwas

aufgerissen. Ein Streifen blauen Himmels glänzte auf. „Es ist das Licht über unserer neuen Heimat, Halfdan, über

unserem Märchenland. Denn weißt du – “, Eirin sah ihn groß an, „wenn auch der Ort einen so abscheulichen Namen hat und Frostviken heißt, so wird es ein Märchenland sein – wenn du und ich es in Besitz nehmen!“

Halfdan drückte ihren Kopf an seine Brust. Seine Augen suchten das Nordlicht.

2

Arme Tante Bertha! Sie hatte von dem üppigen Abendbrottisch aufstehen müssen, sie

hatte obendrein noch sehr schnell aufstehen müssen, sie hatte sich nicht einmal Zeit gelassen, ihre Serviette zusammenzulegen. Auf ihrem Teller lag noch ein Stück kaltes Geflügel und daneben eine angebissene Scheibe Brot.

Eirin wußte nicht recht, ob sie ihr nachgehen sollte. Vielleicht müßte sie der Tante ihre Hilfe anbieten – obwohl – wie kann man eigentlich einem seekranken Menschen helfen? Die Leiden der Seekrankheit muß man ganz und gar allein durchstehen. Außerdem fühlte Eirin sich selbst nicht so ganz sicher. Gesetzt den Fall, sie würde auch krank werden, dann wäre es doch für Halfdan sehr ärgerlich, allein dazusitzen, mit leeren Stühlen zu beiden Seiten.

So beschwichtigte Eirin ihr Gewissen und versah sich ruhig und gelassen mit Schinken und Rührei.

Tante Bertha war in ihre Koje gegangen, und da blieb sie während der ganzen Reise.

„Ich bin so komisch eingerichtet, weißt du“, vertraute sie Eirin an. „Wenn ich nur langliegen kann, dann geht es mir gut, dann mag der Dampfer von mir aus gerne kopfstehen, das stört mich nicht. Aber sowie ich versuche, aufrecht zu gehen, ist es um mich geschehen.“

Halfdan ging zu ihr und brachte ihr Tabletten und Trost und Aufmunterung. Und wenn Eirin abends in die Kabine kam, dann hielten sie und Tantchen immer einen gemütlichen Schwatz.

Dieser erzwungene Ruhe gab Tante Bertha Gelegenheit, über das bevorstehende Abenteuer sorgfältig nachzudenken. Die beiden jungen Leute aber fanden Zeit genug, sich zu unterhalten und allein zusammenzusein.

Tante Bertha hatte soeben ihr Frühstück in die Kabine bekommen. Gestern war Halfdan in Maly an Land gegangen und hatte Obst und illustrierte Zeitungen besorgt und außerdem noch einen hübschen kleinen Blumenstrauß. Tante Bertha kam sich wie eine Prinzessin vor, während sie in der hellen, luftigen Kajüte lag, in der sich die Seeluft mit frischem Blumenduft und einem leisen Hauch des Parfüms mischte, das allen Sachen Eirins anhaftete. Wie Tante Bertha diesen frischen, zarten Duft liebte! „Es riecht nach Eirin“, dachte sie so oft, wenn sie Eirins Sachen aufräumte, Eirins

Kleider nachsah oder ihre Kommodenschubladen ordnete. Ja! Sie hatte ihr kleines Mädel sicher verwöhnt, sie mußte es zugeben. Aber Eirin hatte keinen Schaden genommen. Sie war gut und bescheiden, lieb und rücksichtsvoll. Und dann war sie ja das einzige, was Tante Bertha auf der ganzen Welt hatte. Keine Mutter konnte ihr Kind mehr lieben, als sie Eirin liebte. Keine Mutter konnte zärtlicher um ihr Kind besorgt sein. Keiner Mutter konnte das künftige Glück ihres Kindes mehr am Herzen liegen als ihr.

Darum war Tante Bertha jetzt so glücklich. Eirin hätte keinen besseren Mann bekommen können, selbst wenn Tante Bertha ihn ausgewählt hätte. Halfdan war zuverlässig und tüchtig ein prächtiger junger Mann. Und dann diese kluge Einsicht bei ihm, Eirin nicht so Hals über Kopf heiraten zu wollen. Sie sollte erst wissen, worauf sie sich eingelassen hatte. Und soviel wußte Tante Bertha jetzt schon: ein Tanz auf Rosen würde das Leben an Halfdans Seite nicht werden! Trotz ihrer großen Liebe zu Eirin war Tante Bertha vernünftig genug, ihr fürs erste ein Leben mit Schwierigkeiten und Kämpfen zu wünschen. Denn das gehört dazu, wenn ein Mensch heranreifen soll – dachte Tante Bertha. Ein Päckchen mit Sorgen, Problemen und Kämpfen hielt sie für die beste Medizin, die das Leben selbst zu vergeben hat. Wenn sich in den kommenden Monaten die große Liebe der beiden bewährte, wenn sie ihnen half, aller Widerwärtigkeiten, die ihrer warteten, Herr zu werden, dann hätten sie gewonnen, und ein reiches und glückliches Leben würde vor ihnen liegen.

Tante Bertha legte den Kopf auf die Kissen zurück und lächelte. Sie faltete unwillkürlich die Hände. Sie war dankbar für alles.

In der langen Dünung schaukelte das Schiff leise und weich. Tante Bertha schloß die Augen. Sie war nicht seekrank, wenn sie nur still daliegen durfte – ganz still! Noch eine Weile lauschte sie dem gleichmäßigen Stampfen der Maschine. Dann schlief sie ein.

Der Dampfer hatte am Kai festgemacht. Eirin stand an Deck und sah zu, wie ein- und ausgeladen wurde. Sie hatte ihren Spaß an den Rufen und geschäftigen Anweisungen in dem fremden Dialekt, der hier in einem singenden nordländischen Tonfall gesprochen wurde und sich mit jeder Ladungsstelle veränderte.

Neue Passagiere kamen an Bord. Eirin fiel eine ganz junge Frau auf, die schwerfällig und vorsichtig in die dritte Klasse hinunterstieg. Eirin lächelte. So häßlich und unförmig würde sie auch einmal werden – sie hoffte und wünschte es jedenfalls. Es lag etwas

Rührendes über so einer jungen Frau, die ein Kind erwartete. In ihrem hübschen Gesicht stand ein feines, glückliches Lächeln. Sie freute sich sicher auf das Kind.

Eirin hätte sich mit der jungen Frau gern ein wenig unterhalten. Diese aber verschwand in einer der großen Gemeinschaftskabinen vorn, und da rief Halfdan auch schon nach ihr.

Er kam mit einem hochgewachsenen Herrn an, den Eirin bislang nicht gesehen hatte. Er mußte auch eben erst an Bord gekommen sein.

Halfdan stellte ihn vor. Es war ein etwas älterer Studiengenosse. Fredrik Branstad, zweiunddreißig Jahre alt, ein heller und energischer Kopf, wollte sich als Augenarzt spezialisieren.

Eirin fiel es schwer, ihn nicht anzustarren. Der Mann war ausgesprochen schön. Etwas Strahlendes ging von ihm aus. Er war braun gebrannt, hatte blaue Augen und dichtes dunkelblondes Haar. Wenn er sprach oder lachte, blitzten zwei Reihen blendendweißer Zähne auf.

Der Dampfer legte ab. Eirin stand zwischen den beiden jungen Leuten und winkte ein paar Kindern auf dem Kai zu. Plötzlich griff Fredrik Branstad in die Tasche und ließ einen Regen von Kupfergeld auf den Kai klirren. Die Kinder stürzten sich mit lautem Geschrei über die Münzen, und Fredrik lachte.

„Auf so etwas wäre Halfdan nie verfallen“, dachte Eirin. Sie schaute auf ihren Verlobten. Auch er sah gut aus. Er hatte

klargeschnittene, regelmäßige Züge, eine helle Haut und helles Haar, und die blauen Augen sahen unter geraden, dichten Brauen die Menschen voll an. Halfdan war breiter und kräftiger als Fredrik, hatte aber nichts von dessen lässiger Eleganz.

„Er könnte ein guter Tänzer sein“, dachte Eirin, als ihr Blick sich wieder Fredrik zuwandte.

Am Abend fand sie ihre Vermutung bestätigt. Einer der Passagiere setzte sich im Salon ans Klavier und klimperte einen Walzer. Ehe Eirin es sich versah, hatte Fredrik sie in die Mitte des Raumes geführt. Er tanzte wirklich gut. Es wurde ein vergnügter Abend. Fredriks gute Laune schien die Passagiere anzustecken. Die Serviermädchen hatten alle Hände voll zu um Flaschen und blankgeputzte Kühler herbeizutragen, per Salon war erfüllt vom fröhlichen Geschnatter, vom Rufen und Lachen der ausgelassenen Gäste.

So lustig war es noch nicht gewesen, seit sie an Bord gekommen waren, dachte Eirin.

Halfdan tanzte wenig. Er besaß genug rhythmisches Gefühl, um nicht gerade ein schlechter Tänzer zu sein; aber er tanzte nicht sonderlich gern und fühlte sich deshalb auf dem Parkett nicht sicher.

Fredrik blickte auf die kleine, schlanke Gestalt hinunter, die er im Arme hielt. Dieses zierliche Ding hatte Rhythmus im Leibe! Wie sie ihm folgte, leicht und geschmeidig, selbst bei den schwierigsten Figuren!

„Wir passen gut zueinander“, raunte er ihr zu. Sie nickte lächelnd. Und sie tanzten zusammen, bis die Musik

aufhörte. „Schade, daß ich morgen schon wieder von Bord gehen muß“,

sagte Fredrik. Eirin sah auf. Sie machte gar nicht erst den Versuch, ihre

Enttäuschung zu verbergen. „Wie traurig! Wie weit fahren Sie mit?“ „Bis Tromsö. Muß dort einen Erbonkel besuchen. Da ich gerade

in der Nähe war, konnte ich das Stückchen auch noch weiter rauffahren. Er ist alt, man kann nie wissen, wie lange er noch lebt. Und wenn er mir schon sein ganzes Vermögen vermacht, so muß ich ihm doch diese Aufmerksamkeit erweisen!“

Fredrik lachte, und Eirin nickte verständnisvoll. „Und dann -?“ fragte sie kurz darauf. Sie wollte, daß er noch ein

bißchen mehr erzählte. „Ja, und in einer Woche ziehe ich dann wieder südwärts. Diese

Reise ist ein verspäteter Sommerurlaub, wissen Sie, und jetzt ruft die Pflicht. Ich will ins Ausland und soviel über Augen lernen, wie ich nur kann – zuerst nach Deutschland, später nach England. Vielleicht mache ich Weihnachtsferien in Italien, ich habe mir immer gewünscht, Rom und Neapel zu sehen. Ich schicke Ihnen eine Karte von der Blauen Grotte!“

Eirin wurde nachdenklich. Rom, Neapel, die Blaue Grotte - und sie fuhr nach Frostviken in die Kälte, in die Dunkelheit, in die Einsamkeit!

Da schwieg die Musik, und Fredrik führte sie an den Tisch zurück, an dem Halfdan saß und wartete. Sie suchte seine Augen.

Ihr Herz schlug schneller, ihre Wangen waren gerötet. Was konnten ihr Kälte und Dunkelheit schon anhaben! Sie hatte ja

Halfdan, sie hatte den besten Mann der Welt zur Seite – den einzigen Mann, den sie herzlich liebte!

Fredrik forderte ein junges Mädchen am Nachbartisch auf. Halfdan drückte Eirins Hand.

„Willst du mit mir tanzen?“ Eirin gab den Händedruck zurück. „Ich bin müde. Ich möchte am liebsten ganz still hier bei dir

sitzen. Nein, laß meine Hand nicht los, Halfdan!“ Sie wurden von einem Servierfräulein unterbrochen. Ob Herr Dr.

Hoek so freundlich sein würde – einer von den Passagieren in der dritten Klasse sei gefallen und habe sich den Fuß verrenkt.

Halfdan drückte noch einmal Eirins Hand und stand auf. Im Vorübergehen lächelte er Fredrik zu.

„Du mußt dich solange um Eirin kümmern! Ich muß Praxis machen“, rief er und folgte dem jungen Mädchen.

„Da hatte ich aber Glück“, sagte Fredrik, als er sich auf Halfdans freien Platz setzte.

„Ja, da hatten wir Glück! Man hätte ja auch Sie holen können“, fuhr es Eirin heraus.

„O nein, ich sehe nicht so vertrauenerweckend aus, das müssen Sie doch zugeben – kann mir’s einer ansehen, daß ich Arzt bin?“

„Nein“, bestätigte Eirin. Sie zwinkerte ihm munter zu. „Sie sehen aus wie – wie“, sie suchte nach einem treffenden Vergleich.

„Na – wie was?“ „Wie ein reicher Schiffsreedersohn – glaube ich.“ Fredrik lachte laut. „Und Halfdan?“ O ja, er sieht aus wie ein Arzt. Er könnte gar nichts anderes sein!

Fredrik wollte von neuem aus der Flasche einschenken. Sie war leer. Ohne zu fragen, hielt er das Servierfräulein an und bestellte. Gleich darauf stand ein großer Sektkühler auf ihrem Tisch, aus dem ein goldener Flaschenhals hervorsah.

„Ich glaube, Sie sind verrückt“, sagte Eirin. „Ich sähe ja einem reichen Schiffsreedersohn ähnlich, fanden Sie.

Da muß ich mich wohl auch so benehmen! Prost, Eirin!“ Der Tonfall und die Art, wie er ihren Vornamen aussprach,

ließen Eirin aufhorchen. Plötzlich mußte sie an den Abend denken, als sie auf dem Atelierfest gewesen war. Storm Torgersen fiel ihr ein, seine brennenden Augen, die flüsternde, drängende Stimme. Und ihre Gedanken machten einen Sprung: Wann hatte sie das letzte

Mal Sekt getrunken? Das war auf Flöyen gewesen, zusammen mit Halfdan vor wenigen Tagen erst…

Es schien, als ob der eiskalte, perlende Champagner, statt ihr den Kopf zu verdrehen, sie immer nüchterner machte. Saß sie etwa da und ließ sich von einem Paar strahlender blauer Augen und einer weichen, warmen Stimme betören, während der, den sie liebte, den sie heiraten wollte, gegangen war, um einem armen Menschenkinde zu helfen? Sie rief sich selbst energisch zur Ordnung und schämte sich. Lieber, guter, pflichttreuer Halfdan.

Fredrik schaute sie an und hob das Glas. „Wohlsein! Wollen wir tanzen?“ Einer der Passagiere hatte einen Plattenspieler geholt, und jetzt

klang ein schmachtender argentinischer Tango durch den Salon. „Ich bin müde“, versuchte Eirin sich zu entschuldigen. „Nur diesen letzten Tanz noch!“ Nein, wer konnte diesen bittenden Augen widerstehen? „Gut also – aber nur diesen einen“, murmelte Eirin. Und dann

glitt sie mit halbgeschlossenen Augen durch den Raum. Eirin tanzte leidenschaftlich gern. Und dieser Tango, dieser schöne Mann, das dämmrige Licht und die sonderbare Stimmung, das Bewußtsein, auf See zu sein, hoch im Norden, zu wissen, daß jede Umdrehung der Schiffsschraube sie der Dunkelheit und Einsamkeit näher brachte – sollte sie nicht diese letzten kurzen Augenblicke hier genießen dürfen, ehe sie sich dem schwarzen Winter in die Arme warf? – Sie fühlte, wie Fredrik seinen Arm fester um sie legte. Wie dieser Mann tanzen konnte!

Als die Musik verstummte, standen sie voreinander und sahen sich mit verwunderten Augen an, als seien sie eben erwacht. Er hielt immer noch den Arm um sie gelegt.

„Eirin“, flüsterte er. „Eirin, weshalb habe ich dich nicht früher getroffen -?“

Er beugte sich nieder und küßte ihre Hand. Da riß sie sich los und rannte weg. Vor der Kabinentür blieb sie

einen Augenblick stehen. Sie mußte verschnaufen und sich zusammennehmen, ehe sie zu Tante Bertha hineinging.

„Nun, mein Kind? War es nett?“ Tante Bertha blinzelte sie schlaftrunken an.

„Ja, sehr gemütlich. Aber ich bin müde. Jetzt freue ich mich aufs Bett.“

„Ich bin auch so schläfrig. Gute Nacht, Kindchen!“

„Gute Nacht, Tante Bertha!“ Eirin lag noch stundenlang wach und starrte in die Dunkelheit.

Sie lag auf dem Rücken mit den Händen unterm Nacken. Ihr Herz pochte, und die verrücktesten Gedanken tobten in ihrem Kopf herum.

Das Leben war wirklich nicht immer leicht. Nur gut, daß Fredrik morgen von Bord ging! Aber so ganz recht

war es ihr auch wieder nicht.

3 Eirin erwachte von einem Klopfen an der Tür. Sie setzte sich im Bett hoch.

„Herein!“ Es war Halfdan – ein stoppliger, etwas rotäugiger, übernächtigter

Halfdan. „Guten Morgen, ihr Siebenschläfer! Wißt ihr, daß es neun Uhr

ist?“ Tante Bertha murmelte etwas unten aus ihrem Bett. Eirin, die im

oberen Bett thronte, strich Halfdan über den Kopf. „Du siehst müde aus, mein Junge. Hat es lange gedauert gestern?“

„Ja, bis jetzt! Wir haben heute morgen einen neuen Passagier bekommen, weißt du?“‘ „Ja, ja, und ich freue mich. Denn ich dachte wirklich – nein, du verstehst natürlich nicht viel davon. Es war die junge Frau! Du hast sie doch gestern gesehen, als sie an Bord kam, nicht? Na ja, die ist die ganze Treppe runtergefallen, weißt du, und hatte sich einen Knöchel verstaucht. Das war das eine – ich habe ihn gut verbunden –, aber es ist ja nicht gerade das Gescheiteste, was man tun kann, eine Treppe runterzufallen, wenn man im neunten Monat ist. Und das Ende vom Liede war denn auch, daß vor einer Stunde ein kleines Mädchen angekommen ist, winzig klein, sag’ ich dir. Es ist etwa drei Wochen zu früh geboren. Der Kapitän soll es jetzt gleich taufen, und du sollst Pate stehen, Eirin!“

Eirin hörte mit offenem Mund zu. „Warst du – war es –, hattest du denn Hilfe?“

„Aber ja, eine beherzte Frau aus Baisfjord! Sie hat selbst sechs zu Hause und war so tüchtig, daß es ein Vergnügen war. Du mußt schnell aufstehen, Eirin! Frau Taraldsen, die junge Mutter also, ist in die Krankenkajüte gebracht worden, und dort soll die Kindtaufe stattfinden. Kannst du in zwanzig Minuten fertig sein?“

„In fünf! Mach schnell, daß du rauskommst!“ Unvergeßlich blieb Eirin das Taufzeremoniell in der Krankenkajüte. Auf dem schmalen Bett die blasse, aber glückliche junge Mutter. Auf einem Hocker neben ihr war ein kleiner Kasten festgeschnallt, der mit Hilfe von Servietten, Handtüchern, Kissen und einer kleinen Wolldecke als Bettchen zurechtgemacht war, und mitten darin war undeutlich ein kleines, runzeliges rosenrotes Frätzchen zu erkennen. Die Mutter

hatte darauf bestanden, daß das Kind sofort getauft würde. Es war ja so klein und zart!

Da standen nun Halfdan und Eirin. Selbst Tante Bertha hatte aus der Falle kriechen müssen, um dabeizusein. Die Frau aus Baisfjord hielt das Kind. Als fünfter Pate wurde Fredrik herbeigerufen. Eirin kam plötzlich zum Bewußtsein, daß er gar nicht hierherpaßte. Er war der einzige, der verlegen und unbeteiligt dreinschaute.

Dann folgte die einfache Taufhandlung. Eirin wischte das Köpfchen ab, und auf einmal fühlte sie einen Kloß im Hals. Sie bat, das Kindchen wieder in den „Babykorb“ zurücklegen zu dürfen. Es war so ein seltsames Gefühl, mit einem zwei Stunden alten Kind in den Armen dastehen zu müssen.

Und dann hatte sie noch einen besonderen Grund, gerührt zu sein. Als der Kapitän fragte, wie das Kind heißen sollte, antwortete die Mutter kurz und ohne Zögern: Kristine. So heiße die Großmutter des Kindes, und es sei von jeher beabsichtigt gewesen, es Kristine zu nennen, wenn es ein Mädchen würde.

„Nur Kristine oder noch mehr?“ fragte der Kapitän. „Ja – von einem weiteren Namen haben wir nie gesprochen.“ Die

junge Mutter richtete plötzlich den Blick auf Halfdan. „Wäre es ein Junge gewesen, dann-“ Ihre Augen wanderten zu

Eirin hinüber. „Wie heißen Sie, Fräulein?“ „Eirin – Eirin Louise Johnsen.“ „Eirin?“ Es war, als ob Frau Taraldsen dem Namen lauschte.

„Wie hübsch das klingt. Den Namen habe ich noch nie gehört.“ Sie wandte den Kopf und sah den Kapitän an.

„Eirin Kristine soll es heißen!“ In der Krankenkajüte herrschten Frieden und Glück. Mutter und Kind schliefen. Keines wurde wach, als Halfdan und

Eirin hereinschlichen. Eirin beugte sich über das Kind. Mit behutsamen Händen befestigte sie ein dünnes goldenes Kettchen um Eirin Kristines Hals. An der Kette hing ein kleines goldenes Herz, auf dem der Name „Eirin“ eingraviert war.

Eirin hatte es selbst als Taufgeschenk bekommen, und es hatte sie durch ihre ganze Kindheit und Jugend als eine Art Amulett begleitet.

„Es sollte mir Glück bringen“, flüsterte sie. „Immer habe ich mir eingebildet, wenn ich es ständig tragen würde, müßte das Glück zu mir kommen.“ Sie drehte sich zu Halfdan um und nahm seine Hand. „Und jetzt hat es seine Mission bei mir erfüllt. Es hat mir das Glück

gebracht; nun mag es der kleinen Eirin Kristine als Talisman dienen.“ Halfdan nickte zustimmend.

„Mein kleines Mädchen!“ sagte er leise und strich ihr liebevoll über das Haar.

Eirin saß in einem Liegestuhl an Deck. Es war kalt, aber klares, schönes Wetter. Der Dampfer schlingerte ein wenig, gerade genug, daß Tante Bertha sich wieder langlegen mußte. Halfdan war ins Bett gekrochen, um den versäumten Nachtschlaf nachzuholen.

„Du hast heute nacht eine gute Arbeit geleistet, vergiß das nicht!“ lächelte Fredrik Branstad, der wieder ganz der alte war. Kaum war die Kindtaufe vorüber und er aus der Krankenkajüte entlassen, da funkelten seine Augen wieder so lausbubenhaft wie vorher; auch seine Haltung hatte sich wieder gelockert.

„Ja, dann gehe ich rein“, lächelte Halfdan. „Ich fühle mich offen gestanden auch ein bißchen mitgenommen. Du mußt dich Eirin widmen, mein Junge!“

„Nichts lieber als das“, versicherte Fredrik, und Halfdan ging davon, nachdem er ihnen freundlich zugenickt hatte.

Jetzt lag Eirin still in der Sonne. Neben ihr saß Fredrik und betrachtete sie durch die halbgeschlossenen Augen. Es lohnte sich, sie anzusehen: das frische, sonnengebräunte Gesicht; die dunklen Locken, die aus dem Kragen des weichen grauen Reisemantels hervorschauten; das lustige Kopftuch, das sie umgebunden hatte; die samtbraunen Augen mit den langen Wimpern und die kecke kleine Stupsnase – ach ja, sie anzuschauen lohnte sich wirklich. Der ernste, nachdenkliche Ausdruck, den sie gerade jetzt hatte, stand in einem drolligen Gegensatz zu der Stupsnase und den runden Mädchenwangen.

„Eirin“, sagte Fredrik plötzlich. Die Stimme klang gedämpft, aber trotzdem eindringlich. „Eirin – haben Sie Halfdan sehr gern?“

Sie wandte sich zu ihm um und richtete die Augen auf ihn. „Selbstverständlich habe ich das! Das ist aber eine sonderbare

Frage!“ Fredrik lächelte. „Selbstverständlich, sagen Sie. Lassen Sie nie die Liebe eine

Selbstverständlichkeit werden, kleine Eirin! Dann ist sie auf dem besten Wege, zu verduften. Die Liebe muß so jung und frisch sein, daß sie sich immer selbst erneuert. Jeder Tag muß ein Erlebnis sein, jedesmal, wenn Sie Halfdan ansehen, müssen Sie das gleiche

Übermaß an Glück empfinden wie zu Anfang, als Sie sich verlobten.“

„Ja, aber – “ Eirin sah ihn hilflos an. Derartige Probleme hatte es für sie nie gegeben. „Ja, aber – es ist doch selbstverständlich, daß ich Halfdan gern habe. Das fehlte ja auch noch! Ich werde ihn doch mal heiraten – er – er ist – “

„Er ist der einzige Mann in Ihrem Leben, meinen Sie?“ „Ja“, sagte Eirin erleichtert, dankbar für die Hilfe. „Kann der sich

glücklich preisen“, seufzte Fredrik, legte sich im Stuhl zurück und starrte mit einem bitteren Lächeln in den Mundwinkeln in die Luft hinauf.

Eirin wußte nicht, was sie sagen sollte. Sie fühlte sich peinlich berührt. Gleichzeitig beschlich sie ein sonderbares Gefühl, wenn sie an den gestrigen Abend dachte, an den letzten Tango. „Woran denken Sie, Eirin?“

„An nichts!“ – Sie wurde rot. „Soll ich mal raten?“ Sie gab keine Antwort. Er stützte sich auf den einen Arm. Das

kleine Lächeln in den Mundwinkeln war nicht mehr bitter. Es war eher herausfordernd.

„Was bekomme ich, wenn ich richtig rate?“ Sie sah ihn erschrocken an. Er lachte. „Aber nein, haben Sie doch keine Angst! Ich werde ganz umsonst raten. Sie dachten an – “ Er blinzelte sie an, dann öffnete er die Augen ganz und sah ihr ins Gesicht.

Sein Blick ließ sie nicht eine Sekunde los. Er neigte sich näher zu ihr hin.

„Du denkst an gestern abend, Eirin.“ Sie schob ihn zurück. Ihr Herz hämmerte, als ob es zerspringen wollte. Aber er packte die kleine Faust, die sich gegen seine Schulter gestemmt hatte, und hielt sie fest.

„Hast du Furcht vor mir, Eirin? Das brauchst du nicht. Wir haben uns an Bord eines Dampfers kennengelernt und einen wundervollen Abend zusammen verlebt. In einer Stunde gehen wir auseinander – vielleicht sehen wir uns niemals wieder. Wärest du nicht an Halfdan gebunden – nein, ich werde nichts sagen. Eirin, wenn er dich ein ganzes Leben lang besitzen darf, wenn er so reich ist, kannst du dann nicht einem andern eine winzig kleine, glückliche Minute gönnen? – Hast du nicht ein Almosen für einen, der dich darum anfleht?“

Eirin wußte nicht mehr, ob sie jetzt davonlaufen oder ihm nachgeben sollte. Sie schloß die Augen, um wieder Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Da küßte er sie.

In diesem Augenblick schrillte die Dampferpfeife durch die Stille. Tromsö war erreicht.

Halfdan war an Deck gekommen. Auch Frau Taraldsen wollte hier aussteigen. Das Krankenauto stand am Kai und wartete. Halfdan nahm Eirin mit an Land. Sie drückte Frau Taraldsen die Hand und streichelte vorsichtig mit einem Finger eine kleine rote, runzelige Wange.

„Ich möchte gelegentlich Nachricht von Ihnen haben, Frau Taraldsen“, sagte Halfdan. „Schreiben Sie mir ein paar Zeilen, wie es weiter mit der Kleinen gegangen ist. Kreisarzt Dr. Hoek, Frostviken.“

Dann rollte das Krankenauto von dannen. Eirin wandte sich um. Da stand Fredrik. „Adio, ihr beiden! Nett, dich mal wiedergesehen zu haben,

Halfdan, alles Gute und viel Glück für Frostviken! Vielen Dank für das nette Beisammensein, Fräulein Eirin, gestern und auch heute. Ich freue mich sehr, daß ich Sie kennengelernt habe.“

Eirin stotterte ein paar gleichgültige Worte hervor. Das letzte, was sie sagte, war so leise, daß Fredrikes vielleicht gar nicht verstand:

„Denken Sie mal an mich, wenn Sie nach Neapel kommen.“ Eirin und Halfdan gingen wieder an Bord zurück. Eirin fühlte eine sonderbare Leere in sich. Ihr war, als wenn jetzt

etwas endgültig vorbei wäre, als wenn das letzte Band zerrissen wäre, das sie an Licht und Sonne und Wärme und junge, gedankenlose Freude knüpfte.

Vor ihr lagen Kälte, ernsthafte Arbeit, Einsamkeit und Dunkel. Vor ihr lag Frostviken.

4 Ein feuchter Wind peitschte grauen Schneeregen vor sich her. Von der Küste war nur ein schwacher Schimmer zu sehen, obwohl sie ganz nahe war.

Frostviken hatte keinen Dampferanleger. Passagiere und Fracht wurden ausgebootet und mit einem Motorkutter an Land gebracht.

Eirin bibberte vor Kälte. Halfdan stützte sie am Fallreep und hielt sie fest, bis sie im Motorboot ihren Platz gefunden hatte. Tante Bertha saß schon da. Sie hatte sich in alle verfügbaren Jacken und Schals gewickelt und über diesen Wust wärmenden Zeugs einen dicken Regenmantel gezogen. Sie war fast grün im Gesicht und bemühte sich verzweifelt, das entsetzliche Schaukeln und Schlingern des Bootes zu vergessen, das jetzt mit ihnen zur Küste töffte.

Eirin war teilnahmslos. Eine große Leere und Müdigkeit erfüllten sie.

„Unser Märchenland“, hatte sie gesagt, als sie Bergen verließen. Haha! Ein schönes Märchenland! Seegang, Wind, Regen, Schnee und Kälte – ach, sie fror bis ins Mark hinein.

Und dann das schlechte Gewissen, das ihr tagsüber keine Ruhe und sie nachts nicht schlafen ließ. Wenn sie diesen Fredrik Branstad wegen seiner Dreistigkeit noch hassen könnte! Wenn sie sich aussprechen könnte – wenigstens bei Tante Bertha! Aber das war unmöglich. So blieb ihr nichts anderes übrig, als sich zu schämen, weil sie Halfdan nicht in die Augen sehen konnte und auch Tante Bertha nicht. Und das schlimmste von allem war, daß sie es so wunderbar fand, daran zu denken!

Das Boot machte an einem Holzsteg fest. Tante Bertha und Eirin wurden an Land gehoben. Halfdan sah sich nach dem Gepäck um. Sie hatten viele Koffer bei sich. Die Möbel waren vorausgeschickt worden, so daß sie doch wenigstens in ein gemütliches, fertig eingerichtetes Haus kommen würden.

Tante Bertha hatte mit Lina Skjarvik, der Haushälterin des vorigen Kreisarztes, Briefe getauscht und sie gebeten, sich um das Haus zu kümmern, bis der neue Arzt eintraf.

Eirin klapperte vor Kälte, während sie herumstand und sich umschaute. Bei diesem scheußlichen Wetter waren nur wenige Leute an den Steg gekommen. Da waren schwerfällige, schweigsame, bedächtige Männer in Ölzeug, da waren ein paar strubbelige,

rotnasige Kinder, und dann flitzte ein forsches Frauenzimmer mittleren Alters aus einem braunen Holzhaus heraus, an dem ein abgestoßenes Postschild prangte. Sie war in Strickjacke und Ölumhang gewickelt und verlangte den Postsack.

Tante Bertha schaute Eirin an. Wie klein und spitz und mutlos sie aussah.

„Frierst du, mein Kind?“ Eirin lächelte krampfhaft. „Ein bißchen, ja – “ „Jetzt dauert es nicht mehr lange. Ein paar Minuten noch, dann

sind wir unter Dach, und im Doktorhaus ist es schön warm.“ Doktorhaus! Wie anheimelnd das klang. Eirin sah es vor sich: ein

langes, niedriges weißes Haus in einem großen alten Garten mit Buchsbaumhecken und Obstbäumen – ach nein, so hoch im Norden gab es sicher keine Obstbäume, aber irgendwelche Sträucher gab es doch wohl – und mit einem weißen Gartenzaun davor und einer Fahnenstange – und darin eine große, schöne, niedrige Stube. Vielleicht gab es auch einen schwedischen Kachelofen und einen behaglichen Kamin. Eirin glückte ein zaghaftes Lächeln. Es würde jetzt ja nicht mehr lange dauern, und sie ging in dem großen, geräumigen Haus herum und sah sich vor allem das Sprechzimmer an, wo sie zusammen mit Halfdan arbeiten würde. Sie mußte an „Männer in Weiß“ denken und an die „Zitadelle“, die sie gerade gelesen hatte. Sie sah vor sich ein blitzend sauberes Sprechzimmer mit weißem Instrumentenschrank; eine Tür aus geschliffenem Glas; blanke Glasborde für die Instrumente; eine Porzellankumme mit vernickeltem Handtuchhalter; angenehme indirekte Beleuchtung genau wie in dem Film, den sie kürzlich gesehen hatte. Und mittendrin Halfdan – ihr Halfdan, in weißem Mantel. – Sonderbar, sie hatte ihn noch nie im Arztkittel gesehen! Und sie sah sich selbst in ihrem hübschen weißen, gestärkten Sprechstundenkittel. – Sie würde mit blitzend sauberen Gegenständen arbeiten, weicher Watte und schneeweißem Mull, vielleicht ab und zu einen Kranken an der Hand halten, kleine Kinder, denen in den Hals geschaut werden mußte oder die abgehorcht werden sollten, Kinder, die vor dem Doktor Angst hatten und eine liebe Tante brauchten, um sich von ihr trösten zu lassen.

Der Dorfkrämer und sein Sohn waren am Steg. Sie schüttelten Halfdan die Hand und hießen ihn willkommen. Der Sohn sollte sich des Gepäcks annehmen und sie hinaufbegleiten. Na also! Er hatte

sich darauf eingerichtet. Das Pferd stand angeschirrt. Es war alles in Ordnung!

Die Koffer wurden auf dem Karren verstaut, Tante Bertha mitten dazwischen. Halfdan und Eirin trabten hinterdrein.

Sie sprachen nicht. Aber Halfdan hatte den Arm fest und beschützend um ihre Schultern gelegt. Wenn Eirin diesen Arm um sich fühlte, dann wußte sie: Was auch in der Welt geschehen würde, sie war geborgen.

Aber schon grübelte sie wieder: Empfand sie Reue? Würde sie lieber in Oslo sein? Würde sie jetzt gern im Spiegelsaal sein und tanzen? Möchte sie einer guten Jazzkapelle zuhören, daß ihr der Rhythmus in die Beine fuhr, vielleicht gut essen, sich in dem neuen korallenroten Abendkleid wohl fühlen – sich von einem aufmerksamen, ein wenig verliebten Ritter im Auto nach Hause fahren lassen? Nein, nein, tausendmal nein! Sie bereute nichts. Sie straffte den Rücken und fühlte sich mit einemmal stark. Weg mit all dem, was hinter ihr lag, mit allem, was sie bisher erlebt hatte! Weg damit, vergiß es! Jetzt hatte die Zukunft das Wort. Sie wollte sich alle Mühe geben, sie wollte Halfdan zeigen, daß sie ein erwachsener Mensch war, auf den er sich verlassen konnte, jawohl – verlassen konnte!

Es war gut, daß Eirin sich auf dem Weg ins Gebet genommen hatte. Sie sollte ihre guten Vorsätze brauchen.

Als der Gaul mit dem Karren vor einem alten graubraunen Hause hielt, dessen Putz überall abblätterte und rissig war, einem sonderbaren, kastenähnlichen, kahlen, kalten Monstrum von einem Hause, da dachte Eirin, sie sollten hier irgendwo von der Straße abbiegen und es müßte noch weit bis zum Doktorhaus sein. Ein Haus, das auch nur annähernd so aussah, wie Eirin es sich vorgestellt hatte, war nicht zu erspähen.

Aber – was gab’s denn jetzt? Tante Bertha wurde vom Karren gehoben! Und der junge Mann schickte sich an, die Koffer hineinzutragen! Da ging die Tür auf, eine grauhaarige, hagere Frau in blauer Schürze trat heraus und begrüßte Tante Bertha.

Das war doch nicht etwa – das konnte doch nicht -! Eirin sah hilflos zu Halfdan auf. Auch er blickte fragend und

suchend umher. Auch er schien beunruhigt und ratlos. Wie sie es fertigbrachte, ein Lächeln aufzusetzen, blieb ihr selbst ein Rätsel. Und wie aus weiter Ferne hörte sie plötzlich ihre eigene, natürliche Stimme:

„Sind wir schon da? Du kannst mir glauben, jetzt bin ich gespannt! Ich werde auf der Stelle das ganze Haus durchstöbern!“

Über Halfdans Gesicht flog ein Ausdruck der Erleichterung, und Eirin hatte das Gefühl, als habe sie von ihrem schlechten Gewissen ein wenig abgegolten.

Aber es sollte noch ganz anders kommen! Eirin fiel von einer Enttäuschung in die andere. Zuerst der

eisigkalte Flur. Er war finster und unfreundlich; eine steile Treppe führte zum ersten Stock hinauf. Das Wohnzimmer, das allerdings mit Halfdans hübschen Möbeln eingerichtet war, hatte fleckige und zerfetzte Tapeten, und die Decke blätterte ab. Der Teppich war zu klein. An allen vier Seiten sah der abgetretene Fußboden in einem breiten Streifen hervor. Und der Kachelofen, der offene Kamin – wo war der? Ein ganz gewöhnlicher schwarzer, eiserner Ofen stand in einer Ecke, das war alles. Er zog anscheinend nicht einmal richtig; jedenfalls strahlte er keine große Wärme aus.

„Es drückt hier so rein, wenn der Wind von der Seite kommt“, erklärte Lina Skjarvik, die ihnen vorausging und ihnen alles zeigte. Sie war wortkarg und ernst.

Das enge, dunkle Eßzimmer war in einer Art nachgemachtem Blockhüttenstil gehalten; seine Balkenwände und geschnitzten Drachen wirkten wie Attrappen. In der übertrieben großen Küche standen alte, abgenutzte Möbel und ein Herd. Der Fußboden war abgetreten. An den Schranktüren war die Farbe abgegriffen. Es roch penetrant nach Petroleum.

„Kochen Sie mit Petroleum?“ fragte Eirin. Es war eine der ersten Fragen, die sie stellte.

„Ja, dann brauchen wir den Herd nicht immer anzumachen“, sagte Lina.

Eirin wollte gerade ihrem Erstaunen Ausdruck geben, da wurde ihr klar, warum es im ganzen Hause so merkwürdig dunkel war. Man brannte überall Petroleum. Es gab kein elektrisches Licht im Haus!

Eirin warf Tante Bertha einen Blick zu. Aber da sagte die Tante mit ihrer ruhigen, gewohnten Stimme:

„Ja, mein Kind, hier gibt es viel Neues, an das man sich gewöhnen muß. Jetzt werden wir beide allerdings zeigen müssen, daß wir wendig genug sind, uns ein wenig umzustellen.“ Im Oberstock war ein riesiger Boden mit einem Giebelzimmer an jedem Ende und ein paar kleinen Kämmerchen an den Seiten – die Schlafzimmer! Was sonst noch in einem Hause nötig war, das war

gar nicht im Haus – das lag im Schuppen, der mindestens dreißig Schritte von der Hintertür entfernt stand.

Ja, und da waren dann noch das Sprech- und das Wartezimmer im Untergeschoß! Banger Ahnungen voll folgte Eirin ihrem Verlobten, der sich anschickte, seine künftige Arbeitsstätte in Augenschein zu nehmen. Halfdan sollte doch Instrumente und Sprechzimmereinrichtung von dem verstorbenen Kreisarzt übernehmen. Diese Einrichtung sah so aus: ein alter Schreibtisch, ein braun angestrichener Schrank, ein merkwürdiges Bücherregal aus einer Art Flechtarbeit, ein Waschständer mit Emailleschüssel und Toiletteneimer, ein mit rissigem Wachstuch überzogenes Untersuchungsbett, ein paar Holzsessel ein größerer Tisch voll von häßlichen Flecken und eine Unmenge kleiner und größerer Flaschen.

Bad, Porzellanbecken, elektrisches Licht mit milchweißen Kuppeln, Kamin – all die schönen Dinge, von denen Eirin geträumt hatte, gab es nicht.

Das Wartezimmer war mit einem Tisch und zehn einfachen Lattenstühlen möbliert.

Die Führung war beendet. Lina Skjarvik bat zu Tisch. Es gab Kalbsbraten mit eingekochten

grünen Erbsen und eine Pflaumengrütze, die so fest war, daß man alle Muskeln anspannen mußte, wollte man den Löffel hineinsenken.

Aber Kalbsbraten nach einer langen Reise stimmt immer versöhnlich und ermunternd. Und weder Enttäuschungen noch böses Gewissen können einem frischen jungen Mädchen von einundzwanzig oder einem Mann von achtundzwanzig den Appetit verderben.

Sie redeten nicht viel, aber sie taten dem Essen alle Ehre an. Tante Bertha sah mit ihren kleinen, klugen Augen von einem

zum andern. Sie hob das Rotweinglas. „Wohlsein, ihr beiden! Und viel Glück! Jetzt wird sich zeigen, ob

ihr tüchtig seid und euer gemeinsames Glück aus einem – hm –, einem zähen Material aufbauen könnt! Haltet die Ohren steif!“

Sie leerten die Gläser. Dann lächelte Halfdan der guten Tante zu. „Es tut nichts, wenn das Material zäh ist, Tantchen, wenn wir nur

gutes Werkzeug zum Bauen haben. Und das haben wir. Wir haben Liebe zum Bauen, nicht wahr?“

Eirin setzte sich aufrecht hin und sah Halfdan voll an. „Wohlsein, mein Guter. Es wird schon gehen!“

Als Eirin spät am Abend in dem einen der Giebelzimmer, das sie mit Tante Bertha teilen mußte, endlich zur Ruhe gekommen war, gingen ihr die letzten Stunden durch den Sinn. Nein, ganz so leicht würde es nicht sein, den Kopf oben zu behalten! Sie lag mucksmäuschenstill, bis sie Tante Bertha gleichmäßig atmen hörte. Dann ließ sie ihren Tränen freien Lauf und weinte lange in ihr Kopfkissen hinein.

Tante Bertha atmete ruhig weiter – verdächtig gleichmäßig. Tante Bertha war eine kluge Frau. Sie wußte, es gab

Schwierigkeiten, mit denen die Jugend ganz, ganz allein fertig werden mußte.

5 Eirin zog den Scheuereimer zu sich heran, wrang den Lappen aus und schob sich mit dem Handrücken die Haarzotteln unter das Kopftuch. Dann legte sie sich wieder auf die Knie und fuhr fort, den Fußboden im Wartezimmer mit der Wurzelbürste zu bearbeiten.

Es gehörte zu ihren Aufgaben, Sprech- und Wartezimmer in einem sauberen und ordentlichen Zustand zu halten. Sie hatte diese Pflicht freiwillig übernommen, aber nachdem sie nun ein paar Wochen in Frostviken gewesen war, verlieh ihr diese Arbeit keinen Glorienschein mehr. Schwere Arbeitsstiefel trugen Schmutz und Matsch in die Räume, die Luft war dick von dem Atem und den Ausdünstungen vieler Menschen, es kamen Leute mit eiternden Fingern und Luftröhrenkatarrhen, und heute war einer da, dem der Magen ausgepumpt werden mußte. Eirin hatte sich übergeben, als sie hinterher den Schlauch auskochte. Und keiner sah eine Heldin in ihr, weil sie Tag für Tag diese Arbeit tat. Keiner sagte etwas, wenn sie sich in der Küche warmes Wasser für den Fußboden holte, keiner sagte, sie sei tüchtig, weil sie den Spucknapf ausleerte. Der Spucknapf!

Wie sie den haßte! Wie sie sich jedesmal sträubte, wenn sie ihn hinaustragen und waschen und spülen mußte! Der Spucknapf war das schlimmste von allem. Er war der Erzfeind in Person.

Dann gab es Wäsche zu waschen und verschmutzte Instrumente zu säubern. Es gab Gerüche und eklige Dinge den ganzen Tag. So also sah er aus, der romantische Beruf der Sprechstundenhilfe!

Vormittags kamen die Patienten; sie blieben weit über die öffentliche Sprechstunde hinaus. Anschließend machte Halfdan Krankenbesuche. Sobald er gegangen war, mußte Eirin sich über die Kartothek machen. Diese Arbeit mochte sie gern. Sie war an Büroarbeit gewöhnt und faßte schnell auf. Im Krankenjournal und unter den Kartothekkarten herrschte eine mustergültige Ordnung. Aber schon hieß es wieder, die grobe Leinenschürze vorzubinden und an die Wäsche und das Aufräumen und das Saubermachen zu gehen.

Eigentlich sollten sie um fünfzehn Uhr essen, aber daraus wurde nie etwas. Halfdan eilte zu seinen Kranken, auf dem Rad, im Motorboot oder mit Pferd und Wagen. Autostraßen gab es nicht. Er rumpelte und ratterte von dannen, er zog Zähne und beförderte

Kinder in diese Welt, pinselte Hälse und spülte Ohren aus, er schnitt und verband und arbeitete bis zu achtzehn Stunden am Tag.

Das Mittagessen mußte warten und warten. Tante Bertha bekam eine Sorgenfalte zwischen den Brauen. Sie schlug sich mit dem altmodischen Küchenherd herum, mit nassem Holz oder mit dem Primus und der Hexe. Wenn sie dabei ihrer elektrischen kleinen Küche in Oslo, in Apfelgrün und Beige gehalten, wehmütig gedachte, so merkte es keine Seele, denn Tante Bertha klagte nie. Jedenfalls konnte sie immer in dem Augenblick, wenn Halfdan nach Haus gestürzt kam, gutes und wohlschmeckendes Essen auf den Tisch bringen. Es kam vor, daß er zu essen begann, wenn bereits die ersten schweren Stiefel zur Nachmittagssprechstunde ins Wartezimmer polterten. Dann verschlang er das Essen, ohne zu merken, was er aß, sagte: „Vielen Dank, entschuldigt mich“, und weg war er wieder. Fand er wirklich einmal eine kleine Atempause zwischen zwei Patienten, dann stürmte er herein und goß eine Tasse Kaffee herunter. Eine Minute später war er wieder im Sprechzimmer mit den abgenutzten Fichtenholzmöbeln, dem Waschständer und dem Toiletteneimer und all den ekligen, unsauberen Dingen.

Halfdan magerte zwar nicht ab. Dafür paßte Tante Bertha zu gut auf ihn auf. Aber er sah blaß und müde aus. Nach Verlauf eines Monats konnte Eirin ihn fast nicht wiedererkennen. Seine frische Hautfarbe verschwand, das Haar wurde stumpf. Vielleicht kam es daher, daß er bis in die späte Nacht hinein aufsaß und Urin und Eiter und andere sonderbare Dinge auf kleinen Glasplatten untersuchte. Über seinem Kopfe brannte die Öllampe, und auf dem Schreibtisch hatte er eine andere Lampe stehen, die er mit nervöser Hast ganz dicht ans Mikroskop heranzog.

Er bekam rotgeränderte Augen und war hin und wieder reizbar. Tante Bertha blieb ruhig dabei. Eirin aber schaute ihm mit bangen Augen nach. Dies war ein Halfdan, den sie nicht kannte.

Er brachte ihr bei, wie sie die Präparate färben mußte, die unters Mikroskop gelegt werden sollten. Das entlastete ihn. Und so etwas machte Eirin gut. Es erforderte Gewissenhaftigkeit und Sorgfalt, es war der Büroarbeit verwandt. Fast konnte sie guter Laune werden, wenn sie in fleckenloser Schürze und mit der kleinen weißen Kappe im „Verlies“ stand und auf ihrem kleinen Arbeitstisch lauter kleine Glasplättchen ausgebreitet hatte. Er sollte nie mehr anders heißen als das „Verlies“ – der kleine Raum, wo Eirin sich über Uringläsern

erbrach und ihre zierlichen Buchstaben in das große Journal einschrieb.

Auf einem Regal standen die Flaschen mit Karbolfuchsin, Malachitgrün, Methylviolett und wie sie alle hießen. Unter ihnen kam sich Eirin wie eine wichtige und unentbehrliche Persönlichkeit vor. Sie färbte und ordnete, hielt die Platten gegen das Licht und paßte auf, daß die Namensschildchen unter den Platten nicht verwechselt wurden.

Wenn die Sprechstunde abends zu Ende war und Eirin die abscheulichen Fußböden zum zweiten Mal gewischt hatte, wenn die Zeitschriften im Wartezimmer wieder hübsch auf einem Haufen zusammenlagen und wenn Petroleum in die Lampen gefüllt und das Sprechzimmer in Ordnung gebracht war – dann hätten sie es sich eigentlich um die Hängelampe herum gemütlich machen können. Aber aus der Gemütlichkeit wurde nicht viel. Wenn keine Krankenbesuche zu machen waren, dann wartete im Sprechzimmer andere Arbeit auf Halfdan. Es kam schließlich so, daß Eirin und Tante Bertha sich selbst überlassen blieben und mit ihren Handarbeiten schweigend, nachdenklich und müde unter der Lampe saßen.

An den Posttagen kamen Zeitungen und Zeitschriften, aus denen man vorlesen konnte, oder Eirin bekam einen Brief von einer Freundin aus dem Süden.

Und dann hatten sie das Radio, das Wunderkästchen! Halfdan hatte es kommen lassen – einen Reiseapparat – und eigens Batterien dafür besorgt. Ein willkommeneres Geschenk hätte er den beiden Frauen nicht machen können. Sie saßen Abend für Abend und hörten die Sendungen aus einer Welt, an deren äußerstem Ende sie zu leben glaubten.

Mit einemmal wurde Eirin lebendig: „Tante Bertha! Hör doch mal! Ist das nicht Cilly, die da singt?“ „Bist du sicher -?“ „Meinst du, ich kenne ihre Stimme nicht? Hör nur, sie singt im

Radio! Weißt du noch, wie sie zu mir kam, als wir noch klein waren, Tantchen, und wir sangen dann – “

„Häschen und Mäuschen“, lächelte Tante Bertha. „Ja, ja, so nannte ich euch, und wenn Cilly gesungen hatte, dann bekam sie fünf Öre, für die ihr euch was kaufen durftet!“

Die Stimme im Radio sang das kleine Lied zu Ende. Dann sagte Cilly – ja, natürlich war es Cilly:

„Ich bin gebeten worden, zuletzt noch das gute alte Lied ,Häschen und Mäuschen’ zu singen.“

Eirin lauschte atemlos. Sie stand vom Stuhl auf, hockte sich hin und hielt das Ohr ganz dicht an den Lautsprecher, so, als fühlte sie sich auf diese Weise der Jugendfreundin näher, näher dem Licht und der Wärme und fröhlichen, sorglosen Menschen.

„Häschen und Mäuschen wohnen Hof an Hof – “ Eirin schluckte. Sie sah die Stube zu Hause vor sich, die trauliche

Stube mit den Möbeln aus ihrem Elternhaus und Tante Berthas blühenden Topfpflanzen. Cilly hatte ein gelbes Blüschen an und den kleinen blauen Trägerrock und sang mit ihrer klaren Kinderstimme.

„Von der Schule gehn sie Hand in Hand, knüpfen täglich ew’ges Freundschaftsband – “ Sie und Cilly gingen immer zusammen von der Schule nach

Hause. Beide hatten Ränzel mit Fell auf der Klappe, beide trugen Matrosenmützen mit langen blauen Bändern. Es war sonniges Wetter und Frühling.

„Aber eines Tages stritten sie, o Graus, nie darfst du wieder kommen in mein Haus!“ Sie hatten sich eines Tages fürchterlich gezankt, weil Eirins

großer bunter Ball ein Loch bekommen hatte. Eirin behauptete, Cilly habe es getan, und Cilly schwor, es sei Eirin selbst gewesen. Wie hatte Eirin an jenem Abend geweint! Wie unglücklich war sie gewesen!

„Häschen, weißt du, ach, es tut mir ja so leid, laß uns Freunde sein in alle Ewigkeit!“ Ja, so war es dann gekommen. Sie hatten sich umarmt und geküßt

und sich wieder vertragen. Und die Freundschaft hatte all die Jahre bestanden bis zum heutigen Tag.

Eirin schluckte wieder. Als Cilly das Lied beendet hatte, liefen ihr die Tränen über die Wangen.

Tante Bertha sah über die Brille zu ihr hinüber. Sie war so dünn und blaß, die kleine Eirin, ihr kleines Mädchen.

Tante Berthas Stimme klang ruhig und gütig, als sie jetzt sagte: „So, du sehnst dich also auch nach dem Süden, mein Kind?“ Eirin schaute auf und trocknete ihre Tränen. „Auch? Tust du es denn, Tantchen?“ Tante Bertha räusperte sich. „Na ja – weißt du –, ich denke auch hin und wieder mal an Oslo

– vor allen Dingen an den Sonnenschein. Ich würde ganz gern mal wieder die Sonne auf dem Neuschnee sehen.“

„Ich auch, Tantchen.“ „Aber du weißt, im tiefsten Innern freue ich mich, daß ich hier

bei euch sein und euch helfen kann und was Ordentliches kochen – “ „Ja, darin bist du großartig, Tantchen.“ „Ebenso wie du natürlich glücklich bist, daß du Halfdan helfen

kannst, wenn auch deine Arbeit nicht gerade unterhaltsam ist.“ Da lächelte Eirin. Tante Bertha lächelte ebenfalls. „Na ja! Aber was ich sagen wollte, du weißt ja, diese Arbeit ist

der Preis, den du zahlst, um in Halfdans Nähe sein zu dürfen. Stell dir vor, wie schlimm es für dich sein würde, wenn du ihn hier oben allein in der Dunkelheit und Einsamkeit wüßtest, ohne ein liebes Mädel neben sich, das ihm die Spucknäpfe und Uringläser ausleert, und ohne – “

„Ohne die gütigste Schwiegertante der Welt, die ihm schönes Essen kocht und es ihm gemütlich macht! Tantchen, du bist ein Engel, und ich bin eine verwöhnte Göre, die was mit der Rute haben müßte!“

„Wenn du verwöhnt bist, dann ist es meine Schuld, und dann muß ich versuchen, es wiedergutzumachen, wenn es wohl auch ein bißchen spät dazu ist. Aber nicht wahr, du – es ist doch besser, bei Halfdan zu sein und es schwer zu haben, als weit von ihm weg zu sein und es leicht zu haben?“

Eirin antwortete nicht. Dieser Gedanke war ihr noch nie gekommen. Sie hatte sich oft gewünscht, wieder im Süden zu sein, aber immer sollte es dann mit Halfdan zusammen sein. Nicht eine Sekunde war es ihr eingefallen, daß er hier bliebe und daß sie allein fahren müßte, wenn sie einmal Frostviken verlassen würde.

Eirin kam sich mit einemmal wie ein hilfloses kleines Ding vor. Sie tat, was sie immer getan hatte, als sie noch klein war: Sie zog

sich ein Kissen auf den Fußboden herunter und setzte sich der Tante zu Füßen.

Tante Bertha legte das Strickzeug weg und strich Eirin über die dunklen Locken.

„Na? Was gibt’s denn jetzt?“ Sie kannte Eirin, und sie wußte, jetzt kam etwas Heikles. „Es ist so, daß – daß – ich nicht weiß, was ich tun soll, Tantchen.

Ich fühle, irgendwo in mir ist etwas schief und verkehrt, aber ich weiß nicht, was. Es ist fast so, als ob etwas fehle-“

Tante Bertha nickte. „Fehlt es dir vielleicht an Arbeitsfreude?“ „Ja, in hohem Maße!“ Eirin wurde rot. Sie blickte zu der Tante

auf. „Nicht weitersagen, Tantchen – aber du, ich glaube, diese Arbeit

wird noch mal mein Tod! Ich graule mich so, daß ich ganz krank bin, wenn ich den Spucknapf wieder saubermachen muß. Und gestern hatte einer auf die Ofenplatte gespuckt – oh du ahnst es nicht! Und heute hatte Halfdan einen Magen auszupumpen, und als der Schlauch hinterher ausgekocht werden mußte, da – “ Eirin hielt sich die Hand vor den Mund. Die Tante blieb ungerührt.

„Aber mein Herz! Hast du es nicht übernommen, Halfdans Sprechstundenhilfe zu sein?“

„Doch, aber – “ „Du konntest doch nicht glauben, das bedeute nur, saubere

Buchstaben in ein großes Journal zu malen und auf dem Schreibtisch Staub zu wischen?“

„Nein, aber – “ „Jetzt kennst du also die Arbeit. Hast du Halfdan so lieb, daß du

dich damit abfinden kannst, ja, daß sie dir geradezu ein Bedürfnis wird, um seinetwillen?“

Eirin antwortete nicht. Sie drehte ihren Gürtel zwischen den Fingern hin und her, hin und her.

Die Tante enthob sie der Antwort. Sie blickte auf die Uhr. „Oje, wenn wir heute noch Abendbrot haben wollen, dann muß ich mich sputen. Was meinst du, Eirinchen, wie wäre es heute abend mal mit einer Omelette? Schau doch eben mal zu Halfdan hinein, und frag ihn, wann er meint, daß er essen kann, dann soll er eine ganz frisch gebackene kriegen.“

Eirin stand auf und ging ins Sprechzimmer hinüber. Halfdan saß über sein Mikroskop gebeugt. Neben sich hatte er einen Notizblock und Bleistift. „Nun?“

Er fragte freundlich zerstreut, ohne den Blick zu heben, und schraubte vorsichtig weiter am Mikroskop.

„Viel zu tun, Liebster?“ Eirins Stimme klang hell und freundlich. Er sah einen Augenblick auf und lächelte. Dann hatte er das

Auge wieder am Okular. „Nun ja, wie immer. Was gibt es denn, Eirin?“ „Tante Bertha läßt fragen, wann du essen möchtest.“ „Wie’s euch paßt. Sagt nur Bescheid.“ Er drehte und schraubte am Mikroskop, nahm die Glasplatte

heraus und legte sie beiseite. Eirin trat dicht auf ihn zu, stellte sich hinter ihn und legte die Arme um seinen Hals. „Du überanstrengst dich, mein Junge!“ Sie rieb ihren Mund und die Nasenspitze gegen seinen Kopf, das Haar kitzelte ihr im Gesicht. Halfdan lächelte. Es war lange her, daß Eirin so zärtlich gewesen war.

„Ach, es wird schon gehen. Jetzt müssen wir doch bald das Schlimmste hinter uns und alles aufgearbeitet haben, was sich nach dem Tode des alten Doktors hier angesammelt hatte.“

„Kann ich dir mit irgend etwas helfen?“ „Aber nein, geh du nur und mach dir’s gemütlich. Du bist den

ganzen Tag über so tüchtig, abends sollst du wenigstens frei sein.“ Eirins Herz tat einen Sprung vor Freude. „Meinst du das im Ernst? Bin ich tüchtig?“ „Du bist sehr tüchtig. Schließlich hast du keine andere

Ausbildung als einen kleinen Krankenpflegekurs!“ Jetzt schoß Eirin um Halfdan herum und zwängte sich zwischen

ihn und die Tischkante, so daß sie auf seinem Knie saß. „Ja, aber, du! Ich bin nicht so tüchtig, wie du glaubst. Denn weißt

du – “, sie schluckte, aber jetzt mußte es gesagt werden, sie mußte ehrlich sein, es trieb sie plötzlich, alles zu beichten –, „weißt du, ich finde die Arbeit einfach ekelhaft.“

Er lachte und sah ihr liebevoll ins Gesicht. „Liebste Eirin, versprich mir, daß du es niemand weitersagst,

dann will ich dir etwas ins Ohr sagen: Das finde ich auch!“ „Du??“ „Ja, ich! Ich fand dies Magenauspumpen heute richtig widerlich,

wenn du es wissen willst. Und wenn ich dein Amt hätte, jeden Tag den Spucknapf auszuleeren, dann glaube ich, ich würde speien.“

„Aber Halfdan – und das sagst du?“ „Ja, aber das bleibt unter uns, hörst du? Ich muß ja meine Arbeit

tun, es hat keinen Zweck, seinen Empfindlichkeiten nachzugeben, das weißt du aus Erfahrung. Es gilt, sich mit seiner Arbeit anzufreunden, so ekelhaft sie einem auch sein mag.“

„Ja, aber, Halfdan – du hast doch selbst deinen Arztberuf gewählt!“

„Ja, selbstredend, und es gibt nichts, was ich lieber sein möchte. Ich liebe diesen Beruf über alles, verstehst du. Aber natürlich gibt es einen Haufen widerwärtiger Dinge dabei, das ist klar. Die muß man eben mitnehmen. Es gibt wohl kaum einen Beruf, bei dem alles nur angenehm ist.“

Eirin gab keine Antwort. Sie strich Halfdan übers Haar. Jetzt hatte sie zum zweiten Mal an diesem Abend zu hören bekommen, daß sie sich mit ihrer Arbeit anzufreunden habe. Natürlich mußte sie das. Daß ihr das nicht früher klargeworden war! Da war sie herumgelaufen, todmüde und gekränkt, und hatte das Wichtigste fast übersehen: daß sie mit dem Mann zusammenarbeiten müsse, den sie liebte! Was hatte sie denn selbst in Oslo gesagt: „Denkt ihr vielleicht, ich bin so ein Zierpüppchen, das nicht ordentlich zugreifen kann?“ Jetzt wollte sie ihnen mal zeigen, daß sie es konnte, o ja! Sie sprang auf und schüttelte die Locken, eine Angewohnheit von ihr, wenn sie eifrig und energisch wurde.

„Du, Halfdan! Weißt du, was du tun würdest, wenn du wirklich vernünftig wärst?“

„Nein, das ahne ich nicht.“ „Du würdest mich überlegen und mir was mit dem Rohrstock

geben, denn das habe ich verdient. Aber von jetzt ab werde ich mich so benehmen, daß ich es nicht verdiene. Bitte, laß mich irgend etwas für dich tun! Dann bist du schneller fertig, und wir können es uns nach dem Abendbrot gemütlich machen!“

Halfdan drückte sie an sich und küßte sie. „Du hast recht, liebes Mädchen. Und wenn du mir hilfst, bekommst du nachher noch einen Kuß.“

Gleich darauf saß Eirin neben Halfdan und machte nach seinem Diktat Notizen. Nach einer Stunde waren sie fertig. Halfdan streifte seinen Kittel ab, wusch sich die Hände und fuhr sich übers Haar.

„So, Eirin, jetzt wollen wir versuchen, ein kleines Weilchen Mensch zu sein. Wenn ich mir’s überlege, dann habe ich einen Bärenhunger. Glaubst du, Tante Bertha hat daran gedacht, ein

bißchen Schinken in die Omelette zu tun? Oder gibt’s eingedeckten Spinat?“

Tante Bertha sagte bei Tisch nicht viel. Aber sie sah die lächelnden, frohen Gesichter. Müde waren sie wohl beide, aber sie strahlten vor Glück. Tante Bertha durchschaute vieles, ohne zu fragen. Auch jetzt verstand sie – und war glücklich.

Nach dem Abendbrot zogen sie das kleine, niedrige Sofa vor den Ofen, machten die Ofentür auf und taten so, als säßen sie am offenen Kamin. Tante Bertha machte sich in der Küche zu schaffen und klapperte mit Gläsern und Glastellern.

Es gab Rotweingrog und Kekse. Aus dem Radio erklang gedämpfte Musik.

„Du, Halfdan! Wenn wir Hochzeit machen, wollen wir uns dann als Hochzeitsgeschenk einen Kamin wünschen?“

„Ich hatte an einen Teppich gedacht“, lachte Halfdan. „Aber von mir aus gern! Sagen wir also, einen Kamin.“

„Ich möchte den Fußboden lieber streichen“, sagte Eirin. „Ich kann das ganz prächtig allein, glaubst du? Ich habe zu Hause die ganze Küche gestrichen – ich meine, in Oslo. Entschuldige, bitte, ich habe mich versprochen. Zu Hause ist ja jetzt nur noch hier. Hier bei dir.“

Sie zog die Beine aufs Sofa hinauf und kuschelte sich in seinen Arm.

Er sah auf ihr Gesicht hinunter. Unter den zerzausten Locken glänzten ihre Augen im Feuerschein des Ofens.

6

Halfdan hatte in früher Morgenstunde einen Krankenbesuch gemacht. Nach einem eiligen Frühstück war er ins Sprechzimmer gegangen. Er schloß den Schreibtisch auf, zog den weißen Mantel an und machte sich zurecht, um die Patienten zu empfangen.

Plötzlich hob er den Kopf und lauschte. Er hörte im Wartezimmer jemand reden.

Er ging zur Tür und öffnete sie einen Spalt. „Ich möchte doch wirklich gern mal wissen, was du dir

einbildest“, hörte er Eirins Stimme. „Du eingebildeter Dummkopf, tust nichts, als dazustehen und Gestank und Ekel zu verbreiten. Denkst du vielleicht, du kannst mir ein Bein stellen? Jaja, du stehst da, kugelrund und selbstgefällig, ich sehe es ja – und du bildest dir ein, du könntest zwischen mir und Halfdan was zerstören? Da irrst du dich gewaltig, mein Lieber! Hast du eine Ahnung, was echte Liebe ist! O nein, Hochverehrter. Was die Dunkelheit und die Einsamkeit nicht können, das bringst du erst recht nicht zuwege. Kannst du sehen, wie fein ich den Fußboden gewischt habe? Ja, ja, du magst recht haben, ich hätte es gestern abend tun sollen, aber da hab’ ich Halfdan geholfen, den Arzneischrank aufzuräumen. Der ganze Matsch ist die Nacht über auf der Erde liegengeblieben. Richtig ekelhaft ist das, will ich dir sagen! Aber jetzt ist es hier fein, ob du’s wahrhaben willst oder nicht, du greuliches Gespenst! Und du denkst, du kannst mich erschüttern? Tja, natürlich wäre es ganz prächtig, wenn ich dich unter einen Warmwasserhahn stellen und dich da stehen lassen könnte, bis du sauber bist. Aber wir haben nun mal keinen Warmwasserhahn, verstehst du, also muß es auch ohne gehen. Du wirst trotzdem sauber werden, du Ferkel! Eins, zwei, drei, hierher jetzt, Bürschchen, wenn du denkst, ich übergeb’ mich noch einmal, von wegen! Jetzt habe ich mich an dich gewöhnt, verstehst du! Als ich noch klein war und dumm, da hattest du mich unter der Fuchtel. Jetzt bin ich dir aber über, merk dir’s!“

Halfdan biß sich auf die Lippe, um nicht laut herauszulachen. Da stand seine Eirin mitten im Zimmer, mit aufgekrempelten Ärmeln und der dicken, groben Leinenschürze um. Die Locken waren unter einem großen bunten Kopftuch ganz verborgen. Sie stand mit gespreizten Beinen, die Hände in die Hüften gestemmt und den Blick

auf den Fußboden geheftet. Vor ihr stand der Spucknapf. Jetzt bückte sie sich und ergriff ihn.

„Jetzt kommst du raus, du Scheusal, und kriegst ein ordentliches Morgenbad, das hast du nötig! Wir wandern fröhlichen Mutes dahin, schnell ist der Fuß und leicht unser Sinn -.“ Singend verschwand Eirin durch die Tür, mit dem Erzfeind in der Hand.

Halfdan schloß leise wieder seine Tür. Gleich darauf hörte er Eirin zurückkommen. Der Spucknapf wurde an seinen Platz gestellt. Jetzt rasselte Koks in den Ofen; ein Zylinder klirrte. Es folgten rasche, beschwingte Schritte durch das Zimmer, begleitet von einem leisen, munteren Trällern. Dann ging wieder die Tür.

„Ah, guten Morgen, Peder Olai! Da bist du ja! Nun, ist der Finger wieder entzündet?“

Eine rauhe, brüchige Jungenstimme antwortete. Dann sprach Eirin wieder:

„Nanu, ist es heute die andere Hand? Wie in aller Welt kommst du bloß zu all deinen entzündeten Fingern, Peder Olai? Ach ja, ich verstehe schon – aber du mußt jetzt mal ganz besonders vorsichtig sein, auch wenn du auf Fischfang bist! Wie alt bist du, Peder Olai? Fünfzehn? Du bist diesen Winter zum ersten Mal mit draußen, nicht? Du sollst mal sehen, du wirst Baas auf einem großen Boot, ehe du einen Bart auf deinem Kinn hast!“

Halfdan hörte ein verlegenes Knabenlachen. Er machte die Tür auf und ließ Peder Olai ein.

Die Wartezimmertür öffnete sich noch oft an diesem Morgen. Eitrige Finger und pfeifende Brustkästen, entzündete Mandeln und schmerzende Zähne wurden behandelt. Marja von der Post hatte ihre Tochter geschickt, die ihr erstes Kind bekommen sollte. Sie war puterrot und schüchtern und sehr unglücklich. Eirin lud sie ein, ins Wohnzimmer zu kommen, und bot ihr einen Sprudel an. Die Tochter der Marja von der Post war noch nie beim Arzt gewesen, und dies heute war ihr nun besonders unangenehm. Aber die Mutter wollte durchaus, daß sie den Doktor aufsuchte, denn ihr tat seit langem der Rücken weh. Sie war so aufgeregt, daß sie sogar Tante Berthas gute Kekse verschmähte.

Eirin plauderte mit ihr und erzählte vom Südland: von den großen Krankenhäusern in Oslo, wo sie den ganzen Tag nichts anderes machten, als Frauen zu untersuchen, die Kinder erwarteten, und ihnen zu helfen.

„Und schließlich sind wir ja alle miteinander so auf die Welt gekommen“, lachte Eirin.

Ja, das war es gar nicht, wovor sich Marjas Tochter graulte. Daß sie ein Kind bekommen sollte, war ja ganz einfach, man

brauchte nur Jonsine auf dem Hang zu rufen, sie hatte so gut wie alle Kinder in Frostviken in den letzten fünfundzwanzig Jahren geholt. Aber zum Doktor zu gehen, zu einem Mann, den sie nicht kannte -!

„Aber meine Gute, jetzt hör mal zu!“ sagte Eirin. „Denkst du vielleicht, du bist die einzige, die der Doktor untersucht hat? Hundert-, ja tausendmal hat er Frauen untersucht, die ein Kind bekommen sollten und denen der Rücken weh tat und was sonst noch alles. Meinst du, er denkt: Dies ist also Elvina, verheiratet mit Lars Norderpollen, Tochter der Post-Marja, nein, wie dumm, daß ich sie jetzt untersuchen muß!“

Elvina mußte lächeln. Das klang ja ganz plausibel! Doch beruhigt war sie noch nicht.

„Was meinst du denn sonst, was er denkt?“ „Was er denkt? Er denkt: Hier fühle ich, daß das Kind genau so

liegt, wie es soll. Aha! Die Patientin klagt über Rückenschmerzen, da ist es das beste, wir untersuchen mal den Urin. Und dann bittet er dich, mit einer Probe in einer kleinen Flasche wiederzukommen. Er schreibt deinen Namen ins Protokoll, sagt: ,Auf Wiedersehen, Elvina’, öffnet die Tür und ruft: ,Der nächste, bitte!’ Und dasselbe hat er zu Hunderten von Frauen gesagt, verlaß dich drauf!“

Tante Bertha im Eßzimmer hörte fast alles. Ob nicht Eirin doch eine tüchtige kleine Doktorsfrau wurde?

Halfdan hatte noch nicht vom Heiraten gesprochen – noch nicht. Aber nach Weihnachten würde es wohl soweit sein, dachte Tante Bertha. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, daß es sein sollte, wenn die Sonne wieder da war. Ach, wie sie sich auf einen richtigen Sonnenstrahl freute!

„Kannst du nicht mit reinkommen?“ flüsterte Elvina, als Halfdan in der Tür erschien und sie ins Sprechzimmer rief.

Eirin wurde rot. Das hatte sie nun davon! Jetzt wurde sie auf die gleiche Probe gestellt. Jetzt war es an ihr, verlegen zu werden.

„Du bist doch Krankenschwester“, sagte Elvina und deutete auf Eirins weiße Schürze und Kappe.

„Selbstverständlich, ich gehe gern mit, wenn du es möchtest“, erklärte Eirin keck. Ihr war zwar nicht ganz wohl dabei. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Was hatte sie eben noch zu Elvina gesagt:

Glaubst du, der Doktor denkt: Nein, wie dumm, daß -! Ach was, er merkt es sicher gar nicht, daß da noch ein Dritter zugegen ist. In der Sprechstunde ist er nur Arzt – na also!

Elvina zuckte zusammen, als sie sich auf den Untersuchungsstuhl mit dem Wachstuch, mit der verstellbaren Rückenlehne und den blanken Bügeln legen sollte. Aber Eirin lächelte ihr aufmunternd zu, und da wurde Elvina ruhig. Sie preßte nur Eirins Hand und hielt den Blick unverwandt auf sie gerichtet.

Sie sagte auch hinterher nichts, bis sie aus dem Sprechzimmer heraus war. Da drehte sie sich zu Eirin um:

„Das war ja gar nicht schlimm!“ Eirin lachte. „Siehst du, es ist überhaupt nicht gefährlich, zum Doktor zu

gehen. Der Doktor ist doch zum Helfen da, das dürfen wir nie vergessen, und nicht, um einem weh zu tun. Im Gegenteil, er nimmt uns die Schmerzen! Jetzt sollst du mal sehen, wie schnell deine Rückenschmerzen verschwunden sind, und vielleicht kommt er auch, wenn die Zeit da ist, und holt dein Kind, zusammen mit Jonsine.“

Elvina lächelte glücklich. Sie eilte beschwingt zum Postamt, um der besorgten Mutter Bericht zu erstatten.

Eirin stand am Fenster und schaute ihr nach. Sie war Elvina dankbar. Ihr war plötzlich klargeworden, daß man

sich selbst hilft, wenn man anderen beisteht. Eirin wußte vor Arbeit nicht aus noch ein. Von früh bis spät war

sie auf den Beinen. Die Praxis vergrößerte sich von Tag zu Tag. Abends saß sie über den Weihnachtsvorbereitungen.

Halfdan hatte allmählich Ordnung in seine „Apotheke“ gebracht. Er war gezwungen, Kampfertropfen und Vaseline, Aspirin und Tran, Augensalbe, Verbandstoffe und tausend andere Dinge selbst zu führen. Eirin hatte es übernommen, die „Apotheke“ zu verwalten und Buch zu führen. Die Bilanz war niederschmetternd. Bis jetzt hatte er nämlich den dritten Teil des Warenvorrats verkauft und erst den zwölften Teil der Auslagen wieder hereinbekommen. Ein Geschäft wurde dieser Handel also nicht!

Die Honorare erhielt er von der Kasse. Hin und wieder kam es auch vor, daß ein Patient nicht versichert war und bar bezahlte. So verdiente er zwar, was er brauchte, aber Eirin mußte sehr bald erfahren, daß eine Kreisarztfrau in einem großen, öden Kreis weit oben im Norden in anderen Verhältnissen lebte als etwa die Frau eines gesuchten Spezialisten in Oslo, für die eigenes Auto, Persianer,

eine Hütte in den Bergen und eine Villa in Oslos bester Gegend wahrscheinlich selbstverständliche Dinge waren.

Bis in den späten Abend hinein saß Eirin und verfertigte Baumschmuck und Tischdekorationen. Außerdem half sie Tante Bertha beim Backen. Eine der Sprechstundenschürzen wurde zur Backschürze ernannt. Auf dem Tisch neben dem Herd türmten sich die Schürzkuchen auf den Flachbroten – goldgelb, fettig und knusprig.

Halfdan bekam frischgebackene Kuchen zum Nachmittagskaffee. Tante Bertha machte Sülze und Rollwurst. Sie hatte schon die besten Beziehungen angeknüpft zu allen, die Fleisch, Eier und Sahne liefern konnten. Viele merkwürdige Töpfe und Pakete wanderten durch die Küchentür ins Haus. Viele bedächtige Männer, schüchterne Kinder und dickvermummte Frauen wurden auf der Küchenbank abgefüttert. Tante Bertha unterhielt sich mit allen großartig.

Die „Schwiegertante“ des Doktors war in Frostviken rasch populär geworden. Sie war so vertrauenerweckend und zuverlässig, daß alle zu ihr kamen mit ihren Freuden und Leiden, vor allem aber auch mit ihren Körben voll Eier. Sie erhielten gute Bezahlung und als Zugabe gute Ratschläge und allerlei Lebensweisheiten.

Es war bitter kalt. Tante Bertha weinte ihrem elektrischen Ofen, den sie in ihrem Schlafzimmer in Oslo zurückgelassen hatte, manche Träne nach. In einem eisigen Zimmer aufzustehen, die Füße auf den Fußboden zu setzen, der so kalt war, daß die Zehen sich vor Schrecken krümmten, sich bibbernd anzuziehen, um sich dann vor dem altertümlichen Ofen mit Spänen und Holz, Papier und Zündhölzern herumzuschlagen, war schon ein zweifelhaftes Vergnügen. Dann ging’s in die große, eiskalte Küche hinunter, deren Fenster bis oben hin zugefroren waren. Aber Tante Bertha klagte nie. Sie war glücklich und guter Dinge bei all ihrer Mühsal. Schließlich arbeitete sie ja nur für Eirin. Und da es den Anschein hatte, als habe Eirin sich mit dem einsamen und arbeitsreichen Dasein ausgesöhnt, war sie zufrieden. Halfdan hatte doch gut daran getan, ihr diese Probezeit aufzuerlegen! Und wie recht hatte sie selbst gehabt, diesem Vorschlag zugestimmt zu haben! Wenn Halfdan und Eirin bald heirateten, brauchte sie keine Furcht mehr vor der Zukunft zu haben. Eirin wußte jetzt, was ihr bevorstand.

Halfdan hatte um diese Zeit seinen Spaß mit ihr. Sie rannte im Hause herum und tat heimlich. Kam er unversehens ins Wohnzimmer, dann fuhr Eirin mit einem Schrei in die Höhe und

versteckte ihr Strickzeug unter einem Sofakissen. Das Haus war von unten bis oben auf Hochglanz gebracht, es roch nach gutem Essen und Schmalz, und eines Tages zog würziger Tannenduft ins Haus. Mit dem Küstendampfer war eine kleine Weihnachtstanne gekommen. Eirin hatte sie selbst am Steg abgeholt. Mit dem gleichen Schiff kamen eine Kiste und ein paar Pakete für Tante Bertha und Halfdan, Dinge, die sofort vor Eirins Blicken verschwanden mit dem Bescheid, Fräulein Neugier solle sich bis zum Heiligabend gedulden.

Eirin schwelgte in Vorfreude und Erwartung. Sie gab unumwunden zu, daß sie sich dabei benahm wie ein kleines Kind.

„Hör zu, Halfdan“, sagte sie eines Abends kurz vor dem Zubettgehen, „ich habe mir schon ausgedacht, wie wir es machen wollen. So gegen eins essen wir erst unser zweites Frühstück. Dann waschen Tantchen und ich ab und decken den Kaffeetisch. Wir arbeiten alles auf, so daß wir’s uns für den Rest des Tages gemütlich machen können. Dann hören wir Gottesdienst im Radio, und um fünf Uhr trinken wir Kaffee mit einem Berg Kuchen dazu, Halfdan – du darfst so viele Vanillekringel essen, wie du nur kannst.“

Halfdan sah schuldbewußt aus. Er war ein hemmungsloser Verbraucher von Tante Berthas goldgelben, appetitlichen Vanillekringeln, und so versessen war er darauf, daß Tante Bertha zuletzt die Büchse verstecken mußte.

Eirin, ganz ernst bei der Sache, fuhr fort: „Dann zünden wir den Tannenbaum an. Und du spielst bitte alle

Weihnachtslieder. Du bist der einzige von uns, der spielen kann. Und dann – “

„Tanzen wir auch um den Baum herum?“ fragte Halfdan. „Das würden wir gut können, wenn wir nur noch ein paar mehr

wären. Aber da müssen wir warten, bis die ersten Kinder da sind. Ja – und dann verteilen wir die Geschenke. Du mußt Verse für die Pakete machen, denn das gehört dazu. Anschließend essen wir Schweinsrücken und Reisbrei mit einer Mandel drin und trinken dazu Rotwein – und hinterher gibt’s Äpfel und Nüsse und Cherry und was nicht alles –, ach, Halfdan, ich freue mich ja so sehr!“

Halfdan antwortete nicht. Lächelnd strich er Eirin über das Haar. Es tat so gut, ihren Kopf an seine Schulter zu drücken und dabei einen Augenblick die Augen zu schließen. Er war abgearbeitet und müde. Und deshalb fragte er sich, ob so ein Programm zum Weihnachtsabend wirklich angebracht war. Ihm wurde plötzlich bewußt, daß er Eirins große, kindliche Freude nicht teilen konnte. Er

besaß nicht ihr Temperament, nicht ihre heitere Gabe, in solchen Dingen so aufzugehen. Am liebsten würde er ganz still sitzen, hier im Sofa vor dem Feuerschein schlafen – schlafen, schlafen, mit Eirins Kopf an der Schulter.

Es zuckte in seinem Augenlid. Er hatte es schon seit mehreren Wochen gespürt. Sicher war er überanstrengt. Dumm vielleicht, den ganzen Abend über diesen Tuberkulinproben zu sitzen. Aber es gab weit und breit kein Laboratorium, wohin er sie hätte schicken können – und untersucht mußten sie werden. Er konnte dem Patienten nicht einfach sagen, es sei nur ein Anflug von Bronchitis, wenn er seiner Sache nicht ganz sicher war.

Er seufzte. Wenn er wenigstens einen kleinen Röntgenapparat gehabt hätte und eine gelernte Laborschwester! Wie sollte das weitergehen, wenn er noch lange die Arbeit von zwei Menschen erledigte?

Da sollte er nun noch Verse für Weihnachtsgeschenke machen! Dabei hatte er noch nicht einmal Zeit gehabt, auch nur a0 Weihnachtsgeschenke zu denken! Wenn Tante Bertha sich nicht erbarmt hätte, wer weiß, ob er überhaupt ein Geschenk für Eirin gehabt hätte. Sie war eines Tages, während Eirin beim Krämer war, zu ihm hereingekommen und hatte ihn daran erinnert, daß die Zeit hinginge, und wenn er etwas aus dem Süden geschickt haben wolle, dann…

Er hatte Tante Bertha um Rat gefragt. Und gestern war das große Paket vom Kürschner gekommen – ein Karton mit einer schönen, weichen, warmen Rehkitzjacke für Eirin.

Aber jetzt war er so müde, so unsagbar müde. Eirin sah reizend aus, wie sie da in der Tür stand, in einem

fußfreien, faltigen schwarzen Samtkleid mit einer alten, vergilbten Spitze um den Hals. In der Hand hielt sie einen dreiarmigen Leuchter mit gelben Honigkerzen.

Ihre Wangen glühten, die Augen leuchteten. Ihre schwarzen Locken schimmerten im Schein der Kerzen.

Halfdan war aufgesprungen und starrte sie an. „Eirin - “ Sie waren allein im Zimmer, allein mit dem Weihnachtsbaum,

dessen Lichter noch nicht brannten. Tante Bertha war in der Küche und filterte Kaffee. Eirin sollte nur die schweren Leuchter auf das Klavier stellen. Dann war in dem Zimmer alles fertig. Und jetzt

stand sie da, ein Bild strahlender Jugend und vollkommener Schönheit.

Halfdan fühlte, wie ihm das Blut ins Gesicht stieg. In diesem Augenblick wurde ihm bewußt, daß seine Arbeit ihn blind zu machen begann gegen alles, was sonst noch um ihn herum vorging. Er schalt sich einen unverbesserlichen Egoisten und schämte sich. Seit Wochen hatte er für dieses liebenswürdige Menschenkind kaum ein Auge, kaum ein gutes Wort gehabt!

Er trat zwei Schritte auf sie zu, nahm ihr den schweren Leuchter aus der Hand, bog ihren Kopf zurück und küßte sie.

„Mein wunderbares kleines Mädchen!“ Der Baum war angezündet, der Kaffee getrunken. Im Radio sang

ein Kinderchor „O du fröhliche“.

7

Die Holzscheite im Ofen prasselten. Im Eßzimmer stand der Tisch gedeckt mit dem Weihnachtsläufer und roten Kerzen. Tante Bertha hatte – eine kleine Schwäche von ihr – Räucherwerk auf den Ofen gelegt. Weihnachtsstimmung lag über dem Haus, füllte die Zimmer und drang tief in die Herzen der drei Menschen, die nachdenklich in den Lichterschein schauten.

Tante Bertha hatte noch immer das eine oder andere zu tun. Eirin und Halfdan waren ein paar Minuten für sich allein. Sie gaben sich der Stille hin und blinzelten versonnen zu den aufflackernden Kerzen hinüber.

„Eirin, was, meinst du, werden wir im nächsten Jahr um diese Zeit machen?“

Sie lehnte ihren Kopf an seine Brust. „Was glaubst du?“ Halfdan lachte.

„Ja – wenn alles so kommt, wie ich es mir denke, dann heiraten wir im nächsten Monat.“

„Dann sind wir nächste Weihnachten vielleicht zu dritt, eine richtige Familie“, sagte Eirin lächelnd. „Ich wünschte, das erste Kind war’ ein Junge.“

„Wir nehmen es artig in Empfang, auch wenn es ein Mädchen ist“, meinte Halfdan.

Tante Bertha kam wieder herein. Ein verheißungsvoller, leiser Hauch von Schweinebraten und Sauerkraut schwebte hinter ihr drein.

Eirin erhob sich. „Wollen wir jetzt die Geschenke verteilen? Ich bin nun lange genug brav gewesen.“

Die beiden andern lachten. Eirin hockte sich neben dem Baum nieder und zog ein langes Paket hervor. Das Rascheln von Papier vermischte sich mit dem Sausen des Windes, der in heftigen Stößen durch den Schornstein pfiff, so daß das Haus in allen Fugen ächzte.

„Scheußliches Wetter“, sagte Tante Bertha. „Für Eirin von Halfdan“, las Eirin laut und riß hastig an dem roten Zellophanband.

Da klingelte es an der Haustür. Die große Glocke im Flur schrillte durch das stille Haus.

Sie wechselten alle drei einen Blick. Eirin blieb auf dem Fußboden sitzen, das Paket im Schoß. Sie vergaß auszupacken. Halfdan erhob sich und ging hinaus.

Die beiden Zurückbleibenden sagten kein Wort. Aber Eirins braune Augen hatten einen bangen, gespannten Ausdruck angenommen.

Tante Bertha durchfuhr der Gedanke, wie oft wohl Eirin noch an Halfdans Seite in eine solche Situation kommen, wie oft wohl noch künftig ein solcher Abend von der schrillen Glocke gestört werden würde? Wie viele Stunden würde Eirin mit Warten verbringen, wie oft würde sie hier in diesem Zimmer umherwandern und aus dem Fenster schauen?

Eirin kniete auf dem Fußboden, von dem wogenden schwarzen Samtrock eingerahmt. Das halbgeöffnete Paket entglitt ihr. Sie hatte draußen vom Flur ein paar Worte aufgefangen. Jetzt hörte sie Schritte. Das war Halfdan. Er ging ins Sprechzimmer hinüber.

Sie horchte mit offenem Munde. Jetzt trat er an den Tisch, auf dem die Instrumententasche lag.

Jetzt holte er eine Spritze aus dem Sterilisator. Nun zog er die mittlere Schublade des Schreibtisches auf – Eirin kannte das Knacken der Schublade. Darin lag die Tasche mit den Entbindungsinstrumenten.

Da sprang sie auf und stürzte zur Tür. Im selben Augenblick wollte Halfdan eintreten. Auf der Schwelle stießen sie zusammen.

„Halfdan! Du gehst jetzt nicht fort!“ Die Stimme kippte über vor Angst. „Ich muß, Eirin, Elvina in Norderpollen – “ „Ganz bis nach Norderpollen, Halfdan! Und in diesem Wetter!

Dann mußt du ja mit dem Boot weg – “ „Ja, das muß ich. Lars fürchtet, daß sie es nicht schafft, wenn ich

nicht – “ „Ist denn nicht Jonsine auf dem Hang bei ihr?“ „Jonsine wagt nicht mehr, allein zu bleiben. Es geht jetzt schon

seit sechzig Stunden. Jonsine läßt mir sagen, es eile.“ „Aber Halfdan – Halfdan –, es ist doch Heiligabend -!“ „Wir haben viele Heiligabende vor uns, Eirin. Willst du, daß dies

das letzte Weihnachten für Elvina wird?“ „Es gibt Tausende von Frauen, die nur eine Hebamme haben und

auch durchkommen! Aber sie muß natürlich einen Arzt haben – an einem Weihnachtsabend! Natürlich muß sie sich interessant machen! Ist es denn für Elvina schlimmer, ein Kind zu bekommen, als für so viele andere?“

Eirin vergaß ganz, daß sie selbst einmal Elvina versprochen hatte, der Arzt würde kommen, ihr Kind zu holen, wenn es Jonsine allein nicht schaffte.

Halfdan war weiß im Gesicht. Er sah Eirin voll an. „Ich schäme mich deinetwegen, Eirin!“ Dann machte er kehrt und ging. Aber Eirin stand mit funkelnden

Augen in der Tür und schrie mit tränenerstickter Stimme hinter ihm her:

„Ja, schäm du dich nur! Ich bin ja nur Eirin, ich bin kein interessanter Fall – auch kein einträglicher Patient –, ich bin gut genug, um deine Fußböden aufzuwischen – “

Da fühlte Eirin um ihren Arm einen harten Griff. Sie wurde in die Stube gezogen, und die Tür wurde hinter ihr zugeworfen.

Vor ihr stand Tante Bertha. Auf ihren blassen Wangen erschienen zwei hektische rote Flecken. Die Augen blitzten.

Mit ihrer linken Hand hatte sie Eirins Schulter so hart gepackt, daß es ihr weh tat. Und mit der rechten gab sie ihr eine schallende Ohrfeige.

„Unanständiges, egoistisches Geschöpf“, sagte Tante Bertha, und ihre Stimme war heiser vor Erregung. „Setz dich und überleg dir, was du eben zu Halfdan gesagt hast. Warte auf ihn, bis er nach Hause kommt, und wenn es die ganze Nacht dauert. Und dann sieh zu, ob er dir verzeiht. Wenn er das tut, dann ist er ein noch besserer Mensch, als ich sowieso schon angenommen habe!“

Tante Bertha löschte die Lichter am Baum. Eirin stand stumm und regungslos und folgte der Tante mit den Augen. Diese schritt ruhig zum Klavier und blies auch die Kerzen in den dreiarmigen Leuchtern aus. Dann ging sie in die Küche und nahm den Braten aus dem Herd. Kurz darauf hörte Eirin schwere Schritte auf der Treppe. Die Tante ging in ihr Zimmer hinauf.

Da kauerte sich Eirin im Sofa vor dem Ofen zusammen. Wut und Erregung schwanden. Zurück blieb ein trostloses Gefühl der Verlassenheit. Allmählich kroch die Reue in ihr hoch. Sie lehnte den Kopf gegen die Sofalehne, und dann kamen die Tränen.

Holzscheite im Ofen sanken zusammen und wurden zu Glut. Eirin fror in ihrer Sofaecke. Wie lange sie so zusammengekauert gesessen hatte, wußte sie nicht, aber ihr kam es wie eine Ewigkeit vor. Es kostete sie Anstrengung, sich so weit vorzubeugen, daß sie neues Brennholz auf die Glut legen konnte. Sie wimmerte leise. Ihr ganzer Körper war steif vom Sitzen.

Wo Halfdan jetzt wohl war? Ob er Norderpollen schon erreicht hatte? Konnte er Elvina helfen? Wer weiß, vielleicht war das Kind gekommen und alles in Ordnung, ehe Halfdan eintraf?

Ein ohnmächtiger Haß gegen Elvina stieg in Eirin hoch. Diese Elvina! Hier war sie gewesen und hatte Trost und Hilfe erhalten! Ihretwegen hatte sie Schüchternheit niederkämpfen müssen. Man hatte ihr die Hand gehalten und ihr in jeder Weise beigestanden. Und dieser Elvina sollte es gestattet sein, ihnen den Heiligabend zu verderben? Oh, es war so ungerecht, so gemein, so abscheulich! Dieser Person hatte sie es jetzt auch noch zu verdanken, daß sie sich vor Halfdan schämen und sich von ihrer Tante ohrfeigen lassen mußte!

Die bösen, häßlichen Worte, die sie hinter Halfdan hergerufen hatte, ach, die waren doch nicht so gemeint gewesen! Sie war eben außer sich vor Enttäuschung. Aber das entschuldigte ihr Verhalten nicht. Sie nahm sich vor, Halfdan um Verzeihung zu bitten. Ja, sie würde ihm erklären, daß – ja, was würde sie denn erklären? Gab es für ihr Benehmen überhaupt eine Entschuldigung? Gab es eine Erklärung, die Halfdan anerkennen würde?

Großer Gott – was mochte sie in ihrer hemmungslosen Wut angerichtet haben! Am Ende hatte sie ihre ganze Zukunft zerstört, und die Halfdans dazu! Und alles nur, weil sie Halfdan ganz für sich haben wollte, und nur weil sie ihn so liebhatte!

War es wirklich so? Eine innere Stimme mahnte: Du hast dich selbst so lieb! Du bist eine große Egoistin, und du bist gar keine Arztfrau. Lerne erst einsehen, daß du selbst erst in zweiter Linie kommst! Lerne Nächstenliebe! Lerne Opferwillen! Du wurdest heute abend auf eine harte Probe gestellt. Und du bist jämmerlich durchgefallen. Schäm dich, Eirin!

Ein Windstoß riß und zerrte am Haus. Ein klirrendes Geräusch folgte. Ein Dachziegel hatte sich gelöst und zerschellte auf dem Pflaster.

Eirin zuckte zusammen. Plötzlich bangte sie um Halfdan. Sie sah ihn vor sich, wie er im Boot saß, in den dicken Mantel gehüllt, die Pelzmütze auf dem Kopf. Vielleicht dachte er an sie und schämte sich ihretwegen.

Eirin warf sich auf das Sofa und schluchzte in ein Kissen. Tante Bertha im südlichen Giebelzimmer hörte das Weinen. Sie war hellwach. Kein Auge hatte sie zugetan.

Ganz steif lag sie in ihrem Bett und lauschte. Auch sie kämpfte mit sich. Eirins Jammer zerschnitt ihr das Herz. Sollte sie zu ihr hinuntergehen, sie in den Arm nehmen und ihr die Tränen trocknen, sie trösten, ihr gute Worte zuflüstern?

Das Schluchzen da unten wollte kein Ende nehmen. Jetzt ging es allmählich in ein Wimmern über. Nein, kleine Eirin! Du erhältst keine Hilfe! Diese Nacht mußt du allein durchstehen. Vielleicht ist dies die Stunde, die dich zur Frau reifen läßt. Du mußt jetzt lernen, Halfdan eine Gattin zu sein. Diesen Abend wirst du nie vergessen – und du darfst ihn auch nicht vergessen! Du wirst dem lieben Gott für diese bittere Lehre noch einmal Dank wissen.

Tante Bertha schloß die Augen und faltete die Hände. Und während Eirin ihre eigene Torheit beklagte, betete sie für den, der in dieser Sturmnacht draußen war, und für die, die dort unten lag und weinte.

Die Stunden vergingen. Eirin schritt im Zimmer auf und ab. Sie lief zum Fenster.

Draußen stand die Finsternis wie eine schwarze Mauer. Der Wind heulte im Schornstein. Im Raum war es so kalt, daß Eirin die Zähne aufeinanderschlugen. Sie wandte sich zur Tür, um ihre Strickjacke aus dem Flur zu holen. Da stolperte sie über Halfdans Paket, das sie weiter auszupacken vergessen hatte.

Als sie es aufhob, rutschte der Deckel von der Schachtel. Eine hellbraune Pelzjacke fiel heraus. Eirin bückte sich und hob die Tacke auf. Zögernd schlüpfte sie hinein. Wie behaglich das war! Nachdenklich strich sie über das weiche Fell. Dann knöpfte sie die Jacke am Halse fest und ging von neuem auf und ab – auf und ab - Jetzt mußte er schon auf dem Nachhauseweg sein. Herrgott, wie würde sie aufatmen, wenn sie seine Schritte draußen im Flur hörte! Schon vorher mußte die Tür knarren. „Lieber Gott, schenke ihn mir zurück, ich werde niemals wieder – “

Sie horchte. Plötzlich stürzte sie zur Tür und riß sie auf. Ein eisiger Windstoß fuhr ihr ins Gesicht und nahm ihr den Atem. Es war nichts.

Also mußte sie ihre Wanderung durch das Zimmer wiederaufnehmen – auf und ab -

Und dann diese Finsternis! Daß man sich nicht einmal auf den Morgen freuen konnte! Es wurde ja hier niemals Tag. Ein paar Stunden vielleicht, gegen Mittag, konnten sie die Lampen löschen. Was war das für ein Leben!

Sie wanderte ins Wohnzimmer, ins Eßzimmer, ins Sprechzimmer. Sie stand vor dem Schreibtisch und starrte die Kleinigkeiten an, die darauf lagen, als sähe sie alles zum ersten Mal. Dort hing Halfdans weißer Mantel. Einen Augenblick drückte sie ihr heißes Gesicht in das kühle Leinen. Sie strich zärtlich über den Tischrand, sie berührte den Rezeptblock, den Briefbeschwerer, das Papiermesser, nur um etwas zu fühlen, das ihm gehörte.

Dann ging sie wieder hinaus. Die Uhr schlug viermal. Vier! – Jetzt war er seit zehn Stunden

unterwegs. Zehn endlose, einsame Stunden. Zehnmal sechzig – sechshundert lange Minuten qualvollen, ängstlichen Wartens.

Eirin konnte nicht mehr weinen. Sie hatte sich ausgeweint, sie war leer.

Wieder zum Fenster hin – an der Gardine gezupft – das Bild gerade gerückt, das schief hing. Ihre Hand glitt automatisch in die große, flache Holzschale, in die sie die Post zu legen pflegten. Sie war voller Weihnachtskarten, die sie an diesem Abend zusammen lesen wollten.

Eirin hob die Schale auf und setzte sich damit hin. Vielleicht konnte sie ein paar Minuten vergessen. Vielleicht kam Halfdan inzwischen.

Es waren Karten mit Weihnachtsschnee und Glitzerstaub, Schneelandschaften, Hochgebirgsansichten, Skibildern. Freunde und Freundinnen aus dem Süden wünschten frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr – wenn die wüßten! -

Da war auch eine Karte von ganz anderer Art – an Halfdan gerichtet. Palmen waren darauf abgebildet, tiefblauer Himmel und Orangenbäume. Die Rückseite war dicht beschrieben. Eirin las sie ohne Gewissensbisse. Sie und Halfdan lasen immer ihre offenen Karten. In der Regel waren sie an sie beide gerichtet.

Zuerst kam eine Frage fachlicher Art: ob Halfdan sich erinnern könne, aufweiche Abhandlung sich Professor L. in seiner letzten Vorlesung bezogen hatte. Und weiter: „Ich werde Weihnachten hier unten in Monte Carlo feiern. Es ist herrlich, unter Palmen und Orangenbäumen zu wandeln, die Sonne zu genießen und an Euch da oben dicht am Nordpol zu denken. Nach Weihnachten gehe ich an die Sorbonne. Du hörtest vielleicht, daß mein Onkel in Tromsö gestorben ist, kurz nachdem ich Dich auf dem Schiff getroffen hatte. Ich bin also ein wohlhabender Mann geworden. Die Umstellung fiel mir nicht sonderlich schwer. Laß es Dir gutgehen, und grüß Deine

Verlobte! Oder ist sie jetzt Deine Frau? Herzlichen Gruß und fröhliche Weihnachten Euch beiden. Fredrik B.“

Monte Carlo. Sonne. Blauer Himmel. Orangenbäume! Leichte helle Kleider. Sekt in glitzernden Kühlern. Tanz im Kasino. Reitausflüge. Tennis. Duftende Rosen. Blaues Mittelmeer!

Eirin fröstelte es in der Pelzjacke. Plötzlich Schritte draußen! Jemand trampelte Schnee von den

Stiefeln. Sie sprang auf und lief zur Tür. Alles, was sie sagen wollte, war mit einemmal vergessen. Noch

vor einer Stunde hätte sie sich vor Halfdan auf die Knie werfen und ihn um Verzeihung anflehen können. Hätte er sie abgewiesen – sie würde ihm dafür gedankt haben.

Aber es gab Menschen, die unter einem azurfarbenen Himmel am Mittelmeer entlanggingen! Es gab Menschen mit Sonnenfunken in den Augen und einer warmen, verschleierten Stimme. Es gab Frauen, die mit reichen, frohen, glücklichen jungen Männern verheiratet waren – Frauen, die am Weihnachtsabend nicht allein zu sitzen brauchten.

Sie hörte seine Schritte im Flur. Das Herz schlug ihr bis in den Hals hinauf.

Da stand er in der Tür. Sie sahen sich schweigend an. Halfdan war naß, durchfroren,

müde. „Du bist noch auf?“ „Ja.“ „Ist etwas Heißes zum Trinken da?“ „Ich gehe in die Küche und mache etwas heiß.“ Eirin zitterte. Es war eiskalt in der Küche. Sie zündete den

Petroleumkocher an und machte Kaffee. Halfdan folgte ihr. Er ging in die Speisekammer, suchte und kam,

an einem Stück Braten kauend, wieder heraus. „Setz dich neben den Herd. Ich mach’ Feuer. Du wirst ein paar

Butterbrote essen wollen?“ „Ja, danke. Ich habe Hunger.“ Halfdan machte selbst Feuer im Herd an. Eirin band sich eine

von Tante Berthas Küchenschürzen um. Ihre Hände streiften dabei das weiche Fell der neuen Jacke.

„Ich danke dir für die Jacke, Halfdan! Sie ist wirklich wunderschön.“

„Hoffentlich paßt sie“, entgegnete Halfdan. Weiter sagten sie beide nichts. Eirin belegte Butterbrote mit Schinken und Braten. Ihre Hände flogen. Schade um den schönen Weihnachtsbraten, dachte sie flüchtig. Statt in guter Laune am festlich geschmückten Tisch zu Sauerkraut und Rotwein gegessen zu werden, wurde er jetzt achtlos in Stücke geschnitten und stehend verschlungen.

Eirin setzte das Teebrett mit Broten und Kaffee auf einen Hocker neben dem Herd. Halfdan aß gierig. Sie selbst brachte keinen Bissen herunter. Aber sie trank zwei Tassen von dem starken, kochendheißen Kaffee.

Wäre ich vernünftiger gewesen, könnten wir jetzt den Heiligabend noch feiern, ging es ihr durch den Sinn. Wir hätten wieder den Baum anzünden, das Essen wärmen und Weihnachtslieder spielen können, auch wenn es vier Uhr morgens war. Es wäre noch eine wunderbare, unvergeßliche Weihnacht geworden. Aber die häßlichen, eigennützigen Worte, die sie Halfdan mit auf den Weg gegeben hatte, standen zwischen ihnen – unvergessen, unvergeben. Sie waren nicht mehr wegzunehmen, sie standen gleichsam im Raum, erfüllten das Haus. Und Eirins Bereitschaft, Halfdan um Vergebung zu bitten, hatte sich in Trotz verwandelt, seit die Ansichtskarte mit Palmen und blauem Himmel ihr vor die Augen gekommen war. Müde, enttäuscht, unzufrieden mit sich selbst, immer noch geschüttelt von der Angst, die sie um Halfdan ausgestanden hatte – das alles nahm ihr die Kraft, ein versöhnliches Wort zu sagen. Was blieb, war eine unbestimmte, verzweifelte Sehnsucht nach Licht und Wärme. Halfdan stand auf. „Ich danke dir.“ Eirin begann die Sachen wegzuräumen. „Wie geht es Elvina?“

„Gut – jetzt. Gute Nacht, Eirin.“ „Gute Nacht.“ Sie stand starr und lauschte. Er ging hinauf. Sie hörte seine festen

Schritte auf der Treppe. Jetzt betrat er das nördliche Giebelzimmer und schloß die Tür hinter sich.

Frierend und niedergeschlagen räumte Eirin die Tassen weg und legte Tante Berthas Schürze ab. Dann ging sie ins Zimmer zurück – überlegte einen Augenblick und begab sich ins Sprechzimmer. Sie hatte einen Leuchter in der Hand, einen Leuchter mit einem roten Licht.

Sie nahm einen Bleistift vom Schreibtisch und riß ein Blatt vom Rezeptblock ab.

Nur ein Wort schrieb sie darauf, nahm den Zettel mit, tappte leise nach oben, streifte die Schuhe ab und ging auf Strümpfen bis zu Halfdans Tür. Sie schob das Papier unter die Türritze und tappte zurück.

Halfdan hatte das Rascheln an der Tür gehört. Er stand wieder auf und machte Licht. Etwas Weißes schimmerte auf der Schwelle.

Er hob den Zettel auf. „Verzeihung!“ Halfdan sah ernst und lange auf die ungleichmäßigen

Bleistiftzeichen. Er schüttelte den Kopf. In dieser Nacht hatte er zuviel gelitten, als daß alles mit dem kleinen Wort „Verzeihung“, das ihm da unter die Tür geschoben wurde, vergessen sein konnte.

Aber es tat ihm doch wohl. Die Stimmung beim Frühstück am nächsten Morgen war

freundlich. Eirin hatte sorgfältig darauf geachtet, daß Halfdans Ei richtig gekocht und der Kaffee heiß genug war. Auf Tante Berthas Vorschlag holten sie die Weihnachtsgeschenke an den Tisch und verteilten sie – schöne, amüsante und nützliche Geschenke. Sie dankten lächelnd einander und freuten sich, wie eben erwachsene, wohlerzogene Menschen, die schenken und empfangen, sich bedanken und freuen.

Halfdan schlug einen Spaziergang vor. Der Sturm war abgeflaut. Es war schneidend kalt.

Tante Bertha wollte lieber zu Hause bleiben. Aber Eirin zog die neue Jacke an und ging mit Halfdan fort – er in dem Pullover, den sie für ihn gestrickt hatte.

Sie sprachen nicht viel auf dem Weg zum Landungssteg hinunter, einem der wenigen Wege, die sie gehen konnten.

Sie wechselten ein paar Worte über das Wetter, die Praxis, das Mittagessen, sie begrüßten ernst dreinschauende Fischer im Feiertagsstaat und kleine Kinder mit neuen Kappen und Fausthandschuhen.

„Hat Elvina einen Jungen bekommen oder ein Mädchen?“ fragte Eirin unvermittelt.

„Einen Jungen. Er war schon da, als ich kam.“ Eirin blickte auf. Die Antwort klang sachlich und trocken. „Bevor du kamst –?“ „Ja.“ Halfdan schwieg wieder. Aber dann sagte er – und jetzt mit

erhobener, fester Stimme:

„Es ist besser zu kommen, wenn man nicht gebraucht wird, als gebraucht zu werden, wenn man nicht kommt.“

Eirin gab keine Antwort. Wieder wollte Bitterkeit in ihr aufsteigen. Also war es nicht ganz unberechtigt gewesen, was sie gestern abend unbeherrscht herausgeschrien hatte. Elvina hätte sich auch ohne Halfdan behelfen können, und im Doktorhause sähe es heute anders aus! Aber tief in ihrem Innern sagte eine Stimme: „Man erringt nicht das Glück, indem man den Prüfungen aus dem Wege geht, sondern indem man sie besteht!“

Sie standen am Kai und sahen aufs Meer. Kalte grauschwarze Wellen spielten mit den Ufersteinen. So spielten auch die Wellen des Mittelmeeres – aber sie waren blau!

8 Tante Bertha machte sich Sorgen. Sie mochte den Ton nicht, der

im Hause herrschte. Die ganze Atmosphäre paßte ihr nicht. Das Schwierige war, daß sie keine Gelegenheit fand einzugreifen. Äußerlich ging alles glatt. Halfdan und Eirin waren freundlich, höflich, gefällig und aufmerksam zueinander. Eirin stand zeitig auf und kam ihren Pflichten mit einer Aufmerksamkeit nach wie nie zuvor. Sie war hilfsbereit und fleißig. Wenn keine Sprechstunde war, stopfte sie Halfdans Strümpfe und hielt seine Sachen in Ordnung. Oft ging sie in die Küche und bereitete noch etwas Gutes für ihn. Halfdan war dankbar für alles, was sie tat, und er versäumte nie, sie zu loben, wenn sie es verdiente. Er ermahnte sie, ihre täglichen Spaziergänge zu machen, er verordnete ihr Eisen, weil er fand, sie sei zu blaß und blutarm. Ja, sie waren sehr nett zueinander! Tante Bertha wußte auch, warum: Sie empfanden nicht mehr die rückhaltlose, unbekümmerte, beglückende junge Liebe, die es sich auch einmal leisten kann, etwas nachlässig und unaufmerksam zu sein. Seit jenem Weihnachtsabend taten sie alles bewußt und überlegt. Die gegenseitigen Beweise ihrer Liebe glichen höflichen Gesten. Ihrem innersten Gefühl, ihren Gedanken und Worten fehlte die Wärme. Sie bildeten keine glückliche Einheit mehr, die drei Menschen, die so ganz aufeinander angewiesen waren. Sie waren drei einsame Einzelwesen, jedes an seinem Platz, jedes allein mit seinen Sorgen und Problemen.

Die Wandlung offenbarte sich bei Eirin am stärksten: Vor wenigen Wochen noch das „Kind“ im Haus mit all seiner Unberechenbarkeit und Impulsivität, mit seinem Schmollen und seinem fröhlichen Lachen, war sie jetzt plötzlich eine ruhige, beherrschte und etwas zurückhaltende erwachsene Dame.

„Der Kuckuck hole sie beide“, brummte Tante Bertha. Sie stand in der Küche und schlug Schlagrahm für den sonntäglichen Nachtisch. Sie schlug so kräftig zu, daß die Sahne umherspritzte. „Diese Dickschädel! Hier tagaus und tagein herumzugehen und sich gegenseitig eine widerwärtige Komödie vorzuspielen – Prügel müßten sie haben, die beiden eigensinnigen Kinder! Mit jedem Tag werden sie dünner und blasser. Sie vergessen, daß der liebe Gott ihnen die Sprache geschenkt hat, damit sie sich einander verständlich machen können. – Die Schafsköpfe!“

Tante Bertha stellte die Schale mit der Creme beiseite, wusch den Schläger ab und fuhr damit mehrmals durch die Luft, damit das Wasser abtropfte. Am liebsten hätte sie das Gerät „den beiden eigensinnigen Kindern“ um die Ohren geschlagen.

Halfdan war von seinen Krankenbesuchen zurückgekehrt und saß in seinem Behandlungszimmer, den Kopf in die Hände gestützt. Er war müde und mutlos. Schien es nicht so, als habe er das große Opfer umsonst gebracht? Statt nach Frostviken zu gehen und sich hier in schwerer, aufreibender Arbeit zu begraben, hätte er im Krankenhaus als Brattholms Assistent bleiben und eines Tages Stationsarzt werden können. Mit der Zeit wäre er einer der ersten Chirurgen des Landes geworden. Die Frau, um derentwillen er das Opfer auf sich genommen hatte, hatte versagt.

Er hatte sich nach dem bösen Heiligabend noch nicht mit ihr ausgesprochen. Es war an ihr, sich zu erklären, sich für ihr Benehmen an jenem Abend zu entschuldigen und zu sagen, was nun werden sollte: Ob sie noch einmal versuchen wollte, sich mit diesem Dasein auseinanderzusetzen – oder ob sie es vorzöge, ihre gemeinsamen Pläne aufzugeben und wieder in den Süden zurückzukehren?

Halfdan war nicht sicher, wie sie entscheiden würde. Wenn sie ihn wirklich liebte, würde sie ihn nicht verlassen, zumal sie wissen mußte, wie sehr auch er sie liebte. Trotzdem fand er noch heute keine Antwort auf die Frage, wie sie es fertigbringen konnte, so herzlose Worte zu sagen, und es schmerzte ihn immer wieder aufs neue, wenn er an diese Szene zurückdachte. Seit jenem Abend tat er das einzige, was ihm übrigblieb: Er war höflich und zuvorkommend zu ihr – und wartete. Kam sie zu einer Tür herein, begegneten sie sich auf der Treppe oder bei den Mahlzeiten, wartete er, ob sie wohl sprechen wollte. Jetzt mußte sie doch endlich zu ihm kommen, ihre Hand auf die seine legen und sagen – ja, was würde sie wohl sagen? „Laß uns wieder gut sein, Halfdan“ – nein, sie würde sagen: „Verzeih mir, sei nicht mehr böse“ – oder: „Halfdan, darf ich nicht mal mit dir sprechen – oder – oder – “

Die Tür ging. Halfdan fuhr zusammen. War jetzt der Augenblick gekommen? Würde jetzt endlich reiner Tisch zwischen ihnen gemacht werden?

„Bitte, Halfdan, das Essen ist fertig.“ „Danke, Eirin. Ich komme.“

Eirin machte allein einen Spaziergang. Sie ging wie gewöhnlich zum Landungssteg hinunter. Dort gab es allerlei zu sehen. Der Steg war umgebaut und verlängert worden. Jetzt konnte der Schnelldampfer anlegen, und die umständliche Umsteigerei in das Motorboot war nicht mehr nötig.

Sie stand am Ende des Stegs und starrte auf die graue See hinaus. Der Anblick der schwarzen Wasserwüste und des ewig verhangenen Himmels machte sie noch trostloser, als sie es so schon war.

Wie lange sollte das so weitergehen? Würden sie jemals wieder so glücklich sein können wie vor drei Monaten? Ihr war, als habe sie in diesen drei Monaten ein ganzes Leben hinter sich gebracht, ein Leben voller Arbeit, voller Sorgen, Freuden und Enttäuschungen, ein Leben voller Kampf und Niederlagen.

Warum fand Halfdan kein gutes Wort? Sie hatte doch um Verzeihung gebeten – an jenem eiskalten Weihnachtsmorgen, als sie in seinem Sprechzimmer stand und auf einen Zettel „Verzeihung“ schrieb. Er aber tat, als wüßte er gar nichts davon.

War ihr Verhalten wirklich so unverzeihlich? Oder – war Halfdan so enttäuscht von ihr, daß er es einfach nicht fertigbrachte, mit ihr zu sprechen? Wollte er sie los sein?

Eirin lief auf dem Landungssteg hin und her. Nein, so ging es nicht weiter. Sie konnte einfach nicht mehr. Eine

Aussprache mußte herbeigeführt werden. Noch heute abend würde sie zu ihm gehen, wenn er in seinem Sprechzimmer saß. Sie mußte hineingehen und versuchen, mit ihm ins reine zu kommen.

Halfdan war auf Krankenvisite, als sie nach Hause kam. Er sei nach Skaerviken gefahren, sagte Tante Bertha. Dann blieb er lange fort.

Eirin machte eine Platte Schnitten für ihn zurecht und setzte die fertige Fleischbrühe in der kleinen Kasserole auf den Spirituskocher. So konnte er sich selbst bedienen, wenn er spät in der Nacht nach Hause kam.

Halfdan saß im Motorboot. Es war halb zwölf. Auf diesem Heimweg hatte er sich entschlossen, mit Eirin zu sprechen, wenn sie aufgeblieben war und auf ihn wartete. Sie hatten ihre ganze Zukunft auf ihre Liebe gebaut. Diese Zukunft durfte an ein paar unbedachten Worten ebensowenig scheitern wie an ihrer beider Dickköpfigkeit.

Aber Halfdan kam in ein finsteres und stilles Haus. Eirin war ins Bett gegangen.

Und so kam es, daß sie beide eine schlaflose Nacht verbrachten, jeder in seinem Giebelzimmer; eine Nacht, in der sie beide dalagen und sich mit dem gleichen Gedanken herumschlugen: Morgen müssen wir uns aussprechen.

Am nächsten Morgen überstürzten sich die Ereignisse. Halfdan wurde in aller Frühe zu einem Kranken gerufen und eilte aus dem Haus. Als er zurückkehrte, war das Wartezimmer überfüllt.

Tante Bertha erhielt den Bescheid, sie möchte bei Hanna Fjellhammer hereinschauen; Hanna läge krank; den Doktor wolle man nicht behelligen, es sei bloß der Hexenschuß, und Hanna wüßte schon, was sie dagegen machen müßte; aber sie brauche jemanden, der nach den Kindern sähe, bis die Schwester zur Aushilfe eingetroffen sei.

Tante Bertha war in schwierigen Fällen die Zuflucht von ganz Frostviken.

Halfdan war nach der schlaflosen Nacht und dem frühen Krankenbesuch müde, abgehetzt und nervös.

Auch Eirin fühlte sich übernächtigt. Ihr Gefühl sagte ihr, daß heute etwas geschehen würde, und als plötzlich draußen auf dem Flur das Trampeln vieler schwerer Stiefel vernehmbar wurde, erschrak sie heftig. Ein Unfall, durchfuhr es sie. Als sie hinauseilte, sah sie flüchtig ein totenblasses Gesicht. Sie pochte an die Tür des Sprechzimmers. „Halfdan – ein Unglück ist geschehen!“ Wieder hörte sie das Schlurfen der schweren, nassen Stiefel. Ein Körper wurde auf das Krankenbett im Sprechzimmer gelegt. Dann tappten die Stiefel schwerfällig wieder hinaus. „Eirin, komm herein und hilf mir!“ Sie flog sofort hinüber, zitterte aber am ganzen Leibe. Ausgerechnet heute sollte sie Halfdan zur Hand sein! Müde und zerschlagen, wie sie war, ahnte sie gleich, daß sie nicht durchhalten würde. Schon das Stöhnen des bleichen Mannes auf dem Krankenbett tat ihr in den Ohren weh, und der Anblick seines schmerzverzerrten Gesichtes ließ ein beklemmendes Gefühl und Übelkeit in ihr hochsteigen.

„Hol die Schachtel mit den Morphiumampullen! Und die kleine Spritzenein, die nicht, gib mir den ganzen Sterilisator!“ Eirin brachte das Verlangte. Halfdan schnitt dem Verunglückten die Kleider vom Leibe. Jetzt erst konnte Eirin ihn richtig sehen.

Das rechte Hosenbein war zerfetzt. Hoch oben am Oberschenkel stach etwas hervor – Eirin starrte darauf – weiße Knochensplitter! – Der Schenkelknochen war zersplittert und stak heraus. Das Blut

strömte, breitete sich aus, bildete einen dicken, nassen Fleck, der von dem Zeug aufgesogen wurde.

Eirin wurde es schwarz vor den Augen. Sie merkte noch, wie Halfdan einen Arm des Mannes entblößte, um ihm eine Morphiumspritze zu geben. Sie starrte noch einmal wie hypnotisiert auf den zersplitterten Knochen, stieß einen Schrei aus, der Behälter mit den sterilen Spritzen entglitt ihren Händen und fiel klirrend zu Boden.

„Ich kann nicht!“ schrie sie. „Ich kann das nicht – nein - nein!“ Halfdan war ebenso weiß im Gesicht wie der Mann auf dem Ruhebett.

„Hysterisches Frauenzimmer!“ stieß er hervor. „Mach, daß du rauskommst, du verhätschelte Zimperliese! Raus mit dir, sag ich!“

Eirin warf die Schachtel mit den Ampullen fort und stürzte, von Tränen geblendet, aus der Tür.

Sie rannte in ihr Schlafzimmer hinauf, warf sich aufs Bett und weinte und tobte. Diese Blamage! Sie schämte sich so, daß sie sich am liebsten verkrochen hätte. Um ihre eigenen Gedanken auszusperren, bohrte sie die Finger in die Ohren. Gleich darauf riß es sie wieder hoch. Sie stürzte zum Toiletteneimer und erbrach sich. Der Ekel schüttelte sie.

Wimmernd schleppte sie sich zum Bett zurück. Allmählich wurde sie ruhiger. Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, starrte sie zur Zimmerdecke hinauf. Tief in ihrem Innern spürte sie einen dumpfen, schweren Schmerz, der sie gleichgültig machte gegenüber allem, was geschehen war. Fast schien es ihr, als sei alles nur ein böser Traum gewesen, ein Traum wie viele andere, die sie in den letzten Tagen geträumt hatte. -

Ein schriller Ton ließ sie auffahren. Die Schiffspfeife! Das Ankunftssignal des

Küstenschnelldampfers! Eirin war im Nu hellwach. Richtig, heute ging der Dampfer nach

dem Süden! War das ein Zeichen, ein Wegweiser aus dem Irrgarten, in dem sie sich befand?

Eirin überlegte nicht lange. Sie handelte blitzschnell, fast mechanisch, von einer Macht getrieben, die sie selbst nicht begriff. Sie warf Toilettensachen, einen Pyjama, ein Kleid und ein Paar Schuhe in einen kleinen Koffer. Aus der Kommoden-Schublade nahm sie den Umschlag mit dem Bankbuch und alle Dokumente, den

Taufschein und den Impfschein und – nein, nicht denken, nur weg, weg!

Sie ergriff die Geldbörse mit dem, was sie in bar besaß. Sie riß eine Seite aus dem Notizbuch und schrieb ein paar eilige Worte darauf. Den Zettel legte sie auf Tante Berthas Toilettentisch und rannte davon, aus dem Hause hinaus, den Richtweg hinunter, den kleinen Steig – den konnte man vom Sprechzimmer aus nicht überblicken. Dann eilte sie auf dem kürzesten Weg zum Landungsplatz, wo das Dampfschiff eben angelegt hatte.

„Wollen Sie verreisen, Fräulein Johnsen?“ Es war die Marja von der Post, die ihr diese Frage nachrief.

„Nein, nein! Ich muß nur an Bord etwas holen!“ Mit ein paar Sätzen überquerte sie den Dampfersteg, lief in den Gang, die Treppe hinunter, in einen neuen Gang hinein. Ganz hinten stand eine Tür einen Spalt weit offen. Eirin schaute hinein. Eine leere Kabine. Kein Gepäck. Sie huschte hinein und zog die Tür hinter sich zu.

Jetzt holte sie tief Luft. Sie saß auf dem Rand des Bettes und versuchte, ihr Zittern zu unterdrücken. Nur nicht denken! Nur nicht denken jetzt! Sieh an, was für ein sonderbares Muster dieser Läufer am Fußboden hat! Ein achteckiges Feld mit braunen Sternzacken rundherum; spitze braune Zacken; sie berühren das Muster, das zum nächsten Feld gehört; Kreuze drinnen in dem Achteck – eins – zwei – drei – vier – sieben Musterteile in der einen Richtung; wie viele es in der anderen waren, ließ sich nicht erkennen, weil der Läufer teilweise unter dem Bett lag. Aber das konnte man ausrechnen - Eirin wußte nicht mehr, wie lange sie so gesessen und ihr hämmerndes Gewissen betrogen hatte. Stimmengewirr und Getrappel auf der Treppe ließen sie aufhorchen.

Suchte man sie schon? Als sie an Bord ging, hatte niemand sie gesehen; die Passagiere waren längst an Land gegangen, die neuen Fahrgäste noch nicht eingetroffen, und das Schiffspersonal war zu beschäftigt, um sie bemerkt zu haben. Auf dem Gang wurde gesprochen. „Nein, wir müssen warten. Es ist Bescheid vom Doktorhaus gekommen. Wir sollen einen Patienten nach Tromsö mitnehmen, ins Krankenhaus.“

Eirin zuckte zusammen. Der Unfall. Der Mann mit dem gebrochenen Schenkelknochen.

„Wir können ihn auf Nummer achtzehn legen. Da ist frei.“ Schritte kamen näher. Eirin hielt den Atem an. Welche Nummer

hatte die Kajüte, in der sie sich versteckt hatte?

Nein. Die Schritte machten kurz vorher halt. Die Tür zur Nachbarkabine wurde aufgestoßen. Gläser klirrten. Kissen wurden geschüttelt.

Wieder Schritte, langsame, schwerfällige Schritte. Eine Last wurde herbeigetragen und unter vielerlei Anweisungen, Ratschlägen und leisen Kommandos auf das Bett gelegt.

„So, nun, glaube ich, liegen Sie ganz gut, nicht wahr?“ Halfdans Stimme! Seine leise, ruhige Arztstimme. Eine andere antwortete mühsam, sehr leise, nur wenige Worte. „Es trifft sich gut, an Bord ist eine Krankenschwester. Sonst

hätten wir Ihnen natürlich eine Begleitung verschafft. Sie sollen mal sehen, es geht prächtig, wenn Sie erst in richtige Behandlung kommen. Ich konnte ja nichts weiter tun, als den Schenkel zu schienen, verstehen Sie? Aber ich denke, das Bein liegt jetzt gut gestützt.“

Eirin preßte die Hände zusammen, daß sich die Nägel in die Handteller eingruben. Wenn sie nun in den Gang hinausliefe, Halfdan um Verzeihung anflehte? Nein. Es ging nicht. Sie gab es auf. Sie schaffte es doch nicht mehr. Sie fror sich in Frostviken zu Tode, sie würde in Blut und Gestank und Schleim umkommen.

Fort, fort – nach Süden, in Gegenden, wo sie beheimatet war! Wieder Schritte, Halfdans Stimme draußen auf dem Gang: „Ich danke Ihnen herzlichst für die Hilfe, Lina Skjarvik. Ich wäre

ohne Sie so schnell nicht damit fertig geworden!“ Richtig! Eirin fiel ein, daß Lina Skjarvik unter den Patienten im

Wartezimmer gewesen war. Sie war also eingesprungen, als Eirin versagte. Kein Wunder, die tat sich leicht, denn sie war ja bei dem früheren Arzt im Hause gewesen.

Als die Schritte sich auf dem Gang entfernten, öffnete Eirin die Tür einen Spalt weit. Sie sah ein Stück von Halfdans Rücken und seinen linken Arm.

Da preßte sie die Faust gegen den Mund und biß sich in den Knöchel, um nicht laut aufzuschreien. Einige qualvolle Minuten noch – dann lief ein leises Zittern durch das Schiff, die Maschine begann zu stampfen, und der Dampfer machte los.

Er drehte langsam bei. Dann steigerte er die Fahrt. Die Kolbenschläge wurden schneller.

Volldampf voraus – nach dem Süden.

9 Das Kino leerte sich. Ein Strom von lachenden, plaudernden Menschen schob sich auf die Straße hinaus, verteilte sich und wurde bald vom Verkehr verschlungen.

„So ein Gedränge“, sagte Cilly. Ihr neuer, schicker Winterhut hatte einen unsanften Stoß bekommen und mußte wieder an Ort und Stelle gerückt werden.

Eirin antwortete nicht. Sie lächelte nur mit halbgeschlossenen Augen. Das Getriebe tat ihr wohl. Sie genoß es, Menschen um sich zu hören und zu fühlen. Sie hatte sich an dem Film entzückt, an der Musik, an dem elektrischen Licht – an allem.

„Na? Was möchtest du jetzt?“ fragte Cilly. „Ausgehen! Und essen! Wollen wir in den Palmengarten gehen?

Ich lade dich ein!“ Lachend ließ sich Cilly zum Hotel Britannia schleifen. Schnell

hatten sie einen gemütlichen Tisch gefunden – für Cillys Geschmack etwas zu nahe an der Musik; aber Eirin konnten der Lärm und das Treiben nicht groß genug sein.

Ein Glück, daß sie in Tromsö ein Gespräch nach Oslo angemeldet hatte, dachte Eirin immer wieder. Cillys Mutter war am Telefon gewesen.

Nein, Cilly sei vor vierzehn Tagen nach Trondheim gefahren, sie habe da oben eine Stellung angenommen, für ein halbes Jahr als Aushilfe in einem Büro.

„Die Adresse!“ schrie Eirin ins Telefon. Cilly hatte große Augen gemacht, als Eirin plötzlich vor ihrer Tür

stand. Dann hatten sie sich umarmt und gedrückt, die beiden Jugendfreundinnen, und das Mundwerk hatte nicht mehr stillgestanden.

Cilly machte sich schmal, so daß auch Eirin noch Platz auf dem Schlafsofa fand. Bis spät in die Nacht hinein wußte sie zu erzählen. In ihrer Begeisterung, hier oben in Trondheim so unverhofft Gesellschaft gefunden zu haben, ließ sie die Freundin zunächst nicht zu Worte kommen. Eirin war dies nur recht. Was sie bewegte, mochte sie nicht groß und breit berichten. Also ließ sie Cilly von ihrer Zukunft reden. Als diese schließlich doch wissen wollte, weshalb, da antwortete Eirin:

„Sei so lieb und frag nicht, Cilly. Ich habe einen ganzen Haufen Dummheiten gemacht, und ich mußte weg von allem, um mich selbst wiederzufinden. Sagen wir: nervöser Zusammenbruch oder Polarkreiskoller.“

„Ja“, meinte Cilly verständnisvoll. „Es gibt viele, die durchdrehen bei der Finsternis da oben.“

Mehr wurde darüber nicht gesprochen – zunächst einmal. Dafür aber redete Cilly um so mehr über sich selbst. Im Herbst

war sie ein paarmal im Radio und bei kleinen Veranstaltungen aufgetreten. Sie hatte sich einige hundert Kronen zusammenverdient und nun mit diesem Geld einen ganz bestimmten Plan. Es sollte den Grundstock für einen Studienfonds bilden. Sie sparte und knauserte mit ihrem Gehalt und legte allmonatlich etwas Geld auf die hohe Kante. Denn Cilly hatte einen Wunsch, einen großen, heißen Wunsch: Sie wollte Architektin werden.

„Und dein Singen?“ fragte Eirin. „Auf das pfeif ich“, rief Cilly. „Viel Stimme habe ich nicht, ich

bin nur musikalisch und habe Humor, und deshalb holt man mich gern für kleine Lieder und Kinderlieder. Wenn ich durch meine Singerei noch etwas dazuverdienen kann, dann ist es ja nur günstig, um so größer werden die Aussichten für mein Studium.“

Als Oskar, Cillys Verlobter, als Assistent an das Krankenhaus in Trondheim kam, begab sich das große Wunder: Oskar verschaffte ihr eine Stellung in Trondheim als Sekretärin bei einem Schiffsreeder, der viel verlangte, viel schimpfte, das Personal viele Überstunden machen ließ, aber auch viel zahlte.

Letzteres war für Cilly ausschlaggebend. Jetzt war sie schon vierzehn Tage bei ihm und hatte doch noch keine Träne geweint.

„Leider ist es bloß eine Aushilfsstelle“, erklärte sie. „Ich bleibe nur noch bis Juni oder vielleicht noch bis Juli. Aber ich kann die Hälfte meines Gehaltes sparen! Und im Herbst fange ich mit dem Studium an. Ich hab’ mir ausgerechnet, daß ich dann zweitausendfünfhundert Kronen beisammenhabe. Später suche ich mir kleine Nebenarbeiten oder singe ein bißchen und gebe Kindern Nachhilfestunden. Du weißt ja, ich war im Gymnasium besonders gut in Mathematik.“

Eirin beobachtete Cilly heimlich. Wie froh, wie unbefangen, wie voller Lebensmut und jugendlichem Optimismus sie war! Eirin kam sich dagegen müde, alt und mutlos vor. „Wann willst du heiraten, Cilly?“

„Ach, erst in einem Jahr oder auch in zwei oder drei. Wenn Oskar eine Station bekäme, dann wäre es ja schön – oder wenn er eine Praxis aufmachen könnte; aber er muß sich erst mal bewähren und sicher sein, daß es Leute gibt, die ihm wirklich ihr Leben anvertrauen wollen.“

„Und dann willst du Architektin werden?“ „Ja, warum nicht? Du mußt wissen, ich bin als

Sprechstundenhilfe und tüchtige aufopfernde Arztfrau völlig ungeeignet, ich schreie, wenn ich nur einen Tropfen Blut sehe! Ich bewundere Frauen, die mit blutigen Verbänden und Nachtgeschirren hantieren können, die erbrochene Mageninhalte aufwischen und – “

„Gerade diese Dinge sind nicht einmal so ekelhaft“, erklärte Eirin sachlich. „Spucknäpfe sind schlimmer – und Schläuche zum Magenauspumpen!“

„Eirin! Du konntest das?“ „Hm – ja, ich konnte es. Doch – uff, ich wollte eigentlich nicht

davon reden – aber da wir jetzt doch darauf gekommen sind: Hast du schon einmal weiße Knochensplitter gesehen, die aus der Haut raussteckten, oder ein Blutgefäß, das geplatzt ist, so daß das Blut rieselt und rieselt und die Kleider tränkt, schwere, dreckige Arbeitskleider, weißt du, und – “

„Eirin! Hör auf!“ Eirin lächelte. „Ja, genau das habe ich gesehen. Ich habe

aufgehört. Und deswegen bin ich jetzt hier.“ Cilly drückte sie an sich. Dann fragte sie vorsichtig: „Aber Eirin – du hast Halfdan lieb – nicht wahr?“ „Wenn ich ihn nicht liebhätte, wäre die ganze Geschichte kein

Problem.“ Wenn Cilly morgens im Büro war, machte Eirin das Zimmer,

lüftete und wischte Staub und bohnerte den Fußboden. Dann ging sie in die Stadt und kaufte ein. Sie hatte das Essen fertig, wenn Cilly nach Hause kam.

„Ich glaube, ich stelle dich als Alleinmädchen an“, lachte Cilly. „Du verwöhnst mich.“

Eirin war nachdenklich. Sie wohnte jetzt über eine Woche bei Cilly. An Tante Bertha hatte sie telegraphiert, wo sie sei und daß alles in Ordnung wäre. Und heute hatte ein Brief von Halfdan im Postkasten gelegen.

Sie getraute sich kaum, ihn aufzumachen. Weit, weit weg waren all ihre gemeinsamen guten Stunden, die lichten Zukunftspläne, die traulichen und gemütlichen Abende vor dem Ofen im Winter.

Sie sah nur immer wieder ein blasses, trauriges, enttäuschtes Gesicht vor sich und hörte eine Stimme, die sagte: „Eirin, ich schäme mich deinetwegen!“, und dasselbe Gesicht, das weiß vor Zorn gewesen war, und dieselbe Stimme, die gedonnert hatte: „Mach, daß du rauskommst!“

„Hysterisches Frauenzimmer“ hatte er sie genannt. „Verhätschelte Zimperliese.“ Oh, wie war er ungerecht! Sie hatte doch getan, was sie konnte.

Mehr konnte sie einfach nicht! Dennoch meldete sich wieder das Gewissen: War ihre Liebe zu Halfdan nicht groß, nicht stark genug, um sie diesen einen dunklen Winter in Frostviken durchstehen zu lassen?

Was Halfdan wohl schreiben mochte? Sie wog den Brief in der Hand. Er war dünn und leicht. Da riß sie den Umschlag mit zitternden Fingern auf. „Liebe Eirin! Verzeih mir, daß ich heftig gegen Dich war. Verzeih meine unüberlegten Worte. Was auch geschehen mag,

ich werde Dich immer liebhaben. Halfdan.“ Sie las die Worte wieder und wieder. Er gab zu, heftig gewesen

zu sein und daß seine Worte unüberlegt waren. Aber er sagte nichts davon, daß sein Verhalten unberechtigt war!

Eirin saß zusammengekauert auf dem Rand des Sofas. Schmerz, Scham, Sehnsucht, Ungewißheit quälten sie. Ihr graute vor dem einsamen, unwirtlichen Frostviken, und doch sehnte sie sich danach, die Arme um Halfdans Hals zu legen und ihm über die mageren Wangen zu streichen.

Die Uhr tickte. Minuten und Stunden vergingen. Eirin merkte es nicht. Sie begriff selbst nicht, was in ihr vorging. Sie wußte nur, daß sie sich jetzt mit sich selbst auseinandersetzen mußte. Liebte sie Halfdan? - Ja, das war sicher.

Aber Halfdan war Arzt. Und er war so verbunden mit seiner Arbeit, daß sie, die ihr Leben an das seine binden wollte, für seine

Arbeit Verständnis aufbringen, ja, ihm in einer schwierigen Lage auch dabei helfen mußte. Sie aber hatte es versucht und war daran gescheitert. Sie hatte kläglich versagt!

Eirin erschrak bei dem Gedanken, Halfdan wiedersehen zu müssen. Sollte sie je zu ihm zurückkehren, so gab es nur diesen einen Weg: sich vor ihm und vor sich selbst gründlich zu bewähren. Es war nicht damit getan, ein hübsches kleines Schmeichelkätzchen zu sein; es war albern, nur zu schnurren und das Gesicht an seiner Schulter zu verstecken. Wenn sie wieder vor ihn hintreten wollte, so mußte sie eine erwachsene Frau sein, verantwortlich und verständig – und mit Kenntnissen ausgerüstet. Sie mußte den Nachweis erbringen, daß sie imstande war, ihm bei seiner Arbeit zu helfen.

Wenn doch Tante Bertha hier gewesen wäre! Keiner konnte so wie sie verzwickte Knoten entwirren und zur rechten Zeit den rechten Rat geben. Aber Tante Bertha war nicht da. Seltsam, gerade jetzt mußte Eirin allein sein, da sie vor diesem schwierigen Problem stand, jetzt, da ihre und Halfdans Zukunft und ihr Glück auf dem Spiele standen. Das Schicksal hatte die Entscheidung in ihre Hände gelegt.

Wenn Halfdan nur ein gewöhnlicher praktischer Arzt in Oslo gewesen wäre, wenn er dort nur eine ganz bescheidene kleine Praxis gehabt hätte, so klein, daß sie gerade davon hätten leben können – das wäre etwas anderes gewesen! Oder wenn er als Stationsarzt im Krankenhaus geblieben wäre. Hätte er sich doch nie um die Stellung in Frostviken beworben! Mußte es ausgerechnet dieses finstere Frostviken sein, konnte er nicht irgendwo im Süden Kreisarzt werden, in einer weiten, sonnigen, fröhlichen Landgemeinde im Osten des Landes oder sonst irgendwo, wo es freundliche, heitere, lächelnde Menschen gab?

Sie rief sich zur Ordnung. Was träumst du von dem, was hätte sein können! Du gehst den Schwierigkeiten aus dem Wege, anstatt sie zu überwinden.

Was sitzt du herum und fängst Grillen! Entweder du kapitulierst, oder du nimmst den Kampf auf. Was also?

Wenn sie Halfdan wiederbegegnen wollte, dann mußte es auf einer ganz anderen Ebene sein: Er mußte Achtung vor ihr haben können. Und da Halfdan Arzt war, galt es, ihm auf seinem Arbeitsgebiet durch Verständnis, Interesse und kenntnisreiche Mitarbeit zu imponieren.

Plötzlich war Eirin klar, was sie zu tun hatte: Sie mußte versuchen, in einem Krankenhaus als Lernschwester anzukommen, und sich in der Krankenpflege ausbilden lassen. Sie mußte, koste es, was es wolle, gerade das auf sich nehmen, dem sie in Frostviken hatte entfliehen wollen. Sie mußte anfangen, Selbstbeherrschung zu üben, und lernen, gegen Abscheu und Widerwillen anzukämpfen. Sie mußte sich überhaupt erst einmal mit der Arbeit befreunden!

Sie reckte sich. Mit einemmal erschien ihr die Welt freundlicher. Sie hatte eine Aufgabe, ein Ziel, auf das sie lossteuern konnte.

Am selben Abend kam Oskar, um Cilly zu besuchen. Eirin fragte ihn um Rat. Am nächsten Tag ging ihr Gesuch mit der Post nach dem Süden, mit allen notwendigen Papieren und Bescheinigungen.

Sie saßen im Palmengarten. Eirin wiegte den Kopf im Takt der Musik leise hin und her. Da fiel ihr ein Abend vor mehr als drei Monaten ein, ein Abend an Bord, als sie mit einem braungebrannten Mann mit lustig funkelnden Augen Tango getanzt hatte, denselben Tango, der jetzt gerade gespielt wurde. – Auch das hatte sie zu sühnen!

Ihr wurde heiß und kalt bei dem Gedanken, was Halfdan sagen würde, wenn er von diesem Abenteuer wüßte. Ja, sie hatte schon eine gehörige Portion Dummheiten, manche Kopflosigkeit vollbracht und viel Versäumtes nachzuholen!

Jetzt aber hieß es vorwärtsschauen! Sie hob den Kopf und sah unternehmungslustig zu der Freundin hinüber.

„Du lächelst so siegesgewiß, Eirin“, lachte Cilly. „Ja“, sagte sie. „Denn jetzt weiß ich, welchen Weg ich

einschlagen muß.“

Lieber Halfdan! Ich danke Dir für Deinen Brief. Ich kann nicht sagen, was mich

erfüllt, denn ich kann es mir nicht einmal selbst klarmachen. Du

sollst nur wissen, daß ich Dich liebhabe, immer, und ich will

versuchen, mich Deiner Liebe würdig zu erweisen. Versuche nicht, mit mir in Verbindung zu kommen. Ich werde Dir

hin und wieder schreiben, damit Du siehst, daß ich Dich nicht

vergessen habe. Ist etwas besonders Wichtiges mitzuteilen, dann

kannst Du den Brief an Cilly schicken, sie leitet ihn dann weiter. Ich hoffe, Tante Bertha bleibt bei Dir. Du brauchst sie sehr. Sie

ist treu und gut – sie versagt .nicht, sie geht nicht auf und davon, wie

ich es getan habe. Aber eines Tages komme ich zu Dir zurück. Es

kann schnell gehen oder auch lange dauern – aber ich komme.

Eirin

10

„Schwester Lise! Laufen Sie mal in die Abteilung hinauf und holen Sie das Päckchen, das links im Arzneimittelschrank liegt. Und bitte etwas schneller als sonst! Es ist wirklich ein Skandal, wie trödelig Sie sind. Immer haben Sie ganz andere Dinge im Kopf. So laufen Sie doch schon!“ Eirin fiel das Herz in die Schuhe. Vor niemandem hatte sie solche Angst wie vor Dr. Marit Claussen. Sie war sehr nett, die Dr. Claussen, aber streng.

Eirin flog die Treppe zur Station hinauf. Diese Treppe hatte viele Stufen, und wenn man müde und abgehetzt war, schienen sie überhaupt kein Ende zu nehmen.

Jetzt stand sie vor dem offenen Arzneimittelschrank und holte das Päckchen heraus. Es war ein abgehackter Fuß, und er blutete, und das Blut rieselte ihr über die Schürze und rann ihr über die Hände.

Da klingelte es von Nummer drei. Das war der große Krankensaal. Jetzt hieß es rennen. Was sollte sie bloß mit dem widerwärtigen blutenden Fuß machen? Schon wieder die Klingel! Sie mußte nach Nummer drei, aber sie konnte doch nicht den amputierten Fuß mitnehmen! Sie kämpfte verzweifelt, sie rannte mit dem Fuß in der Hand wie von Sinnen im Korridor herum – und die ganze Zeit klingelte es. Klingelte, klingelte - „Schwester Lise! Hörst du’s denn nicht – du mußt aufstehen!“

Eirin richtete sich schlaftrunken im Bett auf. Sie streckte den Arm aus und stellte den Wecker ab. Ihre Zimmergefährtin, Schwester Inga, stand schon am Waschbecken.

Eirins Körper war schwer wie Blei. Dazu dieser ekelhafte Traum! Sonntag hatte sie freigehabt. Sie war den ganzen Tag im Bett

geblieben, hatte sich nicht einmal angezogen, um zu den Mahlzeiten hinunterzugehen. Sie hatte etwas Obst und Kuchen gegessen, und abends hatte Schwester Inga ihr ein Zuckerei gerührt. Die übrige Zeit hatte sie geschlafen – von Samstag abend bis Montag morgen.

Heute war Mittwoch, und sie war noch immer müde. Sie erlistete sich noch drei Minuten Bettruhe – bis Schwester

Inga mit dem Waschen fertig war, sagte sie wie zur eigenen Rechtfertigung zu sich selbst.

Fast einen Monat war sie jetzt im Krankenhaus. Einen Monat lang hatte sie diese Schufterei schon ausgehalten. Sie konnte nicht

begreifen, wie die älteren Schwestern es fertigbrachten, neben der Arbeit noch zu lesen oder zu plaudern und sich’s abends auf ihren Zimmern gemütlich zu machen, wie sie sich sonntags feste Schuhe und ein Sportkostüm anziehen und Spazierengehen konnten. Ihre eigenen Füße schmerzten sie so, daß sie gern darauf verzichtete, an ihren freien Tagen zu ihrem Privatvergnügen herumzulaufen.

Sie hatte sich hier Louise genannt. Da sie wirklich Louise hieß, hatte sie durchaus das Recht dazu. Aber „Louise“ war schon am ersten Tag zu „Lise“ geworden. Fräulein Eirin, die Verlobte des Kreisarztes, war eine müde und tolpatschige kleine Krankenschwester in einem großen Krankenhaus, nur eine kleine, unansehnliche Nummer in einer langen Reihe von uniformierten Krankenschwestern im ersten Jahr der Ausbildung; nur eine kleine Schwester Lise, die niemand kannte, auf die die Stationsschwester schimpfte, über die Frau Dr. Claussen spöttelte und die den Kolleginnen leid tat. „Lise, du mußt aber hoch jetzt!“

Inga war fix und fertig angezogen. Sie war stark und frisch, die Inga, ein dralles Bauernmädchen, das daran gewöhnt war, zwölf bis vierzehn Stunden am Tage schwer zu arbeiten und zu rennen, und die ihr ganzes Leben lang vor sechs Uhr morgens aufgestanden war.

Für Eirin gab es in diesem Wirbel nichts, worauf sie sich freuen konnte. Seufzend betrachtete sie ihre Hände. Sie waren rot und rissig. Und gleich mußten sie wieder in starker Seifenlauge planschen. Fußböden mußten gewischt, Spuckgläser und Uringläser geleert und abgewaschen werden; all die endlosen, weißlackierten Flächen warteten auf das Staubtuch, obwohl nicht ein einziges kleines Staubkörnchen zu sehen war; die Blumen der Patienten wollten frisches Wasser haben – und das nannte man nun Krankenpflege!

Und dann gab es Unterricht in Krankheitslehre und Stunden in Physiologie und Anatomie. Eirin kam sich vor wie ein kleines Schulmädchen mit ständig schlechtem Gewissen. Dr. Claussen unterrichtete die Schülerinnen in Anatomie. Dabei hatte sie so eine unangenehme Art, sie abzufragen! Selbst wenn sie sich einbildeten, sie könnten die Aufgaben wie am Schnürchen, stellte Frau Dr. Claussen die Fragen doch immer so, daß sie sich verhedderten. Eirin hörte sich die lateinischen Namen selbst ab, während sie Decken glattstrich und Kissen aufschüttelte, Becken hinaustrug und Fußboden scheuerte.

Sie arbeitete in der Frauenstation der medizinischen Abteilung.

Hatte sie jemals geglaubt, die Krankenpflege bestehe darin, liebevoll mit dankbaren Patienten umzugehen, dann hatte sie sich geirrt. Krankenpflege – das hieß soviel wie rennen. Treppen rauf- und Treppen runterrennen, durch endlose Flure; rennen, wenn die Klingeln schrillten und rote Lampen über weißen Türen aufflammten. Zum Mittagessen rennen, vom Tisch wegrennen, morgens von der Schülerinnenstation hinunterrennen in die Abteilung, von der Abteilung in die Unterrichtsräume. Mit Tabletts rennen, mit Blumensträußen, mit Becken und Spritzen. Die Beine schmerzten, die Fußsohlen brannten vor Müdigkeit. Mitunter hatte sie das Gefühl, als sollte ihr Kreuz mittendurch brechen.

Ihre Gedanken flogen zuweilen nach Frostviken. Unfaßbar, daß sie als Halfdans Sprechstundenhilfe versagt hatte! Vor dem besten, rücksichtsvollsten Mann der Welt, vor einem „Chef“, der ihr Bemühen schätzte, der sie lobte, der ihr dankte und der sie bedauerte, wenn sie zuviel zu tun hatte – vor diesem Mann war sie wie ein nichtsnutziges, eigensinniges Kind einfach davongelaufen!

Und hier! Hier waren die strengen Augen der Ärzte, das Geschimpfe der Stationsschwester, die Zurechtweisungen der Oberschwester. Hier war ein Arzt ein unnahbarer Gott und nicht ein netter Kamerad; die Oberschwester war eine Unter-Gottheit und nicht ein Mensch, dem gegenüber man sich ein Lächeln herausnehmen konnte; die Stationsschwester wieder war ein unbestimmbares Wesen, mit der die Oberschwester und Ärzte zanken konnten, was sie ihrerseits wieder wettmachte, indem sie das Geschimpfe an die jüngeren Schwestern weiterleitete. Am schlimmsten waren die grünsten Lernschwestern dran. Und am allerschlimmsten, vielleicht, Eirin selbst.

„Schwester Lise! Pst! Komm schnell mal rein!“ Das lächelnde, rotbäckige Gesicht in dem Türspalt gehörte

Schwester Doris, der vergnügtesten und lachlustigsten von allen Lernschwestern. Sie und Schwester Ilse bewohnten das Zimmer gleich neben Eirin und Inga. „Mach schnell, du kriegst was Gutes!“ Eirin hatte gerade die kleine weiße Haube abgenommen und hielt sie in der Hand. Sie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, blieb einen Augenblick stehen und preßte sie gegen die Schläfen. Wenn sie nur nicht so unbeschreiblich müde wäre!

Sie schlüpfte zu Doris und Ilse hinein. Das Zimmer war voll von Schwestern. Auf den Betten, den Stühlen, die aus andern Zimmern geholt waren, saßen junge Mädchen, alle in blauer Schwesterntracht,

alle mit weißen Schürzen und steifen Kragen. Sie schnatterten, was das Zeug hielt, nicht allzu laut, aber trotzdem munter und lebhaft.

Mitten auf dem Tisch prangte eine Riesenschüssel mit Obst: Äpfel und Apfelsinen, Trauben und Bananen, Datteln, Feigen, Kiwis – und zwischen die Früchte war Konfekt in buntem Stanniol gesteckt.

„Ihr müßt nämlich wissen“, erklärte Doris wichtig, „Ilse und ich haben in der Lotterie gewonnen. Fünfzig Kronen! Und da kam Ilse auf den Gedanken – “

„Nein, wir kamen beide drauf“, berichtigte die kleine Ilse sanft. „Sei still, Ilse. Du hast jetzt nicht das Wort. Ilse kam auf den

Gedanken, wir sollten das Geld dafür anlegen, uns hier heute einen gemütlichen Abend zu machen – und darum, bitte sehr, meine Damen, langt zu! Es sollte eigentlich Torte und Wein geben, aber ihr wißt ja, wenn wir keine Gläser haben, dann – könnt ihr nicht den Drachen geradezu hören: ,Schwester Ilse! Darf ich fragen, was Sie sich dabei gedacht haben, einfach Geschirr aus der Station wegzunehmen?’“

Sie brachen alle in Gelächter aus, die müden jungen Mädchen. Schwester Doris konnte die Stationsschwester Eldrid in Stimme und Tonfall so getreu nachahmen, daß sie sich schier ausschütten wollten.

Obst und Konfekt verschwanden wie Schnee vor der Sonne. Keine übte Bescheidenheit. Die anstrengende Arbeit, die diese jungen Dinger leisteten, sorgte für einen unstillbaren Hunger. Und wenn es „etwas Gutes“ gab, wurden sie geradezu gefräßig.

Doris behauptete lachend, jede Öre, die sie besaß, wandere in den Obstladen unten an der Ecke, und Eirin gestand, daß sie abends nicht einschlafen könne, wenn sie nicht ein kleines Stückchen Schokolade aß.

Die meisten gehörten zu Eirins Jahrgang, aber es waren auch ältere dabei. Die älteste war Schwester Nina, ein schönes, ruhiges, wortkarges Mädchen von sechsundzwanzig Jahren. Sie hatte noch elf Monate abzuleisten, dann war sie fertig ausgebildete Krankenschwester.

„Ich komme mir vor wie in einem Mädchenpensionat“, lachte Doris. „Ich habe das Gefühl, jeden Augenblick könnte eine schimpfende Lehrerin in der Tür stehen – “

„Das wäre die richtige Rolle für Schwester Eldrid“, stellte Eirin fest. „Ich würde mich nicht wundern, wenn sie plötzlich hier auftauchte und mit dem Stock drohte!“

„Doris hat schon recht“, bestätigte Inga und steckte nachdenklich ein großes Stück Konfekt in den Mund. „Ich habe viele Jahre ganz selbständig auf dem Hof zu Hause gearbeitet. Ich habe Mädchen und Knechte unter mir gehabt, ich war seit meinem sechzehnten Lebensjahr Hausfrau. Da ist es wirklich doch etwas komisch, wenn man plötzlich wieder ein kleines Schulmädchen sein soll, das Angst vor einem Tadel hat.“

„Weshalb machst du denn diese Krankenpflege?“ Inga zögerte mit der Antwort und wurde rot. „Mein Vater heiratete zum zweiten Male“, sagte sie kurz. „Ich

war schon etwas zu lange Hausfrau gewesen, um zu Hause das kleine Mädchen spielen und einer neuen Mutter gehorchen zu können.“

„Dann hast du sicher gut daran getan, Krankenpflege zu lernen“, meinte Doris. „Wenn du eine selbständige Arbeit brauchtest – “

„Ich habe immer Freude am Pflegen gehabt“, fiel Inga ihr ins Wort. Der Ton, in dem sie das sagte, machte diesem Gespräch ein Ende.

Eirin versuchte die Unterhaltung in andere Bahnen zu lenken: „Hört mal, wißt ihr was? Ich habe einen Wunschtraum: Ich

wünschte, daß ich plötzlich Stationsschwester wäre und Schwester Eldrid Lernschwester – “ Sie sprach nicht weiter, sondern ballte nur die Fäuste. Die andern nickten beifällig.

„Du wünschst dir nicht, mit der Dr. Claussen die Rollen zu tauschen?“ fragte Nina.

„Mit Dr. Claussen – nein, das ist etwas anderes. Sie ist allerdings ein Reibeisen, wie es im Buche steht – aber ich bewundere ihr Wissen. Sie ist sicher sehr tüchtig. Schwester Eldrid könnte ich glatt erwürgen – aber die Dr. Claussen – nein, mag sie noch so ruppig sein, die Claussen hab’ ich beinahe gern-“

„Dir ist also der Respekt vor dem Arzt schon in Fleisch und Blut übergegangen“, lachte Ilse.

Auch Nina wandte sich erstaunt an Eirin: „Du behauptest, einen großen Respekt vor Dr. Claussens Kenntnissen und ihrer Tüchtigkeit zu haben. Du vergißt aber, daß Schwester Eldrid auch ausgezeichnete Kenntnisse in ihrem Fach hat. Und wenn du einmal

selbst so weit kommen solltest, so würdest auch du erwarten, daß andere deine Kenntnisse respektieren.“

„Ja, aber ich würde kein Sklaventreiber sein, wenn ich Stationsschwester wäre“, verteidigte sich Eirin.

„Aber auf Disziplin würdest du doch halten, nicht wahr?“ „Natürlich! Disziplin muß sein.“ „Glaubst du, daß die Schülerinnen immer zwischen Disziplin und

Sklaventreiberei unterscheiden können? Würdest du nicht fürchten, dich unbeliebt zu machen?“ Eirin wurde unsicher.

Nina beruhigte sie: „Keine Angst! Ich rede nur theoretisch. Und ich finde auch, daß Schwester Eldrid ein ausgesprochenes Reibeisen ist.“

„Sie sollte an ihren Augenlidern aufgeknüpft und gezwungen werden zu blinzeln“, murmelte Doris und stopfte sich drei Apfelsinenschnitten auf einmal in den Mund.

Ilse fand den Witz zu komisch. Sie lachte, daß sie sich das Taschentuch vor den Mund halten mußte und zu ersticken drohte.

„Kinder, ich sehe es vor mir“, japste sie. „Schwester Eldrid, die an den Augenlidern hängt und blinzelt!“ Ihr Gelächter steckte die andern an. Die ganze Gesellschaft quietschte vor Vergnügen. Der kleine Scherz hatte genügt, sie außer Rand und Band zu bringen. Wahrlich, sie hatten sonst wirklich nichts zu lachen. Sie waren so übermüdet, so nervös, die jungen Rücken taten weh, und die müden Beine schmerzten, eigentlich war es nur ein Zufall, daß sie jetzt lachten. Ebensogut hätten sie alle miteinander auf Kommando losheulen können!

Nina war die einzige, die ruhig blieb. Sie stand auf und gähnte. „Kinderchen, ich gehe jetzt in die Falle. Es ist schon spät, und ich

soll morgen früh um neun schon im Operationssaal sein.“ „Ist es was Aufregendes?“ fragte Doris sensationslüstern. „Ein Ulcus ventriculi, glaube ich.“ „Ein was?“ „Magengeschwür“, erklärte Nina. „Gute Nacht, und hört auf den

Rat einer alten Tante: Geht jetzt zu Bett – ihr könnt ja nicht mehr aus den Augen sehen vor Müdigkeit, ihr armen Dinger. In ein oder zwei Monaten könnt ihr wieder ein kleines Budenfest geben, aber so lange braucht ihr, bis ihr euch an die Schufterei gewöhnt habt. Wir sehen uns dann wieder – bei mir. Ich hab’ im nächsten Monat Geburtstag. Ihr seid hiermit herzlichst eingeladen. Gute Nacht!“

Die Tür fiel hinter Nina ins Schloß. Die andern blickten sich gegenseitig an. Das Lachen war ebenso schnell verstummt, wie es angefangen hatte. Sie sahen aus wie ein Schwarm zerzauster Sperlinge, wie sie da auf der Bettkante und den Holzstühlen hockten mit grauen Gesichtern, vor Müdigkeit rotgeränderten Augen und zerwuschelten Haaren.

„Wir müssen es mit Humor nehmen“, seufzte Ilse. „Andere überleben es auch, also werden wir’s wohl auch können. Nehmt euch noch was Gutes mit ins Bett, und schönen Dank für den heutigen Abend!“

11

Die Patienten hatten Essenszeit. Das Mittagessen kam in großen Aufzügen aus der Küche herauf. Wagen auf Gummirädern rollten durch die Flure, emsige, geübte Hände stellten Teller und Schüsseln auf Tabletts. Zwei Schwestern richteten das Essen für die Patienten der ersten Klasse. Diese erhielten blaugemustertes Geschirr und bedienten sich selbst aus kleinen Schüsselchen mit Deckeln und Schalen, während die Patienten der dritten Klasse ihre Teller fix und fertig hingestellt bekamen; zwei Scheiben Fischpudding, zwei Kartoffeln, ein Löffel Gemüse, zwei Löffel Soße – es ging alles schnell und automatisch.

Eirin brachte Tabletts nach Nummer drei und verteilte die Teller. „Bitte, Frau Nilsen, hier kommt das Mittagessen. – Nun müssen

Sie aber schön essen, um so schneller werden Sie gesund. – Bitte sehr, Fräulein Hakonsen, jetzt legen Sie mal das Strickzeug weg. Fräulein Sande, wachen Sie auf, das Essen ist da! – Aber natürlich gibt’s was Gutes, Frau Ligaard, schönen Fischpudding, ganz leicht verdaulich. – Nun, soll ich Ihnen mal helfen, sich aufzurichten, Frau Paulsen?“

Eirin kannte schon die Griffe. So klein und zierlich sie auch war, vermochte sie doch die dicke, schwere asthmatische Frau Paulsen im Bett aufzurichten, steckte ihr ein Kissen in den Rücken und gab ihr den Teller. Eirin lief weiter, die ganze Reihe hinunter. Sie hatte die zehn Betten auf der rechten Saalseite, Schwester Ilse die zehn zur linken.

Ilse hatte ihre Teller verteilt und eilte hinaus. Eirin war für einen Augenblick mit den zwanzig essenden Frauen allein.

Da hörte sie einen sonderbaren, japsenden Ton. Sie drehte sich um. Frau Paulsen lag da und rang nach Luft. Ihr Gesicht lief rot an, die Augen traten aus den Höhlen. Eirin stürzte zum Bett hin, kam aber zu spät, um den Teller zu retten. Fischpudding, Kartoffeln, Gemüse und Soße flossen über die Bettdecke, der Teller rutschte herunter und zerbrach mit lautem Klirren. Jetzt kam der Husten! Frau Paulsens Brust ging wie ein Blasebalg, sie wurde ganz blau im Gesicht. Eirin stand am Bett, ratlos und schlotternd vor Angst. Frau Paulsen könnte ersticken. In ihrer Not drehte sie sich auf dem Absatz um und rannte weg, um Schwester Eldrid zu holen.

Die Stationsschwester saß in der Wachstube, streng und unnahbar. Schon ihr „Herein“, als Eirin an die Tür pochte, klang feindselig. Eirin nahm allen Mut zusammen und öffnete.

„Verzeihung, Schwester Eldrid“, stammelte sie atemlos, „ich muß Sie, glaube ich, bitten, gleich mal nach Nummer drei zu kommen – zu Frau Paulsen – “

„Jetzt – beim Mittagessen? Was ist denn los?“ „Ich – ich glaube, sie erstickt – “ Schwester Eldrid stand auf und ging mit. Eirin rannte voraus und

stürzte nach Nummer drei hinein. „Schwester Lise!“ Die Stimme der Stationsschwester war messerscharf. Eirin fuhr

herum. „Es macht einen schlechten Eindruck, wenn die Schülerinnen vor

ihren Vorgesetzten durch die Tür gehen!“ „Verzeihung, Schwester Eldrid – ich habe nicht daran gedacht –

ich hatte solche Angst um Frau Paulsen – “ Eirin trat zur Seite und ließ die Stationsschwester vorbei.

„Was ist das hier für eine Schweinerei, Schwester Lise?“ Schwester Eldrid zeigte auf Frau Paulsens Bett, wo die Reste des

Mittagessens das Deckbett verunzierten. Die Patientin lag zurückgelehnt in ihren Kissen – ein wenig rot noch im Gesicht, sonst aber gleichmäßig und ruhig atmend.

„Weshalb haben Sie mich eigentlich hierhergelotst? Etwa um mir die Bescherung zu zeigen, die Sie hier angerichtet haben?“

„Aber Schwester Eldrid – sie hat so fürchterlich gehustet –, ich dachte, sie müßte ersticken, und ich wußte nicht – “ Eirin stammelte und errötete unter dem feindseligen Blick der Stationsschwester. „Ich dachte – “

„Gedacht haben Sie wohl kaum“, unterbrach Schwester Eldrid sie. „Wenn der Hustenanfall so gefährlich gewesen wäre, so wäre er wohl kaum in zwei Minuten vorüber gewesen. Sie wissen ja, daß Frau Paulsen Asthma hat, und Sie haben vielleicht, wenn Sie ausnahmsweise mal aufgepaßt haben sollten, gelernt, daß Asthma von Husten begleitet ist!“

Jetzt mischte sich die Patientin in die Unterhaltung. „So huste ich seit zwanzig Jahren, Schwester Lise. Das braucht

man nicht so schwer zu nehmen.“ „Schwester Lise ist anderer Meinung, Frau Paulsen“, entgegnete

die Stationsschwester mit einer Freundlichkeit, daß Eirin sie hätte

umbringen können. „Sie müssen wissen, Schwester Lise repräsentiert hier die Sachkenntnis.“ Und zu Eirin gewandt: „Sie sind wohl so freundlich und machen jetzt hier sauber!“

Eirin bückte sich und begann die Scherben des zerbrochenen Tellers aufzusammeln. Die Tränen brannten hinter den Augenlidern. Aber noch war das Maß ihrer Demütigung nicht voll. „Schwester Lise!“

Eirin erhob sich und wandte sich Schwester Eldrid zu. „Offnen Sie die Tür!“

Eirin öffnete. Schwester Eldrid rauschte hinaus, drehte sich aber noch einmal um: „Folgen Sie mir in mein Zimmer!“

Eirin trippelte hinter der Stationsschwester her. Sie kamen zu der großen Glaspendeltür.

„Halten Sie die Tür auf, Schwester Lise!“ Eirin hielt abermals die Tür auf.

Die Stationsschwester betrat den Raum und setzte sich. Eirin blieb an der Tür stehen.

„Werden Sie jetzt künftig daran denken, daß Sie nach Ihren Vorgesetzten durch die Tür zu gehen haben?“ Eirin kochte vor Wut.

„Sie haben nicht geantwortet, Schwester Lise! Ich fragte Sie, ob Sie künftig daran denken werden, wer zuerst durch die Tür geht?“

Eirin öffnete den Mund, um zu antworten. Dieses Ungeheuer! Es ging auf Biegen oder Brechen. Sagte sie ihr jetzt ins Gesicht, was sie über sie dachte – dann war sie draußen. Sie riß sich zusammen. Eine Entlassung bedeutete, wieder eine Arbeit aufzugeben, die sie sich vorgenommen hatte! Sollte sie abermals etwas tun, dessen sie sich nachher schämen müßte?

Schwester Eldrid starrte sie unverwandt an. Es war nicht das erstemal, daß die herrschsüchtige Frau ein bebendes, wütendes, gekränktes junges Mädchen vor sich hatte. Es war nicht das erstemal, daß sie die Demütigung der anderen genoß. Mit unverhohlenem Interesse beobachtete sie die peinliche Verlegenheit ihres Opfers und ließ es noch eine Weile zappeln. Dann sprach sie langsam, mit sauersüßem Tonfall:

„Nun, Schwester Lise? Es ist sehr unhöflich, nicht zu antworten.“ Eirin schloß die Augen und schluckte. Sie mußte diese

Behandlung über sich ergehen lassen. Vielleicht war diese Demütigung eine neue kleine Abzahlung auf die große Schuld, mit der sie vor sich selbst in der Kreide stand!

„Ja, Schwester Eldrid.“

„Sie haben sich mehrmals unpassend benommen. Heute schon wieder!“

„Es tut mir leid.“ Ein unmerkliches Lächeln huschte über Schwester Eldrids

Gesicht. Sie kniff die Augen zusammen. Jetzt hatte sie die Kleine gleich da, wo sie sie haben wollte.

„Es tut Ihnen leid – soll ich das so auffassen, daß Sie um Entschuldigung bitten?“

Eirin fühlte, wie ihr die Tränen kamen. Nicht jetzt, nur nicht jetzt losheulen! Schwester Eldrid durfte nicht sehen, daß sie weinte!

„Ja, Schwester Eldrid.“ Aber dann war es mit ihrer Fassung vorbei! Sie preßte die

bebenden Lippen zusammen – doch jetzt stürzten die Tränen hervor und rollten über die Wangen.

Schwester Eldrid hatte nur darauf gewartet. Sie lehnte sich zufrieden im Sessel zurück. Jetzt war sie mit Schwester Lise fertig. Jetzt war endgültig nur noch ein kleiner, nasser Fleck von ihr übrig.

„Stehen Sie nicht da und heulen wie ein kleines Mädchen. Gehen Sie wieder an Ihre Arbeit, und benehmen Sie sich ein andermal vernünftiger!“

Eirin schlich hinaus. Wie ein geprügelter Hund kam sie sich vor. Sie war rot verweint und stumm, als sie wieder in den Saal

zurückkam und die Teller einsammelte. Frau Paulsens Bett war in Ordnung gebracht worden. Ilse hatte es schnell gemacht. Sie hatte Eirin zusammen mit der Stationsschwester in deren Zimmer verschwinden sehen und geahnt, was die Glocke geschlagen hatte.

Die Patienten sahen Schwester Lise verstohlen an, sie tat ihnen im Grunde leid. Aber sie genossen die Sensation. Es passiert ja nicht viel in einem Krankensaal!

An diesem Abend weinte sich Eirin in den Schlaf. Inga fragte nicht, was es gegeben hatte. Sie war gutherzig und anständig. Aber es lag ihr nicht, Teilnahme zu zeigen. Vielleicht hätte sie es trotzdem getan, wenn sie geahnt hätte, wie sehr Eirin eines Trostes bedurfte.

Sie bohrte das Gesicht in die Kissen. Tante Bertha! Wenn sie den ganzen Kummer in Tante Berthas Schoß hätte ausweinen können, so wie sie es als kleines Kind getan hatte. Oder – wenn Halfdan in der Nähe gewesen wäre. Wenn sein Arm sich um sie hätte legen können, wenn sie all das Böse an seiner Brust hätte vergessen können!

„Halfdan – Lieber… Lieber“, flüsterte Eirin in die Dunkelheit hinein. Sie schlief schließlich ein mit seinem Namen auf den Lippen.

12 Frau Dr. Claussen machte Visite. Groß, kräftig und von breitem Körperbau, ging sie mit festen Schritten durch die Korridore. Das kurzgeschnittene, graumelierte Haar lag glatt um ihren Kopf und verlieh ihr ein fast männliches Aussehen. Der weiße Mantel, dem der männlichen Kollegen im Schnitt aufs Haar ähnlich, paßte zu ihr. Hinter ihr gingen der Assistenzarzt, die Stationsschwester und die diensttuenden Schwestern.

Dr. Claussens Visiten waren kürzer als die irgendeines anderen Arztes, aber dennoch hatte jede einzelne Patientin das Gefühl, gerade ihr Fall interessiere die Ärztin besonders und gerade an ihrem Bett sei sie heute am längsten stehengeblieben. Im übrigen hatten sie einen gehörigen Respekt vor ihr.

Dr. Claussen hatte für die eine ein ermunterndes Wort, eine strenge Ermahnung für eine andere; der junge Assistenzarzt bekam eine sarkastische Bemerkung und wurde blutrot, und die Stationsschwester ein paar kurze Fragen und Anweisungen.

Sie waren nach Nummer zwölf gekommen, in ein Einzelzimmer mit einer netten alten Dame von ungefähr siebzig Jahren. Sie war wirklich liebenswert, die alte Frau Hjelle, gütig und geduldig, freundlich und dankbar. Sie war Eirins Lieblingspatientin, und die Sympathie war gegenseitig.

„Keine hat so behutsame, gute Hände wie Sie, Schwester Lise“, lächelte Frau Hjelle, wenn Eirin sie im Bett hochhob, ihr die Fersen mit Spiritus abrieb und das Laken glattstrich.

Dr. Claussen lächelte, und Frau Hjelle lächelte zurück. Die sanften blauen Augen in dem blassen Gesicht mit den vielen kleinen Fältchen sahen so gut aus.

„Nun, Frau Hjelle, wie geht es?“ „Danke, Doktorchen – nicht schlecht – wenn ich nur etwas mehr

schlafen könnte – “ „So, so, hapert es jetzt mit dem Nachtschlaf? Haben Sie so viele

Gedanken im Kopf, daß Sie keine Zeit zum Schlafen haben?“ Frau Hjelle lächelte wieder, ein blasses kleines Lächeln, das von

vielen geduldig ertragenen Schmerzen kündete. „Ach, mit den Gedanken ist es nicht so arg, Frau Doktor – mein

Kopf läßt mich wohl in Frieden. Mit dem Magen ist es schlimmer –

heute nacht war es ziemlich böse. Ich glaube, ich habe heute nacht kein Auge zugetan, Frau Doktor – “

„Aber hat denn die Spritze gestern abend nicht geholfen?“ Frau Hjelle schaute die Ärztin fragend an. „Die Spritze? Ich habe

gestern keine Spritze bekommen, Frau Doktor!“ „Sie haben keine -?“ Marit Claussen wandte sich zu der

Stationsschwester um. „Schwester Eldrid! Bitte erklären Sie mir das! Ich hatte eine

Morphiumspritze verordnet, und die Patientin hat keine bekommen. Weshalb nicht?“

Schwester Eldrid war glühend rot. Die Zurechtweisung war ihr besonders peinlich, weil Schwester Lise, die sie selbst erst vor wenigen Tagen so gründlich heruntergeputzt hatte, zugegen war und sich jetzt daran ergötzen durfte, daß die gestrenge Vorgesetzte hier im Beisein aller getadelt wurde wie ein Schulmädchen! Sie geriet aus dem gewohnten Gleichgewicht, fühlte sich beschämt und gab der Ärztin schroff und undiplomatisch zur Antwort:

„Die Patientin klagte gestern abend nicht weiter, und da dachte ich, es sei das beste, sie mit dem starken Gift zu verschonen.“

Frau Dr. Claussens Stimme wurde scharf und drohend: „Wie lange machen Sie schon Krankenpflege, Schwester Eldrid?“

„Seit zwölf Jahren, Frau Doktor“, kam es kleinlaut zurück. „Und dann wissen Sie noch nicht, daß Sie Anweisungen nachzukommen haben?“

Schwester Eldrid biß sich auf die Lippe. Dr. Claussen ließ nicht locker. „Sie antworten mir nicht, Schwester Eldrid?“

„Es – es tut mir leid, Frau Doktor!“ Eirin zuckte zusammen. Das war ja beinahe unheimlich! Der

Auftritt glich aufs Haar der Szene zwischen ihr und Schwester Eldrid, allerdings mit dem Unterschied, daß sich Frau Dr. Claussen, obwohl sie die gleichen Worte benutzte, nicht an der Verlegenheit der Stationsschwester weidete. Die Ärztin war zornig, und sie hatte Grund dazu. Schwester Eldrid aber gab vor, aufgebracht zu sein, weil sie ihre Freude daran hatte, einen anderen Menschen zu demütigen.

„Es tut Ihnen leid – soll ich das so auffassen, daß Sie um Entschuldigung bitten?“

„Ja.“

„Dazu haben Sie auch Veranlassung! Aber ich schlage vor, Sie entschuldigen sich bei Frau Hjelle. Sie ist es, die durch Ihr Versäumnis eine schlaflose Nacht gehabt hat.“

Dr. Claussens Blick war fest auf Schwester Eldrid gerichtet. Er glich dem Befehl, an Frau Hjelles Bett zu treten, die Hand hinzustrecken und um Entschuldigung zu bitten. Und so geschah es. Jetzt erst wandte Frau Dr. Claussen ihren Blick wieder ab. „Ich hoffe, Sie haben heute eine bessere Nacht, Frau Hjelle. Heute abend bekommen Sie Ihre Spritze. Gut – gehen wir weiter.“

Sie grüßte und schritt zur Tür. Das weißgekleidete Gefolge setzte sich gleichfalls in Marsch und eilte über den Korridor zur nächsten Tür. Die gute alte Frau Hjelle schmunzelte. Sie wußte wohl, daß Frau Dr. Claussen streng sein konnte, und natürlich hatte Frau Hjelle Respekt vor der resoluten, grauhaarigen Ärztin. Aber Frau Hjelles alte, erfahrene Augen konnten in die Menschenherzen sehen. Sie konnte sehen, was sich hinter der äußeren Schale eines Menschen verbarg.

Eirin lächelte still vor sich hin, als sie in ehrerbietigem Abstand dem weißen Schwarm folgte. Jetzt wußte sie, woher die strenge Schwester Eldrid den Befehlston und die spitzen Redensarten hatte. Sie ahmte Dr. Claussen haargenau nach, nur mit dem Unterschied, daß das Auftreten der Ärztin Achtung abnötigte, während Schwester Eldrid bösartig und aufgeblasen wirkte.

Nächstes Mal wollte sie das Heulen schön bleibenlassen. Schwester Nina hatte Geburtstag. Sie hatte das

Schwesternwohnzimmer ausleihen dürfen und den Tisch mit Torte und Tassen für die Schokolade gedeckt. Schwester Nina arbeitete auf der ersten Chirurgischen, wo die netteste Stationsschwester des Krankenhauses ihres Amtes waltete. Sie hatte Nina ihr privates Geschirr geliehen mit dem Strohblumenmuster und die Kaffeelöffel mit dem farbigen Email.

Es machte Spaß, wieder einmal ein ziviles Kleid anzuziehen. Eirin war ganz bei der Sache, als sie sich im Spiegel betrachtete. Sie bürstete die schwarzen Locken, bis sie glänzten, und sie freute sich daran, wie hübsch die Bernsteinkette zu ihrem goldbraunen Chiffonkleid stand.

Inga entschlüpfte ein kleiner Schrei der Bewunderung, und Eirins Wangen leuchteten in frischem Rot. Es tat wohl, wenn jemand sie hübsch fand.

Und – o Wunder: Sie war heute überhaupt nicht müde! Vielleicht hatte Schwester Nina doch recht, daß der Körper sich an die Schufterei gewöhnt? Tatsächlich hatte sie seit etwa vierzehn Tagen nicht über die Arbeit gejammert.

„Ich glaube wirklich, ich gewöhne mich allmählich dran!“ „Das ist klar“, meinte Inga. „Die Arbeit ist gut, sie macht doch

viel mehr Spaß, als in einem Büro zu sitzen und auf einer Schreibmaschine zu klappern.“

Dann saßen die jungen Mädchen um den runden Tisch zwölf an der Zahl, Lernschwestern aller Stufen, Grünschnäbel Fortgeschrittene und fast Ausgelernte. Die Torte verschwand, die Schokolade schien zu verdunsten, und des Geplappers und Gelächters war kein Ende.

„Wie geht es jetzt?“ wandte Nina sich an die vier Jüngsten, an Doris, Ilse, Inga und Lise. „Ihr seid sicher nicht mehr ganz so müde wie früher?“

„Es geht wirklich schon besser“, versicherte Doris, „ich könnte ohne weiteres nach dem Dienst ein bißchen mit dem Rad losfahren.“

„Und ich würde mich geradezu unbehaglich fühlen, mir würde etwas fehlen, wenn ich nicht täglich vierzig Becken ausleeren dürfte“, lachte Schwester Ilse.

„Und ich“, sagte Schwester Inga, „ich bin dabei zu lernen, wie man Schwester Eldrid humoristisch nimmt.“

„Dann hast du große Fortschritte gemacht“, stellte Nina fest. „Ich muß gestehen, so weit bin ich noch nicht. Wie steht es mit dir, Lise“ – sie blinzelte Eirin schalkhaft zu –, „wie sind deine Gefühle Schwester Eldrid gegenüber, nachdem sie dir beigebracht hat, ,hinter’ ihr zu gehen?“ Eirin wurde rot.

„Meine Gefühle? Sie sind auf dem Siedepunkt, wenn du das Scheusal nur erwähnst. Sie sollte mit Stecknadeln zu Tode gepikt werden, die Sadistin!“ Nina lachte.

„Entschuldige mal, wer von euch ist nun die Sadistin? Die, die zankt und keift, oder die, die mit Stecknadeln zu Tode piksen will?“

„Nun ja, du darfst das nicht so wörtlich nehmen. Ich würde es doch nicht tun, selbst wenn ich das Ungeheuer auf einem Operationstisch vor mir liegen hätte, rundherum festgeschnallt, und einen ganzen Bottich mit Stecknadeln neben mir. Wer weiß, warum sie so ist?“

„Die zu studieren lohnte sich schon“, sagte Schwester Doris langsam. „Es ist sonnenklar, daß ein Mensch nicht ohne Grund so

wird. Wer den Grund herausbekommen würde, könnte sie vielleicht heilen. Fünfundzwanzig Öre als Prämie für den Entdecker!“

„Seid ihr verrückt?“ sagte Schwester Ilse. „Ihr wollt doch nicht etwa Schwester Eldrid heilen? Stellt euch vor, die würde plötzlich freundlich – worüber sollten wir uns dann ärgern, und worüber sollten wir uns noch unterhalten?“

„Das schlimmste ist, daß sie uns alle miteinander verdirbt“, erklärte Inga. „Wenn Lise später mal Stationsschwester ist, wird sie alle Schülerinnen ,hinter’ sich gehen lassen, ihr sollt mal sehen – “

„Ich werde nie Stationsschwester“, unterbrach Eirin sie. „Da brauchst du keine Sorge zu haben, Inga.“

„Warum solltest du nicht mal Stationsschwester werden?“ Eirin antwortete nicht gleich. Ihr Herz begann zu klopfen.

Weshalb sollte sie nicht Stationsschwester werden? Weil sie Halfdan heiraten würde, weil sie seine rechte Hand, seine Kameradin und Helferin werden und Kinder mit ihm bekommen würde – einen kleinen Jungen mit Halfdans blauen Augen und ihren eigenen schwarzen Locken, ein kleines Mädchen, das auf Halfdans Schultern ritt –, ach, aber die Wartezeit war so lang. Drei ganze Jahre! Und sie hatte das erste gerade angefangen!

Das Summen und Schwirren um sie her versank. Sie hörte es nicht mehr. Sie war in Frostviken. Jetzt war es heller da oben, ganz hell. Bald leuchtete die Mitternachtssonne. Dann mußte es dort schön sein. Jetzt saß Tante Bertha am Fenster im Wohnzimmer und stopfte Strümpfe. Und wenn Halfdan nicht gerade Besuche machte, brütete er wohl im Sprechzimmer am Mikroskop über seinen ewigen Präparaten. Wer machte wohl jetzt die Laborarbeit? Schlug er sich selbst mit all den kleinen Farbflaschen herum? Kochte er selbst die Instrumente aus? Wer wischte den Fußboden im Wartezimmer – und wer leerte den Erzfeind?

Eirin erhob sich. „Ich glaube, ich bin doch müde. Seid ihr böse, wenn ich gehe?

Mein Rücken tut’s einfach nicht mehr, wißt ihr?“ Sie hielten sie nicht zurück. Es gab keine unter ihnen, die nicht

selbst erlebt hätte, wenn ein Rücken vor Müdigkeit fast in der Mitte durchknickte. Sie kannten das nervöse Kribbeln in den Beinen, das sich nur heilen ließ, indem man sich lang ausstreckte und die Füße hochlegte.

Eirin nahm Briefpapier und Füller mit ins Bett. Und die Feder flog über das Papier. Heiße Worte, Sehnsucht und Tränen, ängstliche

Fragen, alles das mischte sich zu einem Liebesbrief, über den Halfdan vor Glück einen Luftsprung gemacht hätte – wenn er ihn je bekommen hätte.

Aber er bekam ihn nicht! Denn sie warf ihn am nächsten Morgen in den Müllschacht – und rackerte weiter.

13 Oslo war tatsächlich eine Großstadt. Eirin stellte mit Genugtuung fest, daß sie sich hier versteckt halten konnte. Nicht ein einziges Mal hatte sie einen ihrer früheren Bekannten wiedergetroffen. Ein paar Schulfreundinnen war sie wohl auf der Straße begegnet und hatte sie flüchtig begrüßt, aber keinem aus dem alten Freundeskreis. Es war auch vielleicht nicht so sonderbar. Oskar und Cilly saßen in Trondheim, einer der jungen Ärzte hatte am Ostrande der Stadt eine Praxis aufgemacht, zwei andere waren nach auswärts verzogen. Die Freundinnen gingen wohl zu ihren Büros und wieder nach Hause, und ihr Weg führte sie nie in die Gegend, in der Eirin lebte.

Ihr war es nur recht so. Nach ihrem Versagen und nach ihrer Flucht hatte sie beschlossen, sich zu verstecken und sich nicht eher wieder zu zeigen, bis sie ihre Selbstachtung wiedergewonnen hatte, das hieß, bis sie Krankenschwester war, mit einem vollgültigen Examen. Darum hatte sie auch ihren Namen gewechselt. Es gab keine Schwester Eirin, und eine kleine Schwester Lise – nun, deren gab es viele überall.

Ihre freien Tage verbrachte sie mit Inga, Doris und Ilse. Sie kamen alle vier gut miteinander aus. Besonders von der sanften, reizenden Ilse fühlte sich Eirin angezogen. Ihre Eltern waren geschieden; sie hatte bald bei ihrem Vater, bald bei der Mutter gewohnt, sich aber fremd und unbehaglich gefühlt, wo sie auch war. Dann heiratete die Mutter wieder. Der Vater reiste für eine große Firma und war fast nie zu Hause. Ilse war einsam. Sie hatte nur den Tag herbeigesehnt, an dem sie alt genug wäre, als Lernschwester in die Krankenpflege zu gehen. Sie war die Jüngste in der Gruppe.

Ilse fühlte sich im Krankenhaus wohl. Sie schaffte die harte Arbeit gut, obwohl sie klein und schmächtig war. Die Patienten liebten sie. Keine war so sanft und geduldig, keine so gütig und verständnisvoll wie Schwester Ilse. Doris sprudelte über vor Heiterkeit. Viele Patienten mochten das gern, aber manche fanden auch, sie habe ein zu loses Mundwerk und sei an einem Krankenbett nicht ernsthaft genug. Inga war stark und robust, tüchtig und pflichttreu. Aber sie blieb verschlossen, und es gab Patienten, die sie für gefühlsarm und verständnislos hielten. Sie hätten nur wissen sollen, was alles sich hinter dem sachlichen, berufsmäßigen Gebaren verbarg.

Und dann Eirin, die kleine, schwarzlockige Schwester Lise, die Hübscheste aus dem Kleeblatt. Reizend und freundlich war sie auch – wenn sie nur nicht immer so aussähe, als ob sie mit ihren Gedanken weit, weit fort wäre und als müsse sie sich gewaltig zusammenreißen, um sich darauf zu besinnen, wo sie eigentlich war. Die Arbeit tat sie schnell und mechanisch. Je mehr sie sich daran gewöhnte, desto länger konnten die Gedanken ihre eigenen, heimlichen Wege gehen.

Von Tante Bertha kam ein Brief, der ihr das Unhaltbare der Situation vor Augen führte. Den Verwandten gegenüber war es eben doch fast unmöglich, sich längere Zeit verborgen zu halten. Aber Eirin ließ sich nicht beirren. Sie beschloß, sich jemandem anzuvertrauen, und sei es, um sich eine bessere Postadresse zu verschaffen. Der Weg über Cillys Anschrift in Trondheim war auf die Dauer zu umständlich.

So machte sie sich denn eines Tages auf den Weg zu Cillys Mutter, der verwitweten Frau Lindberg. Sie kannte Frau Lindberg, seit sie in die Schule ging.

Frau Lindberg war erfreut und überrascht, sie zu sehen. Und als Eirin erst auf ihrem gewohnten Lieblingsplatz saß, auf dem Hocker am Ofen, und, wie in alter Zeit, eine Tasse mit einem Eidotter und Zucker in der Hand hatte, da begann sie zu sprechen.

Sie berichtete ausführlich von ihrem Dasein in Frostviken. Sie verschwieg nichts, schonte sich selbst nicht; sie schilderte die Arbeit und die Plackerei; sie erzählte von der Dunkelheit und von dem quälenden Druck, den diese auf sie ausgeübt hatte, vom Heiligabend, von der bösen Stimmung, die die ganze Zeit hinterher geherrscht hatte. Und dann schluckte sie ein paarmal, riß sich zusammen und sprach von der Flucht aus Frostviken.

Frau Lindberg hörte zu, ohne sie zu unterbrechen. Erst als Eirin bei ihrem Aufenthalt bei Cilly in Trondheim angelangt war, sprach Frau Lindberg:

„Und jetzt, Eirin? Was tust du jetzt?“ „Ich bin Krankenschwester oder vielmehr Lernschwester. Aber

das weiß Halfdan nicht und Tante Bertha auch nicht – keiner weiß es, außer dir. Und du mußt so gut sein und es ganz für dich behalten. Denn du begreifst –,“ Eirin holte tief Atem und erklärte weiter: daß sie untertauchen wolle, unauffindbar für jedermann, und daß sie arbeiten wolle, um ihre Selbstachtung wiederzuerlangen, und auch, damit Halfdan Respekt vor ihr bekäme.

Frau Lindberg saß ein Weilchen schweigend da. Dann erhob sie sich und strich Eirin übers Haar.

„Ich verstehe dich, Eirin. Ich finde, du bist ein tüchtiges Mädchen. Aber nun sag mir, was ich für dich tun kann. Denn irgend etwas gibt es, soviel ich verstanden habe, womit ich dir helfen soll.“

„Ja – ich wollte dich fragen, ob ich vielleicht deine Adresse angeben darf, so daß Tante Bertha hierher an mich schreiben kann, und ob du dann so gut sein und die Briefe in einen neuen Umschlag stecken und sie an Schwester Lise adressieren würdest, denn im Krankenhaus weiß niemand, daß ich eigentlich Eirin heiße, verstehst du? Ich gebe dir Umschläge und Briefmarken, dann ist es für dich keine so große Mühe. Würdest du das tun?“

„Selbstredend und mit Freuden, Kindchen!“ „Und dann, Frau Lindberg, kannst du nicht – ich meine, falls

Tante Bertha an dich schreiben und dich nach mir ausfragen sollte, denn genau das sähe ihr ähnlich –, kannst du dann nicht irgendwas antworten, daß ich eine gute Stellung hätte und daß es mir gutgehe?“

„Doch, sei ganz getrost, ich werde mich sehr diplomatisch ausdrücken. Aber sag mir, Eirin, warum soll Tante Bertha nicht wissen, wo du bist und was du treibst? Daß du es vor deinem Verlobten geheimhalten willst, das verstehe ich, aber Tante Bertha -?“

„Du weißt doch, sie führt ihm den Haushalt. Erstens kann es sein, daß sie sich verhaspelt. Bedenke, die beiden sind ganz aufeinander angewiesen da oben. Aber dann ist da noch etwas: Ich schäme mich vor Tante Bertha fast genauso wie vor Halfdan. Sie – sie – “, Eirin fing an zu stottern und wurde dunkelrot, fuhr aber trotzdem tapfer fort, „sie hat mir an dem Heiligabend eine Ohrfeige gegeben. Ich hatte sie verdient. Tante Bertha gegenüber fühle ich mich wie ein ungezogenes kleines Gör, weißt du, und ich will ihr nicht unter die Augen treten, bis ich nicht ein erwachsener, verantwortungsbewußter Mensch geworden bin. Ich will auch nicht, daß sie erfährt, was ich hier durchzustehen habe, sonst bringt sie sich um und versucht mir zu helfen. Ich will ganz allein sein. Ich würde auch dir nichts erzählt haben, wenn nicht die Sache mit der Post wäre.“

„Dann danke ich dir, daß du mich dazu ausersehen hast“, lächelte Frau Lindberg. „Ich verspreche dir, daß ich dein Vertrauen nicht mißbrauchen werde!“

Liebe Tante Bertha!

Ich möchte Dich heute nur wissen lassen, daß, es mir gutgeht und

daß ich wieder im Süden gelandet hin. Ich hin nicht lange in

Trondheim gehlieben. Hier fand ich eine gute Stellung und bin

gesund. Ich denke oft an Dich und Halfdan, aber ich kann nichts

über das schreiben, was ich denke und fühle. Ich hoffe, es geht Euch

gut, ich bin froh und dankbar, daß, Du bei ihm bleibst. Du kannst Deine Briefe an Trau Lindberg senden. Ich soll Dich

vielmals von ihr grüßen. Sie ist reizend zu mir. Sei nicht böse auf

mich, Tantchen. Ich weiß, daß ich mich sonderbar benehme, aber es

wird schon mit der Zeit besser werden. Ich kann nicht erwarten, daß

mich einer versteht. Laß es Dir gutgehen, Tante Bertha. Ich hab’ Dich so lieb. Deine Eirin

Mein liebes Kind! Vielen Dank für den Brief. Es tat gut, Deine Schrift

wiederzusehen. Ich freue mich sehr, daß Du bei Frau Lindberg

wohnst. Da bist Du gut aufgehoben, und ich weiß, solange ich nichts

höre, geht es Dir gut. Wenn Du irgendwelche Schwierigkeiten hast,

bekomme ich Bescheid, versprichst Du mir das? Wir wollen uns nicht bei dem aufhalten, was gewesen ist, mein

Kind. Es nützt ja doch nichts. Aber ich verstehe, daß Du allein sein

willst, und ich werde nach nichts fragen, solange ich weiß, daß Du

gesund bist und es Dir gutgeht. Von Halfdan kann ich Dir keinen

Gruß ausrichten, da ich ihm nicht sage, daß ich an Dich schreibe.

Anscheinend wünschst Du ja keine Verbindung mit ihm. Ich sehe

Halfdan nur wenig. Er hat viel zu tun. Aber jetzt in der hellen Zeit

mit gutem Wetter und Sonne sind die Krankenbesuche nicht so

anstrengend. Er war gestern in Norderpollen. Elvinas Junge hatte

Kehlkopfdiphtherie, und Halfdan soll dort ein Meisterstück

vollbracht haben, wenn ich Schwester Vera recht verstanden habe.

Richtig! Du weißt ja nicht, daß Halfdan jetzt eine Sprechstundenhilfe

hat. Sie ist wirklich ordentlich und tüchtig und eine große Hilfe für

ihn. Sie pflegt ihn auf seinen Krankenbesuchen zu begleiten, und Du

kannst mir glauben, sie ist voll des Lobes über ihn. Die Rettung des

Kindes erscheint ihr wie ein Wunder. Ich verstehe ja nichts von der

medizinischen Wissenschaft, aber es hörte sich selbst für mich

erstaunlich an; sie hatten die Instrumente auf dem Küchenherd in

Elvinas einziger Stube ausgekocht, und Halfdan hat den Jungen an

Ort und Stelle operiert. Er habe die Wahl gehabt, sofort zu operieren

oder den Jungen sterben zu sehen, sagte Schwester Vera. Du siehst,

uns geht es so gut, wie es uns gehen kann, wenn wir von dem leeren

Platz absehen, den der kleine Vogel hinterlassen hat, der seiner

Wege geflogen ist. Viele innige Gedanken wandern von dem kalten

Frostviken zu Dir, wo Du auch seist und was Du auch tun magst.

Gott segne Dich, mein Kind. Deine alte Tante Bertha Eirin nahm den Brief abends im Bett von neuem vor. Tante

Bertha war ein Prachtkerl. Nicht ein einziger Vorwurf, nur liebevolles, einfaches Verständnis. Die gute Tante Bertha!

Es paßte ja ganz gut, daß sie vermuteten, sie wohne bei Frau Lindberg. Dieses Mißverständnis war nicht ihre Schuld. Und wozu sollte sie es richtigstellen?

Alles war jetzt so geregelt, wie sie es haben wollte. Warum aber war sie jetzt nicht erleichtert und zufrieden?

Sie las den Brief noch einmal durch. „Du weißt ja noch nicht, daß Halfdan jetzt eine

Sprechstundenhilfe hat.“ Nein, woher sollte sie das wissen? Und obendrein noch eine mit dem Namen Vera. Jung natürlich, sonst würde sie ihn wohl nicht auf seinen strapaziösen Fahrten begleiten können; tüchtige Krankenschwester, sie hieß ja auch „Schwester“, nicht „Fräulein“, also war sie regelrecht ausgebildet. – Sie konnte bei einer Krupp-Operation assistieren, die in hohem Maße Tüchtigkeit und Geistesgegenwart erforderte. Vera – Vera! Schon dieser Name! Wenn sie Vera hieß, hatte sie wahrscheinlich kupferbraunes, flammendes Haar und die wunderbare Haut, die zu dieser Haarfarbe gehörte! – Eirin warf einen Blick in den Spiegel. Uh, wie blaß sie geworden war, und gerade jetzt blühte ein Pickel auf dem Kinn – Teufel auch!

V-e-r-a! Sportlich war sie sicher auch, wenn sie so mir nichts, dir nichts mit bis nach Norderpollen fuhr. Es war eine lange Fahrt – viele Stunden lang. Nur die beiden an Bord außer dem Steuermann – der stand im Steuerhaus, und bei gutem Wetter saßen Halfdan und Schwester Vera achtern auf der Bank! -Jetzt schien dort oben die Mitternachtssonne, und sie saßen draußen und unterhielten sich. Schwester Vera konnte mitreden, wenn Halfdan über Medizin sprach; sie fürchtete sich nicht vor Blut und Auswurf. Sie konnte

verständige Fragen stellen und aufmerksam lauschen, wenn er etwas erklärte.

Der Gedanke an die berückend schönen Sommerabende auf der See, an die Mitternachtssonne und die Vorstellung von der Schönheit und Tüchtigkeit Schwester Veras machten ihr zu schaffen. Es kam hinzu, daß Halfdan sicherlich schwer an der Enttäuschung trug, die sie ihm bereitet hatte, was ihm ja auch nicht zu verdenken war. Schwester Vera konnte ihn vielleicht trösten. Ob sie ihm wohl bei Tisch gegenübersaß – auf Eirins Platz? Ob sie wohl abends gemütlich beisammensaßen, vor dem Ofen – oder war vielleicht schon der Kamin eingebaut worden, von dem sie so oft gesprochen hatten?

Eirin war noch nie auf den Gedanken gekommen, Halfdan könnte eine andere Frau finden. Nie war es ihr eingefallen, sie könnte vielleicht nicht mehr willkommen sein, wenn sie sich plötzlich entschließen sollte, nach Frostviken zurückzukehren. Bis jetzt schien es ihr selbstverständlich, daß sie für Halfdan die einzige sei und bleiben würde.

Auf einmal sah das alles ganz anders aus! Bildete sie sich da nicht zuviel ein? Plötzlich schoß ihr die Sache mit Fred Branstad durch den Kopf! – Durfte sie Halfdan verargen, und würde es nicht begreiflich sein, wenn er in einer Sommernacht unter der Mitternachtssonne auf blanker, stiller See Schwester Vera küßte? Sollte es ihm nicht gestattet sein, einer Stimmung nachzugeben, genau wie ihr?

Eirin wehrte sich gegen die Vorstellung, Halfdan könnte eine andere Frau küssen. Würden seine guten blauen Augen tief in die einer anderen Frau blicken? Würde er es einer anderen gestatten, den Arm um seinen Hals zu legen, sich an seiner Schulter zu verstecken und liebe Worte in sein Ohr zu flüstern? Aber, aber er durfte sie doch nicht im Stich lassen! „Im Stich lassen?“ höhnten ihre Gedanken zurück! Wer von ihnen war es denn, der den anderen zuerst im Stich gelassen hatte?

Eirin bohrte den Kopf in die Kissen, damit Inga sie nicht hörte, denn jetzt kamen die Tränen. Und mit diesen Tränen schwamm der letzte Rest von Vernunft, Selbstbeherrschung und ruhiger Überlegung dahin.

Eirin lag auf dem Bauch im Bett und strampelte gegen den Bettpfosten. Sie biß in das Laken und zischte zwischen den Zähnen verzweifelte Worte in die Kissen:

„Abscheuliche Schwester Vera! Widerwärtiges Frauenzimmer! – Möge sie mitten im Norderpollen ertrinken – dieser Vamp!“

Und mit diesem frommen Wunsch im Herzen fiel Eirin in einen schweren und unruhigen Schlaf.

14 Der Herbststurm rüttelte an den großen alten Bäumen im Park des Krankenhauses. Er heulte um die Hausecken und wirbelte das welke Laub zu einem bunten, wilden Reigen auf.

Eirin fror in ihrem blauen Leinenkleid, obwohl im ganzen Hause eine gleichmäßige Wärme herrschte. Sie kochte sich in der Anrichte einen Kaffee und aß kleine Kuchen dazu, die ihr Ilse in ihrer Freistunde am Tage, als sie selbst schlief, mitgebracht hatte.

Sie war glücklich, endlich gelernt zu haben, auch am Tage zu schlafen. Ihre erste Nachtwache war ihr noch wie ein Alptraum im Gedächtnis. Todmüde, mit schmerzenden Gliedern, so abgespannt, daß ihr übel war, lag sie bei herabgelassenem Vorhang in ihrem Bett und wälzte sich stundenlang hin und her. Wohl nickte sie für ein paar Minuten ein, erwachte wieder, versuchte zu lesen, um dadurch vielleicht einzuschlafen; und wenn es ihr schließlich gelungen war, fuhr sie ein paar Minuten später wieder hoch, von irgendeinem kleinen Geräusch draußen geweckt. Stand sie dann gegen Nachmittag auf, fühlte sie sich am ganzen Körper wie zerschlagen. Wenn es beim Dienst still war auf der Station, dann hätte sie schlafen können, auf einem Hocker sitzend oder auf einem Fensterbrett. Dann dachte sie bei sich: Tausend Kronen würdest du bezahlen, wenn du nur in einem dunklen Zimmer ins Bett gehen und schlafen könntest – schlafen! -

Sie braute sich einen starken Kaffee und trank so viel davon, daß sie Herzklopfen bekam und sich elend fühlte – aber sie hielt sich wenigstens wach.

Nach einer Woche Nachtdienst war sie grün im Gesicht und hatte schwarze, tiefe Ringe unter den Augen. Sie hatte das Gefühl, als hingen an den Lidern kleine Bleigewichte.

In dieser Zeit tat sie ihren Dienst fast nur mechanisch. Kaum war sie von einem Gang zurückgekehrt, flammte schon wieder eine rote Lampe auf. Sie ergriff ein Becken und lief den endlos langen Korridor hinunter bis zu der Tür, über der die Lampe leuchtete. Feuchter, dumpfer Dunst von schlafenden Kranken, von verbundenen, gepinselten, zusammengeflickten und xeroformgepuderten Menschen schlug ihr entgegen. Da lag eine schlecht und wollte gern die Kissen aufgeschüttelt haben; eine andere wollte im Bett hochsitzen; die dritte hatte Durst; eine vierte

klagte über plötzliche Schmerzen in der Schnittwunde; wieder eine war übernervös und wollte getröstet werden; einem Kind war übel, es mußte sich übergeben.

Automatisch tat sie, was verlangt wurde: schüttelte Kissen auf, gab zu trinken, legte Bettpfannen unter und nahm sie wieder weg, wusch die Kranke, wechselte Stecklaken, hielt das Speibecken. Sie sprach tröstende Worte, kleine beruhigende Redensarten, die so sinnlos waren, der Patientin aber dennoch Trotz spendeten.

Und dann kehrte sie zur Wachstube zurück oder zur Anrichte, wo der Kaffee siedete. Sie setzte sich hin, die Kaffeetasse neben sich und den Kopf gegen die weiße Wand gelehnt. Und die Gedanken jagten ihr durch den müden Kopf. Meist wanderten sie gen Norden – nicht immer. Es kam vor, daß sie sich auch mal in den Süden verirrten, daß sie ihr etwas von Palmen und blauem Mittelmeer vorgaukelten, ja, es konnte geschehen, wenn sie ihre Gedanken vor Übermüdung nicht mehr zügeln konnte, daß in ihrer Erinnerung ein Paar funkelnde Augen in einem braungebrannten Gesicht auftauchte.

Dann packte sie sich alsbald selbst beim Schopf und zwang sich, an Frostviken zu denken und an Halfdan.

Aber manchmal drang sie gar nicht ganz bis zu ihm vor. Denn schon in der Tür zum Sprechzimmer stand jemand anderes: eine junge, schöne Frau in Schwesterntracht; eine Frau mit klugen, wachen Augen und sanften und zugleich starken und gesunden Händen.

Eirin hatte sich eine ganz bestimmte Vorstellung von Schwester Vera zurechtgemacht. Und wenn sie sich dieser Vorstellung hingab, war sie bis an den Rand mit Minderwertigkeitskomplexen angefüllt. Schwester Vera war so tüchtig und so geschickt, so recht eine Hilfe, wie Halfdan sie suchte. Sie selbst dagegen -

Dann flammte die rote Lampe wieder auf. Sie warf einen Blick auf die Nummerntafel, griff nach einem Becken und trabte von dannen.

Mit der Zeit wurde sie auch mit den Komplexen fertig. Überhaupt wurde vieles besser.

Erstens gehörte sie jetzt nicht mehr zu der Gruppe der Jüngsten. Neue waren eingestellt worden, und Eirin mußte kürzlich eine kleine, unglückliche Zwanzigjährige trösten, die ihren ersten Zusammenstoß mit Schwester Eldrid erlebte. Eirin selbst war deren Zugriff jetzt entzogen. Sie arbeitete seit drei Monaten in der chirurgischen Abteilung, und die Stationsschwester dort war ein

Engel im Vergleich zu Schwester Eldrid. Außerdem hatte sie Nachtdienst und sah wenig von ihren Vorgesetzten.

Zum zweiten hatte sie endlich gelernt, am Tage zu schlafen. Zwar fiel ihr die Umstellung nicht leicht, als sie wieder mit dem Tagesdienst anfing. Denn nun war es so, daß sie nachts nicht schlafen konnte.

Aber dies alles hatte sie nun durchgestanden. Jetzt konnte sie schlafen, wann immer sich eine Gelegenheit dazu bot. Tag oder Nacht, das war ihr einerlei. Wenn sie den Kopf auf das Kissen legte, schlief sie ein und schlief so lange, bis der Wecker rasselte.

Der Nachtdienst war im Grunde gar nicht mehr das schlechteste. Wenn sie morgens vom Dienst kam, pflegte sie einen kurzen Spaziergang zu machen, der ihre Wangen rosig färbte und ihr eine gesunde Müdigkeit verschaffte. Anschließend nahm sie eine Dusche, rollte den Vorhang herunter und ging in die Falle. Sie schlief bis gegen sechs Uhr nachmittags, machte noch einmal einen kleinen Spaziergang und war frisch, ausgeruht und gut aufgelegt, wenn der Dienst begann.

Einmal in dieser ganzen Zeit hatte sie einen Brief von Tante Bertha bekommen. Sie vertrat gerade für einige Tage die Sprechstundenhilfe des Chirurgen. Das traf sich gut; denn als sie antwortete, konnte sie mit reinem Gewissen schreiben: „Es ist so nett, wenn ich vom Büro komme und Frau Lindbergs sanftes Gesicht mich empfängt. Aus ihrer Küche duftet es nach den herrlichsten Dingen.“ Sie hatte ihren freien Nachmittag gehabt und war gerade an dem Tag, als sie das schrieb, bei Frau Lindberg gewesen. Sie brauchte also nicht zu lügen! – Immerhin blieb sie bei ihrer fixen Idee, Tante Bertha und Halfdan dürften nicht erfahren, was sie treibe, nicht eher, als bis sie das Zeugnis in der Tasche hatte als Beweis, daß sie trotz allem konnte, wenn sie wollte. Ihr selbst aber sollte es die Gewißheit geben, daß ihre Liebe zu Halfdan stark genug war, um ihr über alle Mühsal hinwegzuhelfen.

Übrigens fielen ihr, wie sie sich ehrlich gestand, Überwindung und Strapazen gar nicht mehr so schwer. Und die Liebe zu Halfdan war nicht mehr die einzige Triebfeder, an diesem selbstgewählten Platz etwas Ordentliches zu leisten.

Sie graulte sich nicht mehr vor dem Dienst. Sie empfand keinen Ekel mehr bei Erbrechen, Blutungen und Becken. Sie hatte sich an die Arbeit gewöhnt und kam sich schon einige Zeit durchaus nicht mehr als Heldin vor. Die Krankenpflege erschien ihr nicht mehr wie

ein Opfer. Sie war auf dem besten Wege, sie gern zu mögen! Genau besehen hatte die Sache auch ihre netten, drolligen Seiten, wenn man versuchte, die düstere Brille abzulegen. Auch konnte man sich mit einigen Patienten anfreunden!

Da waren zum Beispiel die beiden kleinen Mädchen mit der Knochenmarkentzündung, die anderthalb Jahre im Krankenhaus lagen. Die eine hatte einen Rückfall bekommen, war zum vierten Mal operiert worden und mußte wochenlang auf dem Bauch im Bett liegen, da die Operationswunde die Rückenlage unmöglich machte. Sie hatte die ersten Tage über die unbequeme Lage gejammert. Die Bücher und Bilder, die man ihr brachte, lenkten sie wohl ab; aber dann kamen wieder Müdigkeit und Ungeduld über sie.

Da erinnerte sich Eirin, daß Tante Bertha ihr einmal, als sie als kleines Kind krank lag, ein großes Geduldsspiel gebracht hatte. Eirin trabte in die Stadt und besorgte eins. Die kleine Berti mit der Knochenmarkentzündung war begeistert, als sie ihr das große Brett und die vielen Steine auf das Kissen stellte.

Nun lag die Kleine auf dem Bauch, mit dem armen kleinen, aufgeschnittenen Hinterteil nach oben, mit gerunzelter Stirn, und mühte sich mit dem Geduldsspiel ab. Es dauerte jedesmal Tage, bis sie es gelöst hatte, denn Eirin hatte das größte und schwierigste besorgt, das sie auftreiben konnte.

Jetzt war Berti schon so weit, daß sie normal im Bett liegen durfte. Das andere kleine Mädchen, Tilde, konnte aufrecht sitzen, und die beiden unterhielten sich von morgens bis abends. Eirin hatte die beiden in ihr Herz geschlossen. Sie bewiesen eine Disziplin, an der sich viele Erwachsene ein Beispiel nehmen konnten, und sie redeten von Temperatur und Senkung, Narkose und Spinalanästhesie mit der gleichen, selbstverständlichen Miene wie andere Kinder von ihren Rechenaufgaben, von der Tanzstunde oder ihrer Briefmarkensammlung.

Eirin knapste sich manche Viertelstunde ab, um sich an die Betten der Kinder zu setzen. Hatten sie besondere Wünsche, so wußten sie, daß man sie nur Schwester Lise ins Ohr zu flüstern brauchte. Wenn das Licht um einundzwanzig Uhr ausgemacht wurde, konnte es geschehen, daß ihnen heimlich kleine Näschereien in die Hand gesteckt wurden, und sie drückten eine andere Hand zum Dank. Nicht ein Wort wurde gewechselt, und die beiden kleinen Mädchen verstanden es meisterhaft, so geräuschlos zu essen, daß die anderen Patienten nichts merkten.

Da war das kleine Fräulein Toresen, die so lange, o wie lange schon im Krankenhaus lag. Sie war fürs Leben verunstaltet, die Ärmste. Bei ihrer Arbeit in der Fabrik war sie von einem Riemen erfaßt worden, und es war kaum noch Leben in ihr, als der Unfallwagen mit ihr zur Klinik raste. Aber, so unfaßlich es war, dem Chefarzt war es gelungen, ihren armen, zerschmetterten Körper wieder zusammenzuflicken. Jetzt war sie außer Lebensgefahr. Aber noch lag sie unbeweglich auf dem Rücken. Sie konnte nur den einen Arm so viel bewegen, daß sie allein essen, die Nase schnauben und lesen konnte. Man hatte ihr einen praktischen kleinen Ständer besorgt, auf dem das Buch lag. Es war so dankbar, das kleine Fräulein Toresen, mit seiner großen, entstellenden Narbe quer über der unteren Gesichtshälfte und dem dicken Verband um den Kopf, denn das Haar war zum großen Teil vom Kopfe weggerissen. Alle waren sie gut zu ihr, und besonders gern hatte sie Schwester Lise. Fräulein Toresen hatte in der ersten Zeit in einem Einzelzimmer gelegen. Aber der Platz im Krankenhaus war knapp, und eines Tages mußte Fräulein Toresen in einen Krankensaal übersiedeln. Da lag sie denn und konnte nicht einmal selbst nach der Schwester läuten; das mußte jetzt die Patientin aus dem Nachbarbett für sie tun.

Und die Schwester mußte kommen, ihr die Nase putzen, ihr zu trinken geben, ihr die Schale hinhalten, denn beide Arme lagen in Gips.

Jetzt durfte sie also ein wenig den einen Arm gebrauchen und war selig, sich ein bißchen selbst helfen zu können. Sie setzte ihre Ehre darein, sowenig wie möglich die Schwestern zu belästigen, genau wie Berti und Tildchen, deren kleine, helle Mädchenstimmen sich so erwachsen und vernünftig ausnahmen, wenn sie sagten:

„Die Schwestern haben so viel zu tun, die Ärmsten, und wir Patienten haben gar nichts zu tun, da dürfen wir doch nicht immer klingeln, wenn es nicht was Dringendes ist.“

Aber am anderen Ende des Korridors, in der „besseren Verpflegungsklasse“, der ersten, lag eine Schiffsreedertochter in einem Einzelzimmer mit Telefon auf dem Nachttisch und einer Flut von Blumen und Konfekt. Sie hatte eine einfache Operation durchgemacht, einen ganz gewöhnlichen Blinddarm von der Sorte, von der fünfzehn aufs Dutzend gehen, wie der Assistenzarzt, der junge Dr. Gard, zu sagen pflegte. Jetzt lag sie da und langweilte sich, polierte sich die Nägel, frisierte sich andauernd und läutete zehnmal in der Stunde nach der Schwester.

Eirin konnte sich das Lachen nicht verkneifen, so ärgerlich sie auch war.

Fräulein Schallberg wurde eingeliefert, kurz bevor Eirin mit der Nachtwache anfing. Sie lag auf ihrem Flur, und Eirin war schon ein paar Tage für sie gerannt.

„Gute Schwester Lise“, sagte Fräulein Schallberg und lächelte katzenfreundlich, „könnten Sie nicht so gut sein und die Gardine ein bißchen vorziehen, die Sonne scheint mir gerade in die Augen.“

Eine Viertelstunde später läutete es wieder. „Ach, Schwester Lise, würden Sie mir wohl meinen Manikürkasten reichen und den Handspiegel – tausend Dank!“

Fünf Minuten Ruhe. Dann klingelte es wieder, und auf der Nummernscheibe fiel die verhaßte Sechs herunter.

„Vermaledeites Frauenzimmer“, murmelte Eirin. Sie wollte gerade mit der Klistierspritze in den Saal gehen und hatte im Augenblick gar keine Zeit, wieder einmal für Fräulein Schallberg zu rennen.

„Pscht, Lise, du vergißt immer, daß jede Krankenschwester von dem Geist milder Verträglichkeit erfüllt sein soll“, neckte Schwester Doris, die Speibecken abwusch, daß der Dampf um die Kumme aufwallte.

„Warte nur, bis der Quälgeist wieder so weit hergestellt ist, daß er körperliche Züchtigung aushalten kann“, murmelte Eirin und steuerte auf Nummer sechs los.

„Süße Schwester Lise, ich langweile mich so schauderhaft – können Sie mir nicht eines von den Büchern da drüben auf dem Tisch geben – nein, nicht das in dem roten Einband, das hab’ ich gelesen, aber das andere – das dicke da, ja – vielen Dank – wie spät ist es eigentlich, Schwester Lise?“

„Elf“, murmelte Eirin und ging hinaus. Am nächsten Morgen hielt Fräulein Schallberg sie wieder mit

ihrem ewigen Geklingel in Atem. Nachdem Eirin im Laufe einer Stunde siebenmal bei ihr drinnen gewesen war, seufzte sie ergeben und sagte:

„Verzeihung, Fräulein Schallberg, aber wenn Sie noch mehr Wünsche haben, dann seien Sie doch so gut, es gleich zu sagen. Jetzt ist nämlich die Hauptarbeitszeit, und ich habe sehr viel zu tun.“

Fräulein Schallberg hob erstaunt ihre gefärbten Augenbrauen, öffnete ihren rotbemalten Mund und fragte mit verwunderter Stimme:

„Ja, aber – haben Sie denn noch mehr Patienten zu versorgen außer mir?“

Da hatte Eirin Mühe, sich das Lachen zu verbeißen. Sie unterdrückte, so gut sie konnte, selbst das Lächeln und sagte freundlich:

„Sie sind eine von vierundzwanzig, Fräulein Schallberg.“ „Du Allmächtiger“, rief Fräulein Schallberg. „Ich dachte, wenn

ich in der besten Verpflegungsklasse läge, dann – “ „Ja, dann haben Sie ein Einzelzimmer, eigenes Telefon,

besonders gutes Essen, aber keine eigene Schwester.“ Fräulein Schallberg schien enttäuscht.

„Nun, das muß ich doch wohl beanspruchen können, wenn ich dafür bezahle.“

„Das glaube ich kaum. Extrawachen haben wir nur für die Patienten, die wirklich krank sind.“ Da drehte sich die Patientin wütend ganz zu Eirin um. „Wirklich krank? Jetzt werden Sie aber naseweis, finde ich! Bin ich vielleicht nicht wirklich krank?“

Eirin wurde ärgerlich. Sie war es leid, diesem verwöhnten Mädchen ständig nach der Pfeife zu tanzen.

„Oh – wir haben Kranke, mit denen steht es viel schlimmer als mit Ihnen. Im Saal drüben liegt zum Beispiel eine Fabrikarbeiterin – “

„Danke, Ihre Fabrikarbeiterinnen interessieren mich nicht. Ich habe an meiner eigenen Krankheit wahrhaftig genug!“ Jetzt kochte Eirin über.

„Nun wohl, aber Sie können nicht erwarten, daß wir auch daran genug haben sollen. Wir haben, wie gesagt, Fälle, die gefährlicher sind als der Ihre, und hier interessieren wir uns mehr für das Wohl als für die soziale Stellung der Patienten. Wünschen Sie sonst noch etwas, Fräulein Schallberg?“

„Nein“, fauchte diese, „machen Sie, daß Sie rauskommen!“ „Mit Vergnügen!“ antwortete Eirin. Als sie aus der Tür war, meldeten sich Bedenken. Sicher würde

Fräulein Schallberg sich jetzt beschweren, und dann – uff, wenn sie bloß in ihrer Gegenwart keinen Rüffel bekam, wenn sie bloß das junge Ding nicht um Entschuldigung bitten mußte.

„Verflixt noch mal!“ Eirin warf den Kopf nach hinten und ging mit

zusammengebissenen Zähnen zum Büro der Oberschwester.

Die Oberschwester war streng, aber gerecht, das war die allgemeine Ansicht. Sie flößte Respekt ein, aber die Schülerinnen hatten zugleich auch Vertrauen zu ihr. Sie konnte erbarmungslos sein, wenn es sich um Pflichtversäumnisse und Gedankenlosigkeit handelte, um Unpünktlichkeit oder Unehrlichkeit. Wurde aber an ihr gutes Herz appelliert, an die Vernunft oder gar an den Humor, so war sie aufgeschlossen und hilfsbereit. Man erzählte sich von ihr – und es klang fast wie eine Legende –, daß sie einmal freiwillig und in Gegenwart des Chefs, mehrerer Schwestern und im Beisein von zwanzig Patienten eine kleine, unglückliche Lernschwester um Entschuldigung gebeten habe, weil sie sich selbst geirrt und diese heruntergeputzt hatte wegen einer Sache, an der sie, wie sich herausstellte, unschuldig war.

O ja, die Oberschwester war famos. „Verzeihung, Oberschwester, darf ich Sie drei Minuten stören?“ „Wenn es etwas Wichtiges ist?“ „Ich glaube, das entscheiden Sie am besten selbst,

Oberschwester. Ich bin ausfallend gegen Fräulein Schallberg gewesen, und es tut mir nicht leid.“

Der Anflug eines Lächelns huschte über das Antlitz der Oberschwester.

„Ehrlichkeit ist eine Tugend, Schwester Lise. Fräulein Schallberg – ach ja, ist das nicht die kleine, lockige Jungfer Naseweis mit der Appendizitis?“

„Ja, die auf Nummer sechs.“ „Richtig. Nun, was haben Sie denn angestellt?“ Eirin gab einen kurzen und wahrheitsgetreuen Bericht über den

Wortwechsel. Die Oberschwester hörte aufmerksam zu. „Soso! Da sind Sie mit Ihrem Mund zu sehr vorweg gewesen,

Schwester Lise!“ „Ja, vielleicht.“ „Aber ich stimme ganz mit Ihnen überein. Nur möchte ich Sie

auf das nachdrücklichste davor warnen, daß sich dergleichen wiederholt. Sie dürfen nicht vergessen: Sie sind dazu angestellt, die Körper der Patienten zu pflegen, nicht ihre Seelen. Im übrigen verspreche ich Ihnen für dies eine Mal, daß Sie keine Unannehmlichkeiten deswegen bekommen werden. Und nun können Sie gehen.“

„Tausend Dank, Oberschwester!“

Eirin tanzte den Korridor hinunter. Das Krankenschwesterdasein bot wirklich allerlei Abwechslung, und es machte einfach Spaß, Untergebene zu sein, wenn man so nette Vorgesetzte hatte.

Sie war für den Rest des Tages so guter Laune, daß sie sich dabei ertappte, wie sie pfiff, während sie der dicken alten Frau Jensen das Becken wegnahm, und daß sie trällerte, während sie die stinkenden Mulltupfer wegräumte, die der Doktor benutzte, wenn er Berthi neu verband.

Am nächsten Tag begann der Nachtdienst, und sie sah Fräulein Schallberg nur selten, höchstens wenn sie ein- oder zweimal nachts läutete, weil sie sich allein nicht helfen konnte. Fräulein Schallberg starrte sie wutschnaubend an, und Eirin war dem Ersticken nahe, so lächerlich fand sie das Ganze. Ohne Frage war es nicht angenehm, sich helfen lassen zu müssen von einer, die man nicht mag, und besonders, wenn man ans Bett gefesselt und gezwungen ist, das Becken zu verlangen.

Sie vermutete, daß Fräulein Schallberg sich beschwert hatte, ohne Verständnis gefunden zu haben. Gott segne die Oberschwester!

Die Uhr ging auf halb zwölf. Wie es stürmte! Eirin wunderte sich, daß die Patienten bei diesem Lärm schlafen konnten.

Aber sie schliefen. Es war heute nacht auf der Station ungewöhnlich ruhig. Die Lampe blinkte nur selten. Jetzt saß Eirin auf ihrem Hocker an der Wand und gähnte. Sie hatte sich von Schwester Inga ein Buch geliehen und versuchte, ein paar Seiten zu lesen, aber es fesselte sie nicht. Es war einer der üblichen Unterhaltungsromane mit jener bewußten Mischung von Liebe und Mißverständnissen.

Liebe? Mißverständnisse? War es im Leben nicht ähnlich? Gingen nicht Liebe und Mißverständnisse Hand in Hand? Wer hätte es mit größerer Deutlichkeit erfahren als sie selbst?

Wie es stürmte! Solch ein Sturm erinnerte sie immer an Frostviken und an jenen

Heiligabend, an jene Nacht, als sie zusammengekauert in der Sofaecke saß und lauschte und wartete, in der sie so bitterlich geweint, bereut und so schwer gelitten – und schließlich die Postkarte mit den Palmen und dem blauen Himmel gefunden hatte. Was wäre wohl geworden, wenn sie diese Karte nicht gefunden hätte? Sie war völlig von ihr behext worden. Ohne diese Karte gesehen zu haben, wäre sie vielleicht klein und demütig gewesen, als

Halfdan kam; sie hätte sich ihm an den Hals geworfen und um Verzeihung gebettelt. Alles wäre dann anders gekommen.

Oder war es besser so? Eirin fühlte, wie sie in diesen schweren Beruf hineinwuchs und dabei reifer wurde.

Sie kam sich jetzt viele Jahre älter vor als zu der Zeit, da sie in Frostviken kopflos auf den Küstendampfer gelaufen war.

Gern erführe sie nur ein wenig mehr über Halfdan! Wie viele Sturmnächte hatte er wohl auf dem Meere zugebracht? Wo mochte er jetzt, in diesem Augenblick sein? Lag er und schlief nach einem mühevollen Tag, oder war er auf Krankenvisite? Saß er in bösem Wetter im Motorboot auf dem düsteren Meer, allein, mit kummervollen Gedanken -?

Nein, er war nicht allein! Schwester Vera war bei ihm! Schwester Vera mit frischen, vom Wind geröteten Wangen, mit blitzenden Tropfen in ihrem lockigen Haar; Schwester Vera, die Instrumente auskocht und Verbände anlegt, die bei Operationen flink und geistesgegenwärtig assistiert und mit auf Krankenvisite fährt!

Eirin schloß die Augen. Dieses Grübeln warf sie immer wieder aus dem Gleichgewicht, und es machte so müde! Die Gedanken kreisten, gleich todesmatten Vögeln, immer um denselben Punkt, ohne Ruhe, ohne einen guten Platz zu finden, wo sie sich niederlassen konnten.

„Guten Abend, Schwester Lise! Jetzt müssen Sie aber aufwachen!“

Eirin schlug die Augen auf. „Ach, Doktor Gard? – Sie haben mich so erschreckt.“ „Das wollen Sie mir einreden! Haben wohl eben mal ein ganz

kleines Nickerchen gehalten, was?“ „O nein, ich habe nicht geschlafen. Ich dachte nur nach.“ „So sahen Sie allerdings aus. Wie geht es auf Nummer

fünfzehn?“ „Ich denke, gut. Sie hat sich heute nachmittag ziemlich oft

übergeben, aber vor einer Stunde ist sie eingeschlafen. Soll ich eben mal -?“

„Nein, Sie sollen gar nichts! Ich weiß ganz genau, daß es auf Nummer fünfzehn gut aussieht. Warum auch nicht? Ganz klar, daß sie sich nach der Narkose übergeben hat. Nein, ich suchte nur einen passenden Vorwand, um eine Unterhaltung einzuleiten. Oder sollen wir lieber vom Wetter reden?“

Eirin lachte. Dr. Gard sah aus wie ein Junge, wie er dastand, die Hände tief in den Taschen des weißen Mantels vergraben und mit einer störrischen Haarlocke in der Stirn.

„Was kriege ich, wenn ich rate, warum Sie kommen?“ „Nichts, das durchschauen Sie ohnehin leicht. Kocht das Wasser

schon?“ „Gleich.“ „Fein. Ich hab’ Kuchen mit.“ Dr. Gard war zur Zeit diensttuender Assistent. Er hatte die

Angewohnheit, immer lange aufzusitzen und zu lesen, und ehe er zu Bett ging, machte er noch einmal die Runde auf der Station, angeblich, „um zu hören, ob etwas los sei“, in Wirklichkeit aber, um sich bei der Nachtschwester eine Tasse Kaffee außer der Reihe zu ergaunern.

Sie saßen auf der weißgestrichenen Bank, mit Kaffee in dicken weißen Tassen, auf denen das Zeichen des Krankenhauses prangte, und Kuchen auf einem Pappteller zwischen sich.

„Tolle Arbeit hat er heute geleistet, der Chef“, sagte Gard, den Mund voll Kuchen.

„Sie meinen das Unglück auf Nummer achtzehn?“ „Ja, das junge Mädchen. Ihr Gesicht sah aus wie Hackfleisch, als

sie eingeliefert wurde. Ich habe bei der Operation assistiert, und nie in meinem Leben habe ich eine so meisterhafte Flickerei gesehen! Doch, vor längerer Zeit einmal, bei einem Kollegen von mir, der stickte und kunststopfte das Gesicht eines kleinen Mädels –, ich hab’ das Kind später wiedergesehen, und es war fast nicht zu merken, daß ihr mal was gefehlt hat. Ja, daß der Kerl nicht bei der Chirurgie geblieben ist, kann ich ihm nie verzeihen!“

„Wieso? Was hat er denn gemacht?“ fragte Eirin. Sie wählte ein Stück Hefekuchen mit Zuckerguß und hörte nur mit halbem Ohr zu, was Dr. Gard erzählte. Sie kannte sein Geplapper und hatte schon unzählige Geschichten „von einem Kollegen von mir“ oder „einem Freund von mir“ über sich ergehen lassen.

„Was er gemacht hat? Na ja, er nahm einen Koffer in die eine Hand und ein Mädel an die andere und reiste weit weg, bis ans Ende der Welt ungefähr, genauer ausgedrückt bis nach Frostviken.“

Eirin ließ das Stück Kuchen fallen. Sie starrte Dr. Gard an, der genießerisch seinen Kaffee schlürfte und dabei weiterschwatzte, ohne sie anzusehen.

„Das war nämlich Liebe, müssen Sie wissen! Er war so verschossen in das Mädel, daß er sich, so schnell es ging, einen Lebensunterhalt verschaffen mußte, weil er mit der Kunststickerei als Assistent bei Dr. Brattholm nicht genug verdiente. So zog er denn nach Frostviken und wurde Kreisarzt. Dort hilft er jetzt den Fischerkindern in diese Welt und ihren Vätern aus ihr raus, kappt Mandeln, pinselt Hälse und schneidet eitrige Finger auf – puh, was für ein Leben!“

„Vielleicht ist er gern dort“, sagte Eirin. Sie sprach ganz leise, denn sie verließ sich nicht auf ihre Stimme.

„Vielleicht – vielleicht auch nicht-, ach nein, bestimmt nicht! Hoek war zum Chirurgen geboren – oder zum Bakteriologen, der Kerl hatte tolle Chancen. Und dann geht er hin und begräbt sich in einem fernen Nest um eines Mädels willen – nein, das verzeihe ich dem guten Hoek nie!“

„Lohnte es sich denn nicht um das Mädel?“ fragte Eirin vorsichtig. Sie zwang einen Schluck Kaffee hinunter, um ruhig zu bleiben.

„Was heißt da lohnte! Es gibt kein Frauenzimmer, um das sich ein solches Opfer lohnte. Schon daß sie es überhaupt annahm, beweist, daß sie es nicht wert war. War das nicht prachtvoll ausgedrückt, was? Es hätte aus den französischen Aphorismen’ oder so was ähnlichem sein können. Das Mädel gehörte zu der Sorte, von der vierzehn aufs Dutzend gehen, hübsch und verliebt und so weiter, vermute ich wenigstens. Gesehen habe ich sie nie. Sie fand es wohl schick, so angehimmelt und geliebt zu werden und dann später Frau Doktor zu sein. Tja, ich kann mir denken, die hat ein ziemlich dummes Gesicht gemacht, als sie in das finstere Frostviken kam und kein elektrisches Licht anknipsen konnte – stellen Sie sich vor: so ein Dämchen aus Oslo mit Lippenstift, hohen Absätzen und Tanz im Bristol! Ich könnte mir denken, die hat das längst satt, und nun sitzt er da und pikst vereiterte Finger auf und denkt an den pompösen Operationssaal bei Brattholm und all die feinen Instrumente.“

Eirins Herz schlug zum Zerspringen. Sie wollte laut hinausschreien, daß Gard im Irrtum sei: sie habe nie einen Lippenstift benutzt und selten hohe Absätze getragen, und sie sei keineswegs so eine, von denen vierzehn aufs Dutzend gehen, und sie könne sehr gut – nein, nein – Gard hatte ja recht! Sie hatte es ja in Frostviken nicht ausgehalten. Halfdan hatte tatsächlich dieses Opfer ganz vergebens gebracht. Sie hatte ihn im Stich gelassen – sie war ja

genau so ein kleines Oslomädchen mit einem leeren Herzen, wie Gard es eben erbarmungslos geschildert hatte.

„Sie sind so blaß, Schwester Lise. Haben Sie etwa zuviel Kaffee getrunken?“

„Aber gar nicht. Mir geht es sehr gut. Herrje, da läutet es!“ Die rote Lampe leuchtete auf, und Eirin war froh, einen Vorwand

zu haben rauszulaufen, selbst wenn es die Nummer sechs war, die jetzt auf der Tafel prangte. Fräulein Schallberg war nicht gerade ihre Lieblingspatientin. Aber in diesem Augenblick hätte sie mit Wonne jede Gelegenheit benutzt, um zu verschwinden, und wenn sie eine Stunde lang dastehen und sich von Schwester Eldrid den Buckel vollschimpfen lassen sollte.

Während sie Fräulein Schallberg behilflich war, beschloß sie, Gard zu fragen, ob er etwas von seinem Kollegen in Frostviken gehört habe. Als sie aber in die Anrichte zurückkam, war Gard gegangen. Auf dem Pappteller lag noch ein Stück Kuchen und daneben ein Zettel:

„Das letzte Stück ist für Sie, Schwester Lise. Schönen Dank für den Kaffee. Sollte es nötig sein, kann Frau Tvedt auf Nummer fünfzehn ein Phanodorm bekommen. Gute Nacht!“

Eirin setzte sich still hin. Sie hielt die Hände im Schoß und saß kerzengerade. Sie weinte nicht, war nicht verzweifelt, hatte kein Herzklopfen. Sie dachte nur an Halfdan.

15 „Erstaunlich, wie die Zeit rennt“, sagte Eirin und gähnte. Sie saß auf der Bettkante und streifte die Schuhe ab. „Aber ich bin trotz allem froh, daß ich wieder in der Medizinischen bin. Die letzten Tage in der Epidemie waren fürchterlich: Der Oberarzt, der Assistent, die Stationsschwester und auch ich führten einen Ringkampf mit dem Tode. Der Junge lag ja auf meinem Gang, du ahnst nicht, wie deprimierend das war. Schmerzen hatte er auch, der Ärmste. Und dann die letzte Nacht, als die Mutter kam und die ganze Zeit bei ihm saß und der Junge sie nur immer anschaute und nicht reden konnte. Ihr Mann ist auf See, und sie hatte nur dies eine Kind – ach, Herrgott, wir werden wohl nie so hartgesotten, daß so etwas keinen Eindruck mehr auf uns machte. Oder was meinst du?“

Eirin stützte den Kopf in die Hände und starrte vor sich hin. „Es ist doch nicht das erste Mal, daß du einen Patienten sterben

siehst, Lise?“ Schwester Inga sprach ruhig und leise. Sie stand selbst heute an

einem Sterbebett. Aber das war ein alter Mann gewesen – nicht ein kleiner, blondhaariger Junge von vier Jahren!

„Nein, aber es ist so entsetzlich, wenn es ein kleines Kind ist. Gewiß, für uns ist es ja immer nur ein Fall, nur eine Nummer in der Reihe; aber jedesmal stürzt doch für einige Menschen eine ganze Welt zusammen. Wir räumen die Trümmer beiseite und traben weiter – das müssen wir ja.“

„Ja“, sagte Inga, „das müssen wir.“ „So etwas macht nachdenklich, Inga. Der Junge starb in meinen

Armen. Hinterher weinte die Mutter an meiner Schulter. Ich mußte sie festhalten, sonst wäre sie in sich zusammengeknickt. Und denke dir, jetzt kann ich mich kaum noch darauf besinnen, wie sie aussah. In einem Jahr habe ich wohl das Ganze vergessen. Sie aber wird mich nie vergessen. Sie wird sich ihr ganzes Leben lang mit mir verbunden fühlen, weil wir diese Erinnerung gemeinsam haben. Sie wird mein Gesicht und meinen Namen und das Datum und die Uhrzeit behalten. Ist das nicht sonderbar, daß es für den einen so unendlich viel bedeutet und für den anderen nicht mehr ist als eine ganz alltägliche Begebenheit?“

Inga schaute ratlos zu Eirin hinüber. Ihr gesunder, praktischer, nüchterner Verstand kam da nicht mehr ganz mit.

„Ich glaube, du bist übermüdet, Lise“, sagte sie schließlich. „Ja“, murmelte Eirin und strich sich über die Stirn. „Ich bin

müde.“ Sie zog sich still aus und legte sich zu Bett. So stand Eirin denn wieder unter Schwester Eldrids Tyrannei und

Dr. Claussens wachen, klugen Augen. Fast heimelten sie diese Räume und Korridore an, in denen sie sich in den ersten Wochen geplagt und geschunden hatte, als ihre Füße vor Müdigkeit gebrannt hatten, ihr Rücken geschmerzt hatte, und in denen sie so bittere Tränen vergossen hatte.

Aber jetzt war alles ganz anders. Jetzt hörte sie sich Schwester Eldrids Gardinenpredigten ruhig an, zum einen Ohr hinein, zum anderen hinaus. Die Müdigkeit war wie weggeblasen. Eirin war zwar dünn, aber zäh und kräftig, und genau besehen fühlte sie sich frischer als je zuvor in ihrem Leben.

Sie stand jetzt seit über einem Jahr in der Krankenpflege. Wieder war eine neue Gruppe angetreten, wieder mußte sie das eine oder andere verschüchterte, überanstrengte, weinende Häufchen Elend trösten, das mit himmelblauem Idealismus diesen Beruf erwählt und nicht geahnt hatte, daß er zunächst vorzugsweise aus Fußbodenwischen, Beckenausgießen und Nasenstübern bestand.

Aber das Unglück schien sie in der medizinischen Abteilung zu verfolgen.

Es klingelte auf Nummer achtundzwanzig. Dort lag eine jüngere, verheiratete Frau in einem Einbettzimmer, blaß und mit einem leidenden Gesicht. Sie war zur Beobachtung hier, weil sie über Schmerzen im Rücken und in der Herzgegend klagte. Man hatte Blutproben und Urinproben gemacht, den Blutdruck gemessen, aber die Ärzte konnten nichts finden.

Eirin fand, daß Frau Dr. Claussen und der Assistent gegen dies arme, blasse Menschenkind auf Nummer achtundzwanzig zu gleichgültig waren.

Sooft sie ein paar Minuten erübrigen konnte, nahm sie sich daher Frau Erviks ein wenig an. Diese war rührend dankbar. Wenn sie nur das Kissen aufschüttelte oder sie nur fragte, wie es ihr gehe, lächelte sie mit großen blauen Augen und bedankte sich.

Es tat Eirin in der Seele leid, Frau Ervik wecken zu müssen, wenn die Morgenarbeit einsetzte. Sie schlief dann fest, die Ärmste, und vielleicht war sie eben erst eingeschlafen.

„Die Nächte sind so lang“, sagte Frau Ervik. „Ich kann vor Morgengrauen einfach nie einschlafen – und dann kommen Sie an und wollen mich waschen!“

„Ja, es ist abscheulich“, gab Eirin zu. „So ist nun einmal die Krankenhausordnung. Da gibt es kein Gefackel.“

Frau Ervik seufzte und griff sich an die Schläfen. „Ach, Schwester Lise, können Sie begreifen, daß die Ärzte nicht rauskriegen, was mir fehlt? Heute nacht hatte ich wieder so schreckliche Herzschmerzen – es ist, als ob ein Dolch bohrte und bohrte –, ich dachte tatsächlich, es ginge zu Ende – “

„Aber haben Sie denn nicht geläutet, Frau Ervik?“ „Doch, natürlich, die Nachtschwester kam auch, und ich bat sie,

den Arzt zu rufen; aber sie wollte nicht. Ich hätte unter ihren Händen sterben können, dann hätte sie allein mit der Verantwortung dagesessen. Ich glaube, sie hatte Angst, den Arzt zu wecken. Schwester Lise, gehört es auch zur Krankenhausordnung, daß die Patientinnen eher sterben müssen, als daß der Arzt geweckt wird?“

Lise errötete im Namen des Krankenhauses und der Nachtschwester. Wer hatte Nachtdienst? Ach ja, Doris war es! Ob sie nicht mal mit Doris reden und ihr sagen sollte, sie möge gefälligst ihren gesunden Menschenverstand zusammennehmen und die Patienten nicht leiden lassen aus lauter Respekt vor dem Arzt?

Am selben Nachmittag klingelte Frau Ervik wieder, und Eirin rannte hin. Frau Ervik war noch bleicher als sonst und hielt die Hände gegen das Herz gepreßt.

„Ach Schwester Lise – gut, daß Sie gekommen sind –, liebste Schwester Lise, läuten Sie meinen Mann an – nein, nicht den Arzt, ich will Ruhe haben – aber ich möchte so gern meinen Mann sehen – bitten Sie ihn zu kommen – sofort, sagen Sie ihm, sofort!“

Eirin stürzte ans Telefon. Aber bei Erviks antwortete niemand. Verzweifelt kehrte sie wieder zu der Patientin zurück.

Frau Ervik lag jetzt ganz still. Große Tränen rannen ihr über die Wangen.

„Ich dachte es mir“, flüsterte sie. „Ich habe es schon lange durchschaut. Er wollte, daß ich ins Krankenhaus kam, um – ach – “ Sie schluchzte herzzerreißend. Eirin wußte nicht, was sie tun sollte. Sie floß über vor Mitleid. Schließlich ließ sie alle Vorschriften Vorschriften sein, sie tat, was sie bei einer zutiefst unglücklichen Freundin getan haben würde: Sie setzte sich auf den Bettrand und

legte den Arm um die kleine Frau Ervik. Diese lehnte sich willig an Eirins Schulter und schluchzte fassungslos.

„So, so“, flüsterte Eirin beschwichtigend. „Jetzt seien Sie mal brav, Frau Ervik. Sie müssen versuchen, ruhig zu sein, wenn Sie wieder gesund werden wollen. Wenn Sie glauben, daß es Ihnen hilft, sich auszusprechen, dann tun Sie es ruhig – ich vergesse es wieder, ich sage es keinem Menschen.“

Frau Ervik hörte allmählich auf zu weinen. Dann erzählte sie unter Tränen von ihrer trübseligen Ehe, wie ihre Gesundheit immer mehr untergraben wurde, wie wenig ihr Mann sie verstand und wie er sie zuletzt geradezu ins Krankenhaus abgeschoben habe, um für sich zu sein und zu Hause nach Belieben kommen und gehen zu können. Und sie lag hier hilflos.

Eirin verging vor Empörung und Mitleid. Armes Geschöpf. Da war die Frau ja vom Regen in die Traufe gekommen! Denn hier konnte sie für ihren Kummer wirklich kein Verständnis finden. Hier war alles gleich kalt, gleich hart, gleich sachlich – von den weißen Wänden angefangen bis zu den Ärzten, von dem weißlackierten, hohen, ungemütlichen Krankenhausbett bis zu dem kühlen Blick der Oberschwester.

„Und hier sind alle so gleichgültig gegen mich“, flüsterte Frau Ervik an Eirins Schulter.

„Frau Dr. Claussen ist so nett“, erklärte Eirin. „Sie ist ein prachtvoller Mensch, wenn sie auch vielleicht nicht so warmherzig ist. Es braucht aber nicht immer so zu sein, daß ein guter Arzt auch auf solche Belange eingeht, verstehen Sie das?“

Frau Ervik lauschte aufmerksam mit tränennassen Augen. „Und Dr. Kjeller, der Assistent?“ „Ach, der, der ist ja nur ein großer Junge“, sagte Eirin. „Ist er

etwa ruppig gegen Sie gewesen? Das müssen Sie sich nicht zu Herzen nehmen. Das wird er sich schon noch abgewöhnen, wenn er erst erwachsen ist.“

Tatsächlich, jetzt hatte sie Frau Ervik so weit, daß sie lächelte. „So, Frau Ervik, sehen Sie, das ist recht. Wollen Sie den Spiegel

ans Bett haben und Ihren Kamm? Sie müssen sich ein bißchen zurechtmachen. Und dann glaube ich, Sie sollten eine Apfelsine essen, hier ist soviel wundervolles Obst für Sie gekommen von Ihrem Mann.“

„Ach was, er denkt wohl, wenn er Obst und Blumen schickt, dann hat er sein Gewissen entlastet.“

Eirin schälte eine Apfelsine, die Frau Ervik mit gutem Appetit aß. Und dann mußte sie ihren anderen Pflichten nachgehen. Sie war viel zu lange auf Nummer achtundzwanzig geblieben.

Es war ein paar Tage später. Frau Ervik lag noch immer still und bleich im Bett. Man hatte

immer noch nicht herausgefunden, was ihr fehlte. Eirin war täglich viele Male in ihrem Zimmer, schwatzte ein bißchen mit ihr, tröstete sie und hörte ihr zu, wenn sie leise wimmerte und klagte.

Eines Abends, als Eirin gerade ihren Dienst beenden wollte, klingelte es Sturm auf Nummer achtundzwanzig. Eirin fand Frau Ervik zusammengekrümmt im Bett in einer seltsam verrenkten Haltung.

„Die Ärztin“, stöhnte sie, „die Ärztin!“ Eirin machte kehrt, raste in den Flur hinaus und stieß mit

Schwester Eldrid zusammen. „Ach, Verzeihung – Schwester Eldrid, möchten Sie nicht mal

nach Frau Ervik sehen? Sie scheint entsetzliche Krämpfe zu haben. Ich muß Dr. Claussen holen – “ Und weg war sie, bevor noch Schwester Eldrid ein Wort gesagt hatte.

Frau Dr. Claussen war in ihrer eigenen Wohnung, im Westflügel des Gebäudes. Eirin mußte viele Treppen und lange Flure entlanglaufen, bis sie atemlos vor der Tür der Ärztin stand und klingelte. Ungeduldig trippelte sie von einem Bein auf das andere. Frau Dr. Claussen hatte in ihrer Privatwohnung kein Telefon, damit sie in ihren freien Stunden möglichst ungestört blieb.

„Ach so, es handelt sich um Frau Ervik“, sagte die Ärztin ruhig. „Ja, gut, ich komme sofort.“

Eirin sauste auf die Station zurück. Bei Frau Ervik stand Schwester Eldrid und sah unbeteiligt auf die Patientin herab, die in konvulsivischen Zuckungen und Krämpfen lag. Etwas Unheimlicheres hatte Eirin kaum je gesehen. „Was sollen wir machen?“ fragte Eirin voller Angst.

„Sie haben ja getan, was Sie konnten. Sie haben ja Frau Doktor geholt. Also habe ich hier nichts mehr zu sagen“, antwortete Schwester Eldrid ironisch.

Eirin kochte. Es war schon richtig, was Frau Ervik sagte: Hier ließ man die Patienten sterben vor lauter Disziplin. Sie hätte wohl erst Schwester Eldrid um Erlaubnis fragen müssen, ob sie Dr. Claussen bitten dürfte zu kommen, damit sie gegebenenfalls ein

Menschenleben rette, wenn es ihr überhaupt gerade paßte, sich außer Dienst zu bemühen.

Da ging die Tür. Die Frau Doktor kam herein. Sofort ging eine sonderbare Veränderung mit Frau Ervik vor

sich. Ihr Körper streckte sich ganz aus, im nächsten Augenblick wölbte er sich nach oben, so daß sie in einem Bogen auf Kopf und Fersen stand.

Marit Claussen blieb ganz ruhig stehen. Sie steckte die Hände in die Taschen und betrachtete interessiert, aber mit teilnahmslosem Gesicht das Phänomen.

„Das war verdammt gut gemacht“, ließ sie sich schließlich mit eiskalter Stimme vernehmen. „Wie in aller Welt kriegen Sie das fertig?“

Eirin war nahe daran, ihren Respekt vor dem Arzt und der Krankenhausdisziplin zu vergessen und mit den Fäusten auf Frau Dr. Claussen loszugehen.

Doch siehe da: Frau Erviks Körper fiel zusammen wie ein Sack, die zusammengekniffenen Augen öffneten sich, und ein tränennasser Blick richtete sich auf die Ärztin.

„Oh – Frau Doktor –, ich verstehe nicht, was es ist – “ „Sie brauchen auch nichts zu verstehen. Die Hauptsache ist, daß

wir es verstehen. Decken Sie die Patientin zu, Schwester Lise, und lassen Sie sie jetzt in Ruhe.“

Eirin breitete die Bettdecke über Frau Ervik. Diese lag jetzt ganz still auf dem Rücken, die Tränen kullerten ihr über die Wangen. Dann drehte sie langsam den Kopf zu Frau Dr. Claussen hin.

„Frau Doktor!“ „Ja, was gibt es?“ Die Stimme klang hart, teilnahmslos. „Warum gehen Sie alle so barsch mit mir um? Ist es ein

Verbrechen, wenn es einem schlechtgeht?“ „Wir gehen niemals barsch mit Patienten um, denen es wirklich

schlechtgeht, Frau Ervik!“ „Ach, Frau Doktor, dann wissen Sie nicht, was hier vorgeht! Alle

sind häßlich zu mir. Niemand hat auch nur ein einziges Wort des Trostes für mich, ausgenommen Schwester Lise!“

Bei diesen Worten reichte Frau Ervik dankbar lächelnd Eirin die Hand.

„Schwester Lise versteht mich. Sie ist die einzige, die mich versteht. Und sie pflichtet mir bei. Schwester Lise findet auch, daß Sie hart gegen mich sind – ja, mißverstehen Sie mich nicht, Frau

Doktor, ich weiß wohl, daß Sie eine ausgezeichnete Ärztin sind, aber deshalb brauchen Sie ja noch kein gutes Herz zu haben – das sagte Schwester Lise auch – “

Eirin war weiß im Gesicht, und ihre Knie schlotterten so, daß sie kaum noch stehen konnte. Das war das Ende! Aus! Erledigt! Binnen fünf Minuten würde sie ihre fristlose Entlassung in der Hand haben. Morgen würde sie bei Frau Lindberg sitzen und heulen und nicht wissen, was sie mit sich anfangen sollte!

„Nicht wahr, Schwester Lise? Und Schwester Lise findet auch, daß Dr. Kjeller sich wie ein Straßenjunge benimmt.“

Das habe ich nie gesagt! wollte Eirin herausschreien; aber ihre Stimme war heiser vor Angst, Tränen und Wut.

Frau Ervik sprach immer noch leidend, immer noch tränennaß, immer noch sanft vorwurfsvoll, als sie fortfuhr:

„Na ja, oder so was ähnliches jedenfalls, die Worte weiß ich nicht mehr so genau. Offen gestanden, Frau Doktor, ich finde tatsächlich, die Schwestern nehmen zu wenig Rücksicht auf mich – Schwester Lise findet auch – “

So – jetzt würde wohl kommen, was sie in ihrer Unüberlegtheit von Schwester Eldrid gesagt hatte. Eirin schwindelte. Da unterbrach Frau Dr. Claussen sie. „Ich bin nicht gekommen, um mir anzuhören, was Sie und Schwester Lise finden. Schwester Eldrid, geben Sie der Patientin zwei Luminal, und sorgen Sie dafür, daß sie Ruhe hat. Schwester Lise, mit Ihnen möchte ich reden!“

Eirin kannte Frau Dr. Claussen inzwischen gut genug, um den verhaltenen Zorn hinter der kurzen, knappen Anweisung zu spüren.

Und sie wußte, ihr stand jetzt etwas bevor, das schlimmer war als alle Auftritte mit Schwester Eldrid, schlimmer als das damals, wie sie als Kind in das Schulbüro des Direktors gerufen wurde – schlimmer als alle Demütigungen zusammengenommen, die sie in ihrem ganzen Leben hatte durchmachen müssen. Aber diesmal verdiente sie es, diesmal geschah ihr recht, was auch kommen mochte. Draußen auf dem Flur wandte sich die Ärztin nach ihr um. „Ihr Dienst ist jetzt zu Ende?“

„Ja – in – in einer Viertelstunde.“ „Seien Sie so gut und kommen Sie zu mir herüber, wenn Sie hier

auf der Station fertig sind.“ „Sind Sie im Sprechzimmer, Frau Doktor?“ „Nein, in meiner Privatwohnung.“ „Ja, gewiß, Frau Doktor!“

Eirin blieb bleich und zitternd in dem großen Krankenhausflur stehen. Frau Dr. Claussen ging mit festen Schritten über den Gang davon und durch die Pendeltür hinaus. Eirin hörte ihre Schritte in der Ferne verhallen.

Eirin hob zweimal die Hand, um bei Dr. Claussen zu läuten. Sie zupfte zum zehnten Mal an Schürze und Haube, sie schnaubte sich die Nase, sie wischte die feuchten Hände ab. Dann schloß sie die Augen, biß die Zähne zusammen und klingelte.

O Himmel, wie die Glocke schrillte. Die kleine, blondgelockte Hausgehilfin öffnete. Man schien sie

zu erwarten. „Bitte, Schwester. Frau Doktor ist im Wohnzimmer, hier diese

Tür.“ Abermals eine kalte weiße Tür. Abermals hieß es, das Herz in

beide Hände zu nehmen und anzuklopfen. „Herein!“ Frau Dr. Claussen erhob sich aus einem tiefen Sessel, legte

gelassen ein Heft aus der Hand, in dem sie gelesen hatte, und fächelte den Zigarettenrauch fort, der sie umwogte. Sie reichte Eirin die Hand.

„Na, da sind Sie ja. Setzen Sie sich. Ich kann mir denken, daß Sie von einem langen Tag jetzt müde sind, nicht wahr? Rauchen Sie? Bitte.“

Die Ärztin schob Eirin ein silbernes Zigarettenkästchen hin und strich selbst das Zündholz für sie an. Eirin nahm in ihrer Verwirrung eine Zigarette – erst als sie ein paar Züge getan hatte, ging ihr auf, daß sie in Tracht dasaß und paffte!

Frau Dr. Claussen schien ihre Gedanken zu erraten, denn sie lächelte und sagte:

„Ach was, das tut nichts. Wir sind hier auf privatem Grund und Boden, und da machen wir, was wir wollen.“

Eirin hatte noch immer kein Wort gesagt. Die Zigarette übte eine beruhigende Wirkung auf sie aus. Aber wieso war die Frau Doktor so freundlich und sanft, warum lächelte sie? Wo blieb die erwartete Gardinenpredigt und die fristlose Entlassung?

„Na, hat die Dame ihre Luminaltabletten gekriegt?“ „Ich – ich weiß nicht. Schwester Eldrid hatte ja – “ „Ach ja, richtig. Ich glaube, es ist überhaupt besser, wenn

Schwester Eldrid sich ihrer ein bißchen annimmt. Ich fürchte, Sie sind etwas zu weichherzig.“

„Ich – ich – “ Dr. Claussen fiel ihr ins Wort. Sie griff nach der Zeitschrift, die

auf dem Tische lag. „Ich habe da gerade etwas Interessantes gelesen: eine

Abhandlung über hysterische Patienten. Ich meine jetzt nicht die Art von Hysterie, die wir für gewöhnlich mit diesem Wort bezeichnen. Ich spreche von der Hysterie als Krankheit. Sie wissen ja, es ist wirklich eine Krankheit. Und wir haben augenblicklich ein typisches Beispiel dafür unten auf Nummer achtundzwanzig, einer der interessantesten Fälle, die mir begegnet sind.“

„In… – interessieren Sie sich denn für Frau Ervik?“ „Und ob! Ich habe sogar so viel Zeit auf diese Person verwandt,

daß es eine Schande ist. Noch gestern im medizinischen Klub haben wir fast von nichts anderem gesprochen. Ich habe so viel Material über sie gesammelt, daß ich jeden Tag eine Doktorarbeit über sie schreiben könnte.“

„Ja, aber – ja, aber – “ „Ja, es war nicht so einfach; denn ich mußte doch auch auf den

Menschen Rücksicht nehmen. Wenn ich sie heilen will, kann ich mich nicht zu ihr aufs Bett setzen und sie aushorchen. Sie würde sich sofort als Mittelpunkt vorkommen und die Gelegenheit wahrnehmen, ihre Hysterie zu hätscheln, und das gerade darf sie um keinen Preis! Ich bin etwas zu rücksichtsvoll, verstehen Sie – trotz allem bin ich der Ansicht, daß die Patienten in erster Linie Menschen sind und nicht nur Studienobjekte und Versuchskaninchen!“

Eirin hörte mit offenem Munde zu. Der Fall Frau Ervik stand mit einem Schlag in einem ganz neuen Lichte vor ihr. Frau Dr. Claussen war also die Gütige und Hilfsbereite gewesen, während sie selbst herumgerannt war und der Patientin aus purer Dummheit Schaden zugefügt hatte!

„Sie haben sich wohl so viel mit ihr unterhalten, daß Sie in ihre privaten Verhältnisse Einblick gewonnen haben, nicht wahr? Jetzt hören Sie mal zu, wie es wirklich zusammenhängt.“ Frau Dr. Claussen zündete sich eine neue Zigarette an und schob Eirin das Kästchen hin. Als Eirin dankend ablehnte, suchte Frau Dr. Claussen zerstreut mit der Hand unter den Büchern und Zeitschriften in dem Fach unter dem Tisch, fand, was sie suchte, und reichte es Eirin hinüber. Es war eine Schachtel Konfekt.

„Essen Sie, Schwester Lise! Ich mache mir nichts aus dem süßen Zeug.“

Eirin nahm zögernd ein Stück Marzipan, und Dr. Claussen hub an: „Dieses Menschenkind ist also fünfunddreißig Jahre alt. Sie war einziges Kind, und ihre Eltern waren ganz wohlhabend. Etwas kränklich war sie immer, etwas blutarm, etwas matt, etwas blaß, wie es bei jungen Mädchen ja häufig vorkommt. Die Mutter hatte große Pläne mit der Tochter und schwatzte ihr vor, daß sie das achte Weltwunder sei, so intelligent, so begabt und dergleichen Geschwafel mehr. Alle Pläne der Mutter liefen nur auf eins hinaus: Die Tochter sollte eine gute Partie machen. Mit anderen Worten, sie sollte sich einen Mann kapern, der viel Geld hatte und außerdem den Schatz zu würdigen wußte, den er bekam.

So erstaunlich es war, eines Tages tauchte tatsächlich ein Mann auf, der sich in sie verliebte, ein guter und braver junger Mann mit guten Einkünften. Das Mädel war mittlerweile so alt geworden, daß sie und auch die Mutter von Torschlußpanik gepackt wurden. Der Mann bekam natürlich auf der Stelle ihr Jawort.

Nun wurde eine Aussteuer beschafft, für die nichts gut genug war, und es wurde Hochzeit gefeiert und eine Hochzeitsreise gemacht – viel zu üppig und viel zu lange. Direktor Erviks Geschäft litt unter seiner langen Abwesenheit. Aber er sollte in den folgenden Jahren noch mehr leiden. Die gnädige Frau war, wie sich herausstellte, putz- und vergnügungssüchtig. Die Mutter nannte das Schönheitssinn und Kunstverständnis. Sie wurde immer unzufriedener; je mehr der Mann sich anstrengte, all das zu beschaffen, was sie forderte, desto unzufriedener wurde sie. Schließlich wurde es bei ihr zu einer Krankheit, und wenn sie keinen Anlaß zur Unzufriedenheit fand, zog sie ihn an den Haaren herbei. Zuletzt behauptete sie, sie habe ein verstecktes Leiden, und begehrte, ins Krankenhaus zu kommen. So stark kann bei einem Menschen der Drang werden, Mittelpunkt zu sein, verstehen Sie? Es gibt Frauen, die eine Krankheit so gut vortäuschen, daß schwere Operationen vorgenommen werden, und sie nehmen gern alle Unannehmlichkeiten in Kauf, nur um sich als interessanter Fall zu fühlen.“

Eirin lauschte mit Mund und Augen und Ohren. Sie war brennend an dem interessiert, was sie da hörte, schämte sich aber zugleich so sehr, daß sie dem ruhigen, freundlichen Blick der Ärztin nicht zu begegnen wagte.

„Zuletzt wurde es so schlimm mit ihr – Schlaflosigkeit, Herzanfälle, Tränenströme, Krämpfe und wer weiß was alles, daß sie

ins Krankenhaus mußte. Natürlich mußte sie erster Klasse liegen. Jetzt macht der Engel von einem Ehemann Abend für Abend Überstunden, um dieser Person die erste Klasse zu ermöglichen mit extra guter Verpflegung und all dem anderen Kohl. Und Sie wissen sicher besser als ich, was alles an Blumen und Konfekt, Büchern und Obst ankommt. Dabei kann er sich das gar nicht leisten. Sie hat ihn so ruiniert, daß er über sein Gehalt hinaus keinen Öre mehr besitzt, und er hatte wirklich ein ganz hübsches kleines Vermögen. Aber jetzt – “, die Ärztin sah Eirin mit einem kleinen Augenzwinkern an, „sagen Sie mal, Schwester Lise, können Sie dichthalten?“

„Ja!“ sagte Eirin laut und aus tiefster Seele. Hätte Frau Dr. Claussen sie jetzt aufgefordert, aus ihrem Körper einen Knoten zu machen und die Karl-Johan-Straße in der Hauptverkehrszeit hinunterzurollen, so hätte sie sich auf der Stelle ans Werk gemacht.

„Dann will ich Ihnen etwas verraten – der Gedanke ist mir eben gekommen. Passen Sie gut auf! Morgen wird Frau Erviks Zimmer leider von einer todkranken Patientin besetzt, oder es platzt ein Wasserrohr, so daß das Zimmer geräumt werden muß. Und darum muß Frau Ervik, mit allen möglichen Zeichen des Bedauerns seitens der Oberschwester, vorläufig in den großen Saal gelegt werden. Ich habe da ein freies Bett im Auge!“

„Ach!“ rief Eirin voll Eifer und vergaß völlig, daß es sehr unhöflich war, die Ärztin zu unterbrechen. „Ich hab’s! Mitten zwischen Frau Bentsen und Fräulein Pinnerud!“

„Genau das“, lachte die Ärztin. „Was meine medizinischen Künste, Schwester Eldrids Spott und Ihre Gutherzigkeit nicht vermocht haben, das werden Frau Bentsen und Fräulein Pinnerud zuwege bringen, verlassen Sie sich darauf! Stellen Sie sich Frau Ervik vor, wenn sie mitten im Kreuzfeuer der beiden schnatternden Nachbarinnen liegt, die von früh bis spät über Gott und alle Welt palavern – was meinen Sie, wie schnell sie dort vergißt, ihre eigenen zarten Gefühle zu hätscheln?“

Eirin lachte hellauf. Frau Bentsen und Fräulein Pinnerud redeten nämlich den ganzen Tag, aber jede über ihre eigenen Belange, ohne daß es ihnen einfiel, anderen zuzuhören. Hin und wieder zankten sie sich, aber bald darauf waren sie wieder ein Herz und eine Seele, zum Beispiel, wenn die unverschämt hohen Mieten und die herrschsüchtigen Hauswirte auf dem Tapet waren, das teure Fleisch oder die verrückte neue Hutmode. Eine Stunde später hatten sie sich wieder dermaßen in der Wolle, daß höchst unparlamentarische

Ausdrücke zwischen den Betten hin- und herflogen – zum größten Gaudium der Mitpatientinnen.

Frau Dr. Claussen wurde mit einemmal ernst. „Nun aber Scherz beiseite, Schwester Lise. Sie begreifen, ich

wollte Ihnen dies alles erklären, weil ich es ja Ihren Augen ansah, daß Sie mich für ein Ungeheuer hielten. Aber ich bin gar nicht so schlimm, wie ihr Schülerinnen meint! Sie sehen die Probleme nur von der einen Seite. Die andere ist ebenso wichtig. Sie müssen schon so viel Zutrauen zu den Ärzten haben, daß Sie die Behandlungsweise, die sie anwenden, nicht durchkreuzen. Sie halten ja auch einen Arzt nicht für grausam, weil er einen eiternden Finger schneidet, nicht wahr? Es gibt Fälle, da muß man auch im übertragenen Sinne das Messer ansetzen.“

Eirin wurde blutrot, so beschämt fühlte sie sich. Sie räusperte sich ein paarmal, dann vermochte sie endlich stammelnd hervorzubringen:

„Ich – ich – ich schäme mich ganz fürchterlich, Frau Dr. Claussen!“ Mark Claussen lachte.

„Ja, so sehen Sie aus, und ehrlich gesagt, das sollten Sie in diesem Fall auch.“

„Ich begreife gar nicht, daß – daß Sie so gut zu mir sind – daß Sie sich die Zeit nehmen, einer dummen Schülerin dies alles zu erklären – daß Sie nicht vielmehr Lust haben zu – “

„Wozu? Wissen Sie, wozu ich am meisten Lust hätte? Sie und Frau Ervik überzulegen. Aber wir können nicht immer tun, wozu wir Lust haben, nicht einmal wir – die allmächtigen Krankenhausärzte!“

Die Ärztin erhob sich, und Eirin verstand, daß die Audienz beendet war.

Sie stand vor der aufrechten, starkknochigen Gestalt mit dem kurzen, männlich geschnittenen Haar und dem Zigarettenstummel zwischen den Fingern. Eirin biß sich auf die Lippe. Dann streckte sie die Hand aus: „Ich bitte um Verzeihung!“ Marit Claussen drückte die kleine Hand kräftig. „Schon gut, Schwester Lise. Sie sind sicher ein verständiges Mädel. Gute Nacht, mein Kind!“

Und dann stand Eirin draußen und wurde sich plötzlich mit Erstaunen bewußt, daß die Doktorin ihr zum Abschied einen freundschaftlichen Klaps auf die Backe gegeben hatte.

Da lächelte sie plötzlich, strahlend und glücklich. Sie flog die Treppen hinunter, durch die Korridore und Treppen nach oben und

durch neue Korridore, stürmte in ihr und Ingas Zimmer mit wuschligem Haar, die Haube in der Hand.

„Was ist denn mit dir los?“ fragte Inga verwundert. Eirin warf sich aufs Bett, daß es in allen Fugen krachte, und zappelte mit den Beinen.

„Mit mir? Nichts – bloß daß ich unwahrscheinlich guter Laune bin. Und Krankenpflege ist tatsächlich der einzige Beruf, der was taugt. Das Leben ist im Grunde doch gar nicht so übel, Inga!“

In ihrem Wohnzimmer, unter der Lampe, stand Frau Dr. Claussen, zündete sich eine neue Zigarette an, tat einen Zug und lächelte zur Zimmerdecke hinauf. Sie vergaß, das Zündholz auszupusten, schlug es ein paarmal achtlos durch die Luft, stand dann wieder versonnen und lächelte nachdenklich. Dann versengte sie sich die Finger, blies das Hölzchen schnell aus, setzte sich in ihren guten, eingesessenen Lehnstuhl und nahm eines ihrer Lieblingsbücher zur Hand – eine vielbenutzte und ganz zerlesene Ausgabe von „Les Misérables“.

16

Die Kolleginnen begriffen nicht, was in Schwester Lise gefahren war.

Ihre Stimme klang fröhlich, die Arbeit ging ihr munter von der Hand, und sie war reizend und sanft zu den Patientinnen. Schwester Eldrids Gekeife konnte ihr nichts mehr anhaben. Sie lächelte, wenn sie schimpfte, sie sorgte für gute Laune, wenn Patientinnen jammerten, sie tröstete, wo Trübsal aufkommen wollte. Es fehlte nicht viel, und Schwester Lise war die beliebteste Pflegerin auf der ganzen Station.

Nur eine Patientin war nicht mit ihr zufrieden: Frau Ervik im großen Saal! Sie war enttäuscht; denn aus war es mit den tröstlichen Worten und dem Backenstreicheln. Schwester Lise hatte es stets eilig und so viel zu tun, daß Frau Ervik keine Gelegenheit fand zu erklären, wie sehr sie litt. Die Mitpatientinnen redeten und machten einen Heidenkrach. Sie zwangen Frau Ervik, sich mit Essenproblemen und Filmen, Kleidern und Hausgehilfinnenfragen und tausend anderen Dingen zu befassen. Bald galt es als offenes Geheimnis, daß Frau Ervik sich nicht mehr so krank fühlte. Das ewige Geschwabbel der beiden Frauen hatte zur Folge, daß sie sich, wenn auch zunächst widerstrebend, nach Hause sehnte, in einen Bereich, in dem es immerhin einige Pflichten für sie gab.

Eirin war glücklich. Immer öfter fand sie bestätigt, daß sie sich nützlich machte. Und so gewann sie mit der Zeit ihre Selbstachtung zurück. Die Aussicht, Halfdan wieder unter die Augen zu treten, nahm greifbarere Formen an.

Sie hatte Nachtdienst in der medizinischen Abteilung. Auch wenn es auf der Station still war, wurde ihr jetzt die Zeit

nicht mehr lang. Sie hatte zu viele Nächte auf der Wache zugebracht, um nicht gelernt zu haben, sich mit Lesen, Essen und einer Handarbeit genauso einzurichten, als sei es Tag.

Der „große Junge“, Dr. Kjeller, war ebenso verrückt wie Gard in der Chirurgischen. Die beiden Ärzte waren übrigens befreundet. Kjeller tat zur Zeit Dienst in der Inneren. Sooft er konnte, schlüpfte Gard zu ihm hinüber; dann traten sie einen Bittgang zu Schwester Lise an und bekamen ihren Kaffee.

Einmal spielten die beiden Schlingel Eirin einen Streich.

Sie war eines Abends sehr müde gewesen. In den ersten Nachtstunden hatte es viel zu rennen gegeben, und am Tage hatte sie nur wenig geschlafen. Als sie sich endlich auf ihren Hocker setzen konnte und den Kopf an die Wand lehnte, geschah es, daß sie einschlief!

Sie erwachte mit einem Ruck. Du liebe Zeit! – Auf der Nachtwache schlafen! Das sollte Schwester Eldrid ahnen!

Sie blinzelte schlaftrunken auf die Nummerntafel. Da sperrte sie mit einemmal die Augen weit auf: Die rote Lampe leuchtete ihr entgegen, und alle Nummern auf der Tafel waren heruntergefallen!

Grundgütiger Himmel! Was war jetzt geschehen? Es hatte von allen Zimmern geläutet, und sie hatte geschlafen, ahnungslos und unbekümmert.

Sie ergriff mit jeder Hand zwei Becken und stürzte davon. Zuerst in den Saal.

Fräulein Pinnerud lag wach. „Haben Sie geläutet, Fräulein Pinnerud?“ „Geläutet? Nein, hier hat niemand geläutet, nicht daß ich wüßte –

“ Eirin ging leise von Bett zu Bett. Alle schliefen, tiefster Frieden

ringsum! Eigenartig. In eine der Nebenstuben hinein, ein Dreibettzimmer. „Wer hat hier geläutet?“ Ein verschlafenes Gesicht drehte sich zu ihr um. „Geläutet? Von uns hat niemand geläutet – “ In ein Einbettzimmer hinein. Hier lag eine ältere Dame, die

wegen ihrer Unfreundlichkeit und wegen ihres anspruchsvollen Wesens auf der Station gefürchtet war.

Eirin kam gar nicht zu Worte, als die Patientin auch schon begann:

„Usch, kommen Sie jetzt angerannt, ohne daß ich geläutet habe? Kann man denn in diesem Krankenhaus nicht mal nachts Ruhe haben? – Na ja, wenn Sie schon mal da sind, dann können Sie mein Kissen aufschütteln – ach ja, Sie können mir auch das Becken geben, dann ist das erledigt – “ Jetzt endlich schwante Eirin etwas. Gott weiß, wie lange sie geschlafen hatte. Sie sah auf die Uhr. Und siehe da, es waren erst zwölf Minuten vergangen, seit sie zuletzt nachgesehen hatte. Also konnte sie höchstens fünf oder sechs Minuten geschlafen haben! Und ausgerechnet in diesen wenigen

Minuten sollten alle Nummernschilder heruntergefallen sein? Nein, hier war was faul!

Sie trabte mit ihren Becken den Korridor hinunter. Als sie sich der Anrichte näherte, hörte sie ein unterdrücktes Kichern. Sie hielt die Tür fest – ganz recht –, dahinter standen die beiden Sünder, Kjeller und Gard, puterrot im Gesicht vor verhaltenem Lachen.

Eirin lächelte und drohte ihnen scherzhaft mit der Faust. „Das petze ich!“

„Nein, Schwester Lise, das tun Sie nicht! Schauen Sie, wir haben herrlichen Kuchen mitgebracht, und wenn Sie nett sind, kriegen Sie einen zu fünfunddreißig Öre. Schokolade mit Nüssen! Ist der Kaffee fertig, Schwester Lise?“

Gleich darauf saßen sie bei dampfendem Kaffee in lebhafter Unterhaltung beisammen. Ab und zu, wenn die rote Lampe aufleuchtete, mußte Eirin schnell einmal aufspringen. Sie lächelte stillvergnügt: Sind doch im Grunde nette Kerle, diese beiden Lausbuben; nur schwer, sich vorzustellen, daß sie bereits erwachsen und gewissermaßen doch praktische Ärzte sind.

Als sie nach einem Abstecher in den Spülraum wieder zur Anrichte zurückkehrte, hörte sie Gards Stimme und verhielt den Schritt. Ein Name fiel:

„Er hieß Hoek. Nein, wir waren nicht gerade befreundet, das kann ich nicht sagen. Aber ich habe ihn gekannt, und er hat mich interessiert. Er war mordsmäßig begabt!“

„Ach ja, der!“ sagte Kjeller. „Jetzt weiß ich, wen du meinst. Ist der nicht jetzt verheiratet? Ja, ja, er wollte jedenfalls bald heiraten, übrigens soll er eine verdammt hübsche und tüchtige Sprechstundenhilfe da oben haben – hallo, da klingelt das Telefon! Auf später, du!“

Eirin stand regungslos. „Er soll eine verdammt hübsche und tüchtige Sprechstundenhilfe

haben – “ Schwester Vera! Das war es, was sie die ganze Zeit schon gefühlt

hatte. Schwester Vera! Eirin machte sich im Spülraum zu schaffen. Durch die

halbgeöffnete Tür hielt sie Ausschau, und sie ging nicht eher in die Anrichte zurück, bis Gard gegangen war.

Wieder liefen ihre Gedanken im Kreise herum – eine ewige Mühle. Halfdan und Schwester Vera! Halfdan wird heiraten! Halfdan fühlt sich nicht mehr gebunden! Er glaubt, sie habe ihn

aufgegeben. Er deutet ihr Stillschweigen als Gleichgültigkeit. „Er soll eine verdammt hübsche und tüchtige Sprechstundenhilfe haben – “

Wenn Eirin hinter der heruntergelassenen Gardine schlaflos in ihrem Bette lag, wurde ihr klar, daß ihre Zukunftspläne sinnlos waren, daß ihr ganzes Leben zerstört war – übrig blieb nur ihre Arbeit. Sie mußte und wollte jetzt bei der Stange bleiben. Tausend geheimnisvolle Fäden banden sie an das Krankenhaus. Einen anderen Beruf konnte sie sich mittlerweile nicht mehr vorstellen. Hier war ihre Welt! Hier hatte sie Wurzeln gefaßt. Die großen, hellen Korridore, der Geruch nach Arzneien und antiseptischen Mitteln, Patienten, die kamen, Patienten, die abgingen, das Rennen über Treppen und Flure, müder Rücken und wunde Füße – das war nun einmal ihr Dasein, und sie fühlte, daß sie sich nie mehr davon würde trennen können.

Eirin riß ihren müden kleinen Kopf hoch und ging wieder ans Werk. Ihre Willenskraft wuchs mit der Größe ihrer Aufgaben. „Nur jetzt nicht unterkriegen lassen“, hämmerte sie sich ein. „Jetzt nicht mehr-!“ Und sie widmete sich in demütiger Dankbarkeit und doppelter Hingabe ihrer Arbeit, jener Arbeit, die ihr nach schwerem Kampf Zufriedenheit und Selbstachtung zurückgegeben hatte.

Da sie für andere arbeiten mußte, im steten, täglichen – oder meist nächtlichen – Trott, blieb ihr keine Zeit, ihrem eigenen Leid nachzuhängen. Sie sah nur zu wenig andere Menschen, was zur Folge hatte, daß sie sich einsam fühlte. Die langen, manchmal stillen Nachtwachen taten das Ihrige dazu.

Es war in einer Nacht zum Sonntag. Der Morgen graute – ein diesiger Septembermorgen. Eirin räumte nach dem Kaffeetrinken auf, wusch das Geschirr ab und stellte alles weg. Sie hatte wie gewöhnlich von Gard und Kjeller Besuch gehabt, und diesmal hatten sie einen Klecks Butter, ein paar Semmeln und einen kleinen Kanten Schweizer Käse dagelassen.

Eirin lebte üppig von den Leckereien, die die „Jungen“ übrigließen.

Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Schwester Ilse hatte heute frei. Sie sollte ausnahmsweise mal Kaffee im Bett trinken! Ilse stand ganz allein, hatte außerhalb des Krankenhauses keinen Menschen; ihr wollte sie jetzt eine gemütliche Stunde bereiten. Heute sollte sie mal nicht zum Kaffee hinuntergehen müssen.

Als die Morgenarbeit getan und Eirins Dienst beendet war, filterte sie Kaffee aus ihrem eigenen Vorrat, strich die Semmeln und richtete ein appetitliches kleines Kaffeetablett an.

In der Tür stieß sie auf Schwester Eldrid. „Wo wollen Sie mit dem Tablett hin?“ „Hinauf zu Schwester Ilse! Sie soll ausnahmsweise mal im Bett

Kaffee trinken. Was glauben Sie, wie sie sich freuen wird! Guten Morgen übrigens, das habe ich ganz vergessen!“

„Sie dürfen kein Geschirr von der Station wegnehmen! Und der Kaffee -?“

„Der Kaffee ist mein eigener. Die Sahne und die Semmeln auch. Und mit den Tassen und der Kanne komme ich in einer Viertelstunde zurück.“

„Kennen Sie noch immer nicht die Krankenhausvorschriften, Schwester Lise? Es darf kein Geschirr aus der Station entfernt werden, und ich kann mit Ihnen keine Ausnahme machen.“

„Sie verbieten mir also, einer Kollegin eine kleine Sonntagsfreude zu machen?“ Eirins Stimme bebte vor Wut.

„Ich verbiete Ihnen, die Krankenhausvorschriften zu verletzen! Sie können gehen! Sie sind jetzt frei. Aber das Geschirr lassen Sie hier!“

Ohne noch ein weiteres Wort zu erwidern, schob Eirin die Semmeln auf ein Papiertellerchen. Die Tasse stellte sie in den Schrank, den Teelöffel legte sie in die Schublade zurück. Dann ging sie an den Ausguß und schüttete die Sahne und den dampfenden, duftenden Kaffee aus – schön langsam und bedächtig, Schwester Eldrid sollte es sehen und darüber nachdenken, was sie für ein Filou war!

„Du liebe Zeit!“ ließ sich eine ausgeschlafene, frische Stimme von der Tür her vernehmen. „Was machen Sie denn da mit dem guten Kaffee, Schwester Lise?“

Eirin fuhr herum. In der Tür stand Frau Dr. Claussen im Sportkostüm, fertig zum Ausgehen.

„Niemand bedauert das mehr als ich selbst, Frau Doktor“, sagte Eirin, jedes Wort betonend. „Ich war leider im Begriff, gegen die Krankenhausvorschriften zu verstoßen; ich wollte nämlich einer Kollegin Kaffee ans Bett bringen. Sie ist ganz allein in der Stadt, und kein Mensch tut jemals etwas für sie. Ich ließ, wie schon öfter, mein allzu weiches Herz mit mir durchgehen und vergaß, daß man kein Geschirr aus der Station wegnehmen darf. Aber zum Glück kam

Schwester Eldrid im rechten Augenblick dazu und erinnerte mich daran.“

Eirins Stimme klang so wohlerzogen, und ihre Ausdrucksweise war so gewählt, daß Schwester Eldrid die beißende Ironie heraushören mußte.

Frau Dr. Claussen ließ ihren aufmerksamen Blick von der einen zur anderen schweifen – von der etwas schuldbewußten, herrschsüchtigen, mißgünstigen, alternden Frau zu dem erzürnten, aber durchaus gefaßten jungen Mädchen.

„Ja, Vorschrift ist Vorschrift“, sagte die Ärztin kurz. „Ich bin übrigens nur gekommen, um zu fragen, wie es mit dem Magenbluten auf Nummer zwölf geht.“

„Die Nacht ist ruhig gewesen, Frau Doktor.“ „Das ist schön, Schwester Eldrid, bitten Sie Dr. Kjeller von mir,

daß er im Laufe des Tages ein paarmal nach ihr sieht. Ich will fort. Sind Sie hier fertig, Schwester Lise?“

„Ja, ich wollte gerade gehen.“ „Kommen Sie mit, wir gehen in meine Küche hinauf und holen

eine Tasse und etwas Kaffee, den Sie mit hinaufnehmen können.“ Eirins Herz machte einen Luftsprung. Die unvergleichliche Frau

Dr. Claussen! Nicht ein vorwurfsvolles Wort an Schwester Eldrid! „Vorschrift ist Vorschrift!“ Aber sie verstand Eirin und half.

Während Eirin hinter der aufrechten, kräftigen Gestalt durch den Korridor eilte, wurde ihr eines klar: Es gab hier einen Menschen, für den sie durchs Feuer gehen würde!

„In der gelben Büchse da ist der Kaffee, und in der Speisekammer steht Sahne“, sagte die Doktorin. „Und in einer Schüssel drinnen finden Sie auch Eier. Ihre Freundin soll doch ein weichgekochtes Ei haben. Übrigens, Schwester Lise, Sie könnten so nett sein und ein bißchen mehr Kaffee filtern, dann hab’ ich nachher auch noch einen Tropfen. Meine Hausgehilfin hat nämlich heute frei, und an solchen Tagen besteht mein Morgenfrühstück aus Milch und einer Zigarette. Ich habe nie Lust, mir selber was Ordentliches zu machen.“

„Oh, Frau Doktor – wenn Sie Zeit haben, darf ich dann nicht das Frühstück für Sie herrichten? Ich mache ganz rasch – “

„Das nehme ich mit Dank an“, lachte Frau Dr. Claussen. „Aber laufen Sie nun erst mal mit dem Tablett zu Ihrer Ilse hinauf, und wenn Sie dann trotz Ihres Nachtdienstes immer noch Lust haben,

dann kommen Sie wieder herunter und kochen mir auch ein weiches Ei.“

Da stürmte sie die Treppen hinauf wie noch nie. Sie ließ sich kaum Zeit, Ilses Freudenrufe und überraschte Fragen anzuhören. Im Nu war sie wieder unten, deckte in Eile den Frühstückstisch, kochte ein Ei, filterte Kaffee, holte Käse, Sardinen, gekochten Schinken herbei, röstete Brot und schäumte die Sahne ab.

„Bitte, Frau Doktor, das Frühstück ist fertig!“ „Sie sind ja fix bei der Hand – aber Kind, was haben Sie da

gemacht? Wollen Sie denn selbst nichts essen?“ „Ich?“ „Ja, natürlich! – Nun holen Sie sich mal schnell Teller und Tasse,

und kochen Sie sich auch ein Ei – eins, zwei, drei!“ Eirin war außer sich vor Freude. „Wenn ich zurückdenke“, sagte sie, „- es ist das erstemal seit

anderthalb Jahren, daß ich an einem kleinen, privaten Tisch Kaffee trinke und nicht an einer langen Tafel mit einem Haufen Menschen zusammen!“

„Du lieber Himmel“, lächelte die Doktorin, „da muß es ja eigentümlich für Sie sein. Stehen Sie denn ganz allein auf der Welt, Schwester Lise?“

„Ich habe keine Eltern mehr“, sagte Eirin, schluckte einen Kloß herunter und schwieg. Sie hatte sich noch nie so allein gefühlt wie gerade jetzt. Da war wohl Tante Bertha, die so gut und lieb gewesen war wie eine Mutter, und da war Halfdan - Halfdan, der jetzt eine andere heiratete, die Schwester Vera – die tüchtige Sprechstundenschwester - Marit Claussen betrachtete das schöne, dunkelhaarige, blasse Mädchen. Und sie dachte bei sich, mit einem solchen Aussehen und mit einem so ansprechenden, kultivierten Wesen brauchte ein junges Mädchen nicht allein zu bleiben. Eines schönen Tages würde das Glück wohl kommen und an Schwester Lises Tür pochen.

„Sie machen aber herrlichen Kaffee, Schwester Lise. Der hat gut geschmeckt. Was ich noch sagen wollte – wie lange sind Sie jetzt eigentlich schon bei der Krankenpflege?“

„Genau anderthalb Jahre.“ „Und Sie machen sie gern?“ „Ich liebe den Beruf. Ich hätte nie gedacht, daß mir diese Arbeit

noch mal so viel Freude machen würde.“

„Das höre ich gern. Und wo sind Sie am liebsten? Sie sind ja jetzt schon auf mehreren Stationen gewesen?“

„Wenn ich das wüßte! Ich fühle mich in der Medizinischen sehr wohl, aber am meisten freue ich mich wohl auf den Operationssaal. Und ich bin sehr gespannt darauf, wie ich es da schaffe.“

„Warum sollten Sie es denn nicht schaffen?“ „Ich hoffe, daß ich es schaffe. Aber ich bin früher so dumm

gewesen. Wenn ich nur ein bißchen Blut und Eiter sah, war es aus mit mir, ich mußte mich übergeben, als ich ein zersplittertes Bein sah – “

„Und trotzdem haben Sie diesen Beruf erwählt?“ „Nicht trotzdem, gerade deshalb!“ „Das bewundere ich, Schwester Lise. So, jetzt muß ich aber fort.

Nein, lassen Sie sich ruhig Zeit, und trinken Sie erst Ihren Kaffee aus. Schlagen Sie die Tür einfach zu, wenn Sie gehen.

Auf Wiedersehen, mein Kind, und freundlichen Dank für das Frühstück!“

„Dafür habe ich mich zu bedanken – für alles überhaupt. Einen schönen Spaziergang wünsche ich Ihnen, Frau Doktor!“

Eirin summte ein Liedchen, während sie den Tisch abräumte und das Geschirr aufwusch. Dann lüftete sie die Zimmer, goß die Blumen – überlegte einen Augenblick und schaute durch die angelehnte Tür ins Schlafzimmer. Aha! Da lag das Bett noch ungemacht, und der Pyjama trieb sich auf dem Fußboden herum, zu einem Knäuel zusammengewurstelt. Das Badezimmer war überschwemmt und unordentlich, ein nasses Handtuch hing über dem Rand der Wanne. Eine schöne Liederliese, die Frau Doktor! Eirin machte die Entdeckung einen diebischen Spaß, daß die von ihr so hoch verehrte Ärztin hier ganz menschlich herumplanschte, ihren Pyjama zertrampelte und ihre Zigarettenstummel ins Waschbecken feuerte.

Eirin hatte schnelle und geschickte Hände bekommen. Es war für sie eine Augenblickssache, in Schlafzimmer und Bad aufzuräumen, saubere Handtücher hinzulegen und auf dem Toilettentisch und der Kommode Staub zu wischen. Sogar auf dem Nachttisch entdeckte sie einen randvollen Aschenbecher, und auf der Platte war lauter Asche verstreut. Kaum vorzustellen: die strenge, weißgekleidete, vernünftige Frau Doktor rauchte wie ein Schlot und war unordentlich wie ein ungezogenes Gör!

So, jetzt war es sauber und frisch und behaglich. Sie schaute sich noch einmal um, fand alles in bester Ordnung und verschwand. Jetzt

konnte sie mit gutem Gewissen ins Bett gehen und schlafen, bis der Wecker um sechs Uhr klingelte.

Sie lag da und lächelte in die Dunkelheit hinein. Seltsam: Der Gedanke an Frau Dr. Claussen machte es leichter, den brennenden, stechenden Schmerz zu ertragen -

17

„Schwester Lise! Ist Doktor Gard dein Bruder?“ „Nein, keineswegs, Kleinchen, wie kommst du denn darauf?“ „Ach ja, deswegen, weil er dich so gerne hat.“ „Hat er das denn?“ „Ja, nämlich – er macht immer so liebe Augen, wenn er dich

ansieht.“ „Macht er denn nicht immer liebe Augen?“ „Nicht, wenn er Schwester Doris ansieht.“ „Du bist ein kleiner Brabbelkopp, Kleinchen. Du mußt deine

Milch trinken.“ „Schwester Lise? Hast du Doktor Gard gerne?“ „Aber natürlich. Das versteht sich doch von selbst. Dich hab’ ich

auch gern, und alle, die lieb sind.“ „Ja, aber, Schwester Lise – “ „Nein, Kleinchen, jetzt hab’ ich keine Zeit mehr. Gib mir deinen

Becher wieder – so. Jetzt machen wir hier schön sauber, bis der Doktor kommt, nun darfst du mich nicht mehr stören.“

„Was für ‘n Doktor kommt denn?“ „Ich denke, der Oberarzt.“ „Igitt“, sagte Kleinchen in einem so beklommenen Ton, daß Eirin

lachen mußte. Wo blieben hier Krankenhausdisziplin und der Respekt vor dem Arzt? Die Kleine lag doch schon seit sechs Wochen hier mit einem gebrochenen Bein.

Eirin war gern auf der Kinderstation. Ungern kehrte sie in die Chirurgische zurück. Sie fühlte sich nun einmal in der Medizinischen heimisch. Vor allem vermißte sie Dr. Claussen. Es war nicht etwa so, daß zwischen ihnen eine Art Freundschaft bestand. Dazu war der Abstand gar zu groß. Aber Eirin bewunderte diese starke, nüchterne und herzensgute Marit Claussen und hatte sie gern, und Marit Claussen mochte das hübsche, wohlerzogene und immer gefällige junge Mädchen auch. Diese Schwester Lise hatte etwas rührend Einsames und Halbtrauriges an sich, etwas, das Marit Claussens Beschützerinstinkt wachrief.

Sie sprachen auf der Station nicht viel miteinander, abgesehen von den üblichen Fragen, Antworten und Anweisungen.

Aber wie sie es taten, hätte jedem Menschenkenner sofort gesagt, daß zwischen der tüchtigen Ärztin und der kleinen Lernschwester eine starke Sympathie schwang.

Aber dann war Eirin wieder in die Chirurgie versetzt worden, zur Kinderstation. Mit Kindern hatte sie bisher wenig zu tun gehabt. Doch keine zwei Tage vergingen, da fühlte sie sich auch hier zu Hause.

Als sie das erste Mal ein kleines Kind in den Armen hielt, geschah es, daß das Weinen ihr im Halse hochstieg und die Augen feucht wurden. Sie gedachte der Szene an Bord des Schnelldampfers, als die kleine Eirin Kristine getauft wurde und sie Pate stehen mußte. Und wie hatte sie sich damals darauf gefreut, ein eigenes kleines Bündel im Arm zu halten – ein winzig kleines Menschlein mit Halfdans Augen und mit schwarzen Locken. Jetzt aber – jetzt mußte sie hier herumlaufen und anderer Leute Kinder pflegen! – Schnickschnack!

Eirin legte das Kind behutsam in sein Gitterbettchen zurück. Nicht denken! Schwamm drüber! An das Heute denken, an die Arbeit, die Kinder im Kindersaal! – Himmel! Sind die süß! Und viele von ihnen sind so zutraulich, dabei so klein und hilflos. Am liebsten nähme sie sie alle auf einmal in den Arm.

Es war kalt draußen. Zum zweiten Mal verbrachte Eirin das Weihnachtsfest im Krankenhaus. In einer Woche war Heiligabend. Sie sollte den Baum im Kindersaal schmücken und dem Weihnachtsmann behilflich sein, Geschenke auszuteilen. Dr. Gard war der ideale Weihnachtsmann, er hatte zweifellos schauspielerisches Talent.

Sie mußte ein kleines Ding in die Röntgenabteilung hinüberbringen. Sie packte das Kind in eine Wolldecke ein, warf sich selbst eine Strickjacke über das blaue Leinenkleid und rannte los. Der Schnee im Krankenhaus garten knirschte unter ihren Füßen, und Eirin fühlte, wie ihre Nasenspitze feuerrot wurde. So was von Kälte!

In der Tür zur Röntgenstation stieß sie mit einer Gestalt in weißem Kittel zusammen.

„Oh, Verzeihung!“ „Pardon!“ Es war Gard. „Ah, Schwester Lise, da hab’ ich ja Glück, daß ich Sie getroffen

habe. Haben Sie morgen nicht frei?“ „Doch, ich – “ Gard drehte sich halb um, und eine zweite Gestalt tauchte aus

dem Hintergrund auf – ein großgewachsener, braungebrannter, lächelnder junger Mann.

„Fredrik, das ist Schwester Lise, von der ich schon erzählte. Schwester Lise – dies ist Dr. Branstad, ein Freund von mir.“

Gard redete zwar immer noch, aber Eirin hörte kein Wort mehr. Sie starrte in das lächelnde Gesicht, an das sie öfter gedacht, von dem sie öfter geträumt hatte, als sie selbst wahrhaben wollte. Sie sah den schöngeformten Mund, der nie geküßt hatte. Sie sah die Schultern, an denen sie gelehnt hatte, die Hände, die sie beim Tanz umfaßt hatten – mit einem Schlage stand jener seltsam schöne Herbsttag vor zwei Jahren vor ihren Augen.

Fredrik Branstad holte sie in die Gegenwart zurück: „Es freut mich, Sie kennenzulernen, Schwester Lise. Gard hat mir viel von Ihnen erzählt. Wirklich ein Glück, daß wir Sie hier erwischt haben, wir wollten nämlich gerade – “

„Halt jetzt den Mund, mein Junge! Ich wollte gerade Schwester Lise für morgen einladen – nicht wahr, Schwester Lise, Sie gehen doch sicher gern mit und essen irgendwo nett zu Abend mit uns, ich werde auf Sie aufpassen, der Branstad darf Ihnen nichts tun – er ist ein Gefährlicher, wissen Sie!“

„Pscht, Stoffer! Du ahnst nicht, was für ein anständiger junger Mann ich im Ausland geworden bin. Lassen Sie sich nicht kopfscheu machen, Schwester Lise, sagen Sie nur einfach ja, und kommen Sie mit. Ich bin überzeugt, daß Sie sich in Menschenkleidern sehr hübsch ausnehmen – olala!“

Sein Ausruf galt einem energischen Gebrüll, das aus dem Wolldeckenbündel in Eirins Armen kam.

„Ich muß gehen“, sagte sie und schlüpfte an Fredrik vorbei. Gard rief ihr noch etwas nach, sie brachte noch ein heiseres „Ja“ heraus – dann schloß sich die Tür hinter ihr, und sie sank mit dem Kind auf dem Schoß auf eine Bank nieder.

Er hatte sie nicht erkannt. Er hatte sie nicht erkannt! Sie konnte sich seiner genau entsinnen. Sie hatte sich damit herumgeschlagen. Sie hatte von ihm geträumt! – Sie hatte sich schuldig gefühlt! Sie hatte bereut und gebüßt – und er –, er hatte sie nicht einmal wiedererkannt! Er hatte sie auf der Stelle wieder vergessen!

Eirin betrachtete sich im Spiegel. Das Haar war unter der Haube stramm zurückgekämmt, und die Nase glänzte trostlos rosenrot von der Kälte draußen. Über die Tracht hatte sie eine alte, verwaschene und überall gestopfte Jacke gezogen. Ihre Hände, die das Wolldeckenbündel hielten, waren rot und aufgesprungen, und die

Nägel waren kurz geschnitten – zweckentsprechend, aber nicht schön.

Dann kam die Röntgenschwester und rief sie, und sie brachte das Kind hinein.

An diesem Abend stand sie lange und rieb die Hände mit Goldcream ein, sie steckte die Fingerspitzen in Seifenwasser und schob die Nagelhaut zurück. Für morgen mußte sie sich etwas Nagellack und Puder von Schwester Doris ausleihen. Das Haar hatte sie schon gewaschen, damit es blank und lebendig wurde und sich lockte.

Während sie mit dem Rücken gegen die Heizung saß, damit das Haar etwas schneller trocknete, brachen alle Erinnerungen wieder über sie herein. Sie wußte noch jedes Wort, das an jenem Abend an Bord gesprochen wurde und an dem Vormittag, kurz ehe Fredrik in Tromsö den Dampfer verließ.

Und jetzt erkannte er sie nicht! Eirin begriff selbst nicht, was mit ihr los war, weshalb ihr Herz

so klopfte, weshalb es sie drängte, wieder mit Fredrik Branstad zusammenzusein, während sie ihn gleichzeitig verabscheute. Sie ahnte nicht, daß die weibliche Eitelkeit hier ein gewichtiges Wörtchen mitredete und sie sich möglicherweise aufs Glatteis begab. In den Jahren, als sie in harmlosem Vergnügen getanzt und ihren Sport getrieben hatte, als sie ins Theater und Kino gegangen war, da hatte sie treue Freunde und Verehrer. Jetzt mußte sie erleben, daß ein Mann, der ihr nähergetreten war als irgendein anderer und dem sie es – sie könnte sich ohrfeigen! – sogar erlaubt hatte – daß dieser Mann sie vergaß – ganz einfach vergaß!

Die Röte schoß ihr in die Wangen, und sie warf den Kopf zurück. Das wollte sie ihm heimzahlen! Wenn sie es darauf anlegte, konnte sie wohl einen Mann dazu bringen, sich sterblich in sie zu verlieben. Und hatte sie ihn soweit, dann würde sie diejenige sein, die vergaß!

Oh, sie wird sich morgen schönmachen! Die Herren Kavaliere sollen sich wundern! Morgen wird sie keine verschüchterte, rotnasige Krankenschwester mit einem schreienden Wolldeckenbündel im Arm sein! Sie wird sich Schwester Ninas Pelzumhang leihen, dazu ihr bronzebraunes Kleid, das ihr so gut steht, oder vielleicht das schwarze Samtkleid mit dem Spitzenkragen. Ihre größte Chance aber wird der „große Junge“ sein, der Stoffer Gard, den sie gegen Fredrik ausspielen kann. Gard sah immerhin

ganz gut aus, so daß er als Figur in einer kleinen Komödie gut zu gebrauchen war.

Halfdan? Halfdan konnte ihr gestohlen bleiben. Er hatte sie im Stich gelassen; wollte er ihr verbieten, sich zu amüsieren? Sie würde wahrlich nichts Böses tun; sie wollte nur die beiden Bürschchen ein bißchen zum besten haben. – Ein bißchen? Nein, sie sollten platzen! – Schade, um den kleinen Gard tat es ihr ein wenig leid, denn er war wirklich verliebt in sie. Aber das mußte man eben in Kauf nehmen.

So arbeitete sich Eirin in eine fiebrige Erregung hinein. Sie fühlte nicht mehr, wie wenig dieser Plan ihrer würdig war. Sie merkte nicht, daß sie an sich selbst Verrat übte, an ihrem eigenen, sauberen, fleißigen kleinen Ich.

Eitelkeit und Gefallsucht hatten von ihr Besitz ergriffen, und sie versuchte nicht einmal, dagegen anzugehen.

Im Westflügel desselben Gebäudes, aber weit fort von der kleinen Schwester Lise, lag Frau Dr. Claussen und las eine französische Abhandlung über Lungenkrankheiten. Sie zerdrückte den Zigarettenstummel im Aschenbecher auf dem Nachttisch und griff erneut in die Schachtel, eine altgewohnte Bewegung, die sie ausführte, ohne nachzudenken, ohne hinzuschauen. Ohne die Augen von der Zeitschrift zu wenden, strich sie ein Zündholz an der Reibfläche an, steckte die Zigarette in Brand und löschte das Hölzchen wieder. Gleich darauf ließ sie das Heft sinken. Sie konnte ihre Gedanken nicht sammeln. Sie weilten bei einer Lernschwester, der kleinen Schwester Lise, die einmal an einem Herbstmorgen mit ihr Kaffee getrunken und bei ihr aufgeräumt und saubergemacht hatte. – Merkwürdig, daß das kleine, schwarzhaarige Mädchen ihr so im Kopfe herumspukte. Sie war sicher einsam, die kleine Schwester Lise.

Ja, sie war einsam. Sie lag in ihrem schmalen weißen Bett und überließ sich ihren dummen, eitlen Gedanken. Sie hätte es gerade nötig gehabt, einmal von Marit Claussens kräftigen Händen tüchtig durchgeschüttelt zu werden.

Aber Marit Claussen war zu nüchtern und wußte auch zu wenig, um ahnen zu können, daß hier eine verwirrte Menschenseele unbewußt um Hilfe rief. Es fiel ihr nicht ein, daß es seinen Grund haben könnte, wenn Schwester Lise in ihrem Hirne spukte – daß es ein Notschrei war, der sich den Weg in ihr viel zu nüchternes Bewußtsein zu bahnen versuchte.

18 Eirin lehnte sich in dem gepolsterten Sofa zurück und folgte mit den Augen dem blauen Zigarettenrauch. Sie paffte eine „Philip Morris“, und der Wein, der vor ihr im Glase funkelte, war der teuerste auf der Weinkarte.

Sie hatten ein üppiges Abendbrot verspeist, hatten Mokka getrunken, und jetzt saßen sie und nippten am Wein. Eirin sprach nicht viel. Stoffer Gard beschränkte sich darauf, Eirin anzustarren. Das schwarze Samtkleid, Schwester Ninas Pelzumhang, Schwester Doris’ Nagellack und Puder, und ein Hauch von Rouge auf den Lippen hatten ihr Werk getan. Eirin sah reizend aus.

Fredrik bestritt die Unterhaltung fast allein. Eirin ließ ihn reden. Sie wußte immerhin so viel von Männern, daß sie am liebsten von sich selbst sprachen. Mit der Frage, was er in den letzten zwei Jahren im Ausland getrieben habe, gab sie ihm das Stichwort. Er war also herumgereist, hatte Europa kreuz und quer durchstreift, auch einen Abstecher nach den USA hinüber gemacht. Er hatte ein paar Examen geschafft und war jetzt nach Hause zurückgekehrt, um eine Praxis für Augenkrankheiten zu eröffnen. Er hatte sich ein hübsches Haus am Stadtrand gekauft, in einem Neubau im Zentrum Praxisräume gemietet und besaß natürlich einen todschicken Wagen.

Eirin blinzelte durch den Zigarettendunst und lächelte ihm zu. Das fiel ihr allerdings nicht sonderlich schwer, denn Fredrik Branstad sah so aus, daß man ihm zulächeln mußte, ja, sie hatte Mühe, ihre Rachegelüste ihm gegenüber wachzuhalten, zumal als das Orchester einen Tango anstimmte und sie in Fredriks Armen auf die Tanzfläche hinausschwebte.

Eirin hielt den Atem an. Jetzt – jetzt mußte er sich doch erinnern! Aber Fredrik – tanzte die gleichen Schritte, den gleichen

Rhythmus, nach der gleichen Musik wie damals – und sprach kein Wort. Erst später, als er, ein wenig erhitzt, sie an den Tisch zurückgeführt hatte, sagte er:

„Schwester Lise, ich kann nicht drauf kommen, an wen Sie mich erinnern. Ich meine, ich hätte Sie schon früher einmal getroffen.“ Sie zuckte die Achseln.

„Sie haben sicher viele junge Mädchen auf Ihren Reisen kennengelernt. Denken Sie doch mal nach, vielleicht habe ich eine Doppelgängerin in Italien oder Spanien oder sonstwo!“

„Schon möglich“, sagte Fredrik. „Sie sind ja so dunkel wie eine Spanierin. Schwester Lise, haben Sie schon einmal einen spanischen Kamm oder einen echten spanischen Schal besessen? Können Sie Kastagnetten schlagen? Nicht? Das sollten Sie lernen. Ihr Aussehen verpflichtet Sie dazu.“

Gard bat um einen Tanz. Sie erhob sich – nicht gerade sehr bereitwillig, aber Fredrik sollte sich nicht einbilden, der Favorit des Abends zu sein. Mochte er nur ruhig annehmen, daß Stoff er Gard ein gewisses Anrecht auf sie hatte.

„Schwester Lise“, sagte Gard. „Sie dürfen dem guten Fredrik nicht so den Kopf verdrehen! Er ist ja ganz aus dem Häuschen, der Ärmste!“ Eirin lachte.

„Das wird schon nicht so gefährlich sein. Er sieht so aus, als könnte er was aushalten.“ Gard starrte sie an. „Kleiner Teufel“, entfuhr es ihm.

Eirin schnappte nach Luft. „Was haben Sie da gesagt?“ „Ich bitte um Entschuldigung! Das ist mir so rausgerutscht. Aber

wer soll denn auch ahnen, daß eine Krankenschwester, die ganz harmlos Schwester Lise heißt – man denke bloß, Lise auch noch! – und im blauen Leinenkleid herumläuft und Becken ausgießt, daß die sich als Vamp entpuppt. Schwester Lise! Ich will Ihnen etwas sagen, so daß Sie es ein für allemal wissen: Ich bin tatsächlich bis über beide Ohren in Sie verliebt, und ich könnte mir gut denken, jetzt stehenden Fußes mit Ihnen aufs Standesamt zu rennen. – Lise, du bist ein kleiner Satan, daß du’s weißt, und ich bin ein Narr. Verzeihung, ich habe anscheinend du gesagt, aber macht das denn was – können wir nicht einfach dabei bleiben?“

Eirin lächelte. Dieser „große Junge“ war nun im Krankenhaus ihr Vorgesetzter! Vor ihm mußte sie sich höflich erheben, wenn er sie dienstlich ansprach. Er hatte das Recht, ihr Anweisungen zu geben und Verweise zu erteilen!

Aber weshalb sollte sie sich nicht mit ihm duzen? Fredrik mochte sich ärgern, wenn er hörte, daß sie während dieses Tanzes Brüderschaft geschlossen hatten. Schließlich waren sie ja auch schon alte Bekannte.

„Sehr gern“, sagte sie vergnügt. „Aber den Unfug, den du da eben verzapft hast von Vamp und Standesamt – das vergessen wir!“

Fredrik Brandstad wohnte allein in seiner Villa. Er hatte eine tüchtige Wirtschafterin und richtete sich im übrigen so ein, wie es ihm Spaß machte.

Als er Eirin, Stoffer Gard und noch ein paar andere junge Leute zum Heiligabend einlud, erhielt er von ihnen allen eine begeisterte Zusage. Auch Schwester Ilse war mit von der Partie. Eirin hatte das durchgesetzt.

Fredrik hatte für einen schönen Weihnachtsbaum und für ein ausgezeichnetes Essen gesorgt. Die Stimmung war entsprechend. Als Stoffer Gard in seinem Weihnachtsmannkostüm aus dem Krankenhaus auftrat, erreichte sie ihren Höhepunkt.

Er zauberte aus seinem Sack eine Unmenge zierlich verpackter Geschenke hervor und übertraf sich selbst an Witz und geistreichen Andeutungen, während er die Gaben verteilte.

Als Überraschung für Eirin kamen unter anderem ein hoher spanischer Kamm und ein prachtvoller Spitzenschal zum Vorschein.

Fredrik steckte ihr selbst den Kamm ins Haar und half ihr, die Mantilla umzulegen. Dann trat er ein paar Schritte zurück und betrachtete sein Werk.

„Wunderbar“, murmelte er, setzte den Plattenspieler in Gang und legte einen echten argentinischen Tango auf. Er streckte die Hände nach Eirin aus und zog sie in die Mitte des Raumes. Aus dem Tanz wurde eine kleine Sondervorstellung; die anderen Gäste bildeten einen Kreis und folgten mit bewundernden Blicken den vielen Figuren des schönen Paares.

Eirin genoß den Tanz mit halbgeschlossenen Augen und klopfendem Herzen. Fredrik tanzte noch besser als damals vor zwei Jahren auf dem Schiff. Offenbar hatte er in Paris und Madrid nicht nur Augenkrankheiten studiert! -

Vor zwei Jahren! – Plötzlich flog es sie wieder an: Heute vor zwei Jahren war der verhängnisvolle Heiligabend in Frostviken. Fast auf die Minute genau vor zwei Jahren war es geschehen, daß Tante Bertha sie geohrfeigt hatte! Vor zwei Jahren um diese Stunde hatte Halfdan den Heiligabend in einem Motorboot auf dem Fjord draußen verbracht – bei Sturm und Schneetreiben.

Eirin fühlte, wie ihre Beine versagten. Ein Schleier schob sich vor ihre Augen. Mit einer unwilligen Bewegung machte sie sich von Fredrik los.

„Lise, was ist denn?“

„Ich kann nicht, ich kann nicht Tango tanzen – nicht heute am Heiligabend – “

Sie flüchtete in die Garderobe hinaus, riß den Kamm aus ihrem Haar und die Mantilla von den Schultern und kühlte sich die Augen. Dann glättete sie ihr Haar und blieb sinnend stehen.

Aus den Räumen erklangen schmachtende Musik und lautes Gelächter und Gerede.

Eirin faltete die Hände: „Lieber Gott! Mach, daß Halfdan mir erhalten bleibt!“ „Du bist doch eine seltsame kleine Person, Lise“, lächelte

Fredrik. „Hast du religiöse Anfechtungen, oder was ist mit dir?“ „Und wenn ich sie hätte?“ entgegnete Eirin, ließ sich in einen der

tiefen Lehnsessel plumpsen und streckte die Hand nach einer Zigarette aus.

Fredrik beobachtete sie, ein wenig unsicher, forschend. Dann lachte er:

„Nein, das machst du mir nicht weis, Liselchen! Da muß ein anderer Grund sein.“

Eirin blies den Rauch langsam aus, folgte ihm mit den Blicken und fächelte ihn dann mit der Hand fort.

„In diesem Fall darfst du dann vermuten, daß der Grund ein ganz privater ist.“

Fredrik wurde rot. Er war nicht gewöhnt, einen Verweis zu bekommen. Verlegen starrte er Eirin an. Verflixtes Mädel! Hier ließen ihn seine Erfahrungen im Umgang mit Frauen anscheinend im Stich. Sein hübsches Lächeln und das bewährte Spiel seiner Augen verfingen hier nicht. Da war also eine, die ihm nicht gleich um den Hals flog, wenn er ihr ein paar verliebte Worte ins Ohr geflüstert oder sie beim Tanzen etwas an sich gedrückt hatte! Er hatte sich einen netten, harmlosen Flirt versprochen, einen von vielen Flirts, die er zu genießen pflegte, wie er eine Zigarette genoß: bis sie zu Ende war; dann hieß es nur, den Stummel fortzuwerfen und sich schnell eine neue anzuzünden.

So hatte er sich die Sache ursprünglich gedacht. Inzwischen aber war ihm klargeworden, daß er selbst nicht mehr so recht Herr seiner eigenen Betörungskünste war. Auch seine gewohnte Selbstsicherheit hatte einen Stoß erhalten. Diese Schwester Lise hatte etwas an sich, das ihn dazu veranlaßte, die Augen weit aufzusperren. Es nützte nichts, daß er sich selbst belächelte: Er war schlecht und recht

verliebt! Nun ja, das konnte schließlich auch ein Erlebnis sein. Was daraus wurde, würde sich ja noch herausstellen.

Er richtete es geschickt so ein, daß er später am Abend mit Eirin allein in dem kleinen Gemach blieb. Er drückte sie in einen bequemen Sessel hinein, versorgte sie mit Obst, Zigaretten und einem Glase goldenen Tokajers und ließ sich auf einem hohen Kissen zu ihren Füßen nieder.

„Zum Wohle, Liselchen!“ „Zum Wohl!“ Sie stellte das Glas aus der Hand und lehnte sich im Sessel

zurück. Fredrik ließ sie nicht aus den Augen. Wie schön war sie mit dem schwarzen Haar und dem schwarzen Kleid vor dem mattgrünen Plüsch des Ohrensessels.

Er lehnte seinen Kopf gegen ihre Knie. „Lise, kleines Mädchen!“ „Ja, was denn?“ „Du – weißt du –, ich glaube wirklich, ich bin in dich verliebt!“ Eirin hüpfte das Herz in der Brust. Jetzt schon! Sollte der

Augenblick ihres Triumphes so nahe sein? Aber – die süße Rache hatte einen bitteren Beigeschmack. Die

Situation war eigentlich gar nicht amüsant. Denn Fredriks Augen hatten eine dunklere Farbe und blitzten stärker als je zuvor, und seine Stimme war noch verschleierter als damals.

Sie schloß die Augen. Nimm dich zusammen, Eirin! Bleib mit den Füßen auf der Erde!

„Lise“, flüsterte er. Da fühlte sie seinen Arm unter ihrem Nacken. Sein Atem berührte ihr Gesicht. „Lise! Fühle, wie mein Herz klopft.“ Er nahm ihre Hand und legte sie auf seine Brust. Wahrhaftig! Sein Herz klopfte!

So klopft es für mich – für mich –, jubelte es in ihr. Ich habe ihn soweit, wie ich ihn haben will – und jetzt wird er an die Kette gelegt, er soll es zu spüren bekommen, was es heißt, Tag für Tag herumzurennen und immer an denselben Menschen denken zu müssen -

„Lise“ – er strich mit seinem Mund über ihr Haar. Wo soll das hinführen? schoß es ihr durch den Kopf. Meinte er es etwa doch ernst? Dann sah alles ganz anders aus! Ihre Gedanken machten einen Seitensprung: Fredrik war in der Tat ein bestrickender Mann – er hatte Geld – eine Stellung – seine Frau hatte sicher einmal Pelze und schöne Kleider, Modellhüte und Schmuck. Seine Frau konnte in

einem Bridgeklub sein und zu allen Premieren gehen. Fredrik war Augenspezialist, er wurde nicht herausgerufen nachts. Er saß in seinem hellen, eleganten Sprechzimmer, in seiner Praxis gab es keine blutigen Verbände, keine Knochenbrüche, keinen erbrochenen Mageninhalt, keinen Eiter oder Urinproben. Fredrik konnte einer Frau ein schönes Leben bieten.

Wenn sie es darauf anlegte, könnte sie ihn vielleicht noch an diesem Abend dazu bringen, ihr einen Heiratsantrag zu machen.

„Lise“, flüsterte er von neuem. Und sie wußte, in der nächsten Sekunde würde er sie küssen.

Weg war der Zauber. Das könnte ihm so passen! Sie entwand sich ihm und stand auf. Es gelang ihr zu lächeln. „Nein, du darfst nun nicht vergessen, daß du Gastgeber bist,

Fredrik! Du hast noch andere Gäste als mich!“ Fredrik sah sie an. Er atmete schnell. Seine Augen blitzten. „Kleine Hexe!“ flüsterte er rauh. „Warte nur, ich krieg’ dich

schon dahin, wo ich dich hinhaben will!“ Dann fuhr er sich schnell mit der Hand durchs Haar und ging

hinaus. Eirin aber blieb noch einen Augenblick stehen. Sie hatte gesiegt,

über ihn und über sich selbst gesiegt! O ja, sie war in diesen beiden Jahren stark geworden!

Und jetzt hatte Fredrik den Krieg erklärt. Nun wohl, sie war nicht bange. Er würde ja sehen!

Sie warf den Kopf ruckartig nach hinten und ging lächelnd in das Kaminzimmer zurück. Sie setzte sich neben Ilse, und es dauerte nicht lange, da gaben sie Geschichten aus dem Krankenhaus zum besten, die eine komischer als die andere.

In einem kleinen Eßzimmer mit Petroleumlampe und Schnitzereien im Drachenstil saßen drei Menschen bei ihrem Weihnachtsbraten. Draußen herrschten rabenschwarze Finsternis und eisige Kälte. Im Räume aber war es traulich und schön. Die Holzscheite in dem altmodischen Ofen prasselten. Es duftete herrlich nach festlichem Essen.

„Etwas mehr Braten, Schwester Vera?“ Schwester Vera nahm Tante Bertha mit einem gewinnenden

Lächeln die Platte aus der Hand und reichte sie an Halfdan weiter: „Darf ich bitten – “ Schwester Vera ging in die Küche, um die

Soßenschüssel aufzufüllen.

Tante Bertha schaute zu Halfdan hinüber. Dann hob sie ihr Glas. „Zum Wohl, Halfdan!“

Er nickte nur. Sie tranken sich zu. Jeder wußte, was der andere dachte. Und ihre Gedanken waren stark und voll Liebe. -

Als Eirin sich kühl und ruhig aus dem Sessel erhob, wußte sie selbst nicht, woher sie die Kraft dazu nahm. Sie wußte nicht, daß hoch oben in Frostviken die beiden Menschen zusammensaßen, die sie am meisten in der Welt liebten, und ihre innigen Gedanken und Wünsche zu ihr hinunterschickten. Sie wußte nicht, daß es die große, echte Liebe war, die den Weg zu ihr fand und ihr zu Hilfe eilte, als sie ihrer am meisten bedurfte.

19

Liebste Tante Bertha! 4. Mai

Trotz aller guten Vorsätze muß ich mein Schweigen brechen. Fast

zweieinhalb Jahre habe ich mich zurückgehalten, nur gearbeitet und

versucht, ein erwachsener, vernünftiger Mensch zu werden, oder

besser: versucht, Halfdans würdig zu werden. Aber in den letzten Monaten bin ich ein wenig aus dem

Gleichgewicht geraten. Und nun darf ich an Dich schreiben und ein

wenig Ordnung in die Dinge bringen. Diese Zeilen sind nur für Dich

bestimmt, nicht für Halfdan. Weshalb ich darauf bedacht war,

jegliche Verbindung mit Euch abzubrechen, weißt Du ja. Aber es

gelang mir nicht, mich auch hier allem zu verschließen. Ich bin mit

Menschen zusammengekommen, die Halfdan kennen. Und es ist mir

öfter zu Ohren gekommen, daß er heiraten will! – oder schon

verheiratet ist –, und zwar mit seiner Sprechstundenhilfe. Tante

Bertha, ich habe nicht die Gabe, die Worte in Watte zu packen, mag

auch nicht Komödie spielen. Sei so lieb und sage mir, ob es wahr ist.

Wenn es wahr ist, habe ich nichts dazu zu sagen. Ich habe versagt,

und wahrscheinlich ist es dumm von mir gewesen, so lange Zeit

heimlichzutun. Vielleicht habe ich mich verrechnet in der Annahme,

Halfdan würde sich darauf einlassen, jahrelang in Ungewißheit zu

warten, bis es mir gefiele, einen Laut von mir zu geben. Ich verdiene

es also wohl nicht besser. Aber, liebste Tante Bertha, schreib mir

und erzähle mir darüber. Du brauchst Dich nicht zu scheuen, mir

reinen Wein einzuschenken. Ich gehe nicht ins Wasser und nehme

kein Veronal. Ich möchte nur gern Gewißheit haben. Wenn es

nämlich so ist, daß ich Halfdan aus meinen Gedanken verbannen

muß, so will ich zusehen, daß ich mein Leben auf einer anderen

Grundlage aufbaue – wenn ich eine finde! Sonst geht es mir gut. Ich habe viel zu tun, bin gesund und fand

nette Freunde. Ja, was diese betrifft, so bin ich in der merkwürdigen

Lage, daß ich von einem interessanten Mann glühend verehrt werde,

von einem Arzt mit eigener Villa, eigenem Wagen, großem

Bankkonto und guter Spezialpraxis. Ich könnte also sicher ‚mein

Glück machen’, wie es heißt. Ich brauchte mich nur von dem

sentimentalen Vorurteil frei zu machen, eine große Liebe allein sei

die einzige Vorbedingung für eine Ehe.

Diesen Freund habe ich mir nun einige Monate lang mühsam

vom Leibe gehalten, genauer: schon seit Weihnachten. Zum Glück

habe ich im Moment soviel um die Ohren, daß meine Arbeit wirklich

eine gute Entschuldigung ist, um nicht so viel mit ihm Zusammensein

zu müssen. Aber vielleicht – vielleicht könnte ich ihn mit der Zeit

liebgewinnen, wenn ich jetzt erfahren würde, daß Halfdan wirklich

mit mir fertig ist. Sei so lieb und schick mir Deine Antwort durch Luftpost,

Tantchen. Ich hoffe, Dir – ich meine, Euch – geht es gut. Ich denke viel an

Euch. Deine Eirin

Der Brief ging am nächsten Tage mit Luftpost ab. Zwei Tage

später war er in Frostviken. Und am selben Nachmittag schloß sich Tante Bertha in ihrem Zimmer ein. Sie schrieb, Seite um Seite, schrieb sich alle Gedanken, Sehnsüchte und Wünsche vom Herzen, die sie seit über zwei Jahren in sich verschlossen hatte.

Unten im Flur lag die Post, die gleich abgehen sollte. Schwester Vera pflegte sie mitzunehmen, wenn sie ihren Nachmittagsspaziergang machte. Tante Bertha legte den Brief mit in den Stapel. Er geriet mitten zwischen ein paar Zeitschriften. Sie dachte nicht weiter darüber nach, wieso Halfdan neuerdings Zeitschriften verschickte, Zeitschriften kamen wohl mit der Post ins Haus.

Kurz und gut: Schwester Vera ergriff den Stapel. Ach, da lagen auch noch die alten Zeitschriften, die sie vergessen hatte wegzuwerfen! Sie ergriff sie und steckte sie in den Ofen.

Tante Berthas Brief an Eirin verwandelte sich in grauschwarze Asche.

Vom Fenster aus sah Tante Bertha die Schwester mit der Posttasche von dannen gehen. In zwei Tagen würde Eirin ihren Brief haben. Jetzt wurde es hell um sie alle. Jetzt würde man endlich Klarheit bekommen und reinen Tisch machen!

Eirin läutete täglich bei Frau Lindberg an. Täglich war die Antwort die gleiche:

„Nein, liebes Kind, es ist keine Post gekommen.“ Schließlich gab Eirin es auf, noch öfter zu telefonieren. Frau

Lindberg versprach, ihr sofort Bescheid zu geben, wenn etwas kommen sollte.

Die Tage gingen hin. Frau Lindberg ließ nichts von sich hören. Eirin arbeitete verzweifelt. Sie hatte viel zu tun, und wenn sie

keine Arbeit hatte, dann suchte sie sich welche, nur um auf andere Gedanken zu kommen. Warum schrieb Tante Bertha nicht? Was war geschehen, daß Tante Bertha nicht zu schreiben wagte?

Eirins Angst und Verzweiflung entluden sich in einer einzigen großen, sinnlosen Wut auf Fredrik. Die Blumen, die er ihr schickte, schenkte sie an die Patientinnen weiter. Sie sagte ab, wenn er sie einlud. Sie haßte ihn und konnte es dennoch nicht lassen, an ihn zu denken. Je verzweifelter sie an Halfdan dachte, desto gereizter wurde sie, weil Fredrik ihr gleichzeitig im Kopf herumspukte.

Ihr ganzes Gemüt war in Aufruhr. Sie litt mehr in diesen Monaten als in ihrem ganzen Leben zusammengenommen.

Fredrik war schuld! Ihm hatte sie alles zu verdanken! Er hatte ihr Leben vergiftet, ihr junges, stilles Glück zerstört, mit seinem sehnsüchtigen Geschwafel, mit seiner warmen, verhaltenen Stimme, mit seinen schmachtenden Augen – und mit einer Ansichtskarte mit Palmen und blauem Himmel! Hatte sie nicht allen Grund, ihn zu hassen?

Aber der Tag kam, da ihr Widerstand versiegte. Eines Samstags läutete sie ihn mitten in der Sprechstunde an.

„Ich bin morgen frei, Fredrik. Hattest du nicht die Absicht, mich zum Essen einzuladen?“

„Du weißt, daß es nichts gibt, was ich lieber tun würde!“ Sie verabredeten, eine lange Autofahrt zu machen und irgendwo

am Oslofjord zu Mittag zu essen. „Du siehst müde aus, Liselchen“, sagte Fredrik, als er sie neben

sich im Wagen untergebracht hatte. „Zuviel zu tun, natürlich?“ „Ach ja, Arbeit genug! Gestern hatten wir erst eine

Blinddarmentzündung, die in die Bauchhöhle durchgebrochen war. Kaum waren wir damit fertig, kam ein Unfall. Also hieß es, den Operationssaal schleunigst wieder herzurichten. Am Nachmittag wurde noch ein akuter Blinddarm eingeliefert. Und morgen haben wir einen Nabelbruch und einen Leistenbruch. Mit diesem darf sich Stoffer allein amüsieren; er ist sehr stolz darauf und fühlt sich schon als Professor.“

„Wann gedenkst du, diese Plackerei an den Nagel zu hängen, Lise?“

„Weiß ich nicht. Jedenfalls mache ich jetzt erst mal meine Ausbildung zu Ende. Und dann werde ich weitersehen.“

„Du, Lise!“ „Ja?“ „Da ist was, was ich sehr gern wissen möchte.“ „Dann schieß los.“ „Warum bist du eigentlich nicht in mich verliebt?“ Eirin sah ihn überrascht an. Sie lächelte spöttisch. „Dieser Ausspruch ist ziemlich charakteristisch für dich. Siehe

da! Du bist also erstaunt, daß es wirklich eine Frau gibt, die nicht in dich verliebt ist?“

„Tja – hm – stimmt! Es ist ziemlich ungewohnt.“ „Aha! Siehst du, mein Lieber, und das ist vielleicht der Grund,

weshalb ich nicht in dich verliebt bin.“ „Was gibt es noch für Gründe?“ „Das möchtest du wohl gern wissen, mein Lieber! – Weißt du

was? Ich habe einen mordsmäßigen Hunger, Fredrik. Sagtest du nicht, du hättest Hühnerpastete im Frühstückskorb mit?“

„Auf eins mußt du mir jedenfalls Antwort geben, ehe wir auseinandergehen“, sagte Fredrik. Er hatte sie bis zum Krankenhaus gefahren. Jetzt stand der Wagen dicht am Zaun, gut unter Bäumen und Sträuchern versteckt. „Hast du eigentlich je ernsthaft an die Möglichkeit einer Heirat zwischen uns beiden gedacht?“

„Hast du das getan?“ „Es ist eine schlechte Angewohnheit von dir, eine Frage mit einer

anderen zu beantworten. Ja, das hab’ ich getan, wenn du es schon wissen willst. Aber ich möchte nicht Gefahr laufen, mir einen Korb zu holen. Deshalb mache ich dir keinen Antrag. Ich muß erst Klarheit darüber haben, wie du zu mir stehst – und das ist verdammt schwierig. Fast sieht es so aus, als wolltest du zu allen Problemen des Lebens, die Liebe eingerechnet, erst Stellung nehmen, wenn du deine Ausbildung hinter dir hast. Oder irre ich mich da?“

Eirin blieb lange stumm. Endlich sagte sie nachdenklich: „Weißt du, Fredrik, du fragst mehr, als ich beantworten kann.

Denn ich weiß es selber nicht.“ „So.“ – Er dachte angestrengt nach. „Du meinst also, ich müsse

abwarten und mich inzwischen gedulden?“ „Ja, so lange du es kannst. Ich glaube allerdings nicht, daß

Geduld deine starke Seite ist.“ Eirin war aus dem Wagen geklettert und reichte ihm jetzt die

Hand zum Abschied.

„Der Himmel weiß, wieviel Geduld ich aufbringen kann und vieles andere dazu, wenn es um dich geht. Denn dich, Lise – dich habe ich einfach lieb, hörst du? So, nun weißt du es ganz genau!“

Er fuhr mit einem Ruck an, und einen Augenblick später war der Wagen um die Wegbiegung verschwunden.

Eirin sah ihm mit grüblerischem Lächeln nach. Sie arbeitete jetzt im Operationssaal. Und es war bessergegangen,

als sie es je zu hoffen gewagt hatte. Ihre Nerven gehorchten ihr. Blut und weiße Knochensplitter, der Geruch von Äther oder der Gestank von Eiter konnten ihr nichts mehr anhaben. Sie zeigte viel Interesse und sogar ein gewisses Talent als Operationsschwester, so daß der Oberarzt auf sie aufmerksam wurde.

Trotz des „Maulkorbs“, der das halbe Gesicht verdeckte, hielt sie eisern durch und folgte aufmerksam jeder Bewegung der Ärzte. Nach kurzer Zeit kannte sie jede Phase der einzelnen Operationen auswendig. Sie wußte genau, wann der Arzt die entsprechenden Instrumente brauchte. Sie vergaß nie einen Gegenstand, wenn sie den Operationssaal herrichtete. Diese Arbeit zog sie ganz in ihren Bann.

Oft genug fanden ihre Gedanken beim Anblick des großen weißen, modernen Saales den Weg zu Halfdan, für den ein solcher Arbeitsplatz der Himmel auf Erden gewesen wäre. Ja, das wäre etwas für ihn, den leidenschaftlichen Chirurgen, gewesen, unter solchen Verhältnissen arbeiten zu dürfen, anstatt sich da oben in Frostviken bei der Petroleumlampe am Mikroskop die Augen zu verderben.

Bei solchen Überlegungen wurde sie wieder bitter. Denn noch immer wartete sie vergeblich auf einen Brief von Tante Bertha. Dieses beharrliche Schweigen bestärkte sie immer mehr in der Annahme, Halfdan sei verheiratet und Tante Bertha brächte es nicht über sich, ihr das mitzuteilen. Dabei war sie doch sonst so geradeheraus!

Oberarzt Dr. Randers zog die Gummihandschuhe aus. Eirin half ihm aus dem Operationsmantel. Der Arzt streifte die Kappe ab und fuhr sich übers Haar.

„Vielen Dank, Schwester.“ Er kramte in der Tasche nach dem Zigarettenetui. Es war eine

feste Regel, daß der Doktor nach einer Operation eine Zigarette haben mußte.

Eirin hielt die Zündhölzer bereit.

„Vielen Dank, Schwester Lise.“ Er tat einen Zug und sah sie an. „Na, fühlen Sie sich denn noch immer wohl hier im

Operationssaal?“ „Ja, sehr. Die Arbeit ist interessant!“ „Ich merke, daß sie Ihnen liegt. Sie sind tüchtig, Schwester Lise.

Machen Sie weiter so, dann werden Sie einmal die ideale Operationsschwester! – Aber – da klingelt das Telefon –, wollen Sie so freundlich sein, Schwester? Wenn es für mich ist, dann erkundigen Sie sich, wer am Apparat ist.“

Eirin ging ans Haustelefon. Sie lauschte, und plötzlich zitterten ihr die Knie.

„Ein Ferngespräch, Herr Doktor. Aus Fr… – Frostviken.“ „Frostviken? Ah ja, gut, ja. Lassen Sie’s ins Sprechzimmer

umstellen.“ Der Chef verschwand mit langen Schritten, und Eirin gab der

Zentrale über das Haustelefon Anweisung, die Verbindung herzustellen.

Dann legte sie ihre Operationskleidung ab und trat auf den Gang hinaus. Sie hatte jetzt eine Freistunde. Schwester Ilse hatte gleichfalls Dienst und räumte im Operationssaal auf.

Als sie an der Sprechzimmertür des Oberarztes vorbeigehen wollte, stockte sie. Er sprach mit Rücksicht auf die Fernverbindung so laut, daß sie jedes Wort verstehen konnte.

Eirin wußte sofort: Es gab in Frostviken nur einen einzigen Menschen, der einen Grund hatte, hier einen der tüchtigsten Chirurgen des Landes anzuläuten. Sie hatte mit einemmal das Gefühl, daß Halfdan ganz nahe war. Nur ein paar Meter von ihr entfernt, jenseits der weißen Tür, saß ein Mensch und sprach mit ihm.

Eirin dachte nicht darüber nach, was sie tat. Wie festgenagelt blieb sie stehen, lehnte sich gegen die Tür und preßte das Ohr an die Türritze.

„Ja, das ist ganz richtig, Hoek. – Nein, keine Ursache, es war nett, daß Sie mich gefragt haben. – Doch, ich würde an Ihrer Stelle das gleiche getan haben. Ich denke, daß es gut ausgehen wird. Haben Sie eine tüchtige Helferin? – Das ist großartig, dann schaffen Sie es sicher. Wie geht es da oben in der Wildnis? So, Sie fühlen sich wohl, nein, wirklich? Jetzt kommen Sie doch hoffentlich bald mal in den

Süden, wenigstens auf einen kleinen Sprung! -Ja, Sie können es leicht dort aushalten, aber was sagt denn Ihre Frau – “

Eirin hatte das Gefühl, als würde sie ohnmächtig. Also darum hatte Tante Bertha nicht geschrieben! Und Halfdan war zu feige, es ihr mitzuteilen.

Die Knie wankten ihr. Da fühlte sie plötzlich eine Hand auf ihrer Schulter und hörte eine Stimme:

„Schwester Lise!“ Es war die Oberschwester. Die Oberschwester war eine

prachtvolle Frau. Aber sie konnte zur Furie werden, wenn ihr etwas gegen den Strich ging.

Jetzt war es soweit. Sie war schneeweiß im Gesicht, und ihre Nasenflügel bebten, als sie sagte:

„Verlassen Sie sofort den Dienst! Das ist mir doch wahrhaftig noch nicht vorgekommen, daß eine Schülerin an den Türen horcht. Ich weiß nicht, was wir mit Ihnen machen werden, aber ich will Sie jedenfalls vorläufig nicht mehr in der Abteilung sehen. Sie gehen auf der Stelle!“

Eirin blieb stumm. Sie zitterte wie Espenlaub. Sie wußte nicht mehr, wie sie den Flur hinuntergekommen war. Schwester Inga, die ihr begegnete, erschrak über das kreideweiße Gesicht und die starren Augen. Sie wollte etwas zu ihr sagen, merkte aber gleich, daß Schwester Lise sie gar nicht hörte.

Die Oberschwester kam ihr entgegen. „Verzeihung, Oberschwester – ist irgend etwas mit Schwester

Lise los?“ „Ja“, sagte die Oberschwester hart. „Ich habe sie von der

Abteilung gewiesen, und sie wird kaum wiederkommen.“ Sie ging mit festen Schritten weiter, und Schwester Inga blieb

stehen, ein Tablett mit Spuckschalen in den Händen, und bekam den Mund nicht wieder zu.

Eirin wußte nicht, was sie mehr quälte: die Angst, daß Halfdan sie nun endgültig im Stich gelassen hatte – oder die Aussicht, vom Krankenhaus verwiesen zu werden. Als Krankenschwester war sie erledigt, das wußte sie. In diesen letzten fünf Minuten war so viel Furchtbares geschehen, daß sie nichts mehr begriff. Sie war wie betäubt, gelähmt – alles war ihr gleichgültig. Jetzt mochte geschehen, was wollte. Sie hatte nichts mehr zu verlieren.

Sie stieg die Treppe hinauf, blieb stehen und starrte auf das Schild mit dem Pfeil „Zur medizinischen Abteilung“.

Medizinische Abteilung! Dort hatte sie ihre bittersten Tränen geweint und ihre größten Freuden erfahren, seit sie mit der Krankenpflege anfing. „Ihre“ Abteilung! Dort hatte eine Schwester Eldrid sie geschunden und Frau Dr. Claussen ihr geholfen. Niemals würde sie wieder über diesen Korridor gehen. Nie mehr würde sie nachts dort in der Anrichte Kaffee kochen, nie mehr in ehrerbietigem Abstand hinter Dr. Claussen gehen, wenn Visite war. Das Tor des Krankenhauses würde sich hinter ihr schließen. Nur, weil sie an der Tür gehorcht hatte. Aber es war auch ein großes Vergehen, an der Tür eines Arztzimmers zu horchen. Es war gar nicht verwunderlich, daß die Oberschwester so aufgebracht war. Schließlich mußte es grotesk ausgesehen haben – eine der Lernschwestern, die das Ohr gegen die Türritze preßt!

Eine Erklärung oder Entschuldigung gab es dafür nicht. Sollte sie zu allem Überfluß auch noch eingestehen, was sie dazu getrieben hatte, nur um weiter im Krankenhaus arbeiten zu dürfen? Sollte sie der Oberschwester, dem Oberarzt und vielleicht noch anderen auseinandersetzen, daß sie gehorcht hatte, weil sie wissen wollte, ob ihr Verlobter eine andere geheiratet hatte?

Nein! Dann lieber fristlos entlassen werden. Sie mußte ihre Zuflucht zu Frau Lindberg nehmen. Und dann mußte sie versuchen, irgendwo eine Bürostellung zu bekommen – Auf den Schwesternberuf konnte sie ja jetzt ohnehin verzichten. Die Krankenpflege hatte sie ja Halfdans wegen erlernt, um ihm eine Hilfe sein zu können. Aber jetzt hatte er eine ideale Frau, die prächtige Schwester Vera, die so unerhört tüchtig und hübsch war – jetzt war sie ja wohl seine Frau, jetzt wohnten die beiden im nördlichen Giebelzimmer, jetzt war sie es, die sich abends vorm Ofen in seinen Arm kuschelte – oh, es war nicht auszuhalten, daran zu denken – es schnitt und brannte in der Brust.

Sie stand gegen die Wand gelehnt und starrte durch die Glastür in den Korridor der medizinischen Abteilung. Da ging Schwester Eldrid gerade in den Saal. Dann war die Visite vorbei. Wie gern würde sie Frau Dr. Claussen nur noch ein einziges Mal wiedersehen. Die frische, gütige, unsentimentale Dr. Claussen. Merkwürdiger Gedanke, daß sie sie jemals gefürchtet hatte. Und dabei war sie trotz ihres ruhigen Wesens so gut.

Eirin trat entschlossen einen Schritt zur Seite. Von hier aus konnte sie die Sprechzimmertür sehen. Sie starrte unverwandt darauf.

Da – jetzt ging die Tür auf. Margit Claussen in ihrem weißen Mantel trat heraus. Sie blieb einen Augenblick bei Kjeller stehen und wechselte ein paar Worte mit ihm.

Aber wo – wo wollte sie denn hin? Hier entlang? Das war doch sonst nicht ihr Weg! Was wollte sie hier?

„Ich gehe durch den Garten“, hörte Eirin sie sagen. „Ich habe Lufthunger.“

Eirin drückte sich gegen die Wand. Aber es war zu spät. Frau Dr. Claussen hatte sie entdeckt.

„Hallo, Schwester Lise! Sind Sie zu Besuch in Ihrer alten Gegend?“

Eirin öffnete den Mund, um zu antworten, aber sie brachte kein Wort heraus.

Frau Dr. Claussen wurde aufmerksam. Das Gesichtchen war bleich und wirkte eingefallen und verstört. Die Augen brannten groß und angstvoll – der ganze zarte Körper bebte.

Frau Dr. Claussen war keine ausgesprochene Psychologin. Aber sie war ein guter und kluger Mensch und eine tüchtige Ärztin. Und man brauchte nicht Professor für Psychologie zu sein, um zu begreifen, daß Schwester Lise in diesem Augenblick ein verzweifeltes Bedürfnis nach menschlicher Hilfe hatte.

Frau Dr. Claussen nahm sie wortlos um die Schulter und führte sie mit sich die Treppe hinunter in den Krankenhausgarten. Erst als sie die kleine Anlage mit Bänken und Tischen erreicht hatten, blieb die Doktorin stehen.

Eirin nickte und räusperte sich. Dann kam es leise, heiser und gequält: „Ich habe ganz frei – für immer.“

„Aha!“ Die Ärztin setzte sich und zog Eirin neben sich auf die Bank. Sie

kramte in den Taschen und holte Zigarettenetui und Zündhölzer hervor.

„So, Schwester Lise – ich habe eine Stunde Zeit. Was ist los? Keine unnützen Einleitungen! Sie brauchen Hilfe. Ich möchte Ihnen helfen. Reden Sie!“

Dieser kurze, klare Befehlston war genau das, was Eirin brauchte. Sie lehnte sich zurück, starrte in die Luft.

„Dann möchte ich Sie bitten, Frau Doktor, diese Aussprache als eine Konsultation zu betrachten, so daß Sie durch Ihre Schweigepflicht gebunden sind.“

„Selbstredend. Also, Sie haben etwas ausgefressen. Was war es?“

„Ich habe an der Tür zu Dr. Randers’ Sprechzimmer gehorcht.“ „Aber pfui!“ „Die Oberschwester hat mich aus dem Dienst gewiesen!“ „Durchaus begreiflich.“ „Mehr war nicht.“ „Unsinn! Sie haben mit dem, was Sie eigentlich erzählen wollten,

noch gar nicht begonnen. Jetzt sind drei Minuten vergangen, bleiben nur noch siebenundfünfzig. Erzählen Sie einmal alles, vom Anbeginn an, jedes kleinste Krümelchen. Sonst kann ich Ihnen nicht helfen.“ Eirin tat einen tiefen Seufzer. „Nun gut. Der Anfang liegt drei Jahre zurück.“

„Da werden Sie die siebenundfünfzig Minuten brauchen. Schießen Sie los.“ Eirin erzählte, erzählte, ohne etwas auszuschmücken, ohne sich selbst zu schonen, ohne zu übertreiben, erzählte von ihrer Liebe zu Halfdan, von den Monaten in Frostviken, von ihrer Flucht, von allen Kämpfen und Schwierigkeiten im Krankenhaus, von Freuden und Ermunterungen, von ihrer Liebe zur Arbeit. Sie erzählte von der quälenden Ungewißheit um Halfdan und was sie heute Dr. Randers am Telefon hatte sagen hören.

Mark Claussen unterbrach sie mit keinem Wort. Sie zündete sich eine neue Zigarette an der alten an, saß ein wenig vorgeneigt und hörte aufmerksam zu.

Als Eirin schließlich schwieg, leer und ratlos – da schaute sie die Ärztin an.

„Sie wären kein Mensch, wenn Sie nicht gehorcht hätten. Natürlich würde die Oberschwester Sie verstehen, wenn Sie ihr dasselbe erzählten, was ich soeben erfahren habe – “

„Nein!“ rief Eirin. „Beruhigen Sie sich. Vermutlich hat sie schon mit Dr. Randers

gesprochen, also müßte auch er die ganze Geschichte erfahren. Nein, das muß Ihnen erspart bleiben.“

Sie tat ein paar Züge. Eirin hing an ihrem Munde. Frau Dr. Claussen schien mit sich zu

ringen. Eirin sagte nichts. Sie sah, wie der Ärztin das Blut in die Wangen schoß und wie sie gleich darauf ganz blaß wurde.

„Gute Schwester Lise. Ich werde Ihnen helfen. Wir müssen sehen, Sie aus dieser Geschichte wieder herauszubringen. Sie haben genug durchgemacht, als daß Sie obendrein noch aus dem Krankenhaus gewiesen werden sollen. Hier gehören Sie her, und hier müssen Sie bleiben. Dr. Randers sprach kürzlich mal von Ihnen. Er

ist sehr zufrieden mit Ihnen. Der Operationssaal scheint wohl Ihr liebstes Arbeitsfeld zu sein?“

„Ich glaube es. Auf diese Zeit habe ich ja all die Jahre gewartet. Denn Halfdan möchte so gern Chirurg werden, und darum meinte ich – “

„Ja, ich verstehe. Aber die Arbeit hat ihren eigenen großen Wert, Schwester Lise. Vergessen Sie das nicht.“

„Nein“, flüsterte Eirin. „Ich vergesse es nicht. Ich liebe ja meine Arbeit.“

Die Oberschwester in der Chirurgie, Agathe Tronstad, erhob sich nicht, als an die Tür geklopft wurde. Sie rief „Herein!“, ohne die Augen von dem Buch zu wenden, in dem sie las.

Erst als die Tür sich auftat, blickte sie auf und legte das Buch aus der Hand.

„Bist du es, Marit? Kommst du zu mir?“ „Ja, ich komme heute zu dir, Agathe. Ich muß mit dir reden.“ „Möchtest du nicht Platz nehmen?“ „Danke.“ „Ich kann dir leider keine Zigarette anbieten, aber – “ „Ich habe selbst, danke. Wenn ich darf – “ „Ja, selbstverständlich. Du rauchst genausoviel wie früher, sehe

ich?“ „So? Du erinnerst dich noch, daß ich viel rauchte?“ „Ich erinnere mich an alles damals, Marit.“ Frau Dr. Claussen tat

einen tiefen Zug aus der Zigarette, als müßte sie sich für das, was sie jetzt sagen wollte, sammeln.

„Erinnerst du dich auch an die letzten Worte, die ich zu dir sagte, ehe wir damals auseinandergingen?“

„Ich werde sie nie vergessen. Du sagtest: ,Du bist es, die mein Leben zerstört hat, und das verzeih’ ich dir nie.’“

„So war es, ja.“ „Und ich habe dir gegenüber das gleiche Gefühl gehabt. Ich habe

dich viele Jahre lang gehaßt, Marit.“ „Und ich dich, Agathe.“ „Und du kommst trotzdem zu mir – jetzt plötzlich?“ „Ja, das tue ich. Du und ich, wir wurden damals unglücklich um

eines Mannes willen. So gut wir beide auch zusammenpaßten, so vertraut wir miteinander waren! Eine Freundschaft wie die unsrige habe ich später nie wieder gefunden.“

„Ich auch nicht.“

„Dann wurde ich einsam – “ „Auch ich konnte mich an niemanden mehr anschließen. So

komme ich denn mit der Frage zu dir, ob wir uns nach so vielen langen Jahren nicht aussprechen und diesen Haß begraben sollten?“

„Wenn du es willst, will ich es auch. Aber wieso kommst du so plötzlich – entschuldige, daß ich dich frage, aber – “

„Ich mußte heute kommen. Denn du und ich, wir müssen gemeinschaftlich eine gute Tat vollbringen. Da gibt es etwas, worum ich dich bitten möchte; aber das kann ich nicht, ehe nicht zwischen uns reiner Tisch gemacht ist.“

Sie schwiegen beide. Die Doktorin rauchte. Die Oberschwester lehnte sich im Sessel zurück, und ihre klugen Augen waren auf die andere gerichtet – auf den Menschen, den sie am meisten geliebt und am meisten gehaßt hatte.

Zwanzig Jahre war das jetzt her. Sie waren Studienkameradinnen gewesen und so gut befreundet, wie es zwischen Frauen überhaupt möglich ist.

Bis der Mann dazwischentrat. Er war ebenfalls Medizinstudent, einige Jahre älter als die beiden

jungen Mädchen. Sie lernten ihn gleichzeitig kennen und verliebten sich beide in ihn. So ging ihre Freundschaft zugrunde. Aus ihren Trümmern erwuchs unversöhnlicher Haß.

Der Mann entzog sich dem Kampf der beiden Frauen, von denen keine verzichten wollte, und fuhr als Schiffsarzt mit einem Walfänger hinaus.

Drei Monate später fand er den Tod. Agathe brach zusammen. Verzweifelt gab sie ihr Studium auf

und fuhr nach Hause. Ein gutes Jahr später ging sie in die Krankenpflege.

Als sie die Stellung einer Oberschwester an diesem Krankenhaus antrat, entdeckte sie, daß auch Marit hier als Assistenzärztin tätig war. Aber jede arbeitete in ihrer Abteilung, und sie sahen sich so gut wie nie.

Marit fand sich schneller ab. Sie suchte Vergessen, indem sie sich mit doppeltem Eifer ihrer Arbeit ergab. Sie schuftete und rackerte, machte ihr Examen und spezialisierte sich auf innere Medizin. So wurde sie in jungen Jahren Oberärztin in der inneren Abteilung des großen Krankenhauses.

Der unversöhnliche Haß aber blieb. Eine jede gab der anderen die Schuld am Tode des Mannes.

Und dieser alte Haß sollte in dieser Abendstunde aus der Welt geschafft werden.

Als zwei Stunden vergangen waren und die Blumenschale, die Marit anstelle eines Aschenbechers benutzt hatte, voller Stummel lag, stand Agathe auf und reichte Marit die Hand:

„Wir waren beide sehr dumm, Marit. Wir haben beide falsch gehandelt. Aber was du für Dummheiten gemacht hast, geht mich nichts an. Ich habe meine eigenen Torheiten zu verantworten. Und um dieser willen bitte ich jetzt dich um Verzeihung.“

„Wenn ich dir vergeben soll, Agathe, dann mußt du mir auch vergeben. Vielleicht ist es noch nicht zu spät, unsere alte Freundschaft zu erneuern.“

Noch eine Stunde verging. Es war spät geworden. Die Oberschwester hatte Tee gekocht.

„Sag mir mal, Marit, weshalb bist du gerade heute zu mir gekommen? Wir sollten eine gute Tat vollbringen, sagtest du?“

„Ja, es handelt sich um Schwester Lise in deiner Abteilung.“ „Was weißt denn du von ihr?“ „Ich weiß, daß sie ein zutiefst unglückliches Menschenkind ist.

Und ich weiß, daß du vermutlich die Absicht hast, sie aus dem Krankenhaus zu weisen.“

„Weißt du, welches Vergehens sie sich schuldig gemacht hat?“ „Ja, ich weiß es. Aber, siehst du – es ist nicht so einfach –, hier

mußt du dich ganz und gar auf mein Wort verlassen. Ich bin durch eine Schweigepflicht gebunden, verstehst du? Agathe, wirst du mir glauben, wenn ich dir sage, daß Schwester Lise es nicht verdient, fortgeschickt zu werden? Wirst du mir glauben, wenn ich dir versichere, daß sie einen so triftigen Grund hatte, an der Tür zu horchen, daß kein Mensch sie dafür verurteilen dürfte?“

„Natürlich glaube ich dir, aber – “ „Aber die Prinzipien, denkst du. Wie viele Menschen wissen bis

jetzt, daß du sie beim Horchen ertappt hast?“ „Ich habe es dem Oberarzt gesagt.“ „Agathe, würde es dir nicht möglich sein, zu Randers zu gehen

und zu erklären, du habest dich geirrt – Schwester Lise habe nicht gehorcht, sondern sei von einem plötzlichen Unwohlsein befallen worden und habe sich gegen die Tür gelehnt, weil ihr schwindlig war?“

Die Oberschwester machte ein verdutztes Gesicht; aber dann sagte sie lächelnd:

„Marit, Marit! Du bist trotz allem noch ganz die Alte! Alles das verlangst du von mir, nur weil – “

„Weil die kleine Schwester Lise mir am Herzen liegt, Agathe. Ich weiß eine ganze Menge über sie, glaub mir. Ihr ganzes Inneres ist im Augenblick eine einzige blutende Wunde. Sie hat ein größeres Herzeleid, als du und ich damals hatten, als Olaf starb. Dabei beherrscht sie sich, wie ich es diesem zarten Persönchen niemals zugetraut hätte. Entläßt du sie fristlos, so fügst du einen großen Stein zu der Bürde, die ohnehin viel zu schwer ist für so ein junges Ding, und es wäre obendrein noch unverdient.“

„Ich habe einen Grund, sie zu entlassen, das weißt du. Nein, du brauchst nichts zu erklären. Also, du stehst für sie ein und verteidigst die Beweggründe, die sie für ihr merkwürdiges Verhalten gehabt hat?“

„Unbedingt!“ „In Ordnung. Ich gehe morgen früh zum Oberarzt. Du siehst

übrigens ganz so aus, als wolltest du mich um noch etwas bitten?“ „Ja – kann Schwester Lise nicht schon heute abend Bescheid

bekommen?“ Agathe Transtad lachte. „Marit, ach, Marit! Das ist genau wie früher. Weißt du noch, wie

du mich um den kleinen Finger gewickelt hast, als wir jung waren?“ „Vielleicht. Aber vor allem habe ich dich sehr gern gehabt.“ Die Oberschwester schwieg einen Augenblick. Ihre Augen

wurden feucht. „Noch viel schlimmer ist – ich habe dich auch heute noch gern.“ Die Nachtschwester in der Chirurgie war angewiesen worden,

Schwester Lise auszurichten, sie solle sofort zur Oberschwester herunterkommen.

Eirin saß halb ausgezogen auf ihrem Bett, als der Bescheid kam. Sie zog sich das Kleid wieder über. Als sie die Kappe aufsetzen wollte, fiel ihr ein, daß sie sie nun wohl nie mehr brauchen würde. Sie wurde gerufen, um sich den Fußtritt zu holen. Ruhig und gefaßt setzte sie sich in Marsch, blieb aber plötzlich auf der Treppe stehen, besann sich und war mit drei Sätzen wieder in ihrem Zimmer. Sie riß die Kappe vom Tisch und setzte sie auf. Die Oberschwester legte Wert darauf, daß die Schülerinnen vorschriftsmäßig angezogen waren. Und wenn nun – wenn nun Frau Dr. Claussen wirklich ein Wunder vollbracht hätte –, wenn sie nun vielleicht trotz allem bleiben durfte?

Verwundert blieb sie auf der Schwelle stehen. Durch den blauen Zigarettendunst, der ihr sofort Dr. Claussens Anwesenheit verriet, unterschied sie zwei lächelnde Gesichter: die Oberschwester und die Ärztin.

„Nun, da sind Sie ja, Schwester Lise“, sagte die Oberschwester, erhob sich und ging ihr entgegen. „Ich wollte Ihnen nur sagen, wie leid es mir tut, daß ich heute vormittag so heftig gewesen bin. Frau Dr. Claussen hat mir soeben den Zusammenhang erklärt – daß Sie von einem Unwohlsein befallen worden sind durch den Äthergeruch im Operationssaal. Aber Sie müssen verstehen, so wie Sie gegen die Tür gelehnt standen, sah es tatsächlich so aus, als ob Sie Dr. Randers’ Ferngespräch belauscht hätten. Ja, Sie müssen mich entschuldigen, Schwester Lise, und wir müssen versuchen, den kleinen Auftritt zu vergessen!“

Eirin sah mit großen, erschrockenen Augen auf die Oberschwester. Was meinte sie? War dies eine Prüfung? – Wollte sie sehen, ob sie den Mut hatte zu bekennen? Erwartete die Schwester, daß sie nach diesem rettenden Strohhalm griff und eine Erklärung abgab?

Nein! Mochte kommen, was wollte; fürchten tat sie sich nicht! „Sie hatten leider recht mit Ihrer Annahme, Oberschwester. Ich

hab’ wirklich gehorcht.“ Da schlug Frau Dr. Claussen mit ihrer breiten Hand auf die

Lehne des Sessels. „Wenn eine Ärztin und eine Oberschwester sich über eine

Diagnose einig sind, kommt es einer Schülerin nicht zu, zu widersprechen, Schwester Lise. Sie hatten ein Unwohlsein, und wir hoffen, Sie haben sich davon erholt. Sie haben sich gegen die Tür gelehnt, weil Ihnen schwindlig geworden war. Verstanden?“

Eirin verstand. Sie blickte von der einen zur anderen. Dann ging sie auf die Ärztin zu und reichte ihr die Hand. Sprechen konnte sie nicht. Auch der Oberschwester gab sie die Hand.

„Wir hoffen, daß Sie gut schlafen, Schwester Lise. Dr. Randers hat Sie für morgen in den Operationssaal bestellt. Es wird sicher ein heißer Vormittag. Gallensteinoperation! Da müssen Sie ausgeruht und in bester Verfassung antreten.“

„Hat der Herr Doktor mich wirklich angefordert?“ „Ja, natürlich hat er das. Jetzt platzen Sie mal bloß nicht vor

Stolz!“

„Nein“, flüsterte Eirin. Dann richtete sie ihre braunen Augen auf die Oberschwester.

„Ich bin nur so froh.“ „So soll es sein, Schwester Lise! Nichts macht einen so froh wie

die Arbeit, und es gibt nichts Schöneres als das Gefühl, der Aufgabe gewachsen zu sein, vor die man gestellt wird.“ Das hatte Frau Dr. Claussen gesagt.

Eirin ging zur Tür zurück und knickste wie ein kleines Mädchen. „Gute Nacht – und tausend Dank.“ „Gute Nacht! Und, Schwester Lise – hören Sie noch eben!

Denken Sie dran; die Schweigepflicht gilt nicht nur für Ärzte! Sie gilt auch für Krankenschwestern, und sie gilt vor allem für Schülerinnen.“

Da lächelte Eirin und reckte ihren Rücken. „Daran werde ich denken, Frau Doktor! Ich bin mir völlig

darüber klar, welche Dinge unter die Schweigepflicht fallen! Wirklich, ich bin jetzt wieder ganz in Ordnung nach dem schlimmen Unwohlsein heute vormittag!“

20 Nach all den Monaten quälender Ungewißheit empfand Eirin es fast als Erlösung, endlich Gewißheit zu haben, so traurig diese auch war. Sie litt. Aber jetzt wußte sie, was sie zu tun hatte! Wenn Dr. Randers so zufrieden mit ihr war, konnte sie vielleicht fest angestellt werden. Also hieß es arbeiten, arbeiten und das Examen schaffen. Dann stand sie fest auf eigenen Füßen.

Von Tante Bertha waren einige Briefe gekommen. Sie hatte sie zerrissen, ohne sie gelesen zu haben. Tante Bertha hatte sie auch im Stich gelassen! Sie hielt also zu Halfdan, und jetzt blieb sie da oben und führte den beiden das Haus – eine Art illegitime Schwiegermutter von Schwester Vera.

Nein, es war schon das einzig richtige, mit allem zu brechen, was mit Halfdan und der Vergangenheit zusammenhing. Ihre Welt war das Krankenhaus, dort wollte sie bleiben. Freunde hatte sie zum Glück. Auf Stoffer Gard konnte sie rechnen; er lud sie an ihren freien Tagen ein, schenkte ihr hier und da Blumen und brachte ihr Näschereien.

Fredrik war jederzeit für sie da; nur hatte sie es nicht leicht mit ihm. Denn er liebte sie anscheinend wirklich. Die ganze Geschichte wurde um so verwickelter, als sie sich selbst darin nicht mehr auskannte.

An Bord des Dampfers damals, als sie an Halfdan gebunden war, hatte Fredrik erreicht, daß ihr Herz in sehr unerlaubter Weise klopfte. Jetzt, da sie frei und ungebunden war und ganz allein in der Welt stand, jetzt, da sie sich selbst nach Herzenslust verlieben konnte – jetzt ließ er sie kalt. Eine gesicherte, wunderbare Zukunft lag zum Greifen nahe vor ihr, wenn sie nur ja sagte.

Da reiste Fredrik plötzlich ab. Er rief sie eines Tages an und erklärte kurz und bündig, daß er am nächsten Tag in den Süden fahre.

„Wann kommst du wieder, Fredrik?“ „Ach – in einem halben Jahr vielleicht. Solange warte ich, Lise.

Wenn ich zurückkomme, will ich klaren Bescheid haben. Verstehst du mich?“

„Den sollst du haben.“ „Dann bist du mit deiner Ausbildung fertig. Bisher, das weiß ich,

ist die Arbeit vorgegangen, und ich bin Nummer zwei gewesen. Aber

ich will Nummer eins bei dir sein, Lise, hörst du? Ich verstehe deinen Ehrgeiz, dieses Examen zu machen, und deshalb erhebe ich dagegen keinen Einspruch. Laß es dir gutgehen, Liselchen. Ich schicke dir hin und wieder eine Karte.“

„Gute Reise, Fredrik. Wirst du arbeiten oder – “ „Ich arbeite zunächst an einer Augenklinik in Paris, ja. Soll dort

einen Arzt vertreten, einen Jungen, mit dem ich mich angefreundet habe, als ich zuletzt unten war. Ich schicke dir meine Adresse.“

„Vielen Dank. Ich werde oft an dich denken.“ „Nicht so oft wie ich an dich. Auf Wiedersehen, kleiner

Trotzkopf. Wenn ich das nächste Mal wieder ins Ausland fahre, wird es hoffentlich unsere Hochzeitsreise sein.“

Eirin legte versonnen den Hörer auf. Eigentlich gut, daß Fredrik wegfuhr. Sie brauchte jetzt Ruhe, um sich auf das Examen vorzubereiten. In einigen Monaten war es soweit.

Eirin stürzte sich in die Arbeit. Zur Entspannung unternahm sie in der Freizeit kleine Ausflüge und Kinobesuche mit den Kolleginnen, besuchte ab und zu Frau Lindberg oder ging mit Stoffer Gard ins Theater.

Es kam nicht mehr so häufig vor, aber da er immer so bettelte und bat, gab sie nach. Sie saß ihm dann den ganzen Abend gegenüber und lachte gutmütig über seine tragikomischen Liebeserklärungen. Er wußte, daß sie sich nichts aus ihm machte, daher der Galgenhumor, der seiner Werbung anhaftete und der Eirin zugleich amüsierte und rührte.

„Für dich bin ich sicher nur ein interessanter Fall“, klagte er eines Tages.

„Wieso interessant, Stoff er?“ „Nicht einmal interessant?“ Er stöhnte auf und verzog

schmollend das Gesicht. „Also nur ein ganz gewöhnlicher, uninteressanter Fall, von der Sorte, von der vierzehn aufs Dutzend gehen?“

„Achtzehn, Stoffer!“ „Nur ein durchschnittlicher, todlangweiliger Fall von Rabies

amoris oder so was ähnliches?“ „Ja, ein Fall, der durch einen ganz simplen Eingriff, sogar ohne

Betäubung, geheilt werden kann!“ „Ach, Lise. Du bist grausam. Gönnst du mir nicht einmal eine

Narkose, und wenn sie auch noch so klein ist?“ „Keine Rede davon. Nur eine winzig kleine Lokalanästhesie.“

„Lokal – du – kannst du vielleicht das Geschwür lokalisieren?“ „Ach, es wird wohl da sitzen, wo andere Leute ihr Herz haben –

übrigens, Stoffer, dieser Foxtrott ist doch dein Lieblingstanz, ob wir den nicht tanzen wollen, bevor du an – ja, wie nanntest du es doch gleich? –, an Rabies amoris stirbst?“

Die Abende mit Stoffer waren nicht übermäßig anstrengend, aber besonders inhaltsreich waren sie auch nicht gerade. Sie sprachen über das Krankenhaus und viel über seine hoffnungslose Liebe – und ab und zu kamen sie auf Fredrik zu sprechen. Eirin hörte regelmäßig von ihm. Kleine eifrige Briefchen mit vielen schönen Worten oder Ansichtskarten aus Paris und Umgebung.

Eirin seufzte. „Wenn ich doch bloß ein kleines Fünkchen Liebe für Fredrik empfinden könnte, wieviel einfacher wäre dann alles.“

Der strahlende Frühlingstag kam, an dem auch die Schülerinnen von Eirins Jahrgang Schwesternhaube und Nadel erhielten, das Zeichen dafür, daß sie nun fertige, voll ausgebildete Krankenschwestern waren. Die Augen der jungen Mädchen leuchteten. Ihre verarbeiteten Hände zitterten vor Freude, als sie die Diplome in Empfang nahmen.

Viele von ihnen wußten an diesem Tage nur, daß sie drei wichtige Jahre ihres Lebens hinter sich gebracht hatten; sie ahnten nicht, was die Zukunft ihnen bringen würde. Andere waren verlobt und wollten heiraten. Nur wenige hatten sich eine Stelle als Pflegerin in einem gutsituierten Hause sichern können. Einige wollten ins Ausland. Um eine feste Anstellung war es schlecht bestellt.

Unter den wenigen Glücklichen war Eirin. Das hatte sie dem getreuen Stoff er Gard zu verdanken:

Oberarzt Dr. Brattholm, Halfdans früherer Vorgesetzter und großes Vorbild, hatte sich soeben eine hochmoderne Privatklinik eingerichtet. Brattholm war ein hervorragender Chirurg und obendrein ein ziemlicher Brummelbär. Er war mit den Arbeitsmöglichkeiten in den Provinzkrankenhäusern und auch in den städtischen Kliniken unzufrieden: „Sie sind zu groß“, sagte er. „Wir haben weder Zeit noch Gelegenheit, uns wirklich um jeden einzelnen Fall zu kümmern.“

Brattholm war wirtschaftlich so gestellt, daß er seine Pläne verwirklichen und dem größten seiner Wünsche nachgeben konnte: Er hatte ein großes, schönes, geräumiges Haus am Rande der Stadt erworben und einen sehr tüchtigen Architekten beauftragt, es zu einer Art Idealklinik umzubauen. Die Krankenzimmer waren klein,

hell und freundlich, nicht mehr als zwei Betten in einem Raum. Die Beratungs- und Behandlungsräume hatten gutes Licht und eine praktische Lage. Der Küchenanlage waren Wasch- und Spülraum angeschlossen.

Das Prunkstück des Hauses war der Operationssaal. Hier hatte Brattholm selbst jede Einzelheit bestimmt mit dem Ergebnis, daß er auch die letzte technische Errungenschaft und den raffiniertesten Komfort aufwies, den sich jeder Chirurg nur in seinen kühnsten Träumen vorstellen und wünschen konnte.

Für Stoffer Gard bot sich die Chance, an dieser Klinik Assistenzarzt zu werden. Sein Vater war ein guter Freund von Brattholm, so daß der Oberarzt stets ein wachsames Auge auf die Entwicklung des kleinen Stoff er hatte und ihn förderte. Sein Interesse am Werdegang des jungen Kollegen wurde belohnt, denn Stoffer war ein tüchtiger junger Arzt geworden. Auch Brattholms Freund und Kollege, Dr. Randers, wußte nur Gutes über ihn zu berichten.

Als Stoffer mit Brattholm durch die ganze Klinik gegangen war und alles besichtigt und bewundert hatte, kehrten sie in den Operationssaal zurück.

„Nun hast du alles gesehen“, sagte Brattholm. „Wirst du dich hier wohl fühlen?“

„Was für eine Frage!“ Stoff er Gards offenes Jungengesicht strahlte. Aber Brattholm hatte scharfe, erfahrene Augen, und die sahen den aufstrebenden Arzt und verantwortungsbewußten Menschen hinter dem heiteren Knabengesicht.

„Jetzt hätte ich bloß noch einen Wunsch“, sagte Brattholm nachdenklich. „Glaubst du, daß mein Freund Randers eine Operationsschwester für mich hat? Eine erstklassige, tüchtige Person mit guten Nerven – du weißt, mir kann es einfallen, ihr die Arterienklammern an den Kopf zu werfen, wenn sie Fehler macht.“

„Auf meiner Weide läuft das Ideal für dich herum, Onkel Brattholm!“ rief Stoffer aus. „Sie ist in einer Woche fertig und ist für einen Operationssaal wie geschaffen. Sie hat einen sechsten Sinn, kann ich dir sagen. Ehe du noch darüber nachgedacht hast, was du brauchst, hat sie dir schon das Instrument in die Hand gedrückt.“

Brattholm schmunzelte. „Wenn nur die Hälfte von dem stimmt, was du sagst, will ich sie

haben. Ich werde mit Randers sprechen. Wie heißt das Wunder?“ „Schwester Lise – mit Nachnamen Johnsen.“

In Stoffer Gards Stimme war ein so warmer Klang, als er ihren Namen aussprach, daß Brattholm ihm einen raschen Blick zuwarf; der alte Menschenkenner nickte. Da lag also der Hund begraben!

Doch schien es nicht nur Schwester Lises persönlicher Charme zu sein, der Stoffer veranlaßte, sich so für sie einzusetzen. Denn auch Randers empfahl sie auf das wärmste. Als Brattholm sie dann kennenlernte, gefiel ihm das schlanke, ruhige Mädchen auf den ersten Blick.

So kam es, daß Schwester Lise als Operationsschwester in der Privatklinik von Dr. Brattholm angestellt wurde.

21 Einen Monat später war die Klinik voll belegt.

Eirin merkte sofort den Unterschied zwischen der Arbeitsweise im Krankenhaus und in der Klinik. Hier kannte man jeden einzelnen Patienten genau und stellte sich auf ihn ein. Die Zahl der angestellten Schwestern war so klein, daß sie alle miteinander eine große Familie bildeten, und der Chefarzt lebte mit ihnen wie ein Familienvater. Trotz eiserner Disziplin, auf die Brattholm sehr sah, herrschten hier ein kameradschaftlicher Geist und ein netter Ton.

Eirin fühlte sich wohl. Täglich wurde operiert. Sie tat gewissenhaft und mit wachen Sinnen ihren Dienst. In ihrer weißen Tracht und mit sterilen Gummihandschuhen angetan, handhabte sie geschickt die Instrumente.

Sie trug allein die Verantwortung dafür, daß der Operationssaal in Ordnung war, und wehe ihr, wenn auch nur eine kleine Pinzette fehlte oder auch nur eine Klammer nicht an ihrem Platze lag!

Brattholm war mit ihr zufrieden. Er brummelte manchmal etwas vor sich hin, das sich so anhörte, wie: Randers habe ihm doch eine brauchbare Person geschickt, die wirklich Verstand im Schädel hätte. Sie arbeiteten gut zusammen – Brattholm, Stoffer Gard und Eirin.

Sie war überzeugt, daß ihr Leben jetzt ins rechte Gleis gekommen sei und daß sie ihren Platz gefunden habe. Hier wollte sie bleiben.

Frau Lindberg wußte nicht, daß sie umgezogen war. Eirin war entschlossen, unter die Vergangenheit einen dicken Strich zu ziehen. Sie brauchte Frau Lindberg jetzt nicht mehr. Auch Tante Bertha nicht! Nicht einmal – nein –, auch Halfdan nicht!

Sie schuftete und rackerte und fühlte sich wohl dabei. An ihren freien Tagen machte sie Spaziergänge oder saß in ihrem behaglichen Zimmer und las. Ab und zu ging sie mit Stoffer aus.

Da läutete eines Tages das Telefon. Es war für Schwester Lise. „Lise, mein Kind!“ „Du bist da, Fredrik?“ „Ich bin heute nach Hause gekommen, Lise. Wann kann ich dich

sehen?“ „Ich bin heute nachmittag frei – “ „Großartig, mein Herz. Ich hole dich um vier Uhr ab. Ist das

recht?“

„Famos. Wie geht es dir?“ „Ausgezeichnet. Ich sehne mich bloß nach dir.“ „Und ich hatte geglaubt, du würdest mich im Ausland

vergessen!“ „Eine eitle Hoffnung, Liselchen. Hast du mich denn vergessen?“ „Nein – “, entgegnete Lise langsam. Dann sagte sie auf

Wiedersehen und legte den Hörer auf. Seit diesem Anruf lief sie wieder nachdenklich herum. Auch in

diese Sache mußte sie jetzt Klarheit bringen, so verzwickt sie auch war. Fredrik erwies sich nun doch als guter Freund. Der kleine Stachel, der sie lange genug geplagt hatte, war vergessen. Daß er sie geküßt hatte – nun, das lag weit zurück und wurde immer unwesentlicher. Die Hauptsache war, daß er sie jetzt gern hatte und daß man einander jetzt besser kannte.

Aber hatte er sie gern? Kannte er sie wirklich? Was wußte er schon von ihr? Sie selbst hatte ihm nur erzählt, daß sie Waise war, seit drei Jahren in der Krankenpflege stand und vor dieser Zeit eine Bürostellung gehabt hatte. Mehr wußte er nicht, aber mehr interessierte ihn offenbar auch nicht.

Alles um sie her war jetzt klar und geregelt, bis auf diese merkwürdige Freundschaft mit Fredrik.

Wie stand es aber um sie selbst? Machte sie sich eigentlich etwas aus ihm? Haßte sie ihn, oder war sie vielleicht gar verschossen in ihn?

Bei diesem Gedanken machte ihr Herz einen kleinen Sprung. Wenn sie nun doch noch ein glücklicher Mensch werden könnte; wenn aus der Liebe zu Halfdan eine Episode, eine Jugenderinnerung und Fredrik ihr Mann wurde?

Sie grübelte noch vor sich hin, als das Auto vor der Klinik vorfuhr. Sie zupfte ihr hübsches Sommerkostüm zurecht, ergriff den großen weißen Hut und lief hinunter.

Fredrik schien überglücklich, sie wiederzusehen. Und nachdem sie zusammen gegessen und das Wiedersehen mit Sekt begossen hatten und später von einem langen Ausflug mit dem Wagen zurückgekehrt waren, schlug Fredrik ihr vor, den Abend bei ihm zu beschließen.

Nach dem Abendbrot, als sie beim Mokka saßen und der Schein der Kerzen im Cointreau funkelte, ergriff Fredrik Eirins beide Hände.

„Nun, mein Mädchen – jetzt werden wir uns aussprechen. Ich will dir etwas gestehen: Du hast mich verzaubert. Seit ich dich zum ersten Male sah, fand ich keine Ruhe mehr. Du ließest mich nicht mehr los.“

Seine Worte wirkten auf Eirin ernüchternd. War es nicht umgekehrt? Er hatte sie doch verfolgt, seit sie sich das erstemal getroffen hatten!

„Ich verstehe dich nicht, Liselchen. Du bist doch meine Freundin, nicht wahr?“

„Doch-“ „Du mußt doch begreifen, daß es so nicht weitergehen kann, Jahr

um Jahr mit einer kühlen, nüchternen Freundschaft. Für mich ist das nichts. Ich bin nicht von Stein, Lise, und ich glaube, du bist es auch nicht.“

„Glaubst du -?“ „Lise – jetzt setzt du wieder dieses eigentümliche, unergründliche

Lächeln auf. Aber deine Gedanken sind weit weg. Lise – “ Er beugte sich über sie. „Lise, als wir das letztemal hier saßen, rücktest du mir aus, und ich behauptete, ich würde dich schon noch dahin bekommen, wo ich dich hinhaben wollte. Diesmal kommst du mir nicht so leicht davon, Lise. Ich liebe dich, hörst du – und ich muß jetzt wissen, wie du zu mir stehst. Lise, sag, daß du mich liebhast – ein wenig liebhast!“

Eirins Herz klopfte. Sie schloß die Augen, damit er nicht sah, was sie heimlich sich wünschte. Aber ihm zu sagen, daß sie ihn liebhabe – das konnte sie nicht!

„Lise!“ Seine Stimme war drohend. „Lise, jetzt weiß ich, was mit dir ist. Ist da ein anderer, Lise?“

Sie blickte ihn mit großen, angstvollen Augen an. Sollte sie ihn belügen? Sie wollte ihm alles erklären, da trat er ganz nah vor sie hin und sprach mit belegter Stimme:

„Ich mach’ mir nichts draus, Lise! Mag ein anderer dasein, mögen hundert andere dasein – ich finde mich damit ab. Aber jetzt bist du bei mir. Laß das ewige Grübeln. Denk lieber daran, daß du da bist, daß du jung bist, daß hier einer ist, der dich liebt. Liselchen, wir sind doch nur zwei Menschen, die einander zufällig begegnet sind – vielleicht müssen wir uns trennen – vielleicht werden wir uns nicht mehr wiedersehen. Hättest du nicht einen anderen lieb – nun gut, Lise, wenn doch ein anderer da ist, der so reich ist, deine Liebe zu besitzen, kannst du mir dann nicht eine winzig kleine glückliche

Minute gönnen, hast du nicht ein Almosen für einen, der dich anfleht, Lise -?“

Fredrik fuhr plötzlich erschrocken zurück. Sein Gesicht war aschfahl. Denn Eirin hatte einen Schrei ausgestoßen, der in ein hysterisch krampfhaftes Gelächter überging. Sie lachte, daß sie am ganzen Körper bebte, lachte, als sei sie von Sinnen.

„Lise! Lise! Was ist denn?“ Ihre Züge erstarrten zur Maske. Die Mundwinkel verächtlich

nach unten gezogen, die Augen halb geschlossen, sah sie ihn an. Ja, das war er, der dieselbe abgespielte Grammophonplatte in allen Verführungsszenen auflegte. So also pflegte er die Sache anzupacken! „Ein Almosen für einen, der dich anfleht“ – „eine winzig kleine glückliche Minute“ –, dieselben Worte, die er vor drei Jahren an Bord des Dampfers flüsternd gestammelt hatte!

„Setz dich, Fredrik!“ Ihre Stimme klang schneidend und kalt. „Ich habe dir etwas zu sagen.“

Er ließ sich gehorsam auf einen Sessel nieder und schaute unsicher zu ihr auf.

Sie stand vor ihm. „Du sprachst soeben von dem ersten Mal, als du mich sahst.

Erinnerst du dich, wann das war?“ „Das fragst du mich? An einem eiskalten Wintertag war es; wir

begegneten einander auf der Röntgenstation, und du trugst ein Kind in einer Wolldecke – “

„Nein, das war nicht das erste Mal. Erinnerst du dich, daß du mich schon einmal geküßt hast?“

„Ich – dich?“ „Du hast ein sehr schlechtes Gedächtnis, Fredrik! Ich werde dir

helfen. Vielleicht weißt du noch, daß du vor einigen Jahren im Oktober nach Tromsö fuhrst, um deinen Onkel zu besuchen?“

„Ja-?“ „Erinnerst du dich noch, wen du auf dem Dampfer trafst?“ Fredrik geriet in Verwirrung. Er überlegte-, plötzlich erhellten

sich seine Züge. „Ich traf einen Kollegen – einen Kreisarzt, Dr. Hoek – “ „Und seine Verlobte, Fredrik! Erinnerst du dich ihrer nicht? Sie

hatte so einen merkwürdigen Namen. Eirin hieß sie! Kannst du dich wirklich nicht besinnen?“

Fredrik verstummte. Eirin sah seine Bestürzung und fuhr fort:

„Eines Vormittags an Deck küßtest du sie. Und du wähltest genau die gleichen Worte ihr gegenüber, die du eben zu mir sprachst, dieses Gefasel von dem Almosen und einer winzig kleinen Glücksstunde. Ich durchschaue dich jetzt, Fredrik. Du verbringst deine Zeit damit, jungen Mädchen den Kopf zu verdrehen, und du weißt genau, wie du es anstellst. Das da mit der Glücksstunde und dem Almosen hat eine verflixt gute Wirkung – wenn man es zum erstenmal hört. Aber beim zweitenmal wirkt es wie ein kalter Wasserstrahl. Ich war nahe daran, mich damals an Bord in dich zu verlieben, Fredrik. Jetzt bin ich geheilt. Ich bin fertig mit dir. Als wir uns in der Röntgenstation trafen und du mich nicht wiedererkanntest, faßte ich den Entschluß, mich an dir zu rächen. Das nächste Mal wollte ich diejenige sein, die vergaß, die sich durchaus nicht erinnern konnte, jemals einen Dr. Fredrik Branstad kennengelernt zu haben. Aber das ist jetzt unwichtig. Ich pfeife auf die Rache! Halfdan hat mich aufgegeben, und ich verdiene es – aber tausendmal lieber will ich für den Rest meines Lebens allein sein, als mich an einen notorischen Schürzenjäger zu binden!“

Sie schritt zur Tür. Aber Fredrik hielt sie zurück. Er faßte ihre Hand.

„Lise“, sagte er, „du hast in allem, was du sagst, recht. Du hast deine Rache bekommen. Wahr aber ist, daß ich dich liebhabe, Lise. Vergib mir, Lise – Eirin!“

Er schickte sich an, ihre Hände zu küssen. Im nächsten Augenblick knallte die Tür hinter ihr zu, und Fredrik

stand allein. Das Feuer im Kamin erlosch. Auf dem Tisch standen zwei

halbgeleerte, vergoldete Mokkatassen und zwei Gläser mit einem Rest süßen Likörs –

22 In dem Passagierflugzeug nach dem Süden waren alle Plätze besetzt. Ganz vorn saß ein junger Mann mit einem mageren, wettergebräunten Gesicht und lebhaften graublauen Augen. Der Mann sah aus, als könne er hart zupacken.

Er hielt eine medizinische Zeitschrift in der Hand, versuchte zu lesen, gab es aber auf und sah vor sich hin. Wenn die Wolkendecke aufriß, schaute er aus dem Fenster. Und sein Blick glitt bewundernd über die lange, zerrissene Küste, die sich von Finnmarken bis zum Süden in wunderbarer Vielgestalt dahinzog. Was für ein schönes Land!

Er lehnte sich in dem bequemen Sessel zurück. Es war wohl das erstemal seit Jahren, daß er so viele Stunden hintereinander in einem guten Sessel ganz still und glücklich saß.

In Bergen verließ er das Flugzeug und nahm den Nachtzug nach Oslo.

Der Zug lief früh ein. Der Mann bestellte sein Hotelzimmer und trank schnell einen Morgenkaffee. Seine Augen wanderten oft zur Uhr. Aber die Zeiger rückten davon nicht rascher vorwärts. Vor halb neun konnte er fremden Leuten keinen Besuch machen.

Um halb neun stand er vor Frau Lindbergs Wohnungstür und klingelte.

Niemand öffnete. In der Wohnung rührte sich nichts. Er klingelte noch einmal. Da ging die Tür zur Nachbarwohnung auf, und eine Hausangestellte trat heraus.

„Frau Lindberg ist verreist“, sagte das junge Mädchen freundlich. „Ach – so – aber die junge Dame, die bei ihr wohnt – “ „Junge Dame? Bei Frau Lindberg? O nein, Frau Lindberg wohnt

allein.“ „Wohnt hier nicht ein Fräulein Johnsen?“ „Nein. Ich kenne Frau Lindberg gut, denn wenn sie in der Stadt

ist, mache ich dreimal wöchentlich bei ihr sauber. Nein, bei Frau Lindberg hat nie jemand zur Miete gewohnt.“

Halfdan merkte nicht, wie er wieder aus dem Haus herauskam. Da stand er auf der Straße der sonnenbeschienenen Stadt und wußte nicht, wie er es anstellen sollte, nach Eirin zu forschen.

Er verfiel zwar darauf, in dem Büro anzufragen, wo sie angestellt war, als er sie kennenlernte. Aber da erfuhr er nichts weiter, als daß

„Fräulein Johnsen – ach, das war doch die, die nach Nordland fuhr – wohl da oben mit einem Arzt verheiratet ist.“

Cilly saß in Trondheim. Er schlug in einem Reichstelefonbuch nach. Cilly hatte kein Telefon.

Die übrigen Freunde? In alle Himmelsrichtungen verstreut! Die Vorstellung, daß sie in dieser Stadt lebte, vielleicht nur zehn

Minuten von hier entfernt, beeindruckte ihn so, daß er gar nicht auf den Gedanken kam, auf den Meldeämtern nach ihr zu forschen.

Am Nachmittag läutete es an der Tür zu Dr. Brattholms Klinik. Eine alte Krankenschwester öffnete.

„Ist Herr Dr. Brattholm hier in der Klinik? In seiner Wohnung sagte man mir, daß – “

„Ja, der Herr Doktor ist hier. Wen darf ich melden?“ „Halfdan Hoek – Kreisarzt Dr. Hoek.“ „Einen Augenblick, Herr Doktor. Bitte nehmen Sie Platz.“ Halfdan wartete in einer Halle, die in Elfenbeinweiß und

Apfelgrün gehalten war; auf dem Tisch stand ein großer Strauß frischer Rosen, und an den Wänden hingen schöne Stahlstiche.

Da wurde eine Tür aufgerissen, und Brattholm kam ihm mit ausgestreckten Händen entgegen.

„Nein, Hoek, sind Sie es wirklich? Das ist ja großartig. Lassen Sie sich anschauen, Mann. – Sie sind mager geworden. Junge, Junge, Sie müssen sich da oben in Frostviken wohl zu sehr abplagen. – Zum erstenmal wieder im Süden?“

„Ja, ich bin jetzt fast vier Jahre ohne Unterbrechung da oben gewesen.“

„Das ist viel zu lange, Hoek, viel zu lange! Sie arbeiten sich ja zuschanden, Mensch! Kommen Sie herein, kommen Sie herein – ja, Sie müssen wissen, ich wohne sozusagen hier; ich vergesse manchmal, daß ich noch eine Häuslichkeit habe. -Kommen Sie und erzählen Sie mir, ich nehme mir frei. -

Schwester Ellen, bitten sie Gard, er soll eben mal nach Nummer acht sehen und nach Nummer zwölf auch. Ich möchte nicht gestört werden, bin stark in Anspruch genommen – danke, das ist schön – Eine Zigarre, Hoek? Nicht? Zigarette? So, und nun schießen Sie los.“

Gleich darauf war die Unterhaltung im Beratungszimmer des Chefs in vollem Gange. Brattholm schätzte seinen jungen Kollegen außerordentlich und hatte viel zu fragen und viel zu erzählen. Die

Zeit flog dahin, während sie beisammensaßen und ihre Erlebnisse austauschten.

„Wie wird es denn nun jetzt, Hoek?“ fragte Brattholm, als er seine dritte Zigarre zu Ende geraucht hatte. „Bleiben Sie da oben, oder kommen Sie in den Süden zurück?“

„Ich weiß es noch nicht. Ich fühle mich stark in Frostviken verwurzelt. Ich habe die Menschen da oben liebgewonnen. Aber ich muß auch gestehen, daß ich mich nach einem ordentlichen Operationssaal mit guten Instrumenten krank sehne – und auch nach größeren Aufgaben.“

Brattholm lachte. „Soso, Sie möchten also gern wieder Ihre Kunststickerei in die

Praxis umsetzen – ja, ja, das kann ich verstehen! Wäre ja auch ein Verlust für die Chirurgie, wenn Sie sich bis in alle Ewigkeit da oben unter eiternden Fingern und Entbindungen verkriechen würden. – Verdammt noch mal, ist der Mann verrückt?“ unterbrach sich Brattholm. Halfdan folgte der Richtung seines Blicks. Da sah er einen Mann, der auf einer hohen, wackeligen Leiter vor einem Fenster im zweiten Stock der gegenüberliegenden Villa stand. Er war damit beschäftigt, Kletterrosen festzubinden.

„Er sieht aus, als sei er lebensmüde“, lächelte Halfdan. „Doch, Herr Doktor, ich denke wirklich daran, allmählich wieder in den Süden zu gehen, wenn nur – “

„Wenn und wenn – kommen Sie, Hoek, und wenn Sie nichts finden, das Ihnen mehr zusagt: Ich kann hier einen Oberarzt gut gebrauchen. Aber sagen Sie mir doch mal eins, was sagt denn Ihre – großer Gott!“

Beide Ärzte fuhren hoch. Ein Schrei durchschnitt die Luft. Die Leiter gegenüber schwankte, neigte sich auf die Seite, Sekunden später lag der Mann unbeweglich auf dem Gartenweg.

An der Haustür stießen sie auf eine weinende, zu Tode erschrockene Frau. Ein kurzes Hin und Her – nach zwei Minuten war der Mann ins Aufnahmezimmer gebracht.

Er war leichenfahl im Gesicht und stöhnte. Halfdan fühlte den Puls und warf Brattholm einen besorgten Blick zu.

Brattholm untersuchte mit behutsamen, geübten Händen. Als er die linke Seite des Rückens abtastete, wimmerte der Patient.

Brattholm war fertig. „Innere Blutungen“, sagte er kurz. Dann wandte er sich an

Schwester Ellen. „Bringen Sie eine Urinprobe ins Labor.“

Halfdan folgte ihm in den Operationssaal. Er benutzte die paar Minuten, bis Schwester Ellen zurückkehrte, diesen idealen Arbeitsraum mit seinen schimmernden Gläsern, dem großen, kostbaren Mikroskop, den Schränken mit jedem erdenklichen Zubehör für jede Art von Untersuchung zu bewundern – reichlich Platz, Oberlicht, Steckdosen an allen Ecken –, bei Gott, das war etwas anderes als das dunkle Sprechzimmer in Frostviken mit der Petroleumlampe und das „Verlies“ mit seinen Einfärbstoffen und dem Petroleumapparat zum Auskochen der Instrumente.

Schwester Ellen kam mit der Probe – eine trübe, mit Blut gemischte Flüssigkeit. Halfdan untersuchte sie.

„Offenbar Nierenriß, Herr Kollege.“ „Dachte es mir ja schon. Wollen Sie assistieren, Hoek?“ „Natürlich, gern!“ „Schnell den Operationssaal herrichten, Schwester Ellen! Sagen

Sie Schwester Lise Bescheid.“ „Schwester Lise hat heute ihren freien Tag, Herr Doktor.“ „Verflixt und zugenäht! Dann müssen wir Schwester Kirsten

nehmen. Aber es muß alles gehen wie der Blitz.“ Brattholm und Hoek zogen sich um und wuschen sich. Und

wieder konnte Halfdan die Arbeitsverhältnisse bewundern. Man wusch sich nicht im Operationssaal selbst, wie Halfdan es von früher gewohnt war. Wand an Wand mit dem Operationssaal war ein schimmernder weißer Waschraum eingerichtet. Da gab es Schränke mit Behältern für die sterilen Schürzen und Kappen, da gab es Schubfächer mit geschlossenen Glasbehältern, in denen die sterilen Gummihandschuhe bereitlagen. Da gab es desinfizierende Flüssigkeiten in Reih und Glied auf Glasborden. Halfdan unterdrückte einen kleinen neidischen Seufzer.

Unterdes bemühte sich Schwester Kirsten, den Operationssaal in Ordnung zu bringen. Sie besaß nicht Schwester Lises unerschütterliche Ruhe. Ihre Bewegungen waren hastig und nervös.

Schwester Ellen warf einen Blick aus dem Fenster. Eine kleine Gestalt ging mit müden, langsamen Schritten durchs Gartentor.

„Gott sei Dank. Da kommt Schwester Lise!“ Der Patient hatte Narkose bekommen. Schwester Lise stand auf

ihrem Platz neben dem Instrumententisch. Alles war bereit. Sie hatte sich in Windeseile umgezogen. Ihr schwarzes Haar war von der schneeweißen Kappe verdeckt, an ihren Händen trug sie

Gummihandschuhe und vor Mund und Nase eine Maske. Nur die Augen waren frei, und die waren aufmerksam und wach.

Jetzt kam Brattholm in der gleichen schneeweißen Hülle, und hinter ihm – großer Gott! Das war ja gar nicht Stoffer! Wer war denn das? Sah sie Gespenster? Gab es denn noch einen Menschen auf der Welt mit dieser Gestalt, mit der charakteristischen Haltung – und mit diesen Augen – mit diesen Augen?

Eirin glaubte, der Boden unter ihren Füßen wanke. Sie fühlte, wie sie unter der Maske erblaßte.

Da trafen sich ihre Augen. Für eine Sekunde glitt alles vor ihnen fort: der Operationstisch, der Patient, der Oberarzt, die Instrumente, Schwester Kirsten. Die Blicke ineinandergesenkt, standen sie bestürzt und tief bewegt zugleich, ohne den Zufall dieses Augenblicks fassen zu können.

Die Lippen hinter den Masken bewegten sich. „Eirin?“ „Halfdan?“ Brattholm legte den Schnitt an. Eirin hielt die Arterienpinzetten

bereit. Während sie ihm automatisch die richtigen Instrumente im richtigen Augenblick hinreichte, wirbelte in ihrem Hirn alles durcheinander. Aber aus dem Durcheinander schälte sich ein einziger vernünftiger Gedanke heraus: Jetzt galt es zu zeigen, was sie konnte! Dies war die Feuerprobe – eine doppelte, nein, eine vielfache Feuerprobe. Jetzt nicht einen einzigen Schnitzer machen!

Wie sonderbar diese graublauen Augen glänzten. Fühlte er wohl das gleiche wie sie? Weshalb war er hier? Wie ging es zu, daß er plötzlich hier im Operationssaal stand, in „ihrem“ Operationssaal, und dem Chef assistierte?

„Kompressen, Schwester!“ Sie hatte sie schon gereicht. Halfdan nahm sie. Es war nicht das

erstemal, daß er Brattholm bei einer Nierenoperation assistierte. Die vier Jahre, die seitdem vergangen waren, zählten nicht. Er arbeitete, als habe er nie etwas anderes getan, als Brattholm zu assistieren.

Schwester Kirsten hob die blutigen Kompressen auf und zählte sie.

„Haken, Schwester.“ Brattholm nahm sie ihr aus der Hand. Er arbeitete schnell, genau,

erfahren. Zwischen ihm und Halfdan wurden nicht viele Worte gewechselt. Sie kannten ihren Rhythmus.

Eirin warf einen blitzschnellen Blick auf Halfdans rechte Hand. Keine Unregelmäßigkeit – keine Ausbuchtung unter dem Gummihandschuh am Ringfinger.

Unfug! Ärzte pflegen keinen Ring zu tragen. Das besagte gar nichts! Sie wußte ja, daß er verheiratet war.

„Noch mehr Kompressen!“ Halfdan warf einen verstohlenen Blick auf die kleine, ruhige

Gestalt am Instrumententisch. Ihre Augen waren aufmerksam auf den Patienten und auf Brattholms Hände gerichtet. Nichts ließ darauf schließen, daß sie angesichts des Blutes und der freigelegten Eingeweide auch nur die kleinste Schwäche zeigte.

Wie war das möglich? War es das, womit sie sich in all diesen Jahren beschäftigt hatte? Und weshalb?

Mit einemmal stand ihm der ganze Zusammenhang sonnenklar vor Augen. Um seinetwillen hatte sie das getan. Um seinetwillen, um alles in Frostviken Vorgefallene zu sühnen – um sich seiner und seiner Liebe würdig zu erweisen! „Noch mehr Pinzetten, Schwester!“

Wie er sie liebte! Er hatte oft davon geträumt, wie sich das Wiedersehen mit ihr gestalten würde. Aber in seinen verrücktesten Träumen hatte er es sich nicht so gedacht, daß sie in einem Operationssaal einander gegenüberstehen würden, ohne miteinander zu reden, arbeitend, alle Nerven angespannt, um ein Menschenleben zu retten.

Und er konnte nichts weiter sehen als ein Stückchen von ihrer Stirn und dann die Augen – die dunklen, schimmernden samtbraunen Augen.

Halfdan setzte die Pinzetten ein. Jeder Griff saß. Hier handelte es sich um Sekunden, und nicht eine Sekunde wurde vergeudet.

Plötzlich starrten sie beide den Chef an. Er atmete schwer. Eirin sah, daß Schweißperlen auf seiner Stirn standen.

Halfdan fiel es ein, daß der Chef kurz vorher drei Zigarren hintereinander geraucht hatte – und im Operationssaal war es stickig. Brattholm verfärbte sich. „Das Messer, Schwester.“

Halfdan verdoppelte seine Aufmerksamkeit. Brattholm war von einem Unwohlsein befallen, das war nicht zu verkennen. Und das mitten in der Operation!

Jetzt öffnete er die Wunde bis in die Tiefe. Die beschädigte Niere lag bloß, und das Blut spritzte. Eirin bekam eine Dusche über den Arm und die Hand. Sie verzog keine Miene. „Schwester, bitte – “

Brattholm hatte das Messer aus der Hand gelegt. Er riß die Maske herunter, er verdrehte die Augen, holte tief Luft und sank auf einen weißen Schemel nieder.

Halfdan hatte im Nu den Platz des Chefs eingenommen, und Eirin den von Halfdan. Das Blut sprudelte aus der Wunde. Eirin gab einen einzigen kurzen Bescheid: „Schwester Kirsten, bitte an meinen Platz!“ Die andere Helferin, die kleine Schwester Eva, mußte Hilfe holen. Brattholm wurde hinausgebracht.

Obwohl Halfdan unverzüglich den Platz des Arztes übernommen hatte, waren einige kostbare Sekunden verlorengegangen. Der Blutverlust des Patienten war groß. Halfdan und Eirin arbeiteten fieberhaft und verbissen. Gefäßklammern wurden angelegt, die Nierengefäße abgebunden. Halfdan band, Eirin stand mit der Schere bereit und schnitt. Sie arbeiteten, als hätten sie jahrelang zusammen in einem Operationssaal gestanden. Keine zwei Worte wurden gewechselt. Sie verstanden einander, lasen gegenseitig ihre Gedanken. Eirin gab Schwester Kirsten hier und da eine kurze Anweisung. Halfdan verlangte ein Instrument. Eirin sagte: „Ganz rechts“ – „Links von dem Haken“ –, das Instrument wurde hingereicht, und die Operation nahm ihren Fortgang.

Die zerstörte Niere konnte entfernt werden. Als Eirin sie in ihre behandschuhte Hand nahm und das blutige, warme menschliche Organ einen Augenblick vor sich hinhielt, da stand vor Halfdan das Bild, wie er sie das letzte Mal gesehen hatte: Als sie den Sterilisator mit einem Schrei fallen ließ und das Weite suchte, weil sie kein Blut und keine Knochensplitter sehen konnte.

Wie hatte er sie doch genannt: „Hysterisches Frauenzimmer“ – „verhätschelte Zimperliese“ –, er wurde rot unter der Maske.

Eirin sah es. Und mitten in der Gemütsbewegung, mitten bei der Arbeit, mitten in dem brennenden Schmerz, in dem Bewußtsein, daß er, den sie liebte, einer anderen gehörte, empfand sie einen befreienden Stolz. Sie wußte, was er jetzt dachte. Ihre große Stunde war gekommen: Sie hatte sich vor seinen Augen bewährt! Sie hatte gleichzeitig gewonnen und verloren. Seine Achtung hatte sie wieder – aber es hatte sie ihr Lebensglück gekostet.

Die Wunde war geschlossen. Halfdan konnte jetzt von seiner Spezialität Gebrauch machen – dem „Kunststopfen“. Eirin hielt die Schere bereit und schnitt die Fäden ab.

Im Operationssaal war es still. Nur der schwere, röchelnde Atem des Patienten war zu hören.

Der letzte Stich war gemacht, der Faden abgeschnitten. Halfdan verband mit leichten, geübten Händen. Dann war alles vorüber.

Er ließ sie vor sich durch die Tür in den Waschraum hinausgehen. Jetzt kam die Reaktion. Sie zitterte so, daß sie kaum die Maske ablegen konnte. Sie stülpte die blutigen Handschuhe herunter und riß Schürze und Kappe ab.

Da fühlte sie, wie sich zwei Hände auf ihre Schultern legten. Sie wurde umgedreht, und nun – nun hatte sie Halfdans Gesicht ganz dicht vor dem ihren. „Eirin.“

Und mit einemmal war ihr, als ob der Fußboden unter ihren Füßen wegglitt, wie ein Blitz schlug es in sie ein – wie –, ja, wenn sie später an diesen Augenblick zurückdachte, konnte sie nie Worte dafür finden. Denn Halfdans Augen verrieten ihr in einem einzigen Blick alles, was sie wissen wollte. Sie kündeten von einer grenzenlosen Treue, von einer Liebe, die niemals sterben konnte – sie erzählten, daß er nie auch nur eine Sekunde daran gedacht hätte, sie im Stich zu lassen. Alle Gerüchte, Vermutungen und Behauptungen verloren sich wie Wolken vor dem Wind. Sie wußte, daß er zu ihr gehörte, nur zu ihr – seit jener Frühlingsnacht, als sie zusammen vom Atelierfest nach Hause gingen –, für alle Zeit. „Halfdan!“

Dann lag sie in seinen Armen, und es war, als sollte sie in lauter Glück ertrinken -

23 Doktor Brattholm saß im Bett, durch Kissen gestützt. Neben ihm standen Halfdan und Eirin.

„Sie sind wahrhaftig der tollste Bursche, der mir je vorgekommen ist!“ rief Brattholm und schlug auf die Bettkante. „Erst rückten Sie mir aus, nachdem Sie mich so verwöhnt haben, daß ich seitdem mit keinem Assistenten mehr zufrieden war; dann fallen Sie plötzlich vom Himmel, retten mir ein Menschenleben und legen da eine Operation hin, auf die jeder erfahrene alte Chirurg stolz sein könnte. Und dann erklärt der Unmensch mir kurz und bündig, daß er wieder ausrücke und mir meine rechte Hand mitnehme! Gehen Sie dahin, wo der Pfeffer wächst, wenn Sie wirklich müssen, Hoek, aber Schwester Lise, die lassen Sie gefälligst hier, wo sie ist! Der Teufel möge Sie holen! Da laufe ich rum und denke, Sie sind verheiratet, und dann – “

Halfdan lachte. „- und dann arbeitet der Herr Kollege selbst mit der zusammen,

die meine Frau sein sollte. Herr Doktor Brattholm, ich habe mich vier lange Jahre nach dieser unnützen kleinen Person fast zu Tode gesehnt. Und jetzt, da ich sie endlich gefunden habe-“

„-da wollen Sie sie nicht herausrücken. Ja, staunen Sie nur! Das kapiere ich sogar. Aber was zum Kuckuck wollen Sie in Frostviken? Bleiben Sie doch hier! Ich erhebe durchaus keinen Einspruch dagegen, wenn meine Operationsschwester verheiratet ist. – Wie schon gesagt, Hoek, ich kann einen Oberarzt brauchen – das heißt, ich finde keinen; aber wenn ich Sie kriegen kann, dann – “ Brattholm lächelte zwar, sah aber plötzlich sehr müde aus.

„Hören Sie, Hoek, jetzt bin ich ernst. Setzen Sie sich mal, und hören Sie dem alten Brummelbären zu. Sie sind selbst so viel Arzt, genug, um einzusehen, daß es nicht nur die drei Zigarren waren, die mich da umgeschmissen haben. Das war so ein erster kleiner Warnschuß vor den Bug, mein Junge; vergessen Sie nicht, ich bin ein alter Mann. Sie verstehen, Hoek, ich habe keine Lust, diese meine schöne Klinik zu verlassen. Außerdem geht sie gut! Aber so ist es doch im Leben: Wenn der Tag kommt, werden wir nicht gefragt, was wir verlassen wollen und was nicht. Wenn ich abtreten soll, dann gehe ich eben – aber es wäre mir ein Trost zu wissen, daß meine Arbeit von jemandem fortgesetzt wird, der – nun ja, der würdig ist, sie nach mir zu übernehmen. Sie werden zugeben, Hoek,

daß ich ein guter Chirurg bin, nicht wahr? Nun also, wenn ich wüßte, daß Sie und das verflixte Mädel da wollen – “ Brattholms Augen wanderten fragend von Halfdan zu Eirin und wieder zurück.

„Sie dürfen überzeugt sein“, begann Halfdan, und seine Stimme klang etwas gequält, „daß ich mich freuen würde, wieder ordentliche Arbeitsverhältnisse zu finden und mich der Chirurgie zu widmen. Und hier Oberarzt zu sein scheint mir geradezu ideal. Aber da ist nur das eine, Herr Kollege – ich habe jetzt vier Jahre auf dieses eigensinnige Ding gewartet, und nun will ich heiraten, ehe ich wieder in den Norden fahre – doch, doch, ich muß noch mal hinauf, denn ich habe nur für einen Monat eine Vertretung genommen, und meine Frau will ich mitnehmen.“

„Das begreife ich als Mensch. Als Arzt bin ich schwer enttäuscht, daß Sie mir meine Operationsschwester wegnehmen wollen. Sie haben ja selbst erlebt, Hoek, wie tüchtig sie ist. Sie hat nicht mit der Wimper gezuckt, als ich schlappmachte, und Ihnen sofort assistiert, hörte ich.“

Halfdan nickte lächelnd, wurde aber gleich wieder ernst: „Stimmt, Herr Dr. Brattholm! Sie ist tüchtig. Deshalb paßt sie

auch ausgezeichnet zu mir.“ „Aber so verstehen Sie doch, daß wir die Sache regeln müssen!

Oder wie ist es, Schwester Lise – wollen Sie auf Biegen und Brechen nach Frostviken zurück?“

„Sie werden es schwerlich nachempfinden können, Herr Oberarzt, aber das möchte ich gern! Ich habe da oben zu viel wiedergutzumachen, denn ich war ein riesengroßer Schafskopf, als ich mich in Frostviken als Sprechstundenhilfe versuchte. Natürlich möchte ich am allerliebsten hierbleiben, zumal wenn ich in meinem Beruf bleiben könnte, auch wenn ich verheiratet bin.“

„Gut! Es geht also nur darum, eine Vertretung zu beschaffen, bis Ihre Kündigung in Kraft tritt, Hoek. Jetzt gehen Sie mal in mein Sprechzimmer, da finden Sie Papier und Umschläge und Tinte und Feder. Sie kündigen auf der Stelle Ihr Amt da oben in Frostviken, und dann strengen wir unsere weisen Häupter ein bißchen an, um eine Vertretung für Sie zu finden. Wäre doch gelacht, wenn wir nicht einen frischen jungen Arzt auftreiben könnten, der gewillt ist, drei Monate seines Lebens für Geld und gute Worte in Frostviken zu verbringen!“

Wenn Eirin an diese Wochen zurückdachte, meinte sie, das Glück habe sich plötzlich nur ihr und Halfdan zugewandt.

Sie entsann sich des langen Gespräches, das sie beide gleich am ersten Abend nach der Operation im Sprechzimmer des Chefs geführt hatten.

Wie war es nur zugegangen, daß die Gerüchte von der „verdammt hübschen Sprechstundenschwester“ bis zu ihr gedrungen waren? Weshalb hatte Randers nach seiner Frau gefragt? Das waren die Fragen, auf die Eirin zuerst eine Antwort haben wollte. Halfdan lachte.

„Dir fehlt wahrlich jede Phantasie, liebes Mädchen! Kam es dir denn nicht einen Augenblick in den Sinn, daß du mit der ,verdammt hübschen Sprechstundenschwester’ gemeint sein konntest? Ich war doch stolz auf dich, und wenn ich Briefe schrieb, damals, als du noch in Frostviken warst, dann kann es schon sein, daß ich gern erwähnte, welch eine ausgezeichnete Sprechstundenschwester ich hätte – “

„Da hast du’s – die Liebe macht blind! Und dabei war ich so ein Dummkopf!“

„Nicht immer, mein Kind! Du warst manchmal sehr tüchtig. Aber du wirst verstehen, daß ich keine Lust hatte, unsere Unstimmigkeiten in alle Welt hinauszuposaunen: Also habe ich auch nichts Gegenteiliges über meine Sprechstundenhilfe ausgesprochen, nachdem du uns verließest. Und das mit der Heirat, mein Gutes, alle meine Kollegen wußten doch, daß ich mit einem jungen Mädchen zusammen auszog, das ich heiraten wollte! Also lag es doch nahe, daß man annahm, ich sei längst verheiratet. Nicht wahr?“

Eirin mußte zugeben, daß das alles sehr einleuchtend war. „Aber du, Halfdan – erzähl mir nun ein bißchen über – über

Schwester Vera.“ Als Halfdan ihre fragenden Augen und den gespannten Ausdruck

in ihrem Gesicht bemerkte, ging ihm plötzlich ein großes Licht auf. „Eirin! Eirin! Weißt du noch, was ich an dich schrieb, als du in

Trondheim warst?“ „Ja“, flüsterte sie. „Du schriebst, daß du mich immer liebhaben

würdest – was auch geschehe.“ „Das schrieb ich, ja – und dann läufst du herum und glaubst, ich

hätte dich versetzt, nur weil du hörst, ich hätte eine neue Sprechstundenschwester bekommen! Schämst du dich nicht, Eirin?“

„Doch – “ Sie versteckte das errötende Gesicht an seiner Schulter; dabei schielte sie zu ihm hinauf. „Wie ist denn Schwester Vera?“

Sie verbarg wieder ihr Gesicht, so daß sie Halfdans Miene nicht sehen konnte, als er antwortete:

„Schwester Vera? Ganz bezaubernd. Zweiundzwanzig, groß und schlank – blaue Augen – lockiges Haar – sehr tüchtig in ihrer Arbeit – durch und durch Sportsmädel – wir haben viele herrliche Skitouren zusammen gemacht.“

„Ach-!“ „Sie singt und spielt ausgezeichnet, hilft Tante Bertha im

Haushalt – ja, was ist sonst noch über sie zu sagen –, ach ja, sie hat literarische Interessen, ihre große Vorliebe sind historische Romane.“

„Genau wie du!“ entfuhr es Eirin. „Ja, denk dir, traf sich das nicht glücklich? O ja, Schwester Vera

ist tatsächlich ein Fund!“ Eirin saß ganz still. In ihr nagte und bohrte es und tat weh. War

es nun wieder dumm von ihr, wenn sie Halfdan nicht zugestand, mit einer anderen Frau befreundet zu sein? Konnte man Schwester Vera einen Vorwurf machen, weil sie blaue Augen hatte und lockiges Haar und weil sie tüchtig war, anziehend und klug? Warum aber mußte es so weh tun, wenn man sich das vorstellte?

Eirin richtete sich auf und schüttelte die Locken, wie es ihre Art war, wenn sie eine Sache durchdacht hatte und zu einem Schluß gekommen war.

„Du, Halfdan! Ich bin zwar ein Schaf gewesen, aber das bin ich jetzt nicht mehr. Ich habe keinen Grund, eifersüchtig zu sein. Ich bin froh, daß du Schwester Vera diese ganze Zeit über gehabt hast, und ich freue mich darauf, sie kennenzulernen!“

„Und mich freut es, daß du es so ansiehst, Eirin.“ „Ich verstehe gut, daß du Schwester Vera sehr schätzt. Und ich

will nicht eifersüchtig sein. Selbst wenn du ihr Bild in der Tasche mit dir herumtragen würdest – “

„Das tue ich tatsächlich“, lächelte Halfdan. Er holte sein Notizbuch heraus und suchte darin herum. „Schau her – du kannst es ruhig sehen. Wie findest du sie?“

Eirin griff mit unsicherer Hand nach dem kleinen Amateurfoto, das er ihr reichte.

Es stellte eine Frau in Schwesterntracht dar. Das Bild war vor dem Sprechzimmer aufgenommen: eine kleine Frau mit einem sanften, sympathischen, runzligen Gesicht und weißen Haaren. Die Figur war breit und kräftig, fast zu dick.

„Ja, aber – “ Eirin blickte fragend auf Halfdan. Er grinste von einem Ohr zum anderen.

„Du warst tapfer, Eirin, als du dich selber zwangst, nicht eifersüchtig zu sein. Tröste dich! Schwester Vera ist dreiundfünfzig Jahre alt und eine sehr tüchtige Krankenschwester. Vor einigen Jahren hat sie einen Unfall gehabt und ist nicht mehr gut auf den Beinen. Darum kann sie an keinem Krankenhaus mehr angestellt werden. So nahm ich sie denn in Dienst. Sie kann weder singen noch spielen, sie hat auch nie einen historischen Roman gelesen. Aber sie ist ein prachtvoller Kerl und hat sich mit Tante Bertha sehr gut angefreundet. So, bist du nun beruhigt?“

„Ach, Halfdan – “ Sie schaute verstohlen in sein Gesicht. „Du – Halfdan! Du hast gesehen, daß ich die Probe bestand. Hast du schon daran gedacht, daß ich vielleicht etwas zu beichten habe aus all diesen Jahren?“

Da hielt Halfdan sie von sich ab und sah sie voll an: „Wenn irgendein Mann dich auch nur mit dem kleinen Finger angerührt hat und ich in Erfahrung bringe, wer es war, dann zerreiße ich ihn bei lebendigem Leibe!“

„Aber, Halfdan!“ „Ich werde ihn-!“ „Aber Halfdan! Bist du denn eifersüchtig?“ „Und ob! Ich dulde es nicht, daß ein anderer Mann dich auch nur

ansieht, daß du es weißt. Jawohl, ich bin eifersüchtig. Ich bin ein Egoist, und ich habe die Absicht, es auch zu bleiben. Du garstiges, unnützes Ding hast mich jahrelang gequält – und jetzt wunderst du dich, daß ich dich ganz für mich allein haben will, nachdem ich dich endlich wiedergefunden habe? Ich weiß nicht, wozu ich mehr Lust habe, dir eine Tracht Prügel zu geben oder dich zu küssen! – Ich will dich auf alle Fälle jede Minute meines Lebens ganz für mich allein haben – “

Eirin schloß die Augen und fühlte, wie ein unendliches Glück über sie kam. -

Sie ließ es sich nicht nehmen, das Telegramm an Tante Bertha selbst aufzusetzen und abzuschicken. Es war nicht gerade in korrektem Telegrammstil gehalten, aber es lautete jedenfalls so, daß Tante Bertha ins Sprechzimmer stürzte und Schwester Vera jubelnd umarmte.

„Liebe Tante Bertha – stop – Du mußt Deinen natürlichen Widerwillen gegen Flugzeuge überwinden – stop – wenn Du noch

rechtzeitig zu Halfdans und meiner Hochzeit kommen willst – stop – liebe Grüße Deine glückliche Eirin.“

Sie waren in Fredriks Haus zu Gast: Eirin, Halfdan, Stoff er Gard, Schwester Ilse und Schwester Doris. Es ging lustig zu. Stoffer erklärte jedem, der es hören wollte, Eirin hätte besser getan, ihn zu wählen. Gleichzeitig aber schien er sich lebhaft und mit unverhohlener Begeisterung für Schwester Ilse zu interessieren. Halfdan amüsierte sich über Stoffer. Was er da alles schwatzte in seiner entwaffnenden jungenhaften, treuherzigen Art, konnte man ihm nicht übelnehmen.

Fredrik war merkwürdig still. Als aufmerksamer, vollendeter Gastgeber achtete er sorgsam darauf, daß Tassen und Gläser gefüllt wurden.

Es blieb nicht aus, daß sie auf Halfdans und Eirins Zukunftspläne zu sprechen kamen, was mit Frostviken werden würde und ob es gelänge, einen Vertreter zu finden.

Fredrik stellte einige Fragen, verstummte dann aber wieder. Im Laufe des Abends richtete er es so ein, daß Stoffer, Ilse und

Doris sich im Nebenzimmer um das Radio setzten und er mit Halfdan und Eirin allein zurückblieb.

„Wenn ich dir damit einen Gefallen tun kann, Halfdan, dann übernehme ich gerne die Vertretung für dich da oben. Wenn du meinst, daß ich dazu zu brauchen bin.“

„Du, Fredrik? Du willst nach Frostviken gehen?“ Halfdan war überrascht. Aber Eirin hatte etwas in Fredriks

Augen gelesen, etwas, daß nur sie verstand. „Das ist famos von dir, Fredrik“, sagte sie warm. „Du tust uns

einen sehr großen Gefallen damit!“ „Das ist ja nett“, sagte Fredrik. Er lächelte. „Wohlsein, ihr

beiden! Wohlsein, Halfdan! Du bekommst die Frau aller Frauen! Zum Wohl, Lise – du bekommst einen Mann, auf den du stolz sein kannst.“

Seine Augen hingen an den ihren, während sie sich zutranken. Und Eirin wußte, wie sie diesen Blick zu deuten hatte:

Ich habe etwas gutzumachen, sagte dieser Blick, ich will es wenigstens versuchen.

Eigentlich hatten Halfdan und Eirin gar nicht die Absicht, eine Hochzeit zu veranstalten. Aber wie das so ging: Sie kannten beide eine Anzahl Menschen, die sie gern eingeladen hätten. Und ehe sie sich’s versahen, hatten sie Räumlichkeiten im „Bristol“ gemietet.

Eirin probierte ihr weißes Kleid an. Doris, Inga, Ilse und drei von den Schwestern in Brattholms Klinik waren zu Brautjungfern bestimmt, Marit Claussen erbot sich als Eirins Brautführerin. Halfdans Kollegen hielten es für eine Selbstverständlichkeit, eingeladen zu werden – und eins, zwei, drei war eine Hochzeitsgesellschaft beisammen von über zwanzig Gästen.

Dr. Brattholm fühlte sich gewissermaßen als Eirins Schwiegervater. Er führte Tante Bertha zu Tisch, und sie waren schnell auf gleicher Wellenlänge. Zu seiner Linken saß Frau Dr. Claussen, und zwischen dieser und Schwester Agathe hatte Dr. Randers seinen Platz.

Es war eine gediegene Hochzeit, und die Stimmung ging hoch. Der einzige Stille war Fredrik Branstad, der gute Freund des

Brautpaares, der ihnen den großen, uneigennützigen Dienst erweisen wollte, für drei Monate in das gottverlassene Frostviken zu gehen. Alle, die Dr. Branstad kannten, fanden, er habe sich in den letzten Wochen verändert. Er war sympathischer geworden – nicht mehr so lümmelhaft und von sich eingenommen wie sonst. Um den schönen Mund spielte ein ernsterer Zug, und ein neuer, nachdenklicher Ausdruck lag in den funkelnden Augen.

Frau Dr. Claussen konnte den Blick nicht von der Braut wenden. Wie sie vor Glück leuchtete, die Schwester Lise!

Frau Dr. Claussen sah sie wieder vor sich: die kleine ängstliche, müde Lernschwester, die sie sicher viele Male heruntergeputzt hatte. Sie erinnerte sich an die traurigen, brennenden Augen, als Schwester Lise ihren berühmten Schnitzer mit Frau Ervik gemacht hatte und um Verzeihung bat – gedachte der frohen, warmherzigen Krankenschwester, die ihrer Kollegin Kaffee ans Bett bringen wollte – sah noch das Morgenfrühstück vor sich, das Schwester Lise an jenem Sonntagmorgen hergerichtet hatte. Und sie erinnerte sich an das verzweifelte bleiche Geschöpf, das auf einer Bank im Garten des Krankenhauses gesessen und sein bitteres Los beklagt hatte.

Frau Dr. Claussen fing Eirins Blick ein. „Zum Wohl, Schwester Lise!“ – Und mit einem

entschuldigenden Lächeln zu Halfdan gewandt: „Sie müssen entschuldigen, Doktor Hoek, aber für uns wird Ihre

Frau immer die Schwester Lise bleiben. Wir können uns nicht dazu verstehen, ,Frau Hoek’ zu sagen, und noch weniger ,Schwester Eirin’. Nicht wahr, ihr anderen -?“ Marit Claussen blickte reihum.

„Wir wollen uns doch das Recht ausbitten, weiterhin Schwester Lise sagen zu dürfen.“

Frohe, freundliche Blicke flogen zu der Braut hinüber. Halfdan sah in all diese glänzenden Augenpaare. Vorgesetzte und Kollegen, alle scharten sich um sein kleines Mädchen. In ihren Augen lagen Bewunderung, Liebe, Freundschaft. – Halfdan war glücklich. Wie war sie beliebt, die kleine Eirin! Alle waren ihre Freunde.

Der Sekt perlte in den Gläsern. Eirin erhob das ihre, und ihre Augen waren blank vor Freude, als sie alle Freunde mit ihrem Blick umfing.

Es funkelte in den geschliffenen Gläsern, es leuchtete in fröhlichen jungen Gesichtern.

„Zum Wohl, Schwester Lise!“ Da wußte Eirin, dies war ein Ehrentitel, ein Name und Titel

zugleich, den sie sich erarbeitet und erweint und erlitten hatte – ein bescheidener kleiner Titel zwar, aber wieviel Kampfund Mühe standen dahinter! – Und jetzt machte es sie glücklich und stolz, daß sie ein Recht auf ihn hatte… Schwester Lise!