5
P. Heintzen „SCIENTOMETRIE“ Maß und Zahl in WISSENSCHAFT und WIRTSCHAFT Z Kardiol 90:978–982 (2001) © Steinkopff Verlag 2001 HAND AUFS HERZ Redaktion: Prof. Dr. Paul Heintzen Birkenweg 112 24211 Preetz „Nach Golde drängt, Am Golde hängt Doch alles. Ach wir Armen!“ J.W. v. Goethe 1 HAND AUFS HERZ; liebe Kolleginnen und Kollegen, haben Sie schon einmal etwas über die „Wissen- schaft von der Wissenschaft“, von der Scientometrie 2 gehört? Woran denken Sie bei einer solchen Thema- tik? Der Begriff der „Metrie“ könnte vielleicht einige von Ihnen an den Festvortrag: „Maß und Zahl in Kunst und Kardiologie“ erinnern 3 , der inzwischen 12 Jahre zurückliegt. Die heutige Variante „Maß und Zahl in Wissenschaft und Wirtschaft“ trifft den Kern der Sache. Dabei geht es um nüchterne, mathemati- sche Betrachtungen, diesmal mit bemerkenswerten Analogien zwischen wissenschaftlicher und wirt- schaftlicher Produktivität und ihren fach- und all- gemeingesellschaftlichen Konsequenzen. Die Einen, mit denen ich sympathisiere, denken bei diesem Vergleich wahrscheinlich zunächst – oder träumen zumindest davon –, dass die Wissenschaft möglichst frei und unabhängig von wirtschaftlichen Interessen und Interventionen sein und bleiben möge. Das gilt leider uneingeschränkt nur noch für den freien Flug der Gedanken. Die Idealisten schwär- men zwar noch von einer solchen Freiheit der For- schung und es berührt sie peinlich, dass auch die Wissenschaft und Wirtschaftsförderung, auf Geld und Machtstrukturen angewiesen ist, wenn die Ideen zu Taten werden sollen. Aber man darf dabei Nietz- sches Mahnung nicht vergessen, dass Die Taten (auch) zum Verräter der Ideen werdenkönnen, wenn durch die Verlockungen des Geldes, durch fal- schen Ergeiz und durch manche Versuchung mehr, die Sorgfalt, Geduld, und Gewissenhaftigkeit auf der Strecke bleiben. Dazu eine kurze Anekdote: Denn die heraufbeschworenen Versuchungen erinnerten mich an ein Erlebnis in meiner Studentenzeit, nämlich an die Warnung eines Gastprofessors in Düsseldorf, eines Dermatologen, vor der Teleologie (nicht Theologie!), die man sinngemäß auf die Ver- suchung durch Geld und Macht übertragen könnte. Er verglich die Teleologie mit „gewissen Damen“ auf deren „Zuwendungen“ man nur schweren Herzens verzichten möchte, mit denen man sich aber nicht gerne in der Öffentlichkeit zeigt! Ein weiser und beher- zigenswerter Rat für jeden zu forschen und forschungswilligen Studenten! Ich hatte ihn jedenfalls nicht vergessen. Die Anderen, die Realisten, finden die Verflechtung von Wirtschaft und Wissenschaft ganz natürlich und notwendig, jedenfalls keineswegs anstößig. Aller- dings kann es jenseits einer gewissen Grenze auch für sie ärgerliche Abhängigkeiten geben, wenn die kreativen und schöpferischen Kräfte der Wissen- schaft von inkompetenten, fachfremden Funktionä- ren kontrolliert, gegängelt und fremdbestimmt wer- den. Um alles das geht es hier aber gar nicht. Es war nur – sozusagen als Präambel – ein persönliches, „professorales Bekenntnis“ 4 . Denn hier soll von ganz anderen, interessanten und bemerkenswerten Bezie- hungen, ja sogar von Gemeinsamkeiten zwischen Wissenschaft und Wirtschaft – die ja in den „Wirt- schaftswissenschaften“ sogar eine Symbiose einge- 1 FAUST I, Z. 2802-5 2 Wenn es um das Publikationswesen geht auch BIBLIOMETRIE genannt 3 Z Kardiol 78, Suppl 7:1–18 (1989) 4 Wiederum ein „Pleonasmus“, zu deutsch: „doppelt gemoppelt“

„SCIENTOMETRIE” Maß und Zahl in WISSENSCHAFT und WIRTSCHAFT

  • Upload
    paul

  • View
    215

  • Download
    3

Embed Size (px)

Citation preview

P. Heintzen „SCIENTOMETRIE“Maß und Zahl in WISSENSCHAFTund WIRTSCHAFT

Z Kardiol 90:978–982 (2001)© Steinkopff Verlag 2001 HAND AUFS HERZ

Redaktion:Prof. Dr. Paul HeintzenBirkenweg 11224211 Preetz

„Nach Golde drängt,Am Golde hängtDoch alles. Ach wir Armen!“

J.W. v. Goethe1

HAND AUFS HERZ; liebe Kolleginnen und Kollegen,haben Sie schon einmal etwas über die „Wissen-schaft von der Wissenschaft“, von der Scientometrie 2

gehört? Woran denken Sie bei einer solchen Thema-tik? Der Begriff der „Metrie“ könnte vielleicht einigevon Ihnen an den Festvortrag: „Maß und Zahl inKunst und Kardiologie“ erinnern 3, der inzwischen12 Jahre zurückliegt. Die heutige Variante „Maß undZahl in Wissenschaft und Wirtschaft“ trifft den Kernder Sache. Dabei geht es um nüchterne, mathemati-sche Betrachtungen, diesmal mit bemerkenswertenAnalogien zwischen wissenschaftlicher und wirt-schaftlicher Produktivität und ihren fach- und all-gemeingesellschaftlichen Konsequenzen.

Die Einen, mit denen ich sympathisiere, denkenbei diesem Vergleich wahrscheinlich zunächst – oderträumen zumindest davon –, dass die Wissenschaftmöglichst frei und unabhängig von wirtschaftlichenInteressen und Interventionen sein und bleibenmöge. Das gilt leider uneingeschränkt nur noch fürden freien Flug der Gedanken. Die Idealisten schwär-men zwar noch von einer solchen Freiheit der For-schung und es berührt sie peinlich, dass auch die

Wissenschaft und Wirtschaftsförderung, auf Geldund Machtstrukturen angewiesen ist, wenn die Ideenzu Taten werden sollen. Aber man darf dabei Nietz-sches Mahnung nicht vergessen, dass „Die Taten(auch) zum Verräter der Ideen werden“ können,wenn durch die Verlockungen des Geldes, durch fal-schen Ergeiz und durch manche Versuchung mehr,die Sorgfalt, Geduld, und Gewissenhaftigkeit auf derStrecke bleiben.

Dazu eine kurze Anekdote:Denn die heraufbeschworenen Versuchungen erinnerten mich anein Erlebnis in meiner Studentenzeit, nämlich an die Warnungeines Gastprofessors in Düsseldorf, eines Dermatologen, vor derTeleologie (nicht Theologie!), die man sinngemäß auf die Ver-suchung durch Geld und Macht übertragen könnte. Er verglich dieTeleologie mit „gewissen Damen“ auf deren „Zuwendungen“ mannur schweren Herzens verzichten möchte, mit denen man sichaber nicht gerne in der Öffentlichkeit zeigt! Ein weiser und beher-zigenswerter Rat für jeden zu forschen und forschungswilligenStudenten! Ich hatte ihn jedenfalls nicht vergessen.

Die Anderen, die Realisten, finden die Verflechtungvon Wirtschaft und Wissenschaft ganz natürlich undnotwendig, jedenfalls keineswegs anstößig. Aller-dings kann es jenseits einer gewissen Grenze auchfür sie ärgerliche Abhängigkeiten geben, wenn diekreativen und schöpferischen Kräfte der Wissen-schaft von inkompetenten, fachfremden Funktionä-ren kontrolliert, gegängelt und fremdbestimmt wer-den.

Um alles das geht es hier aber gar nicht. Es warnur – sozusagen als Präambel – ein persönliches,„professorales Bekenntnis“ 4. Denn hier soll von ganzanderen, interessanten und bemerkenswerten Bezie-hungen, ja sogar von Gemeinsamkeiten zwischenWissenschaft und Wirtschaft – die ja in den „Wirt-schaftswissenschaften“ sogar eine Symbiose einge-

1 FAUST I, Z. 2802-52 Wenn es um das Publikationswesen geht auch BIBLIOMETRIEgenannt3 Z Kardiol 78, Suppl 7:1–18 (1989)

4 Wiederum ein „Pleonasmus“, zu deutsch: „doppelt gemoppelt“

gangen sind – die Rede sein. Es geht nämlich um ei-nen spezifischen Vergleich zwischen allgemeinwis-senschaftlichen, auch kardiologischen, und wirt-schaftswissenschaftlichen Gesetzen und Verhaltens-mustern, den „Gesetzen der wissenschaftlichen undwirtschaftlichen Produktivität“, die zum Nachdenkenanregen.

Ich knüpfe dabei an eine fast vergessene Analyseder wissenschaftlichen Aktivitäten an, die das Publi-kationsverhalten auf unseren Jahrestagungen zumGegenstand hatte. Das Ergebnis wurde 1997/98 imInformationsblatt unserer Gesellschaft unter dem Ti-tel „Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung“5

publiziert und blieb nicht ohne Folgen. Sie mögensie in angenehmer oder unangenehmer Erinnerunghaben. Überraschend war – zumindest für diesefachbezogene, kardiologische Analyse – eine ver-meintliche neue und offensichtlich ungeklärte Ge-setzmäßigkeit komplexer Natur und sicher auch mul-tifaktorieller Genese, die allerdings mathematischformuliert und reproduziert werden konnte und inden Abb. 1a und b noch einmal graphisch dargestelltist.

Zwischen der Zahl der Vorträge (N), an denenein Autor oder Coautor beteiligt war, und der Zahlder Personen (P), die bei N-Vorträgen als Autoren

oder Coautoren firmierten, bestand ein mathemati-scher Zusammenhang, der durch eine inverse (hy-perbolische) Potenzfunktion mit einem Exponentenim Nenner von �2,2 beschrieben werden konnte(P=const/N2,2 oder const/N–2,2). So waren beispiels-weise 2208 Personen (P) 1997 je einmal an einemVortrag (N=1), dagegen nur 16 einzelne Personen(P=1) an mehr als 20 bis maximal 59 Beiträgen alsAutoren oder Coautoren beteiligt.

Die daraus folgerichtige Einführung der „Zehner-regel“ beschränkte die Beteiligung auf 10 Vorträgepro Person und Tagung und führte zu einer auf-schlussreichen Veränderung des Publikationsverhal-tens in unserer Gesellschaft (Abb. 1b).

Überraschend gewann diese alte Problematik jetzterneut an Aktualität und eröffnete neue, interessanteund „kolumnenreife“ Perspektiven. Denn eine Wochevor der „dead-line“ flatterte mir eine Publikation aufden Schreibtisch, die die Goethe’sche Erkenntnis be-stätigte:

„Wer kann was Dummes, wer was Kluges denken,Das nicht die Vorwelt schon gedacht?“

Es vergingen 5 Jahre bis ich von Herrn Kollegen On-nasch auf Arbeiten aufmerksam gemacht wurde, diedie damaligen Untersuchungen in einen größerenZusammenhang stellen, sie zu einer Variante eineruniversellen Gesetzmäßigkeit machen, deren Gültig-

979P. Heintzen„SCIENTOMETRIE“ Maß und Zahl in WISSENSCHAFT und WIRTSCHAFT

5 Eine Formulierung, die auf eine Komödie von Christian DietrichGrabbe (1801–1836) zurückgeht

N=Zahl der Beitrage eines Autors oder CoautorsP=

Zah

lder

Per

sone

n,di

ean

NB

eitr

agen

bete

iligt

sind

Abb. 1a Darstellung der Beziehung zwischen der Anzahl der Beiträge (N)eines Autors (x-Achse) und der Anzahl der Autoren (P=Personen) auf dery Achse, die an N-Beiträgen beteiligt waren, im doppelt logarithmischen Ko-ordinatensystem. Man beachte, dass jeweils nur wenige einzelne Personen(P=1) mit mehr als 16 und bis zu 48 Beiträgen und 2 Personen (P=2) mitje 30 Beiträgen vertreten waren. Dageben gab es 1845 Autoren oder Coauto-ren, die nur einen Beitrag lieferten. Die Steigung der Geraden ist von derGesamtzahl der Beiträge unabhängig, was aus den niedrigeren absolutenZahlen der Herbsttagung hervorgeht. Zwei Autoren erreichten dennoch einenMaximalwert von 13 Vortragsbeteiligungen

N=Zahl der Beitrage eines Autors oder Coautors

Abb. 1b In das Diagramm der Abb. 1 a sind die Daten der Frühjahrstagung1997 (FT’97), eingetragen, die praktisch mit denen vom Vorjahr (FT’96) zu-sammenfallen. Nach Einführung der „Zehnerregel“, d. h. der Begrenzung derTeilnahme als Autor und/oder Coautor an maximal 10 Vorträgen, bricht dieRegressionsgerade FT’98 bei N=10 ab. Sie verläuft nicht mehr parallel zuallen bisherigen Geraden und ist deutlich angehoben (flacher), da der Expo-nent der Potenzfunktion auf 1,75 abgefallen ist. Der Zuwachs an Personenmit 10 Beiträgen ist – unter Berücksichtigung der logarithmischen Darstel-lung – um knapp 300% gestiegen und fällt in den niedrigen Rängen (N=2)auf +30% ab

P=

Zah

lder

Per

sone

n,di

ean

NB

eitr

agen

bete

iligt

sind

keit weit über unser Fachgebiet hinausreicht, sodassdie oben anschließenden Goethe’schen Zeilen zutref-fen:

Doch sind wir auch mit diesem nicht gefährdet,In wenig Jahren wird es anders sein:

Wenn sich der Most auch ganz absurd gebärdet,Es gibt zuletzt doch noch e’ Wein. 6

Seit der schottische Moralphilosoph Adam Smith(1723–1790), Vater der Wirtschaftswissenschaftenund Professor für Logik an der Universität von Glas-gow, schon im 18. Jahrhundert die Ursachen undVerteilung des Wohlstandes kritisch hinterfragte, ha-ben in seinem Gefolge Ökonomen und andere Wirt-schaftswissenschaftler, aber auch Sprachforscher, In-formatiker und Physiker auf ähnliche Beziehungenhingewiesen. Sie wurden als Pareto-Verteilung,hauptsächlich in den Wirtschaftswissenschaften, alsLotkas Gesetz u.a. in der Produktivitätsanalyse undWissenschaftspublizistik, als Zipf ’sche Gesetze, inden Sprachwissenschaften und im Siedlungsverhaltenamerikanischer Bürger sowie generell als „Power-law“ im Anglo-amerikanischen Schrifttum und derBibliometrie bekannt. Sie wiesen auf eine fundamen-tale Gesetzmäßigkeit hin, die – auf einen kurzenNenner gebracht – darin besteht, dass alles, wasmessbar groß ist, nur selten vorkommt. Was dage-gen klein ist, tritt häufig in Erscheinung.

Eine Trivialität? Keineswegs! Es hat jedoch langegedauert, bis man dieses Phänomen in Maß undZahl, in mathematische Regeln gefasst hat, und da-durch auch in der Lage war, vergleichende wissen-schaftliche Untersuchungen anzustellen.

Zu den augenfälligsten und auch provozierendstenBeobachtungen dieser Art gehörten die wirtschafts-wissenschaftlichen Erhebungen und die daraus her-geleiteten Theorien, die tief in die sozialen Verhält-nisse hineinleuchteten und die Basis für heftigeideologische Diskussionen und Kontroversen wur-den. Was fast alle wussten – oder zumindest ahntenund was auch heute noch gilt – bestätigten dieseAnalysen in Maß und Zahl, nämlich: dass einer ver-gleichsweise kleinen Zahl an sehr Reichen, an Multi-millionären und Milliardären, eine riesengroße Zahlan Armen auf der Welt gegenüber steht. Wieweitdiese materiellen Verhältnisse, wie Macht und Ein-fluss, auch auf die anderen Lebensbereiche und Wis-sensgebiete, auf geistige Machtstellung und intellek-tuelle Dominanz übertragen werden können, reizt zuvorurteilsfreien Vergleichen und macht unsere Unter-suchungen nun besonders interessant. Es gilt aberauch hier der wichtigste Grundsatz, dass die be-

schreibende, formale Analyse eines Sachverhaltes,primär keine Werturteile einschließen sollte. Sie fol-gen natürlich fast zwangsläufig, oft ideologisch ge-färbt und überzogen. So hat schon vor Jahrhunder-ten der erwähnte Pionier dieses Wissenszweiges,Adam Smith, die Frage gestellt, wie und unter wel-chen Bedingungen der Eigennutz – der gemeinhinals Egoismus und Unmoral verschrieen ist – mora-lisch sein kann. Er vertrat die – für einen Moralphi-losophen erstaunlich moderne – Meinung, dass „dieBefreiung des Eigennutzes aus dem ,Gefängnis derUnmoral‘ zu einer Entfesselung jener Kräfte führenkann, die das Wohl aller, eben der Nationen und allerMenschen in ihnen – besorgen kann“. Passt das nichtzur Philosophie unserer liberal-demokratischen,emanzipierten Wohlstands- und Spaßgesellschaft? Eskönnte einer aktuellen Bundestagsdebatte entnom-men sein? 7

Adam Smith folgten der Schweizer Volkswirt-schaftler Marie Esprit Leon Walras (1834–1910) undsein Nachfolger in Lausanne, der italienische Sozio-loge und Volkswirt Vilfrido Pareto (1848–1923). Siealle und auch die Wortführer unserer Tage8 auf demGebiet der Scientologie waren keine Mediziner. So-mit schwammen wir mit unserer Erhebung einsam,unwissend und unbekannt im „Kielwasser“ derScientologen. Vielleicht liefern wir auch deshalb –soweit ich sehe – einen zusätzlichen, bisher unbe-achteten Beitrag.

Denn was keine demokratische Macht oder Regie-rung fertig brächte, ist unserer Gesellschaft gelun-gen. Dazu aber vorab noch einmal zurück zu denZahlen: Das Grundphänomen besteht darin, dassvielen kleinen Dingen, Phänomenen oder Ereignis-sen wenig große gegenüberstehen, als da sind: Ein-kommen, Vermögen, Größe und Wachstum vonStädten und Gemeinden, häufige kurze oder wenigelange Worte in literarischen Texten, kleine und gro-ße Vortrags- oder Publikationszahlen und manchesmehr. Diese Gesetzmäßigkeit, diese Verteilungs-modalität entspricht nicht einer Gauss’schen Normal-verteilung, sie findet ihren mathematischen Aus-druck in Potenzfunktionen: (bitte dennoch weiterle-sen)

Y=k/x1 bzw. Y=k/x2 oder allgemein Y=k/xn

Man kann sie natürlich auch allgemein so: Y=k–n

oder so: Y· xn =k schreiben, wobei k eine Konstante,Y die analysierte Größe oder Häufigkeit der Mess-werte und x die Zahl der „Betroffenen“ ist.

980 Zeitschrift für Kardiologie, Band 90, Heft 12 (2001)© Steinkopff Verlag 2001

6 FAUST II, Z. 6809/14

7 Ich enthalte mich jeder politischen Stellungnahme8 Derek J. de Solla Price (1963): Little Science, Big Science. Co-lumbia University Press. Deutsch: Suhrkamp Verlag 1974. Sieheauch W. Umstätter, Institut für Bibliothekswissenschaften, Hum-boldt-Universität Berlin. (www.ib-hu-berlin.de)

Graphisch erscheinen diese Funktionen im dop-pelt logarithmischen Koordinatensystem als Geradenmit unterschiedlicher Steigung (Abb. 2). Je größerder Exponent im Nenner, umso steiler die Kurve.Charakteristische Beispiele aus der Literatur sind inAbb. 3a,b als Referenz wiedergegeben. Die ersteAnalyse von Publikationsdaten wurde 1926 von Lot-ka 9 durchgeführt und griff auf Veröffentlichungeneinzelner, renomierter Autoren aus dem 17. undfrühen 18. Jahrhundert zurück (s. Abb. 3a,b). DieseErgebnisse decken sich, bei einem Exponenten von2,0, fast genau mit dem Exponenten 2,18 unserer Be-funde aus den Jahren 1996/97!

Pareto beschäftigte sich u.a. mit dem „Kreislaufder Eliten“ und entwickelte ein Gesetz über die Ein-kommensverhältnisse, das über lange Zeit und für vie-le Länder Gültigkeit behielt und durch den Exponen-ten 1,5 im Nenner einen flacheren Funktionsverlaufim doppelt logarithmischen Koordinatensystem zeigt(s. Abb. 2). Schließlich fand George Kingsley Zipf,

Harvard Professor für Linguistik, Beziehungen zwi-schen der Größe von Gemeinden und Städten sowieihrer Häufigkeit und Wachstumsgeschwindigkeit inden USA (s. Abb. 3b). In gleicher Weise zeigte er beiTextanalysen eine Beziehung zwischen der Häufigkeitdes Vorkommens oder der Länge der Wörter und ihrerRangfolge auf, die einer Hyperbelfunktion folgten,d.h. einem Gesetz mit der Potenz 1 im Nenner.

Unsere Untersuchungen folgen weitgehend diesenGrundgesetzen, wenngleich sie den höchsten relati-ven Anteil kleiner Werte d.h. viele Autoren mit nureinem Beitrag – was immer das bedeutet – aufzeigt.

Während man aber in allen anderen Studien kei-ne Reaktion auf drastische Veränderungen der Vertei-lungen untersuchen konnte, liegt darin die Besonder-heit unserer Analyse.

Es wäre ja praktisch unmöglich – sozusagen ex-perimentell – beispielsweise die Vermögensverhält-nisse und -strukturen ganzer Nationen kurzfristig ineinem Maße zu verändern, wie es die „Zehnerregel“bewirkt hat. Was würden die Reichen machen, wo-hin würden sie flüchten oder auswandern, wennman ihnen ihre Einkommensquellen – sagen wir bei10 Millionen – abschneiden oder die Steuern undAbgaben entsprechend erhöhen würde?

Die abrupte Einführung der „Zehnerregel“ warein entsprechender Eingriff in die Publikations-gepflogenheiten auf unseren Kongressen. Was machtunter solchen Verhältnissen ein „intellektuellerKrösus“? Könnte er ein Modell für sozialistische Ex-perimente abgeben? Oder haben sich die zugrunde-liegenden Theorien bzw. Ideologien in der politi-schen Wirklichkeit nicht schon – ohne Scientometrie– in den letzten Jahrzehnten selbst ad absurdumgeführt? Die aktiven „publizistisch wohlhabenden“Kardiologen haben jedenfalls einen vernüftigerenAusweg gesucht und gefunden, wie die Analyse un-serer Daten aus dem Jahre 1998 zeigt (s. Abb. 1b).Die Steigung der Kurve ist zwar nicht ganz auf dasPareto-Niveau abgesunken, der Exponent hat sichauf einen Mittelwert von 1,75 eingestellt, wobei die„Gesamtproduktivität“ von 2208 auf 2522 Beiträge(vergleichbar dem Bruttosozialprodukt) d.h. um14% zugenommen hat. Die FT98-Funktion hat sichaber nicht parallel verschoben, wie beim Vergleichder Frühjahrs- und Herbsttagungen oder beimStädtewachstum (s. Abb. 3b). Das „intellektuelleGroßkapital“ mit Beteiligung an sehr vielen „Unter-nehmen“ hat sich zum „Mittelstand“ hin verschobenoder geflüchtet und dessen Beteiligung am „Gesamt-kapital“ deutlich angehoben. Dabei waren aber – umin der Sprache der Ökonomen zu bleiben – dieÄrmsten (P=1) noch nicht am Gewinn beteiligt,wenngleich sich die Kluft zwischen den Extremenverringert hat. Es könnte natürlich auch an mangeln-der Eigeninitiative liegen.

981P. Heintzen„SCIENTOMETRIE“ Maß und Zahl in WISSENSCHAFT und WIRTSCHAFT

Abb. 2 Im doppelt logarithmischen Koordinatensystem erscheinen Potenz-funktionen als Geraden unterschiedlicher Steigung und Richtung. Bei negati-ven Exponenten verlaufen sie von links oben nach rechts unten. Eingezeich-net sind die Funktionen, die die am häufigsten auftretenden Verteilungenvon Daten wiedergeben, die ein „reziprokes“ Verhalten zeigen, weil das Pro-dukt aus y und dem Funktionswert von x konstant ist. Nimmt die eine„Größe“ zu, so wird die andere kleiner und umgekehrt. Es sind die in derScientometrie häufigen Verteilungsfunktionen, nach Zipf, Pareto und Lotka –für die im Text und in Abb. 3 Beispiele gegeben sind – mit unseren Unter-suchungsergebnissen verglichen

POTENZFUNKTIONENfür die verschiedenen Verteilungsgesetze

So schön und verlockend für manch einen dieseParabel (nicht die y=2p ·x1/2) auch erscheinen mag,so würde ich sie doch nicht – als ein auf fremdemHohheitsgebiet verirrter Alt-Kardiologe – den Wirt-schaftsweisen als Allheilmittel zur Nachahmung ver-ordnen. Das liefe ja auf eine weitgehende Enteignungder materiellen, nicht der geistigen Kapitaleigner hi-naus. Ob das die rechte Medizin für unsere, zur Re-zension tendierende Wirtschaft wäre? Ober ob es dochnur die Fluchtwege in die Steueroasen beleben würde?Aber zum Nachdenken ist ein solches Modell viel-leicht durchaus geeignet und anregend. Ich wäre jaschon zufrieden, wenn es zum Schmunzeln ausreichenwürde und vielleicht doch auch zu der ÜberlegungAnstoß gäbe, ob nicht auch für uns Mediziner undKardiologen eine stärkere Beschäftigung mit der Wis-senschaft von der Wissenschaft, der Scientometrie auf-

schlussreich und nutzbringend sein könnte. Vielleichtkann mancher junge Nachwuchsforscher aus solchenAktivitäten dann sein Kapital schlagen?

Nach dieser frohen Botschaft zur Weihnachtszeitfühle ich mich doch bemüßigt, Ihnen meine gutenWünsche und nicht nur meinen habituellen Ab-schiedsgruß: Hony soit qui mal y pense eineNummer größer zu entbieten, sondern – in Fort-führung der oben zitierten Goetheverse – mit derbangen Frage an Sie abzuschließen:

„Ihr bleibt bei meinen Worten kalt?Euch guten Kindern laß ich’s gehen;

Bedenkt: der Teufel, der ist alt,So werdet alt, ihn zu verstehen!“

IhrPaul Heintzen

982 Zeitschrift für Kardiologie, Band 90, Heft 12 (2001)© Steinkopff Verlag 2001

Abb. 3a,b Zwei Beispiele für die in der Literatur beschriebenen Vertei-lungsfunktionen. a Daten aus dem ersten Indexband der Philosophical Trans-actions of the Royal Society of London aus dem 17. und frühen 18. Jahr-hundert (�) und Daten aus dem Zehnjahresindex der Chemical Abstractsvon 1907–1966 (�) über die Zahl der Publikationen (x-Achse) und dieZahl der Autoren (y-Achse), die in diesem Zeitraum 1,2 oder 10 Aufsätzeveröffentlicht haben. Die Gerade folgt der Funktion y=100/x2 und entsprichtdamit weitgehend unseren Befunden. (Aus: Lotka AJ (1926) The frequencydistribution of scientific productivity. J Washington Acad Science 16,317).

b Größenverteilung und Wachstum amerikanischer Gemeinden und Städtevon 1790 bis 1930. Orte mit mehr als 2500 Einwohnern wurden nach ihrerGröße in Tausend Einwohnern (y-Achse) und der Häufigkeit dieser Größe(x-Achse) in Zeitabständen von einem Jahrzehnt dargestellt. Bemerkenswertist die parallele Verschiebung der Kurven, die im Mittel einer einfachen Hy-perbelfunktion entsprechen, d. h. y=1/x bzw. x · y=konstant. Der Parallelver-schiebung der Kurven in fast gleichen Schritten pro Jahrzehnt liegt im dop-pelt logarithmischen Koordinatensystem ein exponentielles Städte=Bevölke-rungswachstum zugrunde. (Aus Zipf GK (1949) Human behavior and the prin-ciple of least effort. Cambridge, Mass)

2,5