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Senke der verlorenen Seelen

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ATLAN 13 – Senke der verlorenen Seelen

Nr. 312

Senke der verlorenen Seelen von Horst Hoffmann

Sicherheitsvorkehrungen haben verhindert, daß die Erde des Jahres 2648 einem Überfall aus fremder Dimension zum Opfer gefallen ist. Doch die Gefahr ist durch die energetische Schutzschirmglocke nur eingedämmt und nicht bereinigt worden. Der Invasor hat sich auf der Erde etabliert – als ein plötzlich wiederauf-getauchtes Stück des vor Jahrtausenden versunkenen Kontinents Atlantis. Atlan, Lordadmiral der USO, und Razamon, der Berserker – er wurde beim letzten Auftau-chen von Atlantis oder Pthor auf die Erde verbannt und durch einen »Zeitklumpen« relativ unsterblich gemacht – sind die einzigen, die den »Wölbmantel« unbeschadet durchdringen können, mit dem sich die geheimnisvollen Leiter der Invasion ihrerseits vor ungebetenen Gästen schützen. Und so landen Atlan und Razamon an der Küste von Pthor, einer Welt der Wunder und der Schrecken. Das Ziel der beiden Männer, zu denen sich inzwischen der Fenriswolf ge-sellt hat, ist, die Herren der FESTUNG, die Beherrscher von Pthor, aufzuspüren und schachmatt zu setzen, auf daß der Menschheit durch die Invasion kein Schaden erwach-se. Atlans und Razamons bisherige Wege auf Pthor sind voller Schrecken und Gefahren ge-wesen – nun wartet eine neue Bedrohung auf sie in der SENKE DER VERLORENEN SEELEN ...

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Die Hauptpersonen des Romans: Atlan und Razamon – Ihr Weg führt sie in die Senke der verlorenen Seelen. Dölbe – Ein Wesen aus der Sippe der Kröppel. Heinzkoor und Gryp – Herren der Senke der verlorenen Seelen. Sirkat – Ein junger Techno, der die Macht zu erringen sucht.

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PROLOG

Irgendwo im östlichen Zipfel von Pthor be-

fand sich der Sitz der mysteriösen Herren des Gebildes, das auf seiner endlosen Reise durch die Dimensionen ein weiteres Mal die Erde heimgesucht hatte. Die FESTUNG war von der übrigen Insel vollkommen abgeschirmt. Kein normaler Pthorer hatte je einen der Herren zu Gesicht bekommen. Ebensowenig wußten sie über die Natur der FESTUNG. Jene, die eine Schlüsselrolle auf Pthor spiel-ten, empfingen die Anweisungen von dort ü-ber mannigfache Kanäle, die die Anonymität der Herrscher gewährleisteten.

Auf die gleiche Weise gelangten die Infor-mationen aus allen Teilen der Insel in die FESTUNG. Meist waren es Routinemeldun-gen, Daten, die mit der Wanderung des Di-mensionsfahrstuhls zusammenhingen. Nur selten kam es vor, daß eine Meldung derart aus dem Rahmen fiel, um die besondere Auf-merksamkeit der Herren der FESTUNG zu erregen oder sie gar in Unruhe zu versetzen.

Eine solche Meldung war vor mehr als drei Wochen aus Wolterhaven, dem Rechenzent-rum Pthors, gekommen. Die Robot-Bürger hatten die Vermutung geäußert, daß mögli-cherweise Eindringlinge auf die Insel gelangt sein könnten. Sofort angestellte Hochrech-nungen hatten diesen Verdacht bestärkt und die Herren der FESTUNG in noch größere Erregung versetzt.

Seit der Materialisation auf dieser Welt ar-beiteten die Herrscher fieberhaft an einer Möglichkeit, die Schirme zu durchbrechen, die sie daran hinderten, die Apokalypse auf die Erde zu tragen. Mit jedem Tag ohne Er-folg verstärkte sich die Unruhe.

Auch der nach ein paar Tagen von Wol-terhaven kommende Spruch konnte das Mißtrauen der Herrscher nicht beseitigen. Die Robot-Bürger hatten darin erklärt, daß ihr Verdacht unbegründet gewesen wäre.

Die Herren der FESTUNG gaben sich da-mit nicht zufrieden. Sie aktivierten das Wache Auge, um Aufschluß über die Vorgänge auf Pthor zu erhalten. Darüber hinaus alarmier-ten sie Koy, den Trommler.

Der Trommler empfing den Befehl und brach von Aghmonth im äußersten Osten der

Insel auf, um die Jagd auf die eventuell anwe-senden Fremden zu eröffnen. Koy, der Trommler, hatte noch jedes Mal sein Opfer gefunden und gestellt.

Die Herren der FESTUNG wandten sich wieder der eigentlichen Aufgabe zu. In der Ebene Kalmlech warteten die Horden der Nacht ungeduldig darauf, sich endlich über die Welt jenseits der Energiebarriere ergie-ßen zu können.

1.

Der Angriff kam völlig überraschend und

vermittelte mir einen Vorgeschmack auf das, was uns auf dem Weg zum Taamberg erwar-ten würde. Gleichzeitig geschah etwas, das meine düsteren Vorahnungen noch verstärkte.

Ich stand über die hölzerne Reling der DEEHDRA gelehnt und versuchte, in der einsetzenden Dunkelheit etwas vor uns aus-zumachen.

Wenn uns hier auf dem See Gefahr drohte, dann rechnete ich mit einem Angriff aus dem Wasser.

Als ich die schweren Flügelschläge hörte, war es bereits zu spät. Noch während ich her-umwirbelte, fühlte ich mich am Kragen der kombinierten Leder-Pelz-Bekleidung gepackt und verlor den Boden unter den Füßen. Ich griff instinktiv zum Messer, der einzigen Waffe, die uns nach dem Verlust der Sker-zaals noch geblieben war, und hieb blindlings auf das ein, was mich hochzuziehen versuch-te. Ein Blick nach oben zeigte in dem schwa-chen Licht der Dämmerung nur ein paar riesi-ge Lederschwingen.

Ich traf einen der beiden Krallenfüße. Ein schrilles Pfeifen und ein Schlag des mächti-gen Schnabels der Riesenfledermaus war die Antwort.

»Razamon!« schrie ich halbbetäubt. Der Atlanter befand sich mit Fenrir in dem hütten-artigen Aufbau der Dschunke, um nach Nah-rungsmitteln, Trinkwasser und Waffen zu suchen.

Ich erhielt keine Antwort. Dafür tauchte vor mir ein zweites Monstrum auf. Die Fleder-maus hatte eine Spannweite von mindestens drei Metern und krallte ihre Klauen in meine Hüfte. Ein neuer Schlag mit dem Rachen des

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ersten Angreifers traf meine Hand. Ich schrie auf und ließ das Messer fallen. Immerhin hat-te ich wieder Boden unter den Füßen. Ich mußte das Biest also empfindlich getroffen haben.

»Razamon!« Wieder keine Antwort. Ein paar schnelle

Flügelschläge des Monstrums in meiner Hüfte ließen mich taumeln. Ich krachte der Länge nach auf das Deck und hielt beide Hände schützend vor das Gesicht, um den Hieben der Tiere zu entgehen.

Ich war ohne Waffe. Wo blieb der Atlan-ter?

Meine Hände wurden von drei schnellen Schlägen der riesigen Schnäbel getroffen und bluteten heftig. Allein hatte ich keine Chance. Wenn ich einen der Angreifer packen wollte, entblößte ich das Gesicht.

Plötzlich prallte noch etwas anderes auf uns. Der Fenriswolf!

Ich spürte, wie eines der Biester von mir abließ. Als das andere wieder zuschlug, pack-te ich seinen Hals. Ich kam auf die Beine. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich, wie Fen-rir seinen Gegner an der Gurgel hatte.

Irgendwie bekam ich das Messer wieder in die Hand. Mit ein paar kräftigen Hieben ge-lang es mir, die Riesenfledermaus zu erledi-gen. Ich kam keuchend auf die Beine und sah mich nach Fenrir um. Er hatte blutende Wun-den an der Seite, die ihm die Krallen des Monstrums geschlagen hatten, das jetzt um sein Leben kämpfte. Ich sprang hinzu und machte der Bestie ein Ende. Fenrir hatte nicht allzuviel abbekommen. Seine Wunden waren nicht weiter schlimm.

Mein Blick suchte die Luft ab. Vorläufig schienen keine weiteren Tiere in der Nähe zu sein.

»Wo ist Razamon?« fragte ich. Fenrir hob seinen mächtigen Wolfsschädel und begann leise zu knurren. Ich starrte ins Halbdunkel des Hütteneingangs, konnte aber nichts er-kennen.

Plötzlich hörte ich ein lautes Poltern, das aus dem Schiffsinnern zu kommen schien. Dann erklang ein markerschütterndes Ächzen, gleich darauf Splittern von Holz.

Fenrir fletschte die Zähne. Sein Körper spannte sich, während seine Augen gebannt

am Eingang des Aufbaus hingen. Ich wußte, was los war. Razamon hatte einen seiner furchtbaren

Anfälle. Ich hatte gelernt, daß es besser war, ihn in solchen Augenblicken allein zu lassen. Niemand konnte ihm helfen. Obwohl wir nun schon seit Wochen zusammen dieses unfaßba-re Land durchquerten und dabei vielen Gefah-ren hatten trotzen können, kannte ich den Ge-fährten immer noch zu wenig.

Wieder erklang das Stöhnen, und bevor ich ihn daran hindern konnte, sprang Fenrir auf und verschwand im Eingang der Hütte. Ich zögerte keine Sekunde, obwohl ich noch schwach auf den Beinen war. Fenrirs Verhal-ten hatte mich alarmiert.

Der hüttenartige Aufbau hatte eine recht-eckige Grundfläche von etwa acht mal sechs Metern. Ich hatte mich kaum darin umgese-hen, das hatte ich Razamon überlassen. Wich-tiger war, die DEEHDRA zu manövrieren.

Überall standen große Kisten herum. Einige von ihnen waren umgestoßen worden, und ich mußte klettern. Ich rief nach dem Fenriswolf, erhielt aber keine Antwort. Plötzlich war alles totenstill.

Meine Augen gewöhnten sich langsam an das Dunkel. Von irgendwoher kam ein schwaches Licht.

Ich entdeckte die Luke erst, als ich über den Stapel umgestürzter Kisten gestiegen war. Sie mußte von ihnen blockiert gewesen sein. Of-fenbar hatte Razamon sie freigelegt. Sie führ-te in den eigentlichen Schiffskörper hinein und war gerade groß genug für einen ausge-wachsenen Mann. Das Licht kam von unten.

Ich zögerte. Ich hatte Razamons Anfälle oft genug erlebt, um zu wissen, wozu er fähig war. Wenn es über ihn kam, kannte er sich selbst nicht mehr. Das ganze wilde Erbe sei-ner Vorfahren brach dann in ihm durch.

Aber dann hörte ich das leise Wimmern, in das sich Fenrirs Winseln mischte. Ich igno-rierte die Warnungen des Extrasinns, der mich zurückhalten wollte, und stieg über morsche Holzstufen in den Schiffsleib. Ich befand mich in einem Gang, der gerade hoch genug für mich war. Zu beiden Seiten waren Türen.

Das Licht kam von vorne, wo der Gang vor zwei flachen Stufen endete. Ich schlich vor-sichtig weiter und erreichte eine Art Kombü-

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se. Die Tür war gewaltsam aus der Veranke-rung gerissen worden.

Es war ein gespenstisches Bild. Im fla-ckernden Lichtschein eines Talglichts sah ich umgestürzte Tische, Stühle und Vorratskisten, aus denen unbekannte Früchte auf den Holz-boden gerollt waren. Hier hatte ein Berserker gewütet.

Aus den Augenwinkeln nahm ich eine Be-wegung wahr. Fenrir stand im offenen Ein-gang zu einem weiteren Raum und sah mich an. Ich kannte diesen Blick.

Wieder meldete sich mein Extrasinn, dies-mal stärker. Es war unverantwortlich, das Deck zu verlassen.

»Razamon!« Ich hatte keine Antwort erwartet. Trotzdem

fühlte ich das Unbehagen förmlich meinen Rücken hinaufkriechen. Den Angriff der Fle-dermäuse hatte ich längst vergessen. Das war eine greifbare Bedrohung gewesen. Dies hier war etwas völlig anderes.

Ich gab mir einen Ruck und trat über die kleine Schwelle. Wie erwartet, fand ich mich in einem Vorratsraum wieder. Große Kisten waren bis an die Decke gestapelt. Zwei Talg-lichter erhellten den Raum.

Zwischen zwei aufgebrochenen Kisten lag der Atlanter. Razamon befand sich zitternd, alle viere von sich gestreckt, am Boden und starrte mich an. Ich wollte mich über ihn bü-cken, um ihm zu helfen, als Fenrir mich am Ärmel packte und zurückhielt.

Die Augen des Gefährten waren fast aus den Höhlen getreten. Vor seinem Mund stand Schaum.

Laß ihn! Du kannst ihm nicht helfen! Für einen Moment war ich hilflos. Was

ging mit Razamon vor? War es die Nähe sei-ner ehemaligen Heimat am Fuß des Taam-bergs? Brach das böse Erbe in dem Pthorer durch?

Fenrir zerrte mich zurück in die Kombüse. Ich sah noch das schmerzverzerrte Gesicht Razamons, dann drehte ich mich um.

Im gleichen Augenblick wurde ich zur Sei-te geschleudert. Fenrir stieß ein wütendes Heulen aus. Wieder fuhr ein Ruck durch das Schiff. Irgend etwas rammte die Dschunke.

Ich vergaß Razamon und stürmte in den Gang.

*

Wazraal fühlte sich erleichtert. Er wußte,

daß er das Monstrum an der Oberfläche mit seinen Stößen nicht besiegen konnte. Trotz-dem mußte er von Zeit zu Zeit seinen Haß entladen.

Wazraal tauchte und wartete auf seine Chance.

Das hölzerne Monstrum trieb weiter auf den Rand des Sees zu. Bald würde es die fla-cheren Zonen erreichen. Wazraal mußte war-ten, er zwang sich zur Besonnenheit.

Es war nicht leicht, den lodernden Haß auf die Wesen zu unterdrücken, die seine Gefähr-tin gemordet hatten. Er würde sie verfolgen und die tote Gefährtin rächen. Dann würde Wazraal selbst sterben.

*

Der Spuk war so schnell vorbei, wie er ge-

kommen war. Das Deck war leer, und auf der Seeoberfläche war außer den hochspringen-den Fischen nichts zu sehen.

Es war jetzt dunkel. Die DEEHDRA war von Nebelbänken umgeben. Ich holte das Se-gel ein. Zwar ging nur ein schwacher Wind, aber ich hatte keine Lust, während der Nacht zu nahe an die Flußmündung zu geraten. Wie nahe wir schon waren, hatte das Auftauchen der Fledermäuse gezeigt.

Nach einer halben Stunde hatte ich die Dschunke unter Kontrolle. Sie stand jetzt re-gungslos im See. Vielleicht konnte ich ein paar Stunden schlafen. An die Rammstöße dachte ich nicht mehr. Irgendeine Kreatur, die das Gift im See verrückt gemacht hatte.

Plötzlich stand Razamon neben mir. »Wir haben Glück gehabt«, sagte der At-

lanter übergangslos und reichte mir eine me-lonenähnliche Frucht.

Ich nahm sie und musterte ihn unauffällig. Razamon wirkte völlig normal, als habe er nie einen Anfall gehabt.

»Was hast du unten gefunden?« »Genug Nahrung für Wochen, außerdem

Stoffe für uns und einen saftigen Braten für Fenrir.«

»Stoffe?«

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»Ganze Gewänder.« Ich sah an mir herab. Wir hatten wirklich

neue Bekleidung nötig. Wir trugen nur noch Fetzen am Leib.

Razamon schien erst jetzt meine Schram-men zu bemerken. Auf seine entsprechende Frage hin zeigte ich ihm die beiden Riesen-fledermäuse, die ich in einer Ecke hinter dem Steuer verstaut hatte. Er betrachtete sie lange, sagte aber nichts.

Wir warfen die Tiere über Bord. Sie waren kaum im Wasser, als sich die Fische auch schon um die Beute rissen.

Die Furcht hatte mich hungrig gemacht. »Gehen wir hinein«, sagte ich und zeigte

auf die Hütte. »Vor dem Morgen können wir nichts mehr tun.«

Razamon nickte. Er führte mich zur Luke und in den Gang hinab. Je länger ich ihn beo-bachtete, desto sicherer wurde ich, daß er ü-berzeugt davon war, mir etwas Neues zu zei-gen.

Sämtliche umgestürzten Kisten waren wie-der an ihrem Platz und sauber gestapelt. Wir aßen Früchte und getrocknetes Brot. Fenrir hockte auf dem Kombüsenboden und ver-speiste die Reste eines großen Vogels, der wie ein Schwan aussah.

Danach zeigte Razamon mir in einem klei-nen Lagerraum einige Truhen mit Kleidern und Schmuck. Die früheren Besitzer der Dschunke mußten wahre Schätze transportiert haben.

Uns genügten die Kleider. Sie waren aus Leinen und bunt. Außerdem fanden wir neue Schnürstiefel und breite Ledergürtel. Völlig neu eingekleidet verließen wir nach einer hal-ben Stunde den Raum.

Wir hatten ein Schiff, Kleider und Nah-rung. Was wir nicht fanden, waren Waffen, und, was noch wichtiger gewesen wäre, Was-ser.

Razamon zeigte mir die Räume neben der Kombüse. Er hatte sich überall umgesehen. Schließlich beschlossen wir, bis zur Morgen-dämmerung zu schlafen. Fenrir hielt Wache.

Der Atlanter schlief bereits, als ich mich noch mit den bohrenden Fragen herumschlug. Razamon wirkte vollkommen unbefangen, für meine Begriffe zu gelöst. Irgend etwas ging in ihm vor, und ich hatte keine Ahnung, was es

war. Außer der erzwungen wirkenden Ruhe war

es noch etwas, das mich stutzig gemacht hat-te.

Razamon hatte mir alle Räume gezeigt – mit Ausnahme von einem. Es war mir nicht entgangen, wie geschickt er von der Tür abge-lenkt hatte.

2.

Als ich aufwachte, war es draußen schon

hell. Das Licht fiel durch winzige Luken in der Schiffswand, die mir vorher nicht aufge-fallen waren.

Razamon war nicht mehr an seinem Lager. Ich sah mich kurz um. Wir hatten uns als

Quartier einen der Mannschaftsräume ausge-sucht, der ebenfalls mit allerlei Kisten vollge-stopft war. Gorzohn und seine Kumpane muß-ten wirklich ein kleines Vermögen geladen haben. Ich konnte noch nicht ahnen, daß der wirkliche Schatz der Pthorer, die dem tücki-schen Gift des Sees zum Opfer gefallen wa-ren, ganz anderer Natur war.

Die DEEHDRA schlingerte leicht. Ich stand auf und machte mich in der Kombüse frisch, soweit es die Umstände zuließen. Dann stieg ich an Deck.

Razamon stand am Steuer und wandte mir den Rücken zu. Er hatte wie ich neue Kleider an, deren kunstvoll eingestickte Muster ich erst jetzt bei Licht erkannte.

»Morgen!« brummte ich, als ich neben den Atlanter trat.

Razamon nickte mir zu. Er wirkte frisch und tatendurstig.

»Dort vorne«, sagte er nur und streckte die Hand aus. Jetzt konnte ich den Uferstreifen sehen. Und genau vor uns lag das Mündungs-delta des Regenflusses.

Ich stieß eine Verwünschung aus, als ich die Klippen sah. Es würde nicht leicht sein, die Dschunke in den Fluß zu steuern.

Razamon hatte das Segel am Heck der DEEHDRA aufgezogen. Der Mechanismus war nicht kompliziert. Der Wind war etwas stärker geworden und trieb uns auf das Delta zu.

Mir imponierte, wie der Atlanter die Dschunke sicher steuerte. Trotzdem nahm ich

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mir vor, wachsam zu sein. Razamons und meine Ziele waren größtenteils identisch. Uns beiden ging es darum, einen Weg zu den mys-teriösen Herren dieser Welt zu finden. Nur so bestand eine Chance, das Unheil von der Erde abzuwenden. Ich hatte immer weniger Hoff-nung auf Hilfe von außen.

Mit jedem Tag wurde mir klarer, daß wir auf uns selbst gestellt waren. Aber bisher war es nicht einmal gelungen, auch nur das ge-ringste über die Drahtzieher zu erfahren. Sie waren von einer undurchdringlichen Mauer des Schweigens und der panischen Furcht umgeben.

Razamon wollte Rache an ihnen nehmen. Unsere Ziele deckten sich, auch wenn die Motive unterschiedlich waren. Aber im Mo-ment sah es so aus, als dächte er nur noch daran, so schnell wie möglich zum Taamberg am Ende des Flusses zu gelangen, wo seine Familie einst gelebt hatte.

Ich verdrängte die Gedanken. Vor uns la-gen die Klippen und Stromschnellen des rie-sigen Deltas. Razamon stand mit unbewegter Miene am Steuer. Neben ihm lag die Karte, die wir beim ersten flüchtigen Durchsuchen der gekaperten DEEHDRA gefunden hatten. Ich konnte sehen, daß er Markierungen einge-tragen hatte. Die Karte war in Pthora abge-faßt, so daß wir keine Mühe hatten, sie zu lesen.

Razamon wollte die DEEHDRA selbst in den Fluß steuern.

Vor uns tauchten die ersten Klippen auf. Das Wasser wurde unruhiger. Ich bezweifelte, daß das Segel allein stark genug war, um uns die nötige Fahrt zu verleihen, die wir brauch-ten, um gegen die Strömung anzukommen. Die Ruder konnten wir vergessen. Sie waren nur für stilles Wasser gedacht.

Die DEEHDRA begann zu schaukeln. Die Klippen kamen gefährlich nahe. Wir waren viel zu schnell!

»Vorsicht!« schrie ich Razamon zu, als ge-nau vor dem Bug ein spitzer Fels drei Meter hoch aus dem Wasser ragte. Der Atlanter hielt genau darauf zu!

»Bist du verrückt geworden?« Ich wollte das Steuer packen, aber Raza-

mon stieß mich zur Seite, daß ich gegen die Reling taumelte. Dann ging alles blitzschnell.

Razamon riß das Steuer herum. Die DEEHDRA ächzte und legte sich einen Au-genblick lang quer.

»Halt dich fest!« brüllte der Atlanter. Das Wasser spritzte über die Reling und klatschte ihm ins Gesicht. Mit Bärenkräften hielt er das Steuer fest und stemmte sich dagegen. Ich kam mit Mühe auf die Beine.

Die Klippe! »Du sollst dich festhalten!« fluchte Raza-

mon. Ich griff nach der Holzreling und blieb, wo ich war. Das Wasser spritzte mir in die Augen. Wie durch Schleier sah ich, wie der Fels haarscharf an uns vorbeizog. Aber es war zu spät. Die DEEHDRA würde mit dem Heck auflaufen.

Razamon kämpfte wie ein Wilder gegen die Strömung. Jetzt sah ich weitere Klippen. Wir befanden uns unmittelbar vor einer Barriere. Die Dschunke wurde wild herumgeschleudert.

Ich beugte mich über die Reling und sah die Klippen kommen. Panik ergriff mich. Ei-nen Augenblick lang glaubte ich, wieder die teuflischen Fratzen im schäumenden Wasser zu uns heraufstarren zu sehen. Die Sonne verwandelte die Oberfläche in ein gleißendes Mosaik der Hölle.

Jetzt waren wir vor der Barriere. Die Dschunke wurde noch einmal herumge-schleudert, genau auf den großen Felsen zu. Ich schloß die Augen. Razamon brüllte wie-der etwas, das ich nicht verstand.

Plötzlich erhielt die Dschunke einen hefti-gen Stoß von unten.

Sie wurde förmlich in die Höhe geworfen. Ich flog quer über das glitschige Deck und prallte mit dem Kopf gegen das Steuer.

Das letzte, was ich wahrnahm, waren Ra-zamons Hände, die das große Rad wie mit Eisenklammern umfaßten.

*

Als ich zu mir kam, spürte ich minutenlang

nur meinen Brummschädel. Dann mischten sich andere Geräusche in das Dröhnen im Kopf.

Dschungelgeräusche! Aber das war unmög-lich!

Ich öffnete die Augen und sah die Ranken-gewächse, die sich zu beiden Seiten in den

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Himmel schoben. Langsam und unter Schmerzen kam ich auf die Beine. Ich befand mich auf dem nassen Deck der DEEHDRA. Schlagartig kam die Erinnerung an das Chaos in den Stromschnellen. Wieso war die Dschunke nicht gekentert? Wo waren wir?

Wo war Razamon? Fenrir tauchte hinter dem Hüttenaufbau auf

und starrte mich wieder mit traurigen Augen an. Ich ahnte nichts Gutes.

Ich beugte mich vorsichtig über die Reling. Die DEEHDRA trieb im stillen Wasser. Ir-gendwie war es Razamon also gelungen, uns aus den Klippen hierher zu manövrieren.

Wie durch ein Wunder waren wir gerettet worden. Aber das hier war nicht der mächtige Regenfluß. Ich vermutete eher, daß es uns in einen stillen Seitenarm getrieben hatte.

Wir waren dem Ziel keinen Schritt näher gekommen – im Gegenteil: neue Gefahren lagen förmlich in der Luft. Auch Fenrir schien sie zu wittern, denn er wanderte unruhig über das Deck und knurrte drohend.

Ich betrachtete das linke Ufer, auf das wir zutrieben. Es war vollkommen zugewachsen. Die Vegetation erinnerte mich sofort an den Blutdschungel – ein Gedanke, bei dem mir übel werden konnte.

Überall in dem Dickicht war Bewegung: kreischende, bunte Vögel, in der Sonne glän-zende Schuppenpanzer von kleinen und gro-ßen Reptilien und fleischfressende Pflanzen, die ihre Ranken nach neuer Beute ausschick-ten.

Ich machte mir keine Illusionen. Dort am Ufer herrschte nur ein Gesetz: fressen und gefressen werden. Die Stromschnellen des Deltas lagen keinen Kilometer hinter uns. Es war fast sicher, daß die unheilbringende Auf-ladung des Seewassers bis hierhin reichte. Was sich da an den Ufern tummelte, war schlimmer als ein Fluß voller Piranhas.

»Razamon!« rief ich und betrat den Auf-bau. Ich suchte das ganze Schiff ab (mit Aus-nahme jener verriegelten Tür, an der der At-lanter mich geschickt vorbeigelotst hatte). Nichts. Keine Spur von dem Pthorer.

Was war jetzt wieder in ihn gefahren? Fenrir drückte sich an meine Seite und win-

selte. Er wirkte verstört. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder

war Razamon in den Stromschnellen über Bord gefegt worden, oder er war endgültig verrückt geworden und hatte die DEEHDRA verlassen, um allein in den Dschungel vorzu-stoßen.

Daß er in den Klippen umgekommen war, erschien mir unwahrscheinlich. Also steckte er irgendwo dort in der allesverschlingenden Wildnis am Ufer.

Gerade das ist eine Herausforderung für ihn! meldete sich mein Extrasinn.

Ich nickte unmerklich. Er hat keine Chance. Du bist wieder allein. »Nein!« sagte ich. Fenrir hob den Schädel. Ich hatte das Ge-

fühl, daß er meine geheimsten Gedanken erra-ten konnte. Unwillkürlich tauchte das Bild des Göttersohns Baldur vor meinem geistigen Auge auf. In Fenrir hatte er einen unschätzba-ren Freund gehabt. In einem Anfall von Ver-zweiflung hatte er den Wolf fast getötet.

»Wir werden Razamon suchen müssen«, sagte ich zu Fenrir. Er wedelte mit dem Schwanz und drückte sich wieder an meine Seite.

Zufällig fiel mein Blick auf die Wipfel ei-niger Baumriesen, deren Äste weit über das Flußufer ragten. In wenigen Augenblicken mußten wir unter ihnen wegtreiben.

Und dort oben hockten geduckt Dutzende von echsenähnlichen Tieren, de-

ren Muskeln zum Sprung gespannt waren.

* Razamon wartete, bis die Katze sprang.

Blitzschnell duckte er sich und griff nach ih-ren Hinterbeinen. Mit der Kraft eines Berser-kers warf er sich zurück, drehte sich ein paarmal um die eigene Achse und schleuderte dann das Raubtier einer riesigen fleischfres-senden Baumpflanze entgegen. Die rotschil-lernden Blätter rings um das Maul der Pflanze schlossen sich schmatzend und drückten die Beute in den Schlund des Monstrums.

Razamon sprang sofort ein paar Schritte zu-rück, als über ihm ein Geräusch war.

Keine Sekunde später klatschte dort, wo er gerade noch gestanden hatte, ein etwa fünf Meter durchmessendes, kreisförmiges Netz auf den Moosboden. Die Fäden wurden

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schlaff, als die ätzende Flüssigkeit aus ihnen entwich und das Moos angriff.

Es löste es auf! Binnen weniger Augenbli-cke war der Boden kahl. Razamon sah sich hastig um.

Wie war er in diese Hölle geraten? Er hatte keine Ahnung. Er erinnerte sich noch genau daran, wie er die Dschunke in den ruhigen Seitenarm gesteuert hatte. Um sich zu erfri-schen, war er hinab in die Kombüse gestie-gen. Dabei war er an der Tür vorbeigekom-men ...

Die Tür! Irgend etwas schien Razamon bei dem Gedanken daran zu lähmen. Das aber war der sichere Tod. Razamon mußte einen Weg aus dieser allesfressenden Wildnis fin-den. Es war wie im Blutdschungel, nur tau-sendmal schlimmer.

Razamon sah einen ziemlich freistehenden Baum, der wie abgestorben aussah. Er gabelte sich in etwa drei Metern Höhe. Vielleicht fand er dort die Ruhe, um nach einem Aus-weg zu suchen.

Der Atlanter wich einer heranschießenden Ranke aus und rannte auf den Baumriesen zu. Das Klettern fiel ihm schwer, weil der Zeit-klumpen an seinem linken Bein ihn jetzt be-hinderte. Schließlich saß er in der Gabelung. Erst jetzt sah er, was wirklich um ihn herum vorging.

Die ganze Vegetation war in Bewegung. Zwischen den Pflanzen huschten kleine Tiere umher, darunter Arten, wie Razamon sie noch nie im Leben gesehen hatte. Es war ein buntes Farbenspiel im grellen Licht der Mittagsson-ne, die hier und da durch die Wipfel brach. Die Luft war erfüllt vom Ächzen der Pflanzen und den Schreien der Tiere.

So verschiedenartig diese Lebensformen auch alle waren, eines hatten sie gemeinsam: es waren Killer, Mordpflanzen und unbarm-herzige Räuber. In dieser Zone herrschte ein unbarmherziger Kampf ums Überleben. Schwache Lebensformen hatten längst das Feld räumen müssen. Nur die Starken hatten überlebt. Nun brachten sie sich gegenseitig um.

Eine teuflische Auswahl, dachte der Ptho-rer. Nur die schrecklichsten dieser Kreaturen würden überleben.

Und er saß mitten drin. Wie sollte er zurück

zur DEEHDRA finden? Er hatte ja nicht ein-mal eine Ahnung, wie er hierhergekommen war und in welche Richtung er gehen mußte.

Langsam schoben sich von allen Seiten die violetten fleischigen Pflanzen heran, die eben noch zwischen den anderen Bäumen gestan-den hatten.

Die erste von ihnen war bereits bis auf drei Meter an den Stamm des Baumes heran, Ra-zamon sah die feinen Fäden, die sich zwi-schen den dicken Blättern ausrollten. Wieder wurde ihm klar, daß hier nichts überleben konnte, was nicht in der Lage war, zuerst zu-zuschlagen.

Das war der Augenblick, als ihm bewußt wurde, daß dies auch für den Baumriesen gel-ten mußte, in dem er sich sicher gefühlt hatte. Im gleichen Moment bemerkte er die Verän-derung ...

*

Mein erster Gedanke war, die Dschunke

vom linken Ufer wegzusteuern. Der Seiten-arm war schätzungsweise dreißig Meter breit. Wenn es mir gelang, rechtzeitig weiter zur Mitte hin zu kommen ...

Es war zu spät. Fenrir heulte wütend auf, als die ersten beiden Tiere sprangen. Eins klatschte genau vor mir auf das Deck, das andere verfehlte sein Ziel und landete knapp neben der Reling im Wasser, wo es ein Opfer der Mordfische wurde.

Die DEEHDRA hatte die überhängenden Äste erreicht. Jetzt regnete es förmlich Echsen auf uns herab. Fenrir fletschte die Zähne und warf sich auf den ersten Angreifer.

Die Tiere glichen den Chamäleons der Er-de, nur waren sie an die zwei Meter lang. Im spitz zulaufenden Maul saß eine Reihe mes-serscharfer Zähne, und aus der Stirn ragte ein zehn Zentimeter langer Stachel.

Ich wich instinktiv aus, als eines der Tiere mit diesem Stachel nach mir stieß. Glückli-cherweise waren die Echsen recht unbeholfen, und ich konnte ein Tier mit dem Messer erle-digen, während es noch an mir vorbeischoß.

Ein kurzer Blick zeigte mir, daß mindestens zehn der Biester an Bord gesprungen waren. Der Rest war im Wasser gelandet. Trotzdem hatten wir auf dem offenen Deck keine Chan-

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ce.

Zu allem Überfluß lief in diesem Augen-blick die DEEHDRA auf. Mit einem schlei-fenden Geräusch schob sie sich, keine fünf Meter vom linken Flußufer entfernt, auf den sandigen Grund.

Wir steckten fest, und am Ufer erschienen bereits die ersten größeren Raubtiere, die durch den Krach und das Geschrei der Echsen angelockt worden waren. Aus den Augenwin-keln bemerkte ich wilde Kampfszenen, wo immer zwei verschiedenartige Lebensformen aufeinandertrafen.

»Fenrir!« schrie ich aus voller Lunge, um das Gekreische der Chamäleons zu übertönen. »Komm her, wir müssen in die Hütte!«

Ich wehrte einen Angreifer ab und trat ei-nem zweiten mitten im Sprung mit voller Wucht vor die gepanzerte Brust. Das Tier landete vor zweien seiner Artgenossen, die sich gerade zum Sprung ducken wollten. Ich traute meinen Augen nicht: sie ließen von mir ab und machten sich über die benommene Echse her!

Fenrir hatte meinen Ruf gehört und drehte mir den Kopf zu. Eine gerade an Deck ge-sprungene Echse nutzte diesen winzigen Au-genblick der Unachtsamkeit aus und stach zu. Der Stachel fuhr in die Seite des Fenriswol-fes, traf aber nicht voll. Fenrir fuhr aufheu-lend herum und tötete die Echse mit einem einzigen Biß.

Im nächsten Moment kippte Fenrir um. Einen Augenblick stand ich wie erstarrt,

dann begriff ich. Ich warf mich zur Seite, als die nächste

Echse mich ansprang. Mittlerweile war ich bis zur Hütte zurückgewichen. Die Echse konnte den Sprung nicht mehr korrigieren und bohrte sich mit dem vorgestreckten Stachel in das Bastgeflecht des Aufbaus. Noch während ich ihr den Todesstoß versetzte, sah ich die grün-gelbliche Flüssigkeit, die an dem Bast herab-lief.

Nicht die spitzen Zähne waren die gefähr-lichste Waffe der Reptilien, sondern der Sta-chel! Ich spürte, wie mein Herz bis zum Hals herauf schlug. Fenrir bewegte sich nicht. Wenn das Gift tödlich war, konnte ihn nichts und niemand mehr retten!

Eine unbeschreibliche Wut ließ mich alle

Vorsicht vergessen. Wild schreiend verließ ich die Deckung und bahnte mir meinen Weg durch die Echsen. Für jedes getötete Tier er-schien ein neues. Es war, als ob sie aus den Ästen über uns herauswachsen würden.

Ich achtete nur noch auf die Stachel, schlug und trat wild um mich, bis ich bei Fenrir war. Irgendwie schaffte ich es, die besessenen Tie-re abzuwehren und den Fenriswolf in den Aufbau zu schleppen. Auch hier hatten sich inzwischen ein paar der Biester eingeschli-chen. Ich schlug sie in die Flucht. In diesen Augenblicken entlud sich die ganze Verzweif-lung über unsere Hilflosigkeit in dieser Alp-traumwelt.

Eines Tages würden wir, sollten wir hier je lebend herauskommen, den Verantwortlichen gegenüberstehen, und ich schwor mir in die-sem Augenblick, daß ich alles in meinen Kräften stehende tun würde, um ihnen die Quittung für all das Leid und das Grauen, das sie über unzählige Völker und Welten ge-bracht hatten, zu präsentieren.

Mit letzter Kraft schob ich einige große Kisten vor den Eingang der Hütte. Die Echsen rannten wie besessen dagegen an. Die weni-gen, die den Sprung schafften, waren jetzt leichter abzuwehren.

Plötzlich ließen sie alle von uns ab. Dafür kam jetzt ein höllisches Gezeter vom Vorder-deck. Ich spähte vorsichtig durch eine Ritze zwischen zwei Kisten. Was ich sah, bereitete mir Übelkeit.

Die Chamäleons veranstalteten ein wahres Schlachtfest auf dem Deck! Sie brachten sich gegenseitig um. Zuerst waren die vom Kampf angeschlagenen an der Reihe, die sich kaum noch wehren konnten. Dann kamen die an die Reihe, die sich sattgefressen hatten und träge hin und her wankten.

Keine Kreatur ist von Natur aus derart bös-artig, das wurde mir klar. Das Wasser, von dem sie trinken mußten, machte sie toll. Und die Echsen waren noch nichts gegen die Monstren aus Kalmlech. Wenn es denen ge-lang, die Schirme zu überwinden, die sie noch von den Kontinenten der Erde trennten ...

Und wenn die Schirme schon gar nicht mehr standen?

Ich mußte aufhören, daran zu denken. Im Moment drohte keine Gefahr von den Echsen.

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ATLAN 13 – Senke der verlorenen Seelen

Ich beugte mich über Fenrir. Erleichtert stellte ich fest, daß er noch atmete.

Ich packte den Fenriswolf und schleifte ihn hinab in die Kombüse. Alles, was ich tun konnte, war jetzt, die vom Stachel geschlage-ne Wunde zu säubern.

Oben war plötzlich alles ruhig. Ich war lange genug auf diesem verdamm-

ten Atlantis, um sofort mißtrauisch zu wer-den.

Mitten in die Stille hinein erklang der hei-sere Schrei eines Geiers. Aber der Schrei kam nicht von oben, sondern aus dem Schiff.

Er kam von dort, wo sich die verriegelte Tür befand.

3.

Am Rand der Dschungelzone, die den stil-

len Seitenarm des Regenflusses zwei Kilome-ter breit umgab, standen zehn halbkugelför-mige, primitive Hütten. Alle zehn waren um einen gemeinsamen Mittelpunkt angeordnet, wo sich so etwas wie ein Dorfplatz befand.

Die Hütten waren etwa zwei Meter hoch und von netzartigen grünen Gewächsen über-zogen, die bis auf den kahlen Boden herabfie-len und einen natürlichen Vorhang für die ein Meter hohen runden Eingänge bildeten.

Eine der Hütten machte einen besonders verlotterten Eindruck. Vor dem Eingang lagen alle Abfälle herum, die darauf schließen lie-ßen, daß die Bewohner nicht gerade viel von Ordnung und Sauberkeit hielten.

Aus einer der anderen Behausungen kroch eine Gestalt ins Freie. Sie glich aufgerichtet einem anderthalb Meter hohen Murmeltier mit ausgeprägten Armen, während die Beine ziemlich dürftig ausgefallen waren, wodurch ein unbeholfen wirkender Watschelgang zu-stande kam.

Das Wesen humpelte quer über den freien Platz auf die verlotterte Hütte zu. Vor dem Eingang blieb es stehen und atmete noch ein-mal tief durch. Das dabei entstehende Ge-räusch erinnerte an ein Stöhnen.

Dann teilte es das grüne Geflecht vor dem Eingangsloch und kroch hinein.

Auf dem Boden der Hütte stand eine licht-spendende Kargh-Pflanze. Der Herr des Hau-ses lag ausgestreckt auf einer schmutzigen

Matte und döste. Wieder stieß der Besucher diesen seltsamen

Stöhnlaut aus. Dann tippte er den Dösenden an.

»Dölbe, wach auf!« Der Liegende öffnete langsam die Augen.

Als er den Besucher erkannte, rappelte er sich langsam auf. Er gähnte lange und ausgiebig.

»Büwel! Das ist eine Überraschung. Was führt dich zu mir?«

»Das weißt du ganz genau.« »So? Setz dich inzwischen. Möchtest du ein

Rohr mit Wel-Wasser?« »Nein! Ich möchte ...« »Das ist gut«, freute sich Dölbe und gähnte

wieder. »Ich habe nämlich keins mehr.« »Dölbe, ich bin nicht zum Spaß hier, das

weißt du!« Dölbe richtete sich jetzt ganz auf, wobei

ansehnliche Fettmassen zum Vorschein ka-men. Die kleinen klugen Augen wirkten ver-ständnislos.

»Weshalb dann, Büwel. Es fällt mir beim besten Willen nicht ein.«

»Ich bin ...« »Moment!« Dölbe schien eine Erleuchtung

zu haben. »Du kommst, um mir eine Bot-schaft von Krösel zu bringen. Es tut ihr leid, daß sie mich verlassen hat, und jetzt schickt sie dich, um anzufragen, ob sie nicht wieder zurückkehren darf. Nun, stimmt's?«

Büwel schnappte nach Luft. »Ist dir nicht gut?« erkundigte Dölbe sich

naiv. »Krösel denkt nicht daran, zu dir zurückzu-

kehren!« Jetzt wirkte Dölbe unglücklich. »Ja, was

willst du dann hier?« »Das versuche ich die ganze Zeit zu erklä-

ren: Du bist an der Reihe, Dölbe! Du mußt in den Wald, um neue Samen zu holen!«

Der Dicke zuckte heftig zusammen. »Das ist nicht nett von dir, Büwel. Du

weißt genau, daß ich krank bin.« »Krank vor Faulheit, das stimmt.« Dölbe schüttelte verzweifelt den Kopf.

Plötzlich blitzte es in seinen Augen auf. »Ein paar Rohre voll Wel-Wasser könnten

mich heilen.« Büwel schlug beide Hände vor die Augen

und begann laut zu jammern.

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ATLAN 13 – Senke der verlorenen Seelen

»Du bist auch krank, Büwel?« Büwel schüttelte den Kopf. Dann drehte er

sich dem Ausgang zu. »Warte hier«, sagte er und watschelte hin-

über zur am schönsten geschmückten Hütte. Minuten später kehrte er zurück.

»Also gut, Dölbe. In Anbetracht deiner an-gegriffenen ... Gesundheit ist der Leuchter bereit, dir nach der Rückkehr drei Rohre mit frischem Wel-Wasser zu überlassen.«

»Fünf!« sagte Dölbe. »Vier später und eins jetzt.«

Büwel begann am ganzen Körper zu zittern. »Also gut, Dölbe, aber mach dich jetzt auf

den Weg.« »Es geht mir schon viel besser«, versicherte

Dölbe.

* Der Stamm des Baumriesen war borkig wie

bei einer sehr alten Eiche. Die Rillen waren teilweise bis zu drei Zentimeter tief.

Razamon hatte nicht weiter darauf geachtet. Als er seinen Fehler bemerkte, war es zu spät.

Fingerdicke violette Fäden quollen aus den Ritzen hervor und überzogen den ganzen Baum mit einem klebrigen Netz. Der Parasit hatte den Riesen förmlich ausgesogen und lauerte jetzt, wo der Wirt nichts mehr hergab, auf andere Opfer.

Razamon war blindlings in die Falle ge-gangen.

Der hagere Atlanter stemmte sich mit einer Kraft, die kein Außenstehender von ihm er-wartet hätte, hoch, aber die Fäden machten die Bewegung mit. Sie dehnten sich und lie-ßen keinen Augenblick los. Razamon sah, wie sich Ausläufer bildeten und sich um ihn schlangen.

Sollte das das Ende sein, so kurz vor dem Ziel? Bilder tauchten auf, während sich weite-re Fäden heranschoben und um seine Glieder legten. Die DEEHDRA, die Mündung des Regenflusses, an dessen Ende sich Taamberg befand, wo einst seine Familie lebte, bevor er von Pthor verbannt worden war.

Razamon fühlte Schwindel. Er kannte das, das erste Anzeichen eines neuen Ausbruchs.

Er mußte einen Anfall provozieren! dachte er.

Nur die Berserkerkräfte eines Anfalls konn-ten ihn hier wegbringen.

Die DEEHDRA, der Gang, die Tür ... Razamon wurde es glühend heiß. Er zwang

sich, weiterzudenken. Die Tür, der dunkle Raum, der Stormock!

Es überwältigte ihn. Razamon riß an den Fäden wie ein Verrückter.

Der Stormock! Die Schatten der Kindheit! Irgend etwas passierte mit Razamons Be-

wußtsein. Ein greller Blitz explodierte in sei-nem Gehirn. Er bekam nicht mehr mit, was er jetzt tat.

Als er wieder klar denken und die Umwelt wahrnehmen konnte, lag er am Boden. Das weiche Moos bewegte sich in Wellen.

Wenige Meter vor ihm kam die Mauer der Fleischpflanzen auf ihn zu. Hinter ihnen konnte er den toten Baum sehen. Dort, wo er eben noch gefangen gewesen war, waren nun ganze Äste abgebrochen. Dutzende der fin-gerdicken Klebefäden waren zerrissen.

Razamon kam auf die Füße und begann zu rennen.

Plötzlich wußte er wieder, weshalb er von Bord der DEEHDRA gegangen war. Er hatte in der Kombüse einige Früchte geholt und noch einmal nach irgend etwas Trinkbarem gesucht. Razamon war klargeworden, daß sie verdursten würden, wenn sie nicht bald Was-ser, und zwar unvergiftetes, herbeischaffen konnten. Er wollte eine Möglichkeit finden, ans Ufer zu gelangen, als er an der bewußten Tür vorbeigekommen war. Irgend etwas hatte ihn gezwungen, in den dunklen Raum zu ge-hen, wo der Stormock gefangengehalten wur-de.

Dann war es über ihn gekommen. Razamon rechnete nicht damit, daß Atlan

ohne ihn aufbrechen würde. Er würde warten und ihn suchen. Das beste war, daß er, Raza-mon, diese Zeit nutzte. Vielleicht gelang es ihm doch noch, etwas Trinkbares herbeizu-schaffen.

Die DEEHDRA war nahe am linken Ufer-rand in den Seitenarm getrieben. Razamon nahm daher an, daß er ans linke Ufer gelangt war. Er sah die Sonne zwischen den Baum-wipfeln. Wenn er sich an ihrem Stand orien-tierte, mußte er zurück zur DEEHDRA finden können.

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ATLAN 13 – Senke der verlorenen Seelen

Aber was nützte das alles, wenn sie ver-

dursten würden? Sie würden so enden wie Gorzohn und seine Begleiter, die, wahnsinnig vor Durst, aus dem See getrunken hatten.

Razamon beschloß, mit der Rückkehr zu warten. Er war einmal in dieser Hölle, und der Weg zurück war ebenso gefährlich wie ein paar weitere hundert Meter durch den Dschungel.

Es war eine vage Erinnerung, die ihm sagte, daß es hier in der Gegend halbintelligente Stämme gab. Wenn er ein Dorf fand und er es geschickt anstellte ...

In diesem Moment gab der Boden unter seinen Füßen nach.

*

Ich stand vor der verriegelten Tür und wuß-

te einen Augenblick nicht, was ich tun sollte. Irgendwie hatte ich das Gefühl, in ein Heilig-tum eindringen zu wollen.

Ich war sicher, daß das, was sich hinter die-ser Tür verbarg, für Razamons Zustand ver-antwortlich war. Das gab den Ausschlag.

Nach ein paar Minuten war es mir gelun-gen, mit dem Messer das Schloß zu öffnen. An den Kratzspuren sah ich, daß Razamon es ebenso gemacht hatte. Nur hatte er es nach dem Verlassen des Raumes wieder ein-schnappen lassen.

Ich holte tief Luft und stieß die Tür auf. In der Hand hielt ich eines der Talglichter.

Ein bestialischer Geruch schlug mir entge-gen. Ich verzog das Gesicht und leuchtete. Noch bevor ich etwas erkennen konnte, er-klang wieder der durchdringende, heisere Schrei.

Und dann stand ich vor einer wahrhaft ge-spenstischen Szene.

Im flackernden Licht der Kerze schälte sich die Gestalt eines riesigen weißen Geiers aus dem Dunkel. Ich trat näher. Jetzt konnte ich Einzelheiten erkennen.

Das Tier war furchtbar zugerichtet. Die Beine waren mit silbernen Ketten an zwei Pflöcke gefesselt, und der Kopf mit den Au-gen war mit einer dunklen Binde umwickelt. Die mächtigen Flügel schienen arg gestutzt zu sein.

Der Geier hob den Kopf, als ob er lauschte.

Dann stieß er wieder dieses markerschüttern-de Krächzen aus.

Ich sah mich weiter um. Außer dem Geier befand sich nichts in dem kleinen Lagerraum. Ich trat noch näher und streckte meine Hand nach dem Wickel am Kopf des Tieres aus, als Bewegung in den Vogel kam. Er breitete die gestutzten Flügel aus und schlug wild um sich.

Ich zog mich ein paar Schritte zurück. Jetzt fielen mir die Knochen am Boden auf. Ich nahm einen in die Hand. Kein Zweifel, der Geier hatte ihn erst vor relativ kurzer Zeit abgenagt. Das aber bedeutete, daß nur Raza-mon ihn gefüttert haben konnte. Welches Ge-heimnis verbarg sich hinter diesem Tier?

Einem plötzlichen Impuls folgend, machte ich zwei schnelle Schritte auf den Vogel zu und riß ihm die Binde vom Kopf. Er hackte mit dem Schnabel nach meiner Hand, aber ich war schneller.

Die Augen des Geiers waren stumpf und ausdruckslos. Ich bekam Mitleid mit dem Tier. Welche Qualen mochte es hinter sich haben? Und es war ganz bestimmt nicht Ra-zamon gewesen, der ihn so zugerichtet hatte. Im Gegenteil: Razamon mußte eine enge Bin-dung zu dem Geier haben.

Razamons Zustand! Er befand sich in einer Krise, wie ich sie bei dem Pthorer noch nie erlebt hatte. Und seine Anfälle waren immer dann besonders heftig, wenn er an seine ver-lorene Vergangenheit dachte.

War der Geier ein Schlüssel zu dieser Ver-gangenheit? Lag hier am Ende eine Möglich-keit, mehr über Pthor zu erfahren?

Ich begann, beruhigend auf das Tier einzu-reden.

Als ich jedoch keinen Erfolg registrieren konnte, nahm ich das Talglicht und verließ den Raum. Ich mußte Razamon finden. Ich spürte, daß nur er hier etwas ausrichten konn-te.

Unter diesen Umständen beschloß ich, so-fort aufzubrechen. Es war mittlerweile Nach-mittag geworden, und ich schätzte, daß mir bis zur Dunkelheit noch etwa fünf Stunden blieben. Bis dahin mußte ich ihn gefunden haben. Wenn Razamon noch lebte, hatte er allein keine Chance, die Nacht zu überstehen.

Du bist ein Narr! meldete sich der Extra-

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sinn. Du hast eine Aufgabe und eine Verant-wortung den Menschen gegenüber!

»Verdammt, das weiß ich!« schrie ich in den leeren Korridor. Ich wußte, worauf ich mich einließ. Aber es fiel mir nicht ein, Ra-zamon einem ungewissen Schicksal kampflos zu überlassen.

Wir waren uns zu ähnlich. Eine jahrzehn-tausendlange Verbannung auf einer Welt, die für uns beide in völlig verschiedener Art und Weise zur zweiten Heimat geworden war, hatte uns zusammengeschweißt und zu Schicksalsgefährten gemacht. Und dieses Schicksal schien uns nun dazu bestimmt zu haben, diese Welt namens Erde, die die unse-re geworden war, vor dem Untergang zu be-wahren.

Ich sah noch einmal nach Fenrir. Sein Zu-stand war unverändert. Es gab im Moment nichts, was ich für den Wolf tun könnte.

Ich nahm mein Messer und stieg an Deck. Vorsorglich verbarrikadierte ich den Eingang zum Aufbau wieder mit den Kisten, um Fenrir vor ungebetenem Besuch zu schützen. Das ganze Deck war voll von toten Echsen. Einige waren halb zerfetzt, andere waren ganz ein-fach an ihrer Gier zugrundegegangen: sie hat-ten sich überfressen.

Ich stützte mich mit beiden Händen auf die Reling und suchte nach einem Weg, so ge-fahrlos wie möglich an Land zu kommen. Nach einiger Zeit entdeckte ich eine Stelle am Ufer, die ziemlich kahl war. Von dort aus schien eine Schneise in das Dickicht zu füh-ren.

Ein Pfad? Gab es hier Eingeborenenstämme wie im Blutdschungel? War das der Grund für Razamons Verschwinden?

Das Ufer war an der betreffenden Stelle gu-te fünf Meter von der DEEHDRA entfernt. Ein Blick in das Wasser unter mir genügte, um alle Gedanken an Schwimmen oder Wa-ten vergessen zu lassen.

Ich sah nach oben. Von den überhängenden Ästen, genau über der Dschunke, hingen ein-zelne Lianen herab. Wenn es mir gelang, eine heranzuziehen, und wenn sie stark genug wa-ren ...

Ich brach eine Holzlatte aus einer der Kis-ten und kletterte damit auf das Dach der Hüt-te. Dabei bemerkte ich hinter der DEEHDRA

etwas, das mir schon vorher aufgefallen war. Ein dunkler Schatten von beachtlichen Aus-maßen, der am Grund des Wassers in sicherer Entfernung zu lauern schien.

Ich achtete nicht weiter darauf. Nach eini-gen erfolglosen Versuchen hatte ich eine der Lianen in der Hand. Sie war etwa drei Zenti-meter dick und machte einen stabilen Ein-druck. Der starke Ast, an dem sie hing, gab beim Ziehen ein wenig nach, schien aber zu halten.

Ich hatte keine Wahl. Nach einem letzten tiefen Atemzug holte

ich Schwung und stieß mich ab. Kaum war ich über dem Wasser, als der Ast nach unten sackte. Einige schreckliche Sekundenbruch-teile lang segelte ich mit angezogenen Beinen dicht über die Wasseroberfläche, wo einzelne kleine Fischmäuler auf mich zugeschossen kamen. Einem der Räuber gelang es, sich in der Sohle meines Schnürstiefels festzubeißen.

Dann landete ich am Ufer. Ich hatte Mühe, die Liane loszulassen. Sie klebte. Und aus den Augenwinkeln bemerkte ich weitere der Schlinggewächse, die aus dem Dickicht ka-men und sich wie Schlangen auf mich zu be-wegten.

Mit einem schnellen Schnitt trennte ich den zappelnden Raubfisch, der tatsächlich große Ähnlichkeit mit einem Piranha hatte, von meiner Sohle ab und stürzte mich in die Schneise.

Nach wenigen Minuten wurde mir das gan-ze Ausmaß der Hölle bewußt, in die ich mich begeben hatte.

*

Razamon schlug wie besessen um sich, a-

ber dadurch erreichte er lediglich, daß er schneller einsank.

Entsetzt erkannte der Atlanter, daß es keine Fallgrube irgendwelcher Eingeborener war, in die er geraten war. Razamon steckte mittler-weile bis zur Brust im Boden, und er sank immer weiter ein.

Zwischen einer Reihe von eng beieinander-stehenden grünen Dornenbüschen sah er schon wieder die Fleischpflanzen anmarschie-ren.

Er war in einen Sumpf geraten, aber der

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Sumpf lebte! Ein einziges Geflecht von moosartigen Organismen.

Razamon tobte, aber es half ihm nichts. Er krallte die Finger in den weichen Boden, aber das Moos gab nach. Er rutschte immer weiter ab.

4.

Es dauerte keine halbe Stunde, bis Dölbe in

voller Pracht aus seiner Hütte trat. Auf dem Dorfplatz warteten schon die neugierigen Mitglieder der Kröppel-Sippe, um das seltene Schauspiel zu genießen. Es kam nicht oft vor, daß Dölbe seine Behausung verließ.

Dölbe trug einen braunen Umhang, der bis zu den Oberschenkeln reichte. Seine Augen leuchteten seltsam, und vom Bartfell unter dem spitzen Mund troff noch das Wel-Wasser aus dem auf Vorschuß gelieferten Rohr.

Büwel stand vor der Reihe der Schaulusti-gen und hielt die Samentrommel mit dem üblichen Zubehör in der Hand, in der anderen das grüne Gewebenetz.

»Ich bin soweit«, verkündete Dölbe. Büwel jammerte irgend etwas in sein Fell.

Dann trat er vor und vollzog die feierliche Geste des Netzauflegens. Das grüne Netzge-flecht, das auch die Hütten der Kröppel-Sippe überzog, hing Dölbe von den Schultern bis zu den Füßen herab wie eine Kutte.

Dölbe nahm mit würdevoller Miene die Samentrommel und die Ansaugrohre entge-gen. Irgendwo kicherte jemand.

Dölbe achtete nicht darauf. Er sah sich um. Dann winkte er Büwel noch einmal herbei.

»Büwel, ist es nicht Sitte, daß der Leuchter bei der Prozedur anwesend ist?«

»Der Leuchter ist krank, und wenn du noch lange wartest, wird er noch kränker. Er braucht Samen, Dölbe! Also geh schon und beeil dich.«

Dölbe sah sich unsicher um. Die plötzliche Verantwortung, die man ihm da aufbürdete, paßte ihm gar nicht.

»Denk an die vier Rohre voller herrlichem Wel-Wasser.«

»Ich bin schon weg«, versicherte Dölbe im Brustton der Überzeugung. »Es soll niemand behaupten, Dölbe wäre nicht zur Stelle, wenn der Leuchter ihn braucht und die Sippe in Not

ist. Nehmt euch alle ein Beispiel an mir. Wenn ich zurück bin ...«

»... kannst du Volksreden halten, soviel du willst!« brüllte Büwel unter Tränen der Ver-zweiflung. »Aber jetzt geh! Der Leuchter braucht den Samen!«

»Und zwar schnell!« dröhnte eine tiefe Stimme aus dem geschmückten Bauwerk, in dem der Leuchter lebte.

Dölbe fuhr zusammen. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, verschwand er zwischen zwei Hütten und watschelte auf den Rand des Waldes zu.

»Dilettanten«, murmelte er, als er außer Hörweite war.

»Lümmel!« Er dachte an Krösel, seine e-hemalige Gefährtin, die ihn auf schändliche Weise verlassen und vor allen blamiert hatte. »Verräterinnen!«

Dölbe griff in eine Pelzfalte und holte das noch halb gefüllte Trinkrohr heraus. Er drehte sich um und stellte befriedigt fest, daß man ihn vom Dorf aus nicht mehr sehen konnte. Dann leerte er das Rohr in einem Zug.

»Das ist das Wahre!« seufzte er. Sollten sie sich ruhig lustig machen.

Dölbe spürte die Wirkung des Wel-Wassers und beschleunigte seine Schritte. Der Mord-dschungel war ein Greuel für jeden Kröppel, auch wenn sie durch die Netze geschützt vor dessen Kreaturen waren.

Nüchtern hätte Dölbe sich unter keinen Umständen zum Samenholen schicken lassen, auch wenn er an der Reihe war. Aber das Wel-Wasser machte auch den Dschungel er-träglich.

Dölbe suchte sich seinen Weg durch das Unterholz und die Fleischpflanzen. Grinsend beobachtete er, wie sich die Gewächse sofort zurückzogen, wenn er in ihre Nähe kam. Alle möglichen Viecher steckten ihre Nase hinter Stämmen und zwischen dem Gestrüpp hervor, weil sie eine fette Beute witterten. Aber so-bald sie die Netze bemerkten, zogen sie knur-rend ab.

Die Netze waren eine großartige Sache, fand Dölbe. Er hatte jedoch keine Ahnung, woher die Kröppel-Sippe sie hatte.

Nach einer halben Stunde erreichte er die Stelle, an der die großen Blumen mit den kelchförmigen blauen Blüten wuchsen, aus

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denen man die Samen saugte.

Im Moment war nur eine Blüte zu sehen, die mindestens Platz für fünf Kröppel-Köpfe gehabt hätte. Wenn Dölbe Glück hatte, konnte er gleich hier die ganze Trommel voll Samen bekommen. Allerdings war die Blüte gerade noch dabei, ein kleines Pelztier zu verspeisen, das ihr über den Weg gelaufen war.

Dölbe wartete geduldig, bis sie ihr Opfer verdaut hatte und amüsierte sich dabei könig-lich über die Kreaturen des Dschungels. Sie hatten offenbar nie etwas anderes kennenge-lernt, als sich gegenseitig umzubringen. Dölbe wußte, daß es weiter zum Fluß hin noch viel schlimmer zuging.

Die Blüte hatte inzwischen ihr Opfer aufge-löst. Sie öffnete sich und entfaltete ihre ganze paradiesische Pracht. Ein wunderbarer Geruch lag plötzlich in der Luft.

»Das könnte dir so passen«, murmelte Döl-be. »Mich lockst du nicht, du falsches Biest.«

Der fette Kröppel nahm das lange Saugrohr und bugsierte die Spitze direkt in den großen Blütenkelch hinein. Das andere Ende nahm er in den Mund und begann zu saugen.

Zehn Minuten später war die Samentrom-mel voll. Dölbe rollte den Schlauch ein und war stolz auf sich. Sie würden Augen machen, wenn er so früh zurückkehrte.

Bis dahin sollte es allerdings noch etwas dauern, denn in diesem Augenblick, da Dölbe sich gerade zum Abmarsch fertig machte, hörte er den entsetzlichen Schrei.

Und da Dölbe von Natur aus neugierig war (wie alle Kröppel), vergaß er den Leuchter, der auf den Samen wartete, und beschloß, nach dem Rechten zu sehen.

*

Der Leuchter hing schlaff in einem Gestell,

das mit viel Phantasie an einen altmodischen Lehnstuhl erinnerte. Ein paar mit Lianen zu-sammengebundene Stangen, aber im Dorf der Kröppel-Sippe ein Luxusgegenstand – ein Thron!

Der Leuchter war halb so groß wie die an-deren im Dorf. Nur der Kopf hatte Normal-größe und wirkte auf dem kleinen Körper monströs. Ohne die Hilfe der anderen konnte der Leuchter nicht leben. Sie versorgten ihn

mit allem Notwendigen, dafür sorgte er dafür, daß sie immer genügend Schutznetze zur Ver-fügung hatten.

Der Leuchter allein kannte das Geheimnis der Netze. Er war der einzige Kröppel, der den Großen Zug noch miterlebt hatte. Er hatte viele Generationen kommen und gehen sehen.

Das verkrüppelt wirkende Wesen wälzte sich stöhnend in seinem Gestell herum. Es hatte Schmerzen. Die Entziehungserschei-nungen wurden unerträglich. Der Leuchter fragte sich, ob er sterben mußte. Dann würden ihm die anderen bald folgen. Ohne ihn und die Netze waren sie hilflos.

Alles hing davon ab, daß Dölbe so schnell wie möglich mit den Samen kam.

*

Seitdem ich diese Hölle betreten hatte, war

eine halbe Stunde vergangen, und ich lebte immer noch.

Ich durfte allerdings nicht an meinem Kör-per herabsehen. Er war mit Wunden und Schrammen übersät. Die neuen Kleider waren nur noch Fetzen.

Vor wenigen Minuten hatte ich eine Bre-sche entdeckt, die entweder von einem sehr großen Tier in das Dickicht gewalzt worden war oder von einem lebenden Orkan. Nach kurzer Betrachtung einiger entzweigebroche-ner Baumstämme wußte ich, woran ich war, und ich schöpfte neue Hoffnung.

Razamon lebte! Er hatte zumindest noch gelebt, als er diese Bresche in den Dschungel geschlagen hatte.

Als ich an Deck der DEEHDRA zu mir kam, trieb die Dschunke noch den Seitenarm hinauf. Razamon mußte vorher abgesprungen sein. Das gab mir die Richtung, in der ich zu suchen hatte.

Ich schlug mich in den Tunnel aus grünen, roten und violetten Alptraumgestalten. Immer wieder mußte ich Ranken, Echsen und zu-schnappenden Blüten fleischfressender Pflan-zen ausweichen. Einmal fand ich ein bären-ähnliches Tier, das gerade von zwei bewegli-chen Pflanzen verspeist wurde. Ich konnte noch erkennen, daß sein Genick gebrochen war.

Das war die Handschrift des Atlanters.

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Ich erreichte das Ende der Bresche. Offen-

sichtlich war Razamons Tobsuchtsanfall hier zu Ende gegangen.

Nach einigen Minuten entdeckte ich einen ziemlich ramponiert aussehenden, scheinbar abgestorbenen Baum. Die abgebrochenen Äste sagten mir alles.

Und dann hörte ich den Schrei.

* Dölbe mußte jetzt ganz nah an der Stelle

sein, von wo der Hilferuf gekommen war. Es war ein Hilferuf. Dölbe hatte einige Wortbro-cken einwandfrei verstehen können, obwohl derjenige, der da in der Klemme zu stecken schien, einen recht merkwürdigen Dialekt benutzte.

Dölbe blieb stehen. Auch hier, wo er noch nie gewesen war, wichen die Monstren vor ihm zurück. Das gab ihm Selbstvertrauen.

Er sah sich um. Es war schwer, etwas in dem bunten Gewirr zu erkennen. Vor allem, wenn man nicht wußte, wo es war.

Von rechts erklang ein Stöhnen. Dölbes Kopf fuhr herum. Er watschelte auf eine Mauer von Fleischpflanzen zu, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt, daß sie ihm Platz machten.

Und dann sah er den Mann. Dölbe fuhr das Blut in den Kopf. Der An-

blick löste sofort eine Erinnerung in ihm aus. Er wußte nicht, was, aber es hatte eine Bedeu-tung für ihn. Für die ganze Sippe.

Ein Eingeborener der Flußstämme war das nicht. Der Mann war bis zum Hals im Boden versunken.

Dölbe kannte diese Fallen. Einer seiner Großväter war darin umgekommen, als er eines Nachts, trunken vom Wel-Wasser, seine Tapferkeit beweisen wollte und ohne Netz in den Dschungel lief.

Dölbe wußte nicht, was plötzlich über ihn kam, aber in einem Anfall von Tollkühnheit beschloß er, dem Fremden zu helfen.

Jawohl! dachte er, als er sich vorsichtig der Bodenfalle näherte. Und dann werden sie nicht mehr sagen, ich sei ein Taugenichts! Krösel wird auf den Knien zurückgewatschelt kommen, um ihren Platz an meiner Seite wie-der einnehmen zu können!

Der fette Kröppel prüfte vor jedem neuen Schritt den Boden. Als er nachgab, legte er sich flach auf das Moos. Seine ausgestreckte Hand bekam den Hals des Fremden zu fassen. Er tastete sich an der Schulter des Mannes entlang, bis er eine Hand gefunden hatte. Dann begann er zu ziehen.

Jetzt kam es dem Kröppel zugute, daß er der Fetteste im Dorf war. Er legte sich einfach flach auf den Rücken und zog. Das Moos wollte seine Beute auf keinen Fall preisgeben. Dölbe kam ins Schwitzen.

Der Fremde war bewußtlos. Wenn nur das Moos nicht schon angefangen hatte, ihn zu verdauen!

Der Kröppel machte eine Pause. Jetzt war der Oberkörper des Fremden frei. Sofort be-gann der Mann wieder einzusinken.

Dölbe packte mit beiden Händen zu und warf sich mit der ganzen Wucht seines mäch-tigen Körpers herum. Mit ein paar glucksen-den und schmatzenden Geräuschen zog er den Fremden aus dem Moossumpf. Bevor das Moos reagieren konnte, zerrte er den schwe-ren Körper einige Meter zur Seite.

Es war ein hartes Stück Arbeit gewesen. Nur der Gedanke an den bevorstehenden Tri-umph und zusätzliche Wel-Wasser-Forderungen hielten den Kröppel auf den Beinen.

Er betrachtete den Mann. Die Beinkleidung war bereits zersetzt, und einzelne Hautpartien scharlachrot. Dölbe wußte, daß hier nur noch der Leuchter helfen konnte.

Der Leuchter! Die Samen! Im Nu war Dölbe auf den Beinen. Was

nützte die schönste Heldentat, wenn er nicht rechtzeitig mit den Samen im Dorf war?

Eilig hängte er sich die Samentrommel und den Saugschlauch um. Dann packte er den Fremden an den Füßen und schleifte ihn hin-ter sich her.

*

Eine Stunde später war Dölbe im Dorf.

Büwel kam ihm aufgeregt entgegen. »Hast du die Samen?« Dölbe reagierte verärgert. Er hatte den

Fremden hinter seiner Hütte liegenlassen, um den günstigsten Zeitpunkt abzuwarten. Wenn

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alle beisammen waren, wollte er ihnen seinen »Fund« präsentieren.

»Natürlich habe ich sie! Hast du das Wel-Wasser?«

Büwel begann wieder zu zittern. Dölbe hör-te deutlich seine Zähne aufeinanderschlagen.

»Du kannst froh sein, wenn du jemals wie-der in der Lage bist, Wel-Wasser zu trinken. Der Leuchter stirbt, weil du gebummelt hast!«

Bevor Dölbe seiner Entrüstung Ausdruck verleihen konnte, riß der andere ihm die Sa-mentrommel aus der Hand und stürzte in die Hütte des Leuchters.

Krösel erschien auf dem Dorfplatz. »Du bist und bleibst ein Taugenichts!« sag-

te sie. »Es war die klügste Entscheidung mei-nes Lebens, deine Hütte zu verlassen!«

»Ignorantin!« brummte Dölbe, während er überlegte, wie er seinen arg demolierten Ruf am wirkungsvollsten wieder aufpolieren konnte.

Krösel half ihm unfreiwillig. »Was bin ich?« fuhr sie auf. »Eine Ignoran-

tin?« Jetzt hielt Dölbe es nicht mehr aus. Er be-

gann so laut zu kreischen, daß binnen einer Minute alle Kröppel außer Büwel und dem Leuchter auf dem Platz waren.

»Wartet!« schrie der Fettwanst. »Ihr werdet gleich sehen, wer Dölbe ist!«

»Er ist verrückt geworden«, flüsterte Krösel dem neben ihr Stehenden zu. »Er hat zuviel Wel-Wasser getrunken.«

Sie änderte ihre Meinung, als Dölbe mit dem Fremden zurückkehrte.

»Hier!« sagte er. »Ich habe ihn aus einer Moosfalle befreit!«

Die Kröppel waren sichtlich außer Fassung. Sogar Krösel starrte ungläubig auf den dürren Fremden.

Dölbe registrierte befriedigt, daß seine Art-genossen demselben geheimnisvollen Bann unterlagen, den auch er gespürt hatte.

Die Rettung des Mannes war sein Meister-stück, daß wußte Dölbe jetzt. Hier würde sich fortan einiges ändern.

Büwel trat aus der Hütte des Leuchters. »Du hast Glück gehabt, Dölbe. Der Leuch-

ter hat sich erholt, aber auch nur, weil die Samen diesmal sehr gut waren.«

»Ich will hoffen, daß das Wel-Wasser

diesmal auch sehr gut ist«, versetzte der fette Kröppel ungerührt.

»Der Leuchter will wissen, was hier für ein Krach ist.«

Dölbe deutete auf den Fremden.

* Kurze Zeit später lag Razamon in der Hütte

des Leuchters. Der Kröppel hatte alle anderen aus dem Raum geschickt, auch Büwel, seinen Vertrauten.

Der Leuchter starrte lange auf den hageren Mann. An den geröteten Stellen waren Raza-mons Beine mit getränkten Umschlägen um-wickelt worden. Der Leuchter machte sich darüber keine Sorgen. Der Fremde würde schnell wieder gesund werden.

Etwas anderes ließ ihn nicht mehr zur Ruhe kommen.

Der alte Kröppel hatte den Großen Zug als einziger noch Lebender seiner Sippe miter-lebt, die Flucht und die Gefahren, die überall auf dieser Welt lauerten, die nicht die seine war. Er hatte diese Tage nie vergessen. Erst mit ihm würde eines Tages die Erinnerung daran sterben.

Und doch hatte er im Lauf der Jahrtausende einen Abstand zu den dramatischen Ereignis-sen von damals gewonnen. Jetzt brach die Vergangenheit wie ein aus langem Schlaf gewecktes Ungeheuer hervor.

Auf der Flucht aus der Senke waren sie Männern wie diesem, der jetzt zu seinen Fü-ßen lag, begegnet.

*

Ich war blind in die Richtung gelaufen, aus

der der Schrei gekommen war. Immer wieder mußte ich allen möglichen Raubpflanzen und Tieren ausweichen.

Die Geschöpfe dieser Zone hatten das Tö-ten bis zur Perfektion entwickelt.

Razamon schrie wieder. Ich hörte, wie er in Pthora um Hilfe rief. Dann verstummte das Gebrüll mit einem Schlag. Ich kämpfte mich durch den Dschungel wie ein Besessener. Die Sonne wanderte am Himmel weiter. Wenn ich Razamon nicht bis zur Dunkelheit gefunden und uns in Sicherheit gebracht hatte, war alles

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ATLAN 13 – Senke der verlorenen Seelen

umsonst gewesen. Das Verstummen der Hil-ferufe ließ mich das Schlimmste befürchten.

Nach schätzungsweise einer Viertelstunde stand ich vor einem Loch im Boden. Es war förmlich in einen dunkelgrünen Moosteppich gerissen worden, der sich wellenförmig be-wegte. Er war dabei, das Loch zu schließen.

Nach kurzem Suchen fand ich eine Schleif-spur und seltsam klobige Fußabdrücke, die sich von dem Moos entfernten. Hier hatte irgend jemand einen anderen weggeschleppt.

Die Fleischpflanzen hatten mich bemerkt und schoben sich schnell auf mich zu. Ich sprang beiseite und folgte dann der Spur.

Unter normalen Umständen hätte ich das Dorf in zehn Minuten erreicht. Aber da ich Wert darauf legte, lebend an mein Ziel zu kommen, war es später Nachmittag, als ich den Rand des Dschungels erreichte und vor den Hütten stand.

Ein Wesen, das wie ein überdimensionales Murmeltier aussah, erblickte mich und stieß einen schrillen Pfiff aus. Sekunden später lag es vor mir auf den Knien.

*

Es hatte sich schnell unter den Kröppel he-

rumgesprochen, daß der Leuchter sich persön-lich um den Fremden kümmerte. Das genügte, um ihm mit einer gehörigen Portion Ehrfurcht gegenüberzustehen.

Als Büwel, der sich als rechte Hand des Leuchters begriff, den hellhaarigen Mann aus dem Dschungel treten sah, der ebenso geklei-det war wie jener, den Dölbe gefunden hatte, warf er sich zum Zeichen der Ehrfurcht dem Fremden zu Füßen. Zugleich dokumentierte er den anderen damit, daß er sich für die plötzlich aufgetauchten Götter zuständig fühl-te.

Büwel führte den Hellhaarigen in die Hütte des Leuchters.

*

Draußen war es dunkel geworden. Die

Kröppel, wie die entfernt humanoiden Wesen sich nannten, palaverten auf dem Dorfplatz, respektierten aber den Wunsch ihres Ober-haupts, von ihnen in Ruhe gelassen zu wer-

den. Razamon war immer noch ohne Bewußt-

sein. Er lag auf einem provisorisch hergerich-teten Lager zwischen mir und dem, der sich Leuchter nannte.

Im Schein der lichtspendenden Pflanzen – kleinen, kugelförmigen Organismen, die mich an Morcheln erinnerten – konnte ich das Ge-sicht meines Gegenübers erkennen.

Während der Stunden meines Aufenthalts im Dorf hatte ich mich erfrischen und sättigen können. Hier gab es Wasser genug. Die Kröppel-Sippe holte es aus einem Bach, der vom Südosten her bis kurz vor das kleine Tal reichte, in dem die Hütten standen.

Ich wußte, daß der Leuchter (was auch im-mer dieser Titel besagte) mit sich kämpfte. Ich hatte ihm von uns erzählt. Diese Wesen hier im Dorf waren harmlos. Sie wirkten wie Fremdkörper in einer barbarischen Welt.

Ich durfte mein Gegenüber nicht drängen und wartete geduldig, bis der Kröppel von sich aus zu reden begann. Diese Nacht wür-den wir im Dorf verbringen. Wenn Razamon sich erholt hatte, würden wir uns zur DEEHDRA durchschlagen müssen. Ich hoffte dabei auf die Hilfe dieser Wesen. Wenn sie am Rand des Dschungels überlebt hatten, mußten sie einen Weg kennen, um mit den Bestien fertig zu werden.

Der Leuchter sah mich lange an. Dann be-gann er zu sprechen.

»Es gab einmal eine Zeit, da lebte unser Volk in Frieden auf einer Welt, die wir Koormol nannten. Wir hatten begonnen, unse-re Saat zu anderen Sternen zu tragen. Koor-mol erlebte eine Blüte, als das Unheil kam.«

»Pthor«, flüsterte ich. Der Leuchter machte eine Geste, die einem menschlichen Nicken entsprach.

»Das, was die Herren dieser Welt«, er machte eine allumfassende Bewegung, »Pthor nennen. Ich erlebte den Untergang meines Volkes nicht mehr. Zusammen mit einigen meiner Artgenossen wurde ich verschleppt und fand mich hier wieder – auf Pthor. Wir wurden in riesige Glaspaläste gebracht und dort zusammengepfercht. Es waren Männer, die fast aussahen wie ihr ...«

Der Leuchter beschrieb die Fremden, so gut er konnte. Nach den ersten Sätzen wußte ich,

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ATLAN 13 – Senke der verlorenen Seelen

daß er Technos meinte.

»Es gab Tausende dieser Glasgebäude, und in jedem wurden unglückliche Wesen gefan-gengehalten, die den Pthorern bei ihren Raub-zügen in die Hände gefallen waren. Man ver-setzte sie einfach in Tiefschlaf.«

»Kennst du den Grund?« »Nein. Bevor sie auch uns konservieren

konnten, gelang uns die Flucht. Das war der Beginn des Großen Zuges meiner Sippe. Da-mals waren wir vier. Du siehst, was daraus geworden ist.«

Ich schwieg und versuchte, das Gehörte in Zusammenhang mit dem wenigen zu bringen, was wir bisher über Pthor wußten.

Immerhin wußte ich nun, wieso die Kröp-pel Pthora redeten. Sie hatten es sich auf der langen Flucht zu eigen gemacht. Der Leuchter machte ein unglückliches Gesicht.

»Sieh sie dir an!« preßte er dann plötzlich heraus und zeigte hinaus auf den Dorfplatz. »Sie haben keine Ahnung. Sie glauben, daß sie schon immer hier am Rand des Mordwalds gelebt haben. Nur ganz unterschwellig steckt noch eine Urerinnerung in ihren Köpfen. Sie brach kurz durch, als sie euch sahen. Aber sie ist zu schwach, und das ist gut so. Wir haben unseren Frieden gefunden. Die Herren dieser Welt lassen uns in Ruhe, weil wir keine Ge-fahr für sie bedeuten. Wenn die da draußen wüßten, wer sie wirklich sind, würden sie daran zerbrechen, denn es gibt kein Mittel, sich gegen die Herrscher Pthors aufzuleh-nen.«

Ich hatte einen Widerspruch auf der Zunge, aber ein Blick in das Gesicht des Leuchters ließ mich schweigen.

»Du mußt nicht glauben, daß wir verdummt sind. Einfaltspinsel wie Dölbe sind die große Ausnahme. Sie werden alle so lange hier in Ruhe leben, bis ich eines Tages sterbe.«

Ich wurde hellhörig. Mein Gegenüber be-merkte meine Reaktion.

»Wie durch ein Wunder schafften wir vier es damals, lebend hierherzugelangen. Wir bauten uns die ersten Hütten. Wir begannen uns zu vermehren, aber der Dschungel dezi-mierte die Sippe, bis wir das Mittel gegen den Mordimpuls aus dem Fluß fanden.«

»Diese Samen?« fragte ich. »Es ist nicht einfach zu verstehen. Die Samen stammen

von einer dieser Mordpflanzen. Sie leben be-reits, wenn wir sie ernten. Auf eine Art und Weise, die ich nicht erklären kann, habe ich die Möglichkeit, mit ihnen zu korrespondie-ren. Ich vergesse dann alles um mich herum und konzentriere mich nur auf die Samen. Wenn das vorbei ist, hat sich irgend etwas in ihnen verändert. Sie reproduzieren nicht die Mutterpflanzen, sondern das grüne Netzge-flecht, das du überall im Dorf sehen kannst. Das Geflecht übt eine abstoßende Wirkung auf die Kreaturen im Dschungel aus. Sie al-lein erlauben uns, hier zu leben, und zu über-leben.«

»Und du hast als einziger diese Möglich-keit?«

Der Leuchter nickte. »Deshalb nennen sie mich Leuchter. Wenn

ich sterbe, wird es keine neuen Netze mehr geben. Und eine weitere negative Begleiter-scheinung des Kontakts ist, daß ich im Lauf der Zeit abhängig von den Samen geworden bin. Ich kann nicht mehr leben, wenn ich nicht regelmäßig neue Berührung mit den Samen bekomme. Heute war es fast zu spät.«

Mir wurde klar, daß ich einem Wesen ge-genübersaß, das noch einsamer war als Raza-mon und ich. Der Leuchter lebte mit den Schatten der Vergangenheit und mußte zuse-hen, wie seine Sippe degenerierte.

»Noch eine Frage«, sagte ich. »Diese Glas-paläste – wo stehen sie?«

»Sie nennen es hier die Senke der verlore-nen Seelen.«

*

Ich wachte die ganze Nacht. Razamon kam

einmal kurz zu sich, begriff aber noch nicht, was um ihn vorging. Kurz vor dem Morgen-grauen schlug er plötzlich die Augen auf und stand auf.

Entgegen meinen Befürchtungen war er vollkommen normal. Ich erklärte ihm, was geschehen war und wo wir uns befanden.

Der Leuchter erbot sich anschließend, uns ein paar seiner Leute zur Verfügung zu stel-len. Sie würden uns sicher zum Fluß bringen. Außerdem kannten die Kröppel eine Medizin gegen das Gift aus den Stacheln der Echsen.

Zwei Stunden nach Sonnenaufgang brachen

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ATLAN 13 – Senke der verlorenen Seelen

wir auf. Ich war skeptisch, was die Rückkehr zur DEEHDRA anging.

Ich hatte noch keine Ahnung, was uns wirklich bevorstand.

Vier Männer der Kröppel-Sippe begleiteten uns. Sie schirmten uns gegen die angriffslus-tigen Pflanzen und Tiere ab.

Razamon wirkte nachdenklich. Ich fragte mich, ob die plötzliche Ruhe echt war, oder ob es wieder nur eine Ruhe vor dem Sturm war.

»Du denkst an das, was er uns vor dem Ab-schied sagte?« fragte ich. Razamon nickte.

»Leute wie mich will er auf dem Großen Zug gesehen haben. Keine Technos und keine Primitiven. Sie waren wie ich.«

»Du denkst an deine Familie?« »Ja, Atlan. Vielleicht mußten auch sie ihre

Heimat am Fuß des Taambergs verlassen.« Ich gab keine Antwort. Mir fiel der Geier

ein. Ich entschloß mich, jetzt keine Fragen zu

stellen. Dazu war Gelegenheit, wenn wir erst auf dem Schiff waren.

»Sieh dich um!« preßte Razamon plötzlich hervor. »Das ist Pthor, meine Heimat. Ich müßte sie hassen, und ich müßte meine Fami-lie hassen. Ich müßte mich selbst hassen, aber ich bin immer noch ein Pthorer!«

In diesem Augenblick kam mir eine Erinne-rung. Ich sah mich als jungen Kristallprinzen im Kampf gegen Orbanaschol, der meinen Vater ermorden ließ und die Arkoniden un-terdrückte. Auch ich war gegen eine Mauer angerannt, aber ich hatte für Arkon gekämpft – für mein Arkon.

Wie gut ich Razamon verstand! Und trotz-dem ahnte ich, daß immer noch etwas in ihm arbeitete, das zur Katastrophe führen konnte. Der kleinste Anstoß genügte.

Der Geier ... Einer der Kröppel kam näher. Er war, eben-

so wie wir, in die Netze gehüllt. Der Leuchter hatte sie uns zum Abschied geschenkt. Trotz-dem hatte er darauf bestanden, daß die vier mit uns gingen.

Es war Dölbe, der fette Kröppel, der Raza-mon gerettet hatte.

»Wir sind gleich am Fluß«, erklärte er. Ich roch seine Fahne. Dölbe hatte vor dem Auf-bruch zwei Rohre von diesem Zeug geleert,

um sich Mut zu machen. Immerhin waren sie noch nie bis zum Fluß gekommen.

Dann erreichten wir auch schon die Schnei-se, durch die ich in den Dschungel eingedrun-gen war.

Wir standen am Ufer und sahen die DEEHDRA. Und noch etwas anderes.

Das gegenüberliegende Ufer des Seiten-arms wimmelte von blauhäutigen Wilden, die emsig wie die Ameisen an einem seltsamen Gestell arbeiteten.

Aus langen Ästen, dünnen Baumstämmen, die an Bambusrohre erinnerten, und Lianen hatten sie eine längliche Plattform fabriziert, die senkrecht in die Höhe ragte und von ei-nem halben Dutzend der Eingeborenen gehal-ten würde.

Razamon begriff als erster. »Eine Brücke!« schrie er. »Sie wollen auf

die DEEHDRA!« Einer der Burschen wirbelte herum und sah

uns. Er rief den anderen etwas zu. Im nächs-ten Augenblick flogen die Pfeile über den Flußarm.

Noch während wir uns in Deckung warfen, wurde mir klar, daß ich die ganze Zeit über eines vergessen hatte.

Die DEEHDRA saß fest. Es genügte nicht, vor den Wilden an Bord zu sein – wir mußten sie freibekommen!

Plötzlich wußte ich, wieso der Leuchter uns die vier Kröppel mitgegeben hatte.

»Dölbe!« Der fette Kröppel kam über den Boden zu

mir gekrochen, während über uns ein neuer Pfeilregen niederging.

»Kennst du diese Burschen?« »Das sind Mapuys, sie sind ein Teil dieses

Dschungels. Auch sie trinken von dem Was-ser aus dem Fluß.«

Das genügte mir. Ich beobachtete ihren Führer. Die Mapuys, wie Dölbe sie nannte, hatten große Ähnlichkeit mit den Dalazaaren aus dem Blutdschungel. Zwei Meter große Hünen, nur war die Haut nicht schwarz, son-dern blau.

Razamon kroch neben Dölbe. »Können wir mit den Netzen in den Fluß

gehen, ohne von den Fischen gefressen zu werden?«

Dölbe bejahte. Ich glaubte zu wissen, was

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ATLAN 13 – Senke der verlorenen Seelen

der Atlanter vorhatte. Nur durch das Wasser konnten wir die Dschunke vor ihnen errei-chen. Wir mußten sowieso in den Fluß, um die DEEHDRA freizuschleppen.

Wieder einmal sah ich mich getäuscht. »Ich schwimme hinüber«, verkündete Ra-

zamon. In den tiefen, schmalen Augen brann-te es wie Feuer. »Ich gehe allein. Versucht ihr, auf das Schiff zu kommen, während ich sie ablenke.«

»Das ist Wahnsinn!« fuhr ich auf. »Auch du bist nicht immun gegen Pfeile!«

Razamon machte sich sprungbereit. Ich spürte, daß ich ihn nicht von seinem Vorha-ben abbringen konnte. In ihm war etwas am Werk, das stärker war als alle Vernunft.

»Du hast Angst!« sagte ich, und dann rutschte es mir heraus: »Angst um den Gei-er!«

Razamons Kopf fuhr herum. Es war un-möglich, diesen Blick auch nur annähernd zu beschreiben. Ich verfluchte meine Unbe-herrschtheit.

Bevor ich reagieren konnte, war er hinter der Deckung aufgesprungen und stürzte sich in das seichte Wasser. Einen Augenblick lang dachte ich, den Verstand verlieren zu müssen, als das Wasser rings um ihn zu schäumen begann. Dann war der Spuk vorbei.

Die Fische ließen von ihm ab! Razamon machte ein paar schnelle

Schwimmstöße, dann tauchte er unter dem Heck der DEEHDRA weg.

Drüben am anderen Ufer begann sich die Brücke über den Fluß zu senken. Wir hatten keine Sekunde zu verlieren.

Der Leuchter hatte mir außer den Netzen und gutem Trinkwasser drei Schläuche mit Wel-Wasser verehrt. Nur mit Hilfe der Droge gelang es mir, Dölbe und seine Kameraden zur Hilfe zu bewegen. Sie schlotterten vor Angst.

Nacheinander glitten wir ins Wasser. Wir konnten teilweise waten.

»Wartet hier!« flüsterte ich Dölbe zu, als wir die Dschunke erreicht hatten. »Ich werfe euch eine Leiter zu.«

Dann griff ich nach einem der knapp über der Oberfläche hängenden Ruder und zog es zu mir herab. Es hing fest in seiner Veranke-rung im Schiffsleib.

Zwei Minuten später befand ich mich an Deck. In der Deckung des Hüttenaufbaus warf ich den Kröppel die Strickleiter ins Wasser. Unter großen Verrenkungen kletterten sie daran hoch.

Ich sah mich hastig um. Die Brücke senkte sich schnell über die Dschunke. Sobald sie irgendwo auflag, würden die Wilden in Scha-ren herüberkommen. Ins Wasser trauten sie sich nicht.

Das Gestell war nur noch wenige Meter ü-ber uns. Wir konnten nicht aus der Deckung, ohne uns ein paar Pfeile einzufangen. Mir wurde mit erschreckender Eindringlichkeit klar, daß wir keine Möglichkeit hatten, uns zu verteidigen.

Plötzlich war drüben am Ufer die Hölle los. Die Wilden kreischten wie verrückt.

Die Brücke über uns bewegte sich. Sie glitt zur Seite, über die DEEHDRA weg, wobei sie kurz den Giebel des Aufbaus streifte, und klatschte ins Wasser!

Gleichzeitig hörte der Pfeilbeschuß auf. Razamon! Ich hielt es nicht mehr in der Deckung aus

und hastete am Aufbau vorbei zur gegenüber-liegenden Reling.

Das war Razamon. Er war zum Berserker geworden.

*

Razamon kannte sich nicht mehr, wenn er

seine Anfälle hatte. Irgendwann wachte er auf und fand sich inmitten der angerichteten Verwüstungen wieder.

Auch jetzt lief alles wie hinter einem dunk-len Filter ab. Das, was sich in ihm aufgestaut hatte, brach mit ungestümer Gewalt heraus. Und doch spürte der Atlanter, daß in diesen Augenblicken etwas Entscheidendes mit ihm geschah.

Die Anfall war stärker als alles, was er bis-her erlebt hatte. Seit dem Betreten der DEEHDRA hatte es in ihm gearbeitet.

Dunkle Schatten stürmten auf ihn zu und wurden von Razamons furchtbaren Hieben zertrümmert. Jeder Schlag war eine Befrei-ung. Razamon steigerte sich in einen nie ge-kannten Taumel der Gewalt. In diesen Au-genblicken war in ihm nichts mehr von dem

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Menschen Razamon, er wütete wie in jenen Tagen, als er mit den anderen Berserkern die Horden der Nacht über blühende Kontinente geführt und ganze Kulturen ausgemerzt hatte.

Dazwischen Bilder: der Taamberg, die Familie ...

Ein weißer Geier, der seine riesigen Schwingen nach ihm ausstreckte.

Als Razamon zu sich kam, stand er zwi-schen Dutzenden von toten Wilden. Ausgeris-sene Baumstämme, zerrissene Lianen und durchgebrochene Äste machten das Bild der Verwüstung komplett.

Razamon drehte sich um und sah die DEEHDRA. Er erkannte Atlan. Der Arkonide starrte ihn ungläubig an.

Widerstrebende Gefühle machten sich in dem Atlanter breit. Aber eines überlagerte alle anderen.

Die unerträgliche Spannung der letzten Stunden war von ihm abgefallen. Er hatte jetzt keine Angst mehr, zurück zur DEEHDRA zu gehen.

*

Ich wurde zwischen Faszination und Ab-

scheu hin und her gerissen. Auch die Kröppel waren unruhig geworden und zogen sich jetzt, als Razamon über die Strickleiter an Deck stieg, ein paar Schritte zurück.

Der Blick des Atlanters ließ mich alles ver-gessen. Ich spürte es nicht nur – ich wußte, daß er die Krise überwunden hatte.

Ich winkte Dölbe zu mir. Die beiden gro-ßen Trinkwasserbehälter lagen vor dem noch verbarrikadierten Eingang der Hütte. Die Rohre und die Medizin für Fenrir trug ich noch am Körper befestigt.

Wir mußten zusehen, daß wir so schnell wie möglich die DEEHDRA freibekamen und hier verschwanden. Unser nächstes Ziel stand fest, seitdem ich den Bericht des Leuchters gehört hatte.

Ich nahm die drei Trinkrohre mit dem Wel-Wasser ab und reichte sie Dölbe.

»Trink!« forderte ich ihn auf. »Du hast es verdient.«

Er sah mich unsicher an. Dann öffnete er den Verschluß und setzte den Schlauch an. Er leerte ihn mit einem einzigen Zug.

»Aah!« stöhnte er genußvoll. Sein Blick wanderte hinüber zu Razamon, der abwartend an der Reling stand. Im Augenblick drohte uns keine Gefahr.

Dölbe sah mich mit Verschwörermiene an. Sein Mund näherte sich meinem Ohr.

»Hat er das oft?« fragte er leise. »Jetzt nicht mehr«, beruhigte ich den Kröp-

pel. Ich hatte inzwischen genug Gelegenheit gehabt, diesen Dölbe zu beobachten – und er war so ziemlich das einzige Angenehme, was mir bisher auf diesem Pthor untergekommen war.

»Psst!« zischte ich Dölbe zu, als er sich ent-fernen wollte, um zum nächsten Rohr zu grei-fen.

»Ja?« Ich kniff die Augen zusammen und setzte

nun meinerseits eine möglichst geheimnis-trächtige Miene auf. In konspirativem Ton flüsterte ich: »Er hat von dem Wel-Wasser probiert, mein Freund. Er verträgt es nicht, du verstehst?«

Dölbe verstand. »Ein seltsamer Mensch.« Ich nickte. Dölbe langte nach dem zweiten

Rohr und leerte auch dies. Das letzte überließ er seinen drei Kumpanen.

Jetzt waren sie gestärkt genug, um die Dschunke freizuschleppen.

Wir räumten den Weg ins Schiffsinnere frei und holten ein paar starke lange Seile, die wir am Heck befestigten.

»Übernimm du das für einen Moment!« rief ich Razamon zu und stieg nach unten. Wäh-rend ich den Gang entlangging, kam mir der furchtbare Gedanke, daß Fenrir gar nicht mehr am Leben sein könnte.

Ich atmete auf, als ich über dem Wolf knie-te und den Puls spürte.

Fenrir öffnete die Augen, aber er war zu schwach, um die Beine zu bewegen. Er konn-te nicht einmal den Kopf heben, aber er er-kannte mich. Ein leises Winseln begrüßte mich.

»Bald geht's dir besser, mein Guter«, sagte ich ruhig. Dann flößte ich ihm die Medizin ein.

Fenrir schloß wieder die Augen. Jetzt konn-ten wir nur warten.

Als ich an Deck war, hatten sie die Taue festgemacht. Dölbe und die drei anderen

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Kröppel waren bereits im Wasser.

Razamon stand am Steuer. Ich nickte ihm zu und folgte den Kröppeln.

Es dauerte eine knappe Stunde, dann hatten wir die Dschunke aus der Sandbank gezogen. Wir ließen die Taue erst los, als wir die DEEHDRA gewendet hatten. Der Bug zeigte jetzt auf die Stromschnellen.

Wir palaverten noch einige Zeit an Deck mit den Kröppeln, wobei Dölbe allerlei dum-mes Zeug redete. Er war offensichtlich be-trunken, und das nicht zu knapp. Jedenfalls verkündete er feierlich, daß er sofort nach der Rückkehr ins Dorf seine ehemalige Gefährtin Krösel übers Knie legen und sie wieder in seine Hütte schleppen würde. Die Gesichter der anderen sagten mir alles. Ich konnte mir lebhaft ausmalen, wer wen übers Knie legen würde.

Dann verabschiedeten sich die Kröppel und verschwanden am Ufer. Es war ein unwirkli-ches Bild. Rings um sie herum war das Töten in vollem Gange, aber sie gelangten ungehin-dert weiter. Die Bestien hatten eine Höllen-angst vor den Netzen.

»Es wird Zeit«, sagte Razamon. Nur langsam löste ich mich aus meinen

Gedanken. Der viel zu kurze Augenblick der Ruhe war vorüber. Was jetzt vor uns lag, war wieder ein neuer Teil der Hölle von Pthor.

Und wieder die alte Frage: Würden wir an unserem nächsten Ziel etwas über die Herren von Pthor erfahren können, in der Senke der verlorenen Seelen?

Allein der Name trieb mir einen Schauer über den Rücken.

5.

Gegen Mittag waren wir auf dem eigentli-

chen Regenfluß. Wir hatten uns so dicht wie möglich am Ufer gehalten und die DEEHDRA an den Stromschnellen vorbei-manövrieren können.

An der Gabelung im Delta des mächtigen Flusses konnten wir wieder auf den See hi-naussehen, und wiederum schienen im Son-nenlicht die gräßlichsten Fratzen vom Grund zu uns heraufzustarren.

Und da war wieder der dunkle Schatten, den ich schon wiederholt bemerkt hatte. Er

glitt in etwa fünfzig Metern Entfernung hinter uns her, hielt sich aber zurück.

Es blies ein schwacher Wind von Westen her, aber er genügte, um uns flußaufwärts zu treiben.

Der Regenfluß war nahe der Mündung etwa 200 Meter breit. Wir segelten in der Mitte, um von beiden Ufern einen größtmöglichen Ab-stand zu halten. Immer noch wirkte die Auf-ladung des Wassers, und an beiden Ufern war der Teufel los.

»Mich wundert, daß hier überhaupt noch etwas lebt«, sagte Razamon.

Tatsächlich war es wie in dem kleinen Sei-tenarm: Pflanzen- und Tierwelt zerfleischte sich gegenseitig. Gruppen von humanoiden Eingeborenen bekämpften sich mit Messern und Speeren. Wiederholt mußten wir vor Pfeilbeschuß in Deckung gehen.

Erst als wir etwa 10 Kilometer flußaufwärts gesegelt waren, stellte sich sichtbar eine Ver-änderung ein. Die Natur beruhigte sich. Bald sahen wir eine farbenfrohe Uferlandschaft, in der die Kreaturen in Frieden miteinander leb-ten.

Wir hatten den Bannkreis der Vergiftung verlassen.

Von nun an verlief die Fahrt ohne nen-nenswerte Zwischenfälle. Sorge bereitete mir der dunkle Schatten, der uns noch immer folgte. Wenn es ein Tier war (und eine andere Möglichkeit erschien mir nicht denkbar), dann war es ein Riese, vielleicht eine Art Wal.

Ich mußte an die Rammstöße denken, die die DEEHDRA im See erschüttert hatten. Hatte unser geheimnisvoller Begleiter etwas damit zu tun?

Als es dunkel wurde, stellten wir ein paar der in großer Zahl vorhandenen Talglichter an Deck auf.

»Du hast den Geier gesehen«, sagte Raza-mon unvermittelt.

Ich nickte. »Komm mit«, forderte er mich auf.

* Wieder hatte ich das Gefühl, in ein Heilig-

tum einzudringen, als Razamon die Tür zu dem kleinen Laderaum öffnete.

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ATLAN 13 – Senke der verlorenen Seelen

Ich traute meinen Augen nicht, als ich im

Schein des Lichts den weißen Geier erblickte. Das Tier zischte drohend. Razamon trat an

den Sockel heran und fuhr ihm mit der fla-chen Hand über den Schädel. Sofort beruhigte es sich.

Die Füße des Geiers waren frei, und er wirkte erholt. Kein Zweifel: Razamon hatte ihn gepflegt, während ich oben an Deck ge-wesen war. Der Vogel ließ sich von dem At-lanter anfassen, starrte mich aber unverändert mit einer Mischung aus Mißtrauen und Feind-seligkeit an.

Razamon lächelte! Er machte eine Geste. Ich folgte seinem

Beispiel und setzte mich auf eine Kiste, die bei meinem ersten Besuch in diesem Raum noch nicht hier gewesen war. Ich vermutete, daß sie Nahrungsmittel enthielt, mit denen er den Geier fütterte.

»Es ist ein Stormock«, begann der Atlanter. »Ein Vogel aus meiner Heimat am Taamberg. Er ist die eigentliche Fracht der DEEHDRA. Gegen einen Stormock sind alle Schätze in den Truhen wertlos. Es heißt, daß dem, der einen Stormock besitzt, fortan Glück und Reichtum winken.«

»Ist er der Grund für deine ...« »Krise?« vollendete Razamon. »Zum Teil.

Stormock gab den Ausschlag. Ich spürte es in mir gären, seitdem wir Gorzohn begegnet waren. Er könnte einer von meinen Leuten gewesen sein.«

Ich verstand. Etwas Ähnliches hatte ich vermutet. In Razamon war die Vergangenheit mit einem Schlag lebendig geworden.

»Als ich in diesen Raum trat, war ich plötz-lich wieder ein Kind, das am Fuß des Taam-bergs mit den Geiern spielte. Und dann war alles wie ein Traum. Nur manchmal wachte ich auf und hatte Angst vor dem, was ich se-hen würde.«

Er lachte trocken auf. »Ich konnte dir nichts sagen, verstehst du,

Atlan? Das war eine Sache, mit der ich allein fertigwerden mußte. Alles kam plötzlich auf mich zu, Erinnerungen, die ich ...«

Ich wurde hellhörig. »Erinnerungen?« »Nur Teile ... Eindrücke, nicht mehr. Nichts

Konkretes.« »Und du glaubst, das du's überstanden

hast?« Razamon nickte. »Vorläufig habe ich meine Ruhe wieder.

Aber ich habe Angst vor dem, was wir finden werden.«

»Die Senke der verlorenen Seelen«, mur-melte ich. »Erinnerst du dich daran?« Ich zeigte auf die Karte, die ich zusammengefaltet bei mir trug. Gorzohn hatte die Lage dieser geheimnisvollen Stätte verzeichnet.

»Ich weiß, daß es sie gibt. Alles andere sind vage Bilder. Irgend etwas geschieht dort, und das ist etwas unvorstellbar Grausames.«

»Du weißt, was ich vorhabe?« fragte ich. »Du wärest nicht der, der du bist, wenn du

nicht in diese Senke wolltest.« Razamon drehte den Kopf und sah den

Geier wehmütig an. Das Tier gab den Blick zurück. Zwischen den beiden bestand offen-bar eine seltsame Beziehung.

Razamon wollte zum Taamberg, wo der Fluß entsprang. Dort vermutete er die Nach-kommen seiner Familie, der Familie Knyr.

Die Knyr waren Berserker und führten die Vernichtungsfeldzüge im Auftrag der Herren der FESTUNG aus. Sie trieben die Horden der Nacht aus der Ebene Kalmlech über die okkupierten Welten. Razamon mußte sie has-sen!

Konnte ich mir überhaupt ein Bild davon machen, wie es in dem Atlanter aussah?

»Es ist gut«, sagte Razamon schließlich. Ich atmete erleichtert auf. Mein Entschluß,

mich in der Senke umzusehen, stand fest. Hät-te der Atlanter sich gesträubt, so hätte das unsere Trennung bedeutet – jedenfalls vorläu-fig.

»Eine letzte Frage, Razamon: erinnerst du dich an die Herren der FESTUNG?«

Noch bevor ich ausgesprochen hatte, wußte ich, daß die Frage unsinnig war.

Razamon kam auch nicht mehr dazu, zu antworten, denn in diesem Augenblick bekam die DEEHDRA einen heftigen Stoß. Der Gei-er kreischte laut auf und schlug mit den ge-stutzten Flügeln um sich.

Dann erfolgte der zweite Stoß. Ich kippte von meiner Kiste und fand mich am Boden wieder.

Wasser drang in die DEEHDRA. Wir hat-ten ein Leck!

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ATLAN 13 – Senke der verlorenen Seelen

* Wazraal fühlte sich miserabel. Eine ganze Nacht hatte er an der Gabelung

hinter dem Wilden Wasser darauf gewartet, daß das Monstrum zurück in tiefere Gewässer kam. Nur da konnte er auf Erfolg hoffen. Sie mußten zurückkehren, denn kurz hinter der Stelle, wo das Monstrum lag, hörte die Welt auf.

Wazraal war fast krank bei dem Gedanken geworden, auf die Rache für die tote Gefähr-tin verzichten zu müssen.

Dann, als er kaum noch Hoffnung hatte, war das Monstrum zurückgekehrt und in den großen Strom eingebogen. Wazraal wußte, daß jetzt bald seine Stunde kommen würde.

Wazraal hatte keine Ahnung davon, daß er es gewesen war, der das hölzerne Monstrum an den Wilden Wassern durch seinen unkon-trollierten Rammstoß gerettet hatte.

Jetzt war das Wasser günstig. Aber seit kurzem spürte Wazraal, daß eine unheimliche Veränderung mit ihm vorging. Er hatte große Schmerzen, und immer öfter packte ihn ein nie gekannter Schwindel.

Dann sah er das hölzerne Monstrum über sich und rammte es mit der ganzen Kraft sei-nes gigantischen Körpers.

*

»Dieses Biest!« schrie ich und stürmte auf

den Gang hinaus. Razamon folgte mir. Ich berichtete ihm im Laufen von meinen Beo-bachtungen.

Das Wasser kam von vorne, aus der Kom-büse.

Die Tür zum großen Laderaum rechts von der Kombüse stand weit auf. Noch bevor ich drinnen war, sah ich das Leck. Es war so groß, daß ein Mann durchkriechen konnte.

Der Laderaum stand unter Wasser. Raza-mon hatte bereits Stoffetzen und Latten in der Hand, die er mit seinen Bärenkräften aus ei-ner großen Kiste gerissen hatte.

Wir waren fast heran, als der Schatten wie-der angriff. Für einen kurzen Augenblick konnte ich ein riesiges Auge erkennen. Dann brachen weitere Planken. Holz splitterte, und eine furchtbare Zahnreihe wurde kurz sicht-

bar. Dann war der monströse Kopf ver-schwunden.

Wenn es uns nicht gelang, das Leck sofort abzudichten, würde die DEEHDRA sinken. Wir kümmerten uns nicht darum, daß jeden Augenblick ein neuer Angriff erfolgen konn-te, und machten uns an die Arbeit.

Ich konnte gar nicht so schnell arbeiten, wie Razamon das Material herbeischaffte. Als wir genug Latten und Stoff hatten, tauchte er mit einer Handvoll großer Nägel und einem eisernen Gegenstand auf, den wir als Hammer benutzen konnten.

Das Wasser stieg! Einen weiteren Ramm-stoß würde die Dschunke nicht überstehen.

Razamon stemmte sich gegen die Bretter, die er in gitterförmiger Anordnung über das Leck gelegt hatte, während ich an den Enden fest hämmerte. Er wußte genau, welcher Ge-fahr er sich aussetzte. Wenn der Angreifer zurückkehrte ...

Die ersten Latten saßen und hielten. Noch war das einäugige Ungeheuer nicht aufge-taucht. Das Wasser stand uns bis zu den Knien.

Und in der Kombüse lag Fenrir! Wir arbeiteten wie die Besessenen. Raza-

mon holte weitere Latten. Wir stopften den Stoff dazwischen und alles, was sich zum Abdichten eignete.

Nach fünf weiteren Minuten war das Leck abgedichtet.

»Sieh nach dem Fenriswolf!« sagte ich. Ra-zamon mußte den gleichen Gedanken gehabt haben. Er war schon unterwegs.

Ich hämmerte noch einige Latten zur zu-sätzlichen Verstärkung über die abgedichtete Stelle. Dann watete ich in die Kombüse.

»Fenrir ist weg!« sagte der Atlanter. Wir stürmten durch den Gang und die

Holztreppe hinauf. Um das Gekreische des Geiers konnten wir uns leider nicht kümmern.

Fenrir stand neben dem Steuer an Deck und wedelte mit dem Schwanz, als er uns kommen sah.

»Gott sei Dank«, flüsterte ich. Der Wolf kam zu uns und versuchte, an uns hochzu-springen, aber noch war er zu schwach. Auf jeden Fall hatte die Medizin der Kröppel ge-wirkt. Bald schon würde Fenrir wieder der alte sein.

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ATLAN 13 – Senke der verlorenen Seelen

Ich trat an die Reling und sah an der Gali-

onsfigur vorbei auf das Wasser. Nichts. Dafür hatte Razamon am Heck mehr Glück.

»Hier ist er!« rief er. Ich ging an der Hütte vorbei und sah hinab.

Der Schatten folgte uns wieder im gewohn-ten Abstand.

»Weiß der Teufel, was das für ein Biest ist«, fluchte ich.

»Der ist mindestens so groß wie ein Wal«, meinte der Atlanter.

Plötzlich wurde der Schatten deutlicher. Und dann tauchte der monströse Kopf für Sekunden auf. Razamon pfiff leise durch die Zähne.

»Ein Zyklop«, stellte er fest. »Hoffentlich hat er für heute genug«,

brummte ich mißtrauisch. »Es sieht ganz so aus«, sagte Razamon.

Jetzt sah ich auch, daß das Wasser um ihn herum rot wurde. Er hatte sich offenbar bei seinem Angriff ein paar Schrammen geholt.

»Der hat vorläufig die Nase voll«, sagte Razamon. Und dann, mit einem Grinsen: »Es wird Zeit fürs Abendessen, Atlan. Heute gibt's etwas Besonderes.«

»Und das wäre?« »Fisch.«

6. Sieben Tage später hatten wir die Höhe der

Senke der verlorenen Seelen erreicht. Wir hatten in Gorzohns Karte einen unschätzbaren Helfer gehabt.

Wir waren langsamer vorangekommen als am ersten Tag. Der Wind war schwächer ge-worden. Unser einäugiger Freund schwamm immer noch hinter uns her, ließ uns aber in Ruhe. Ich hatte den Eindruck, daß irgend et-was nicht mit ihm stimmte.

Wir fanden einen ruhigen Seitenarm ähn-lich dem, in den es uns vom Dämmersee aus getrieben hatte, und steuerten die Dschunke hinein. Das Wasser war seicht, und wir hatten mit dem Manövrieren Schwierigkeiten, aber schließlich gelang es uns, an einer geeigneten Stelle zu ankern.

Wir hatten während der Fahrt auf dem Re-genfluß gute siebzig Kilometer hinter uns gebracht.

Razamon und ich kleideten uns ein weiteres Mal neu ein. Unsere einzigen Waffen waren immer noch unsere Messer. Außer ihnen nahmen wir unsere Quorks mit.

Stormock hatte sich, ebenso wie Fenrir, während der Fahrt erholt. Jetzt akzeptierte das stolze Tier sogar mich. Wir einigten uns dar-auf, den Geier an Bord als Wache zurückzu-lassen. Fenrir kam mit uns.

Wir hatten die Nacht noch an Bord der DEEHDRA verbracht. Am frühen Morgen brachen wir auf. Wir würden uns bald wieder um etwas zu Essen umsehen müssen, denn unsere Vorräte waren fast alle durch das ein-gedrungene Wasser, das wir in mühevoller Arbeit ausgeschöpft hatten, verdorben.

Gegen Mittag kamen wir an eine Hügelket-te, und als wir den Kamm erreicht hatten, lag im Norden die Senke vor uns.

Wie riesige Kristalle lagen die gläsernen Kästen in der brennenden Mittagssonne.

*

Sirkat stand vor der großen Westscheibe

seines luxuriös eingerichteten Glaspalasts und starrte hinaus in die Ebene. Aus dem Hinter-grund drangen beruhigende Klänge an seine Ohren. Aber selbst die auf sein aufgerütteltes Innenleben abgestimmten Rhythmen konnten die Spannung nicht von ihm nehmen.

Sirkat war noch ein junger Techno. Er war außergewöhnlich groß, und in seinen Augen brannte ein wildes Feuer. Ansonsten glich er den anderen Technos seines Stammes: Das auf den ersten Blick hochmütig wirkende Ge-sicht war umrahmt von pechschwarzen Haa-ren, auch die Augen waren schwarz. Die Stirn des Technos war fliehend und verlieh dem Gesicht einen seltsam unfertigen Eindruck.

Auch Sirkat trug die zweiteilige Lederrüs-tung mit allerlei eingebrannten Symbolen, dazu den Waffenrock und hochschäftige Le-derstiefel. Die Rüstung wurde von einem brei-ten Gürtel zusammengehalten, an dem sich vorne das Futteral mit der Waggu und man-cherlei anderen Utensilien befand.

Sirkats Hand tastete über das Futteral, bis sie den Stab fühlten, der in seinen Plänen eine zentrale Rolle spielte.

Der Techno preßte die ohnehin schmalen

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Lippen so stark zusammen, daß sie fast farb-los wurden. Er ließ den Blick über den Teil der Senke wandern, den er von hier aus über-sehen konnte.

Technos auf Torcs, den Universalfahrzeu-gen der Senke, fuhren zwischen den Glaspa-lästen hin und her. Alle Paläste waren durch Fahrwege miteinander verbunden.

Wann kam endlich Tilrip? Wenn es in der Nacht zum entscheidenden Schlag kommen sollte, mußten noch wichtige Vorbereitungen getroffen werden.

Sirkat sah die Gesichter von Heinzkoor und Gryp vor sich. Er stieß einen heftigen Fluch aus.

Es mußte klappen! Sirkat wurde übel bei dem Gedanken, daß die Geschicke in der Senke auch nur einen weiteren Tag in der Hand dieser Unfähigen liegen könnten. Heinzkoor und Gryp mußten beseitigt wer-den.

Ein Torc erschien hinter einem der nahe-stehenden Paläste und kam direkt auf Sirkats Domizil zu.

»Es wurde auch Zeit!« Der Torc hielt auf dem dafür vorgesehenen

Feld an. Tilrip stieg aus und schritt auf den Glaspalast zu.

Sirkat betätigte den Öffner. Eine Minute später stand er seinem Vertrauten gegenüber.

Sie verständigten sich mit einem Blick. »Gut, daß du da bist«, sagte Sirkat. »Hast

du die Steine gefunden?« »Du wirst zufrieden sein«, strahlte Tilrip.

»Einige herrliche Exemplare für deine Samm-lung.«

»Laß uns in mein Labor gehen, dort sehen wir sie uns an.«

Tilrip verstand. Sirkats »Labor« war ein kleiner Raum, der vor Abhörern sicher war. Heinzkoor und Gryp, die Herren der Senke, wußten, daß es einige Technos gab, die gerne ihren Platz eingenommen hätten, und hatten sich abgesichert. Überall konnten »Wanzen« versteckt sein.

Als sie im »Labor«, einem drei mal drei Meter großen, spartanisch eingerichteten Raum saßen, veränderte sich Tilrips Miene. Tilrip gehörte wie Sirkat zu den jungen Tech-nos in der Senke der verlorenen Seelen, die auf den Sturz der beiden Alten hinarbeiteten.

»Heinzkoor und Gryp sind auf der Jagd«, berichtete Tilrip. »Gryp hat Batta-Steels auf-geweckt und laufenlassen, mindestens ein halbes Dutzend. Sie stecken irgendwo im Norden in den Wäldern.«

Sirkat stöhnte laut. Batta-Steels! »Sie wer-den immer verrückter. Bis wann werden sie sie erledigt haben?«

»Spätestens bei Dämmerung.« »Gut«, sagte Sirkat. Er dachte angestrengt

nach. Eigentlich paßte ihm die neue Wahn-sinnstat der Alten ins Konzept. Die Batta-Steels waren gefährlich. Natürlich würden die Jäger sie zur Strecke bringen, dafür sorgten die Impulsgeber, die die Batta-Steels ohne ihr Wissen am Körper trugen.

Es war zum Sport für die Dekadenten ge-worden, Gefangene aufzuwecken und ihnen die Flucht zu ermöglichen. Dann jagten sie sie und ließen sie gelähmt wieder in ihre Paläste schaffen.

Wie alle Technos, wußte Sirkat nichts über die Herren in der FESTUNG. Aber er wußte, daß das, was Heinzkoor und Gryp veranstalte-ten, nicht in ihrem Sinn sein konnte.

Und Sirkat war ehrgeizig. Er würde die Al-ten beseitigen und die Herrschaft über die Senke übernehmen. Dann würde er dafür sor-gen, daß die Zustände sich wieder im Sinn (dem von ihm vermuteten Sinn) der Herren entwickelten.

Sirkats Traum war, einmal einem der Her-ren der FESTUNG gegenüberzustehen. Dazu mußten Heinzkoor und Gryp sterben.

»Wir müssen die Stimmung gegen sie auf-heizen. Jetzt gleich. Wenn bekannt wird, daß sie Batta-Steels freigelassen haben ...«

»Sie werden sie erledigen«, erinnerte Tilrip. Sirkat lächelte. »Das schon. Aber das wissen nur wir. Die

da draußen werden keine ruhige Minute ha-ben, bis sie mit der Beute zurück sind. Sie werden sich kurz beruhigen, bis sie hören, daß die Argots ausgebrochen sind.«

Ein teuflisches Lächeln umspielte Tilrips dünne Lippen.

»Und dafür werden wir sorgen«, sagte er.

* Die Batta-Steels waren mannsgroße Insek-

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ATLAN 13 – Senke der verlorenen Seelen

ten und stammten aus einer der vielen Gala-xien, die Pthor während seiner Reise durch die Dimensionen heimgesucht hatte. Sie wa-ren so ziemlich das Gefährlichste, was in den Konservierungskammern der Glaspaläste zu finden war.

Gryp und Heinzkoor hatten das Kommando über die in der Senke lebenden Technos. Ei-gentlich wäre es ihre Aufgabe gewesen, die konservierten Wesen in den Glaspalästen zu pflegen und zu bewachen, bis Pthor eines Ta-ges wieder in der Schwarzen Galaxis materia-lisieren würde.

Aber damit hatten die beiden Alten wenig zu tun. Hatten sie früher versucht, durch Intri-gen und Ränke den Konkurrenten aus dem Weg zu schaffen, um jeweils die ungeteilte Macht zu erlangen, so waren sie mittlerweile soweit, ihre Rivalität in den Jagden auf freige-lassene Gefangene auszutoben. Daß sie dabei gegen die Befehle der Festungsherren handel-ten, störte sie nicht weiter.

Natürlich hatten auch Gryp und Heinzkoor Angst vor den mysteriösen Herrschern, aber bisher war von der FESTUNG kein Protest gekommen, und so waren die beiden Techno-Führer immer verwegener geworden.

Die Jagd auf die Batta-Steels war ein neuer Höhepunkt für sie.

Gryp lauerte in seinem Versteck am östli-chen Rand des Waldes, in dem die Insekten steckten. Über ein Peilgerät verfolgte er jede ihrer Bewegungen.

Irgendwo am Südrand lag Heinzkoor auf der Lauer. Gryp kicherte in sich hinein. Heinzkoor hatte keine Ahnung davon, daß seine Waggu präpariert war. Gryp hatte von einem Komplizen an der Lähmwaffe des Ri-valen einen winzigen Impulsgeber anbringen lassen. So wußte er immer, wo sein Gegen-spieler sich gerade aufhielt.

Auf die Idee, daß Heinzkoor ihm einen ähnlichen Streich gespielt haben könnte, kam er gar nicht.

Die Batta-Steels kamen näher. Es waren insgesamt fünf. Gryp strich über die Waggu. Es war eine besonders verstärkte Waffe, einer seiner Getreuen hatte sie »frisiert«. Er würde die Batta-Steels in Sekundenschnelle lähmen und ihnen symbolisch den Garaus machen. Sie zu töten, wagte auch Gryp nicht. Man

würde sie zurück in ihren Glaspalast bringen und wieder einschläfern.

Heinzkoor wartete immer noch an der glei-chen Stelle. Ein Dummkopf, dachte Gryp an-gesichts des sicheren Triumphs.

Nach einer Viertelstunde knackte es im Un-terholz. Und da es in der Senke der verlorenen Seelen keine größeren Tiere gab, konnten das nur die Batta-Steels sein.

Und dann tauchten auch schon ihre in der Sonne glitzernden Leiber auf. Gryp wartete, bis sie alle im Freien waren, dann schoß er. Der Baumstamm, hinter dem er lag, hatte ihn bisher versteckt.

Einer der Batta-Steels brach getroffen zu-sammen. Aber bevor Gryp auf den nächsten anlegen konnte, sanken alle vier zu Boden.

»Was ist denn nun schon wieder?« murmel-te der alte Techno.

Im nächsten Augenblick trat Heinzkoor aus dem Wald.

»Das ist doch ... wieso bist du nicht im Sü-den?«

Heinzkoor, einen Kopf größer als Gryp, da-für aber schmaler, grinste schadenfroh.

»Da liegt meine Waggu – die, die du präpa-riert hast. Nein, Gryp, wer mich hereinlegen will, muß schon schlauer sein als du!«

»Hmm«, machte Gryp. »Also geht die Runde an dich.«

»An mich«, bestätigte Heinzkoor. »Der Stand?«

»33 zu 38 für dich«, knirschte Gryp. »Aber das wird sich ändern.«

»Sicher wird es das«, sagte Heinzkoor zweideutig.

»Also gut, Heinzkoor, lassen wir sie zu-rückbringen.«

Die beiden alten Technos schüttelten sich die Hände und machten sich auf den Weg zu ihrem Torc. Andere Technos würden kommen und die Gefangenen zurückbringen.

Was mit den beiden los war, ließ sich auf einen einfachen Nenner bringen: Heinzkoor und Gryp waren senil geworden, im Alter verblödet.

Und doch entschied in der Senke ein Wort von ihnen über Leben und Tod.

Diese Kombination aus totaler Macht und Wahnsinn machte sie zu einer unermeßlichen Gefahr für alle, die ihnen nicht ins Konzept

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ATLAN 13 – Senke der verlorenen Seelen

paßten.

*

Sirkat beobachtete, wie Gryp und Heinz-

koor im Triumphzug in die Metropole zu-rückkehrten. In der Senke der verlorenen See-len gab es mehr als 3000 Glaspaläste, genau gesagt waren es 3012. Die Senke hatte eine Ausdehnung von 110 mal 70 Kilometern. Die Glaspaläste lagen überall in der Senke ver-streut.

Trotzdem spielten sich alle wichtigen Vor-gänge hier im Zentrum ab. Hier lebten die wichtigsten Persönlichkeiten des etwa 12 000 Mitglieder umfassenden Techno-Stamms.

Gryp und Heinzkoor gaben eine weitere Demonstration ihrer Macht.

Sirkat wandte sich angewidert ab. Tilrip war seit Stunden unterwegs, um die Technos in den Glaspalästen und den wenigen Kom-munikationszentren aufzuwiegeln. Es kam darauf an, ihnen die Angst vor dem einzuja-gen, was passieren könnte, wenn es den bei-den Führern einmal nicht gelang, freigelasse-ne, gefährliche Gefangene nicht zur Strecke zu bringen. Tilrip sollte dabei auch auf die Möglichkeit anspielen, daß einmal Gefangene unkontrolliert ausbrechen könnten.

Und genau das war es, was in dieser Nacht geschehen würde.

Sirkat wartete die Dunkelheit ab. Dann machte er sich auf den Weg. In einem Torc, der den Zugors der Technos von Zbohr und Zbahn glich, aber nicht flugfähig, sondern mit einem einfachen Radantrieb versehen war, fuhr er aus dem Zentrum in südlicher Rich-tung. Die Glaspaläste standen hier nicht so dicht beieinander, und bald begegneten ihm keine Techno-Patrouillen mehr.

An einem einsam gelegenen Palast brachte er den Torc zum Stehen. Sirkat stieg aus und griff in sein Futteral. Er zog den schlanken Stab heraus und öffnete damit den verriegel-ten Eingang.

Es waren keine Technos in dem Glaspalast. Tilrip hatte dafür gesorgt, daß Sirkat freie Bahn hatte.

Alle Glaspaläste waren nach dem gleichen Schema konstruiert. Sie waren in der Anlage rechteckig und 60 mal 20 Meter groß. Ihre

Höhe betrug ebenfalls 20 Meter. Die Paläste bestanden ganz aus glasähnlichem Material, das von dünnen Metallstreben durchzogen und stabilisiert wurde.

Jeder Glaspalast war in die Konservie-rungsräume für die Wesen, die auf den von Pthor besuchten Welten eingesammelt wur-den, und die Wohnräume der Technos unter-teilt. Unterschiede ergaben sich lediglich aus der verschiedenartigen Physiognomie der je-weiligen Gefangenen und aus dem Status der Technos. Höhergestellte Technos wie Sirkat verfügten über luxuriöser eingerichtete Wohnräume als die normalen.

Sirkat hatte vorsichtshalber die Waggu ge-zogen. Zielstrebig bewegte er sich durch die Wohnräume. Das Licht des Mondes brach sich in den Glasflächen und tauchte das Inne-re des Glaspalastes in gespenstisches Licht. Natürlich konnte Sirkat nicht das Risiko ein-gehen, die Innenbeleuchtung einzuschalten.

Tilrip hatte ganze Arbeit geleistet. Die komplizierte Alarmanlage des Palasts war ausgeschaltet.

Sirkat erreichte die halbtransparente Trennwand, hinter der sich die Konservie-rungsräume befanden. Auf einen Impuls des Passepartouts hin bildete sich eine Öffnung. Zischend schloß sie sich hinter Sirkat.

Nach seinen Informationen befanden sich in den Wandnischen sieben Argots, drei Me-ter große, bärenartige Wesen, die, wie der Techno aus den Speichern erfahren hatte, selbst den Horden der Nacht auf ihrer Hei-matwelt zu schaffen gemacht hatten.

Es würde genügen, wenn er drei von ihnen aufweckte und ihnen die »Flucht« ermöglich-te. Selbstverständlich dachte er nicht daran, sie wirklich laufen zu lassen. Er würde sie betäuben und in seinen Glaspalast schaffen. Tilrip würde zur verabredeten Zeit mit seinem Torc auftauchen.

Allein die Nachricht, daß drei Argots aus-gebrochen waren, genügte, um eine Panik auszulösen. Und Sirkat hatte dafür gesorgt, daß sich der Zorn der Technos gegen ihre beiden Führer richten würde. Natürlich wür-den Gryp und Heinzkoor alles tun, um die Ausbrecher einzufangen, aber sie würden sie nicht finden.

Dann war Sirkats Stunde gekommen.

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Der junge Techno gelangte über einen

schmalen Gang in die erste der Konservie-rungskammern. Hier brannte ein mattes blau-es Licht. Sirkat war auf den Anblick des in der Wandnische liegenden Riesen vorbereitet, dennoch mußte er schlucken.

Er nahm sich zusammen und programmier-te die Entkonservierung.

Sirkat wiederholte den Vorgang in zwei weiteren Kammern. Dann ließ er die Türen zum Gang offen und ging zurück zur Trenn-wand. Diesmal schloß sie sich nicht.

Sirkat blickte auf ein Chronometer. Der Wiederbelebungsprozeß dauerte erfahrungs-gemäß etwas länger als eine halbe Stunde.

Der Techno ließ sich in ein unbequemes Sitzmöbel fallen und wartete. In Gedanken malte er sich den bevorstehenden Aufruhr im Zentrum aus.

Er war fest davon überzeugt, im Sinn der unbekannten Herren in der FESTUNG zu arbeiten. Und eines Tages würden sie ihn be-lohnen.

Die halbe Stunde verstrich. Sirkat spielte nervös mit seiner Lähmwaffe.

Und dann hörte er die ersten Geräusche von jenseits der Trennwand. Ein ohrenbetäuben-des Brummen, das seltsam zerhackt wirkte und von den Wänden zurückgeworfen wurde, erscholl aus dem Gang.

Sirkat stand auf und trat von der Trenn-wand zurück. Die Hand mit der stabförmigen Waffe zeigte auf die Öffnung.

Der Techno mußte sich zwingen, abzuwar-ten, bis alle drei Hünen sich durch die Öff-nung gezwängt hatten.

Was für Biester! fuhr es ihm durch den Kopf. Aber um so besser!

Die drei Argots standen einen Augenblick lang unschlüssig vor der Trennwand. Sie wa-ren offensichtlich verwirrt und wußten nicht, was sie von der ganzen Sache halten sollten.

Einer von ihnen richtete seinen Blick auf Sirkat und fletschte die Zähne.

Das war der Augenblick, als Sirkat die Fin-ger auf den Druckauslöser preßte. Aber es passierte nichts!

Starr vor Schreck betätigte Sirkat immer wieder den Druckauslöser, aber kein Lähm-strahl löste sich aus dem Lauf der Waggu!

Bevor der Techno reagieren konnte, stand

einer der Argots vor ihm und wischte Sirkat mit einem einzigen Prankenhieb beiseite.

* Der Alarm gellte in den frühen Morgen-

stunden durch die Senke. In jedem der 3012 Glaspaläste, in den Kommunikationszentren, den Depots – überall, wo sich Technos auf-hielten.

Minuten später war auf den Straßen der Teufel los.

Heinzkoor betrachtete das Treiben mit ge-mischten Gefühlen. Gryp, der sich sofort bei ihm eingefunden hatte, stieß einen lauten Fluch aus.

»Das ist dein Werk!« beschuldigte er den Rivalen.

Heinzkoor fuhr herum. »Gryp, du weißt genau, daß ich nichts mit

dem Ausbruch zu tun habe. Ich erinnere dar-an, daß du es warst, der sich schon einmal einen ähnlichen Scherz erlaubte, um sich ei-nen Vorteil bei der Jagd zu verschaffen. Da-mals warst du schon hinter den Psylons her, als ich gerade von ihrer Flucht erfuhr – durch einen deiner Männer!«

»Soll das heißen, daß du mich verdäch-tigst?«

»Wer soll sonst so verrückt sein, drei Ar-gots laufenzulassen? Argots, Gryp!«

Gryp fluchte wieder. Im Hintergrund zirpte ein Empfänger. Von überallher kamen die Anrufe der aufgeschreckten Technos.

»Ich war es nicht, Heinzkoor, du mußt es glauben.«

»Um mich auszuschalten, würdest du ganz andere Dinge tun.«

»Du auch, Heinzkoor, aber ich war es wirk-lich nicht.«

Heinzkoors Miene wurde nachdenklich. »Ich auch nicht. Wer dann?« »Es gibt jemanden, der gern an unsere Stel-

le treten würde.« »Sirkat?« Gryp antwortete nicht, machte aber ein

vielsagendes Gesicht. Der Empfänger spielte verrückt.

»Ich werde die Suchtrupps zusammenru-fen«, erklärte Heinzkoor. »Geh du inzwischen hinaus auf die Hauptstraßen und versuche, sie zu beruhigen.«

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»Du hast einen Trick vor!« argwöhnte

Gryp. »Keinen Trick. Wenn wir die Lage nicht in

die Hand bekommen, geht's uns beiden an den Kragen. Wer immer dahintersteckt, hat sich etwas dabei gedacht.«

Gryp nickte. Kurz darauf war er mit seinem Torc verschwunden. Aufgebrachte Technos wollten sich ihm in den Weg stellen, aber Gryp kümmerte sich nicht um sie. Wer nicht beiseite sprang, wurde einfach umgefahren.

Heinzkoor trat an das Funkgerät. Mit einem Tastendruck sperrte er den Empfänger für alle hereinkommenden Rufe. Er wollte schon auf Sendung schalten, als er das Signal bemerkte, das immer noch aufleuchtete.

Noch einmal hämmerte er auf die Löschtas-te. Das Signal blieb.

Heinzkoor spürte, wie sich etwas in ihm zusammenkrampfte, als er begriff, was das zu bedeuten hatte.

Es gab nur eine Frequenz, die er nicht blo-ckieren konnte.

Der alte Techno tippte eine weitere Taste. Der kleine Monitor des Geräts leuchtete auf.

Auf dem Schirm stand das Symbol der FESTUNG!

Sekunden später verblaßte es und machte einer Symbolgruppe Platz. Heinzkoor begann zu zittern. Sein Hals schnürte sich zusammen.

Die Herren der FESTUNG verlangten Aus-kunft über die Vorgänge in der Senke!

In die panische Furcht mischte sich plötz-lich ein verwegener Gedanke. Heinzkoor setz-te sich vor das Gerät. Jetzt wußte er, wie er Gryp ein für allemal aus dem Weg räumen konnte.

*

Sirkat trat vor einen Spiegel. Er nickte zu-

frieden, als er sah, daß er wieder vollkommen hergestellt war. Die Schrammen vom Schlag des Argots waren beseitigt – und damit die Spuren seines nächtlichen Ausflugs.

Sirkat war gerade rechtzeitig zu sich ge-kommen, um auf Schleichwegen zu ver-schwinden, bevor die Bewohner des Glaspa-lasts zurückkamen. Noch auf dem Heimweg hatte er die Sirenen gehört.

Sirkat wußte, daß er unverschämtes Glück

gehabt hatte. Er wußte aber auch, daß das Versagen der

Waggu kein Zufall gewesen sein konnte. Und da Tilrip nicht aufgetaucht war, fiel es nicht schwer, zu erraten, wem er das zu verdanken hatte.

Aber auch der Verräter würde ihn jetzt nicht mehr daran hindern, sein langersehntes Ziel zu erreichen.

Sirkat hatte alles immer wieder in Gedan-ken durchgespielt. Er wußte, wie er vorzuge-hen hatte. Nur eins machte ihm Sorgen.

Die drei Argots befanden sich irgendwo in der Senke der verlorenen Seelen. Mit Sicher-heit hatten die intelligenten Riesen ein Ver-steck gefunden. Solange sie nicht gefaßt wa-ren, bedeuteten sie eine furchtbare Gefahr für alle.

Sirkat kleidete sich an und bewaffnete sich. Er würde selbst einen Suchtrupp führen. Da-nach waren die beiden Alten fällig.

*

Die Argots waren drei Meter hohe, bärenar-

tige Pelzwesen mit humanoiden Formen. Wenn sie sich auf alle viere niederließen, konnten sie eine Laufgeschwindigkeit von bis zu achtzig Kilometern in der Stunde errei-chen.

Sie waren die ganze Nacht über gelaufen. Immer wieder hatten sie die Richtung wech-seln und vor den überall postierten Techno-Wachen fliehen müssen. Es war ihnen gelun-gen, bis zum Alarm unentdeckt zu bleiben.

Es war ihnen klar, daß von jetzt an eine gnadenlose Hetzjagd auf sie eröffnet werden würde. Kurz nach Einsetzen der Morgen-dämmerung hatten sie ein verlassenes Lager-haus am Südrand der Senke gefunden und sich darin versteckt.

Die Gruppe bestand aus zwei weiblichen und einem männlichen Argot. Die Frauen hießen in der Argotsprache Sieben-Horsinth und Achtzehn-Päscher, das Männchen Drei-null-Yuurth. Für einen Außenstehenden klan-gen die Laute der Argots monoton und wenig akzentuiert, dennoch reichte die Sprache der Wesen, die nie dazu gekommen waren, Pthora zu lernen, für die komplizierte Kommunikati-on dieser Intelligenzen aus.

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Achtzehn-Päscher stand an einem kleinen

Fenster des großen Schuppens und beobachte-te die Senke.

Aus der Ferne war Motorengeräusch zu hö-ren, das langsam stärker wurde.

»Sie werden gleich hiersein«, sagte Drei-null-Yuurth. »Was sollen wir tun?«

Sieben-Horsinth machte eine ärgerliche Geste.

»Wir werden mit ihnen fertig«, sagte sie. »Wir müssen uns nur vor ihren Lähmwaffen in acht nehmen.«

»Und dann? Wohin? Wo sind wir denn ü-berhaupt?«

Sieben-Horsinth knurrte und winkte ab. Die Erinnerung an die Vorgänge auf der Heim-welt waren so frisch, als hätten sie niemals ungewisse Zeit lang im Tiefschlaf gelegen. Alles war so verwirrend gewesen. Der Ge-danke daran schmerzte.

»Sie kommen«, rief Achtzehn-Päscher. Hinter einer Gruppe von drei alleinstehen-

den Glaspalästen tauchte das Fahrzeug der Technos auf. Es war mit vier Mann voll be-setzt.

»Es kommt genau auf uns zu«, sagte die Beobachterin. »Was können wir tun?«

»Wir haben keine Wahl«, meinte Dreinull-Yuurth. »Verteilt euch!«

Achtzehn-Päscher und Sieben-Horsinth postierten sich neben dem großen Eingangs-tor, während Dreinull-Yuurth stehen blieb – genau dem Eingang gegenüber.

Draußen quietschten Bremsen. Dann er-klangen Schritte. Die Argots hörten Stimmen, die sie nicht verstanden.

Die Tür erhielt einen Stoß und flog nach innen auf. Zwei Technos traten in das Halb-dunkel der Lagerhalle. In den Händen hielten sie Lähmwaffen.

Dreinull-Yuurth stieß ein markerschüttern-des Gebrüll aus und stürmte vor. Noch ehe die Männer reagieren konnten, waren die beiden Weibchen von den Seiten heran und schlugen ihnen die Waffen aus den Händen. Achtzehn-Päscher hatte instinktiv die Krallen ausgefah-ren und einem Techno die Hand vom Arm abgetrennt.

Draußen schrie jemand. Von wilder Panik gepackt, stürmten die Argots aus der Halle und rannten ins Freie, wieder auf das Zentrum

der Senke zu. Die beiden Technos im Wagen schossen,

aber sie verfehlten ihr Ziel. Dann waren die Bären außer Reichweite.

Die Argots waren gutartige Wesen, aber die Angst machte sie zu Bestien. Die Technos gaben einen Funkspruch ins Zentrum durch. Zu ihrem Entsetzen bekamen die beiden Un-verletzten den Befehl, sich den Flüchtlingen an die Fersen zu heften, bis Verstärkung kam.

Die Nachricht vom Wüten der Argots brachte die Stimmung im Zentrum der Senke zum Kochen. Ein winziger Funke genügte jetzt, um das Chaos zu entfachen.

*

Sirkat merkte erst, wie sehr er Tilrip unter-

schätzt hatte, als es fast zu spät für ihn war. Es war schon später Vormittag, als Sirkats

aus vier Technos bestehende Gruppe die De-pots im Westen der Senke erreichte. Sie wa-ren einer Meldung des Depotverwalters ge-folgt, der über angebliche Verwüstungen und einige verschwundene Gebrauchsgegenstände berichtet hatte.

Wenn auch hier nichts gefunden wurde, würde Sirkat mit seinen Leuten ins Zentrum zurückkehren, um zur Offensive überzugehen.

Der Überfall erfolgte in einer schmalen Gasse zwischen den hohen, kastenförmigen Depotgebäuden, die die Sicht nach allen Sei-ten abschnitten und ideale Voraussetzungen für einen Hinterhalt boten.

Sirkat und die anderen waren ausgestiegen, um die Gebäude systematisch zu durchsu-chen. Der junge Techno wußte, wie wichtig er seine Aufgabe zu nehmen hatte. Wenn es ih-nen gelang, die Argots zu stellen und sie mit ihnen im Zentrum auftauchten, war der Rest ein Kinderspiel.

Die Depotgebäude bildeten eine Sackgasse von knapp fünf Metern Breite und fünfzig Metern Länge. Die Technos ließen den Torc am Ende der Gasse stehen und machten sich auf die Suche nach Eingängen.

Plötzlich erklang Motorengeräusch. Und dann schossen zwei Torcs in die Gasse.

»Ist der verrückt?« schrie einer der Tech-nos, der noch ein paar Jahre jünger als Sirkat war. Ein anderer brüllte mit angelegten Hän-

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den: »Auf die Bremse, Mann! Du fährst uns ja alle um!«

Sirkat schaltete schneller. »Zur Seite! Die Torcs sind leer!« Er sprang auf die nächste Wand zu, und sie

gab nach! Sirkat rutschte hintenüber in eine Öffnung, die offensichtlich zum Abladen von Lasten vorgesehen war, die man in die De-potkeller kippte. Noch während er fiel, sah er, wie der erste der fahrerlosen Torcs zwei der überraschten Technos erfaßte und augenblick-lich tötete. Gleich darauf raste das Fahrzeug in Sirkats abgestellten Torc. Sirkat wurde noch durch die Explosion geblendet, dann schnappte die Klappe in der Wand zu und Sirkat rutschte in einen Schacht, der schräg in den Silo hinabführte.

Sein erster Gedanke galt Gryp und Heinz-koor.

Sirkat landete weich in einer porösen Mas-se. Es staubte und biß in den Augen. Der Techno tastete um sich.

Langsam wurde ihm klar, daß er zum zwei-ten Mal innerhalb weniger Stunden unheimli-ches Glück gehabt hatte. Er war in einem Silo für Trockengetreide gelandet. Hätte er sich nicht gerade gegen diese Stelle der Wand ge-worfen, wäre er jetzt ebenso tot wie seine Kameraden.

Diese Teufel! fuhr es ihm durch den Kopf. Aber dann begann er zu zweifeln.

Es war nicht die Art der beiden Alten, einen derartigen Anschlag zu inszenieren. Gryp und Heinzkoor waren grausam, und sie wußten zweifellos von seinen Ambitionen. Aber wenn sie vorhatten, ihn zu erledigen, dann auf andere Weise im Blickpunkt der Öffentlich-keit. Sie würden ihm vor allen wichtigen Technos den Prozeß machen. Darin hatten sie Erfahrung genug.

Tilrip! Tilrip, dem Sirkat bedingungslos vertraut hatte. Der Techno wußte, daß Tilrip noch gestern abend nach seinen Anweisungen die Leute gegen die Alten aufgewiegelt hatte. Er handelte also nicht im Auftrag der Führer. Das aber ließ nur einen Schluß zu.

Tilrip wollte ihn beseitigen, um seinerseits die Macht an sich zu reißen! Sirkat sollte nur die Vorarbeit leisten.

Und wie Sirkat ihn kannte, würde Tilrip persönlich erscheinen, um sich vom Erfolg

des Anschlags zu überzeugen. Sirkat sah sich um. Es war dunkel, nur von

oben drang ein fahles Licht in die Getreide-kammer. Sirkats Augen hatten sich soweit an die Dunkelheit gewöhnt, daß er die spiralför-mige Rampe erkennen konnte, die schräg nach oben führte, in das eigentliche Silo hin-ein.

Der Techno legte sich mit dem Bauch auf die flache, einen halben Meter breite Rampe und begann sich daran hochzuschieben. Nach wenigen Minuten hatte er sich so weit vorge-arbeitet, daß er auf eine Plattform in Höhe der Gasse springen konnte.

Draußen quietschten Bremsen. Sirkat hörte Stimmen. Jemand brüllte ein Kommando. Tilrip!

Glühender Haß stieg in Sirkat auf. Er ver-gaß Gryp und Heinzkoor. In diesem Augen-blick hatte er nur noch seine Rache an dem Verräter im Kopf.

Sirkat ging an einer Reihe der Verarbei-tungsmaschinen entlang. Ein schmaler Steg führte entlang der Außenwand bis hin zu einer Leiter. Er stieg mehrere Plattformen hinauf, bis er unter dem Dach des Silos war.

Eine Luke führte auf das Dach. Vorsichtig, jeden unnötigen Laut vermeidend, öffnete der Techno die Luke und zwängte sich ins Freie. Der Silo war etwa zwanzig Meter hoch. Sirkat kletterte eine weitere Leiter hinauf, bis er ei-nes der Podeste erreicht hatte, auf das die Rohmaterialien mit großen Kränen entladen wurden. Ein Gitter begrenzte das Podest, das ein paar Meter über das flache Dach auf die Gasse hinausreichte.

Sirkat legte sich wieder flach auf den Bauch und kroch vorsichtig bis an den Rand, von wo er direkt auf die Straße hinabsehen konnte. In der Rechten hielt er die Waggu.

Die Gasse zeigte nun ein Bild der Verwüs-tung. Sein Torc und der, der ihn frontal ge-rammt hatte, waren beim Zusammenstoß exp-lodiert. Er konnte die zerfetzten Körper seiner Kameraden sehen.

Zwei Technos machten sich an den Trüm-mern zu schaffen. Einer von ihnen war Tilrip, den anderen hatte er nie im Leben gesehen.

Sirkat zielte sorgfältig. Dann betätigte er den Auslöser. Im gleichen Augenblick warf Tilrip sich herum und starrte ungläubig nach

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ATLAN 13 – Senke der verlorenen Seelen

oben. Sekunden später brach er gelähmt zu-sammen. Der zweite Techno begriff, was vor-ging, aber er hatte keine Chance.

Nach kurzem Suchen fand Sirkat eine Lei-ter, die außen am Depot vorbei auf die Straße führte. Er kletterte hastig hinab, als fürchte er, daß Tilrip frühzeitig die Lähmung abschütteln könnte.

Nach einer Minute, die Sirkat wie eine hal-be Ewigkeit erschien, stand er vor dem Verrä-ter, in den er so große Hoffnungen gesetzt hatte.

Die Explosion hatte ein paar Gesteinsbro-cken aus einem der Gebäude gerissen. Einem plötzlichen Impuls folgend, griff der Techno danach und zerschmetterte Tilrips Kopf. Der Haß und die Enttäuschung waren übermäch-tig. Er hatte Tilrip vollkommen vertraut und ihn geliebt wie keinen anderen. An seiner Seite hätte er einer der Mächtigsten in der Senke werden können.

Tilrip hatte ihn schmählich hintergangen. Sirkat atmete tief durch, dann setzte er sich

in Tilrips unbeschädigten Torc und fuhr los. Es war Mittag, als er das Zentrum erreichte.

Überall standen Technos auf den Straßen, und viele strömten auf den Zentralplatz zu, wo von Zeit zu Zeit die neuen Befehle der Herren der FESTUNG von Gryp und Heinzkoor ver-kündet wurden.

Es ist soweit! dachte Sirkat. Die Stunde der Abrechnung!

Aber als er den Torc kurz vor dem Zentral-platz zum Stehen brachte, erwartete ihn eine böse Überraschung.

7.

Razamons Miene wurde hart, als wir die

Senke vor uns sahen. Die Landschaft sank nur leicht ab und vertiefte sich zu ihrem Zentrum hin, das wir vorerst nur erahnen konnten. Je-denfalls standen die »Glaspaläste«, wie der Leuchter sie genannt hatte, am Horizont dich-ter zusammen als hier am Rand der Senke.

Ich konnte Baumgruppen und ausgedehnte Graslandschaften erkennen, im Westen er-streckte sich ein großer Wald.

Irgendwie wirkte die Anordnung künstlich, als hätte man hier eine Kulturlandschaft aus dem Nichts gestampft.

Razamon preßte die Lippen fest aufeinan-der. Ich sah, daß es in ihm arbeitete.

»Erinnerst du dich?« fragte ich. »Keine richtige Erinnerung, es ist alles wie

hinter einem dunklen Schleier verborgen. Es sind Gefühle, Atlan. Die Senke hat eine Be-deutung für die Verbrecher in der FESTUNG. Irgend etwas unvorstellbar Grauenhaftes ...«

Wieder überlief mich ein Schauer. Wenn der Atlanter nach allem, was bereits hinter uns lag, von etwas unvorstellbar Grauenhaf-tem sprach ...

Senke der verlorenen Seelen! Welche Teu-felei der geheimnisvollen Herren Pthors verbarg sich hinter dieser Bezeichnung?

Wir brachen auf. Razamon schwieg, und ich stellte keine weiteren Fragen mehr.

In etwa drei Kilometern Entfernung stand ein einzelnes dieser Glasbauwerke, durch ausgedehnte Buschgruppen und seltsam bizar-re Bäume von den angrenzenden abgeschnit-ten. Weiter hinten erkannte ich in der Sonne blitzende Gegenstände, die sich schnell be-wegten.

»Fahrzeuge der Technos«, sagte Razamon, der meine Gedanken erriet. »Sie sind alle zum Zentrum unterwegs.«

Der Leuchter hatte davon gesprochen, daß in den Glaspalästen Wesen der verschiedens-ten Welten gefangengehalten wurden. Eine unglaubliche Vorstellung, wenn man von der Vielzahl der Paläste ausging.

»Wir sehen uns in dem Ding um«, sagte ich.

Razamon wirkte nachdenklich. »Wir müssen sehr vorsichtig sein. Be-

stimmt lassen die Technos ihre Gefangenen nicht unbewacht.«

»Das müssen wir riskieren«, brummte ich. »Sie dürfen natürlich keine Gelegenheit be-kommen, unser Auftauchen ihren Herren zu melden. Wir können die Büsche als Deckung benutzen.«

Wir überquerten ein freies Stück abfallen-den Geländes, bis wir die Hügelausläufer hin-ter uns hatten. Fenrir lief vor und verschwand in den mannshohen Büschen. Das Gebüsch weckte unangenehme Erinnerungen an den Morddschungel in mir.

Fenrir tauchte wieder auf und wedelte mit dem Schwanz. Offensichtlich drohte uns hier

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vorerst keine Gefahr.

Im Schutz des unübersichtlichen Geländes arbeiteten wir uns bis auf wenige hundert Me-ter an den Glaspalast heran. Ich ertappte mich immer wieder bei furchtlosen Gedankenspie-len, was wir in dem Gebäude finden würden.

Was waren verlorene Seelen? »Komm zu dir, Atlan!« brummte Razamon.

Wir hatten das Ende des Buschgeländes er-reicht. Erst jetzt gewannen wir ein Bild von der ganzen Imposantheit des vor uns liegen-den Palastes.

Wir schlichen uns weiter an, jede Deckung ausnutzend. Fenrir blieb vorläufig in dem Buschwerk zurück. Als wir bis auf dreißig Meter heran waren, stieß Razamon mich mit dem Ellbogen an. Ich folgte seinem Blick.

Durch die große Glasscheibe rechts neben dem Eingang sah ich zwei Technos, die sich angeregt unterhielten. Sie machten allerlei Gesten, die eine gewisse Hektik zum Aus-druck brachten. Ein dritter kam hinzu. Er hielt etwas in der Hand, eine Folie. Offensichtlich enthielt sie eine Nachricht, denn sofort be-gannen alle drei wieder aufgeregt zu gestiku-lieren.

»Verdammt!« flüsterte Razamon. »Sie werden uns doch nicht entdeckt haben?«

»Das glaube ich nicht«, erwiderte ich. »Sie wären längst hier draußen.«

Ich erinnerte mich an die Technos, denen wir im Verlauf unseres Aufenthalts auf Pthor bisher begegnet waren. Sie hatten stabförmige Lähmwaffen, sogenannte »Waggus«, und waren uns im offenen Kampf überlegen.

Es mußte eine Möglichkeit geben, sie aus dem Glaspalast zu locken, ohne gesehen zu werden.

Wir robbten in einem Halbkreis um das Gebäude. An einem zweiten Eingang war ein schalenförmiges Fahrzeug geparkt.

»Ein Zugor!« stieß ich hervor. Razamon schüttelte heftig den Kopf.

»Sieh dir das Ding genau an. Ein Zugor hat nicht diese Räder. Es ist ein ... ein Torc!«

Ich fuhr herum. »Du erinnerst dich? Was weißt du noch,

Razamon? Jede Kleinigkeit ist wichtig!« »Nichts, verdammt! Es ist zum Verrückt-

werden!« Ich fluchte still in mich hinein. Der Block

um Razamons Erinnerungen riß immer wieder auf, aber es waren immer nur Kleinigkeiten, die ihm einfielen, und sie brachten uns nicht weiter.

»Wir müssen das Ding in die Luft jagen«, schlug der Pthorer vor. »Traust du dir das zu?«

Razamon nickte. »Ich denke schon. Krieche du zurück zum Haupteingang und beobachte die Technos. Ich kümmere mich um das hier. Es gibt keine andere Möglichkeit.«

Ohne ein Wort drehte ich mich auf dem Bauch und robbte im Schutz der Gräser zu-rück zu unserer Ausgangsposition. Immer noch schienen die Technos heftig über etwas zu debattieren, von dem wir nichts ahnen konnten.

Natürlich war es denkbar, daß die Männer sich über belanglose Dinge stritten. Vielleicht waren wir aber auch gerade zu einem Zeit-punkt in der Senke angekommen, wo sich hier etwas Besonderes tat.

Mir wurde wieder einmal klar, wie hilflos wir doch waren. Hätten wir auch nur über einen Bruchteil des USO-Arsenals verfügt, so wäre einiges, an dem wir uns hier die Zähne ausbeißen mußten, eine Kleinigkeit für uns gewesen.

Du bist und bleibst ein Narr! meldete sich mein Extrasinn. Was weißt du von den Mäch-ten, die dieses Gebilde beherrschen?

»Nichts«, murmelte ich, verärgert über mich selbst. Und ich mußte daran denken, daß es vielleicht noch einen viel mächtigeren Gegner gab als die geheimnisvollen Herren der FESTUNG, die Verbrecher, die Tod und Verderben über unzählige blühende Welten gebracht hatten und weiter bringen würden, wenn es uns nicht gelang, sie zu stoppen.

Irgendwo in einer »Schwarzen Galaxis« gab es eine Macht, für die Pthor nur Werk-zeug war.

Die Minuten verrannen, und ich wartete auf den Knall der Explosion. Als ich nach einer Viertelstunde immer noch nichts hörte, fragte ich mich, ob Razamon etwas zugestoßen sei.

*

Yuhrat war bereit für die Fahrt in das Zent-

rum. Drei Mann genügten als Wache für den

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Glaspalast. Einer mußte dem Befehl der bei-den Führer folgen, die von allen Techno-Gruppen gefordert hatten, Männer für die Suchtrupps abzustellen.

Die letzten Nachrichten hatten davon ge-sprochen, daß die entflohenen Riesen hier ganz in der Nähe aufgespürt worden seien.

Yuhrat verließ die kleine Kammer mit den Ausrüstungsgegenständen und machte sich auf den Weg zum Hintereingang des Glaspa-lastes, ohne sich von den drei anderen zu ver-abschieden.

Der Torc stand wenige Meter vor dem Pa-last. Als er ins Freie trat, glaubte Yuhrat, eine flüchtige Bewegung wahrzunehmen.

Unsinn! sagte er sich. Ich sehe schon Ge-spenster. Die Ereignisse in der Senke machen uns alle verrückt!

Der Techno trat an den Torc und lud ein paar Sachen auf die freien Sitze. Er saß schon vor den Kontrollen des schalenförmigen Fahrzeugs, als er die aufgebrochene Platte in der Instrumentensäule sah.

Yuhrat stutzte. Er beugte sich vor. Irgend jemand hatte sich an den Verdrahtungen hin-ter der Abdeckplatte zu schaffen gemacht.

Yuhrat erinnerte sich an seine Wahrneh-mung.

Als er aus dem Torc springen wollte, war es bereits zu spät. Ein Schatten tauchte neben ihm auf, dann fuhr eine Faust in seinen Ma-gen. Irgend etwas explodierte in Yuhrats Ge-hirn, als ein zweiter Hieb seinen Kopf traf.

Er sah nicht mehr, wie der Schatten davon-eilte. Und er spürte nicht mehr, wie die Welt um ihn in einem grellen weißen Blitz verging.

*

Einen Moment lang war ich geblendet, als

die Flammenzunge hinter dem Glaspalast in die Höhe fuhr. Das grelle Licht brach sich in den gläsernen Wänden und verursachte Re-flexe auf den feinen Metallstreben, die die großen Scheiben wie ein Netz durchzogen.

Der Eingang fuhr schnappend zur Seite, und alle drei Technos kamen aus dem Kom-plex gestürmt. Einer schrie ein paar Befehle, die ich im allgemeinen Durcheinander nicht verstand. Dann rannten sie um das Gebäude herum, dorthin, wo das Fahrzeug gestanden

hatte. Ich stürmte los. Razamon war nicht zu se-

hen. Jeden Augenblick konnten die Technos zurückkehren. Ich atmete auf, als ich im Glaspalast war. Wie wir gehofft hatten, war kein weiterer Techno anwesend.

Hinter mir war ein Geräusch. Ich fuhr her-um und riß das Messer aus dem Gürtel.

»Steck's wieder ein«, sagte Razamon. »Vorläufig haben wir Ruhe.« Ich bemerkte die Schrammen in seinem Gesicht und an den Händen. »Hast du sie umgebracht?«

»Sie schlafen«, erklärte der Atlanter grin-send und deutete auf die Waggu in seiner Rechten, die ich erst jetzt bemerkte. Er griff in den Gürtel und warf mir eine zweite Lähm-waffe zu.

»Sie stören uns jetzt nicht. Wir können uns in aller Ruhe umsehen.«

Ich nickte. Mein Blick fiel auf die Folie, die auf einem runden Tisch lag. Sie enthielt in Pthora abgefaßte Informationen. Als ich sie gelesen hatte, stieß ich einen Pfiff aus.

»Weißt du, was ein Argot ist?« fragte ich den Atlanter.

»Keine Ahnung. Weshalb?« »Drei Argots sind irgendwo aus einem

Glaspalast ausgebrochen. Im Zentrum der Senke muß der Teufel los sein.«

»Deshalb die Fahrzeuge, die nach Norden fuhren.«

»Anscheinend. Weiter steht hier, daß diese Argots ganz hier in der Nähe gesichtet wur-den.«

»Das ist nicht unsere Sache«, sagte Raza-mon.

Ich verstand. Der Atlanter hatte recht. Er erklärte mir knapp, daß er den Torc so präpa-riert hatte, daß die Explosion bei einer even-tuellen Untersuchung wie ein Unfall aussehen würde. Die Technos würden glauben, der Fahrer hätte Schuld daran.

Den Tod des vierten Technos hatte Raza-mon allerdings nicht mehr verhindern können. Er hatte ihm gerade noch die Waggu abge-nommen und damit die anderen paralysiert.

Wir sahen uns um. Es handelte sich in die-sem Teil des Komplexes vorwiegend um spärlich eingerichtete Wohnräume der Tech-nos. Die Konservierungskammern, von denen der Leuchter gesprochen hatte, mußten sich

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ATLAN 13 – Senke der verlorenen Seelen

weiter im Innern befinden.

Wir kamen durch zwei weitere Aufenthalts-räume, ehe wir eine halbtransparente Trenn-wand erreichten, die sich durch den ganzen Palast zog.

»Hier muß es sein«, sagte Razamon. Ich merkte, wie sich eine seltsame Erre-

gung in mir ausbreitete. Was erwartete uns hinter der Trennwand?

»Hier scheint der Eingang zu sein!« Raza-mon tastete eine ovale Fläche ab, die zwei-einhalb Meter hoch und anderthalb Meter breit war. »Er ist verschlossen.«

In einer schmalen Nische rechts neben dem Oval lag ein mit unregelmäßigen Ausbuch-tungen und Vertiefungen versehenes Rohr. Ich nahm es. Nach kurzem Suchen fand ich ein passendes Loch in der Metallverstrebung, die den Eingang zum anderen Teil des Glas-palasts einrahmte.

Der »Schlüssel« paßte. Ich spürte ein leich-tes Prickeln in der Hand, als ich das Rohr in das Loch steckte. Offensichtlich handelte es sich um einen Impulsgeber.

In der Wand bildete sich eine Öffnung. Wir stiegen durch das Oval und gelangten

auf einen schmalen Korridor. Zu beiden Sei-ten waren Türen. Auch hier waren die Wände fast durchsichtig.

Überall lagen kleine Kammern, in deren Wänden sich nischenförmige Vertiefungen befanden. Und in diesen Vertiefungen lagen Wesen!

Der Impulsgeber öffnete uns eine der Tü-ren. In der Kammer, die von fluoreszierendem Licht erfüllt war, befanden sich zwei der Ni-schen. Wie in einem gläsernen Sarg lag darin jeweils ein Ding, das sich beim besten Willen in keine mir bekannte Kategorie von Lebens-formen einordnen ließ. Ein an beiden Polen abgerundeter Zylinder von etwa einem Meter Länge und giftgrüner Farbe, die zur Mitte hin dunkler wurde.

Wir sahen uns in den anderen Kammern um. Überall das gleiche Bild.

Hatten wir etwas anderes erwartet? Nach dem, was uns der Leuchter im Dorf der Kröp-pel berichtet und angedeutet hatte, und nach den Beobachtungen in diesem Glaspalast stand fest, daß diese Gebäudekomplexe zur Konservierung einer Vielzahl verschiedenar-

tiger Lebensformen dienten, die Pthor auf seiner Reise durch die Dimensionen aufge-sammelt hatte. Ein gigantisches Arsenal – aber zu welchem Zweck?

Was hatten die Herren Pthors mit diesen konservierten Unglücklichen vor? Ohne Zweifel handelte es sich bei ihnen um die »verlorenen Seelen«.

Aus dem Techno-Komplex kam ein rhyth-misches Piepen. Gleich darauf begann etwas zu rattern. Ich kannte das Geräusch, so unter-schiedlich diese Zivilisation von der unseren war. Ein Automat warf eine Information aus.

»Komm!« sagte ich zu dem Atlanter. Se-kunden später waren wir in den Aufenthalts-räumen der Wachen. In einer Auffangschale vor einem Tischgerät lag eine Folie mit ptho-rischen Schriftsymbolen.

»Offenbar eine Meldung an die Techno-Posten. Die ausgebrochenen Gefangenen ha-ben ihre Fluchtrichtung geändert und versu-chen nun, in dieser Richtung aus der Senke zu entkommen. Die Technos sollen sie aufhal-ten.«

»Wenn es uns gelänge, sie vor ihren Ver-folgern abzufangen ...« murmelte Razamon.

Er hatte recht. Vielleicht konnten wir von den Argots mehr über die Vorgänge in dieser Senke der verlorenen Seelen erfahren. Ich bezweifelte, daß uns die Technos Informatio-nen geben konnten.

Hinter der Einkonservierung unzähliger Spezies steckte ein Geheimnis, das spürte ich. Und zum ersten Mal kam mir der Gedanke, daß die Vernichtung von Hochzivilisationen nicht der einzige Zweck Pthors sein könnte.

Gab es noch ein zweites Ziel, das die Her-ren dieses Gebildes mit dem Dimensionsfahr-stuhl verfolgten?

Plötzlich erklang ein ohrenbetäubendes Gebrüll. Razamon fuhr herum und stieß einen heiseren Schrei aus.

Wir hatten gerade noch Zeit, uns zur Seite zu werfen, als das erste der riesigen braunen Bündel in vollem Lauf durch die Scheiben krachte.

Im nächsten Augenblick war die Hölle los. »Zurück!« brüllte der Atlanter. »Weg hier,

Atlan!« Irgend etwas flackerte vor meinen Augen.

Ich war mit dem Hinterkopf gegen eine

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Tischkonsole geschlagen. Der Schmerz brei-tete sich über das Rückgrat aus, während far-bige Schleier die ganze Umgebung verdunkel-ten.

Ich hörte Razamon brüllen. Es kam wie aus unendlicher Ferne. Eine Hand zerrte an mei-nem Arm, um mich in Sicherheit zu schlep-pen, aber mein Körper war schlapp wie ein nasser Sack.

Eine furchtbare Grimasse tauchte in dem Schleier aus Millionen bunter Punkte auf.

Dann splitterte wieder Glas. Zwei weitere Ungeheuer brachen durch die Verstrebungen und verwandelten das Innere des Glaspalasts in eine tobende Hölle.

Ich merkte, daß ich auf die Beine kam, und taumelte. Eine riesige braune Pranke kam auf mich zu und schleuderte mich erneut zu Bo-den. Jetzt spürte ich den Schmerz nicht mehr.

Und dann wurde es um mich dunkel.

* Die stundenlange Flucht und die Verfol-

gung hatten die drei Argots zu reißenden Bes-tien gemacht. Wahnsinnig vor Angst und blind vor Panik fegten sie alles beiseite, was ihnen in die Quere kam.

Achtzehn-Päscher, Sieben-Horsinth und Dreinull-Yuurth hatten nichts mehr mit den harmlosen Wesen gemeinsam, als die sie aus der Konservierung erwacht waren. Sie hatten eine Hölle erlebt. Nirgends hatten sie sich länger als Minuten verstecken können, seit-dem die Technos sie in der Lagerhalle aufge-spürt hatten.

Auch die Tatsache, daß die Verfolger plötz-lich verschwunden waren, änderte daran nichts. Die Argots waren nicht mehr in der Lage, zu denken. Die kreatürliche Angst vor dem Tod hatte sie um den Verstand gebracht. In ihren Handlungen war keine Logik mehr.

Überleben und den Häschern entgehen! Nur das zählte. Es war kein Haß, der sie zu Ber-serkern gemacht hatte, sondern blinde Ver-zweiflung. Ihr Weg war von zerstörten Glas-palästen gekennzeichnet. Dort entluden sich ihre Emotionen. Die Argots spürten, daß ihr grausames Schicksal hier seinen Anfang ge-nommen hatte.

Und so stellten sie sich keine Fragen, als sie

den einzelnen Palast am Rand der Senke ste-hen sahen. Allein der Anblick genügte, um alle klaren Gedanken auszuschalten.

Sie rasten mit der ganzen ungestümen Kraft ihrer entfesselten Gefühle in die funkelnden Scheiben hinein. Die beiden Schemen hinter dem Glas taten ein übriges.

Bedrohung! hämmerte es in den Gehirnen der gequälten Kreaturen. Sich wehren! Über-leben!

Daß die beiden Männer keine ihrer Peiniger waren, drang erst gar nicht bis in ihr Bewußt-sein durch.

Sie brachen durch die Scheiben, die Acht-zehn-Päscher voran, und wischten die beiden Fremden weg, ehe die richtig erkannt hatten, was auf sie zukam.

*

Fenrir hatte die Gefahr zu spät erkannt. Als

er sich in Bewegung setzte, waren die drei Bestien bereits heran und fielen über die Männer her.

Der Fenriswolf jaulte auf, als wäre er selbst das Opfer der tobenden Riesen. Mit weiten Sprüngen raste er auf den Glaspalast zu und landete mitten zwischen ihnen.

8.

Der große Platz war bis zum Rand hin mit

neugierigen Technos gefüllt. Mindestens drei-tausend, schätzte Heinzkoor. Sie waren von überallher gekommen. Heinzkoors Leute hat-ten gute Arbeit geleistet.

Gryp stand neben ihm. Es fiel Heinzkoor schwer, das Gefühl aufsteigenden Triumphs zu verbergen. Noch ahnte sein Rivale nicht, was ihm bevorstand.

Sirkat auch nicht! Wenn das hier vorbei war, hatte Heinzkoor keinen Konkurrenten mehr zu fürchten. Zwei mit einem Schlag!

Aber zuerst war Sirkat an der Reihe. Den Genuß, Gryp bloßzustellen, wollte Heinzkoor sich bis zum Ende aufsparen.

Gryp selbst hatte, ahnungslos wie er war, mitgeholfen, die Technos aus allen Teilen der Senke zusammenzutrommeln. Natürlich wur-de dadurch die Jagd auf die Argots vernach-lässigt, aber das bereitete Heinzkoor wenig

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Sorgen. Selbst wenn sie aus der Senke entka-men, würden die Herren in der FESTUNG ihm keine Schuld daran geben.

Einige der Technos wurden ungeduldig. Heinzkoor wußte, daß es eine starke Gruppe gab, die mit Sirkat sympathisierte, vor allem bei den jüngeren.

Sie würden ganz klein werden! Einer der Männer, die Heinzkoor vorsorg-

lich am Rand des Zentralplatzes postiert hatte, gab ein Zeichen.

Dann erschien Sirkats Torc. Sirkat war al-lein.

Die Menge teilte sich und machte dem jun-gen Techno Platz. Der Rebell (Heinzkoor wußte genauestens über seine Agitation und über die Parolen, die er hinter dem Rücken der Führer verkündete, Bescheid) sprang aus dem Fahrzeug und kam mit wuchtigen Schrit-ten auf das Podest zu, auf dem Heinzkoor und Gryp standen.

»Ich klage euch beide an, für das Entkom-men der drei Argots verantwortlich zu sein!« rief Sirkat mit lauter Stimme, als er das Po-dest erreicht hatte.

Einige von Sirkats Anhängern, die sich in kleinen Gruppen unter die Menge gemischte hatten, begannen zu johlen. Heinzkoor lächel-te nur gequält.

»Nehmt ihn fest«, befahl er seinen Leuten.

* Sirkat war, als hätte man ihn vor den Kopf

geschlagen. Heinzkoor, der Verräter an dem für Sirkat

heiligen Auftrag Pthors, befahl seine Verhaf-tung! Und Gryp, der zweite Verräter, grinste schadenfroh!

Sirkat wurde von beiden Seiten gepackt und nach vorne gestoßen. Technos, die er noch nie gesehen hatte, banden ihm die Hän-de auf den Rücken und bedrohten ihn mit Waggus.

Überall dort, wo Sirkats Anhänger sich pos-tiert hatten, tauchten Technos mit Lähmwaf-fen auf.

Ein abgekartetes Spiel! durchfuhr es Sirkat. Ich habe sie unterschätzt!

Aber was wollten sie gegen ihn vorbrin-gen? Er hatte in der Nacht keine Spuren hin-

terlassen, und Tilrip war tot. Sirkat sollte es sofort erfahren. Er protes-

tierte lautstark gegen seine Behandlung und nannte die Führer erstmals öffentlich Verrä-ter. Die Stimmung in der Menge war explo-siv.

»Schweig!« herrschte Gryp ihn an. »Du klagst uns an, du armer Narr. Welche Beweise willst du uns bringen?«

»Jeder hier weiß, daß ihr gegen den Auftrag der Herren Gefangene freilaßt, um eure kindi-sche Jagd auf sie zu machen. Ich ...«

»Also keine Beweise, Sirkat. Wir haben sie!«

»Du bist verrückt, Gryp!« Heinzkoor mischte sich ein. Bisher hatte er

mit überlegenem Lächeln neben Gryp auf dem Podest gestanden und den anderen reden lassen. Jetzt ergriff er die Initiative.

»Es gibt jemanden, der dich beobachtete, als du die Argots freigelassen hast.«

Sirkat fuhr zusammen. Tilrip! Welches Spiel hatte sein Vertrauter getrieben? Tilrip war tot! Wie konnte er ...?

»Wer?« Heinzkoor drehte sich um und rief einen

Techno auf das Podest, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte. Sirkat versuchte sich zu erinnern. Er hatte den Mann noch nie gesehen.

»Tennaar, ist das der Mann?« Der Techno nickte eifrig. »Es besteht kein Zweifel?« »Kein Zweifel. Dieser Mann«, der Techno

deutete auf Sirkat, »war es, der letzte Nacht im Glaspalast der Argots auftauchte und mich niederschlug, als ich nach seiner Legitimation fragte.«

»Das ist eine Lüge!« fuhr Sirkat auf. »Ich kenne diesen Mann nicht! Ein gekaufter Lüg-ner, der für euch arbeitet!«

»Du bist ein Narr, Sirkat!« dröhnte Heinz-koor. »Hast du wirklich geglaubt, auf diese plumpe Weise eine Revolte gegen uns anzet-teln zu können?« Heinzkoor breitete die Arme aus und machte eine pathetische Geste. Dann rief er in die Menge: »Sirkat hat gegen die Interessen der Herren der FESTUNG gehan-delt! Er ist ein Verräter an unserem Auftrag! Sirkat verdient den Tod!«

Sirkat glaubte nicht recht zu hören. Wie

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konnte Heinzkoor das Wort FESTUNG noch in den Mund nehmen, ohne vor Scham in den Boden zu versinken!

»Du lügst!« rief einer von Sirkats Anhän-gern. »Ihr beide seid es, die unser Erbe ver-gessen haben und nur auf den eigenen Vorteil achtet!«

Heinzkoor stieß ein lautes Lachen aus. Er zog eine große Folie aus seinem Gürtel.

»Und das hier? Komm her!« Der Rufer arbeitete sich durch die dicht zu-

sammenstehenden Technos zum Podest vor. Heinzkoor hielt ihm die Folie vor die Nase. »Lies!« Der Techno bekam große Augen. Er wurde

merklich unsicher. »Du sollst lesen!« »Eine Nachricht aus der FESTUNG!«

stammelte der Techno. Gryp wirbelte herum. »Wieso weiß ich nichts davon, Heinzkoor?

Wann hast du ...?« Heinzkoor machte eine abwehrende Hand-

bewegung und brachte den Rivalen zum Schweigen.

»Das erfährst du gleich. Du da«, er wandte sich wieder an den anderen Techno, »was steht auf der Folie?«

Der Techno las und wurde immer verlege-ner. Er warf Sirkat einen unsicheren Blick zu.

»Sag allen, was du gelesen hast!« dröhnte Heinzkoor.

»Es steht in der Nachricht, daß Sirkat ein Verräter ist und den Anschlag verübte. Aber das ist eine Lüge!«

»Was steht noch da?« »Sirkat soll gemeinsame Sache mit Gryp

gemacht ...« »Was?« fuhr der alte Techno dazwischen.

Er riß dem Rebellen die Folie aus der Hand und las. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen.

Im nächsten Moment hatte er seine Waggu in der Hand.

»Das hast du dir fein ausgedacht, Heinz-koor! Ich ahnte, daß du irgendeine Teufelei vorhattest. Meinen Respekt, das ist eine gute Fälschung!«

Sirkat hielt es nicht mehr aus. Er riß sich los und trat seinem nächsten Bewacher die Waffe aus der Hand. Mit einem Kraftakt sprengte er die Fesseln.

»Ihr seid beide verrückt! Wer an deine Tricks glaubt, Heinzkoor, soll sich zum Teu-fel scheren. Wir anderen werden dafür sorgen, daß ihr keinen Schaden mehr anrichtet.«

Sirkat bückte sich so schnell, daß seine verblüfften Bewacher keine Zeit hatten, ihn zu lähmen. Als er wieder hochkam, hatte er eine Waggu in der Hand. Er schoß so schnell, daß den Wachen keine Chance mehr blieb.

Das war das Signal für seine Anhänger. Sie schlugen überall zugleich los. Innerhalb von wenigen Sekunden war die Massenschlägerei im Gange, dazwischen fauchten die Schüsse der Lähmwaffen.

Sirkat nutzte die Verwirrung der Posten und sprang auf das Podest. Mit einem Schlag beförderte er Gryp in die rasende Menge, wo der alte Techno von seinen Getreuen aufge-fangen wurde.

Heinzkoor stand unbewegt an seinem Platz und hatte die Arme über der Brust ver-schränkt. Sirkat wurde unsicher. Er versuchte, in der Miene des Alten zu lesen, aber da war nur beißender Spott.

»Gib auf, Sirkat«, sagte Heinzkoor. Der Anblick der auf ihn gerichteten Waffe schien ihn nicht zu rühren. Sirkat sah sich schnell um.

Das Podest war von Heinzkoors Leuten umringt. Die Kämpfe in der Menge konzent-rierten sich jetzt nur noch auf zwei Stellen. Überall sah der junge Techno seine Anhänger unter den Lähmstrahlen der Gegner zusam-menbrechen.

»Was für ein Dummkopf du bist!« lachte Heinzkoor. »Wir hätten zusammen ein gutes Gespann gebildet. Jetzt ist kein Platz mehr für dich in der Senke. Ich werde dich zusammen mit Gryp in die Wüste Fylln schicken!«

Sirkat nahm sein Todesurteil nur am Rande wahr. Er konnte nicht glauben, daß all seine Hoffnungen auf derartige Weise zerplatzen sollten. Jetzt erkannte er, wie dilettantisch er die Lage innerhalb der Senke eingeschätzt hatte.

»Los!« befahl Heinzkoor seinen Männern. »Nehmt ihn fest und schafft ihn fort. Gryp ebenfalls!«

In diesem Augenblick lief Sirkat Amok. Er beugte den Kopf nach vorne und rannte wie ein wütender Stier auf Heinzkoor zu. Der alte

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Techno wich geschickt zur Seite. Sirkat wur-de vom eigenen Schwung weitergerissen und stürzte über den Rand des Podestes in eine Gruppe von Heinzkoors Techno-Wachen.

»Jetzt reicht es!« brüllte Heinzkoor von o-ben. Sirkat lag auf dem Rücken, von kräftigen Armen gepackt, und beobachtete mit schreck-geweiteten Augen, wie Heinzkoor ein Messer aus dem Gürtel zog.

Heinzkoor stieg die Stufen des Podests her-unter und baute sich vor Sirkat auf. Langsam hob er die Hand zum tödlichen Hieb.

Sirkat aber sah die Hand nicht mehr auf sich herabsausen. Plötzlich schrie die Menge auf.

Genau über dem Platz bildete sich ein Spalt im Himmel, aus dem gleißend helles Licht drang. Der Himmel riß nach beiden Seiten auseinander und begann an den Rändern zu glühen.

»Das Ende!« flüsterte Sirkat nur, bevor ihm der Schmerz die Sinne raubte.

*

Der Lichtfinger entstand wie aus dem

Nichts über jenem östlichen Zipfel von Pthor, den die Bewohner des Dimensionsfahrstuhls respektvoll die FESTUNG nannten. Das Licht fraß sich in nordwestlicher Richtung in den Himmel, bis es sein Ziel erreicht hatte.

Das Licht strahlte nach allen Seiten aus, bis es die gesamte Senke der verlorenen See-len als lohende energetische Wolke erfüllte. Die Wolke senkte sich herab und hüllte einige Sekunden lang alles ein, was sich in der Senke befand.

Dann verschwand das Leuchten so schnell, wie es gekommen war. Der Himmel über At-lantis war wieder blau.

*

Sirkat konnte lange nicht glauben, daß er

noch lebte. Die Erscheinung hatte für ihn et-was Endgültiges gehabt. Er ahnte tief in sei-nem Innern, daß die FESTUNG in die Ausei-nandersetzung der Technos eingegriffen hatte.

Das Leuchten war verschwunden. Überall standen Technos mit ratsuchenden Mienen und starrten in den Himmel, als ob sie jeden

Moment mit einem neuen Ereignis rechneten. Ihnen ging es wir Sirkat: Sie hatten das Ende auf sich zukommen sehen, und nun war alles wie vorher. Nichts hatte sich verändert.

O doch! durchfuhr es Sirkat, als er sich ge-nauer umsah. Jetzt wurden auch die Umste-henden aufmerksam.

Heinzkoor lag mit dem Messer in der Faust am Boden und rührte sich nicht mehr. Die Augen waren weit aufgerissen und seltsam verdreht.

Heinzkoor war tot. Sirkat bahnte sich eine Gasse und suchte die Stelle, an der er Gryp zum letzten Mal gesehen hatte.

Gryp lebte ebenfalls nicht mehr. Aus leeren Augen starrte er in den Himmel.

»Die Herren der FESTUNG haben einge-griffen!« schrie jemand. »Sie haben ihr Urteil gefällt und die Alten bestraft! Sirkat soll unser neuer Führer sein!«

Ein wildes Gejohle erscholl aus der Menge. Sirkat wurde gepackt und auf das Podest

gehoben. Er war am Ziel. Aber er hatte die Macht auf andere Weise erreicht, als er sich das vorgestellt hatte. Er fühlte sich nicht ganz wohl bei dem Gedanken.

Dann begann er, die Angelegenheit von der anderen Seite zu betrachten. Die Herren hat-ten eindeutig zu seinen Gunsten eingegriffen, als er dem Tode nahe war. Das aber konnte nur heißen, daß er in ihren Augen der fähigere Führer war.

Sie hatten seine Ziele und auch die notwen-digen Methoden durch ihr Eingreifen gut hei-ßen!

Eine nie gekannte Euphorie machte sich in dem jungen, ehrgeizigen Techno breit.

»Es ist gut«, rief er laut, und die Technos auf dem Platz verstummten. »Heinzkoor und Gryp sind für ihre Verbrechen bestraft wor-den. Wir werden uns besinnen und künftig die uns übertragenen Aufgaben wieder voll und ganz zur Zufriedenheit der FESTUNG aus-führen. Als erstes müssen die Argots einge-fangen und wieder in die Konservierungs-kammern ihres Palastes gebracht werden.«

»Sie sind im Süden gesehen worden!« brüllte einer dazwischen. Eine wahre Woge plötzlicher Begeisterung schien die Technos gepackt zu haben.

»Yuhrats Palast meldet sich auf Anfragen

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ATLAN 13 – Senke der verlorenen Seelen

nicht!« rief ein anderer, der in der Nähe eines Kommunikationszentrums stand und offen-sichtlich die neueste Entwicklung kannte.

»Worauf warten wir dann noch?« rief Sir-kat. »Wir kreisen sie ein. Jeder, der einen Torc zur Verfügung hat, kommt mit mir. Wir fahren nach Süden zu Yuhrats Glaspalast!«

Wenig später rollte eine langgezogene Ko-lonne von vollbesetzten Torcs aus dem Zent-rum der Senke. Die Technos waren bis an die Zähne bewaffnet.

9.

Razamon war hinzugesprungen, um Atlan

aus der Gefahrenzone zu zerren. Dabei war er selbst von einem der beiden Nachzügler er-faßt und in eine Ecke des Wohnraums geschleudert worden. Das hatte ihm das Leben gerettet.

Das Auftauchen der beiden Argots, die so-fort in dem blinden Zerstörungswerk ihres Artgenossen mitmischten, hatten den Atlanter gelähmt. Starr vor Schreck beobachtete er, wie einer von ihnen sich auf Atlan zubewegte.

Ein anderer Riese zertrümmerte mit einem einzigen Anlauf die Trennwand zu den Kon-servierungskammern. Mit markerschüttern-dem Gebrüll verschwand er in dem für ihn viel zu engen Korridor.

Der Argot, der vor Atlan stand, holte mit einer Pranke aus. Was dann geschah, bekam Razamon nicht mehr mit, denn in diesem Au-genblick schien die Welt in einer Wolke von blendender Helligkeit zu vergehen. Sekunden-lang war alles in ein unerträglich grelles Leuchten getaucht.

Ein gequältes Jaulen drang an Razamons Ohr. Es war ganz nahe. Fenrir!

Das Leuchten verschwand so plötzlich, wie es gekommen war. Als Razamon wieder klar sehen konnte, wollte er seinen Augen nicht trauen.

Mitten in dem demolierten Wohnraum standen zwei der Argots zu ihrer vollen Größe aufgerichtet, wobei sie mit dem Kopf an die Decke stießen. Sie glotzten aus stumpfen Au-gen umher wie jemand, dem man auf einen Schlag alle Erinnerungen geraubt hatte.

Atlan lag neben einer Konsolensäule und war offenbar bewußtlos. Fenrir stand über

dem Arkoniden und leckte sein Gesicht. Rote Lämpchen flackerten an einigen noch

intakten Anzeigekästen auf. Wahrscheinlich meldeten sie Defekte innerhalb des Glaspa-lasts.

Mit schleppenden Schritten kam das dritte der Bärenwesen aus dem Gang, der in die Konservierungskammern führte. Es gesellte sich zu seinen Artgenossen und schien, wie sie, auf etwas zu warten.

Razamon gewann die Kontrolle über seinen Körper zurück. Er richtete sich vorsichtig auf. Die Argots kümmerten sich nicht um ihn. Der Atlanter bezweifelte sogar, daß sie ihn über-haupt sahen, obwohl ihre Augen auf ihn ge-richtet waren.

Sie wirkten wie in Trance. Razamon mußte sich um Atlan kümmern. Trotz der plötzlichen Starre der Argots hatte er eine gewisse Furcht vor den Riesen. Er mußte an ihnen vorbei.

Der Atlanter hatte seine Ecke noch nicht verlassen, als Bewegung in die drei kam. Der-jenige, der als erster durch die Glasscheiben gekracht war und am schrecklichsten gewütet hatte, drehte den schweren Schädel und sah Razamon genau in die Augen. Einige Sekun-den trafen sich ihre Blicke, und Razamon glaubte in diesen Augenblicken in einen Ab-grund von Trauer, Verzweiflung und Schmerz zu fallen. Er spürte, wie sich etwas in ihm zusammenkrampfte. Plötzlich konnte er nur noch Mitleid für diese Wesen empfinden. Das Gefühl wurde so stark, daß es ihn zu überwäl-tigen drohte.

Bevor es dazu kam, setzten die drei bären-haften Intelligenzen sich langsam in Bewe-gung. Ohne eine Geste, die Razamon viel-leicht sowieso nicht verstanden hätte, mar-schierten sie einer nach dem anderen aus dem Glaspalast.

Razamon wußte, was sie vorhatten, ohne daß auch nur ein Wort zwischen ihnen ge-wechselt worden war. Die Argots kannten kein Pthora. Aber der Blick hatte mehr gesagt als alle Worte.

Der Atlanter sah ihnen nach, wie sie mit hängenden Schultern davonschritten, auf das ferne Zentrum der Senke zu. Sie würden sich ihren Jägern stellen und in die Konservie-rungskammern zurückkehren.

Verlorene Seelen! Sie hatten erkannt, daß

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es etwas gab, gegen das sie nicht anrennen konnten. Irgend etwas, das aus drei entfesselt um ihre Freiheit kämpfenden Bestien gebro-chene Wesen gemacht hatte.

Da wußte Razamon, wer ihnen das Leuch-ten geschickt hatte. Und er fühlte die Gänse-haut an seinem Körper emporkriechen. Neben sich hörte er ein klagendes Winseln, und dann ein Stöhnen. Atlan kam zu sich.

*

»Und sie sind einfach weggegangen? Ein-

fach so?« Razamon nickte. Noch einmal schilderte er,

was sich während meiner Bewußtlosigkeit zugetragen hatte.

»Ich bin sicher«, sagte er, »daß das Licht sie beeinflußt hat. Sie waren nicht wiederzu-erkennen.«

Ich tastete nach der Beule an meinem Hin-terkopf. In meinen Haaren klebte Blut.

»Wir müssen zusehen, daß wir von hier verschwinden«, sagte ich. In der Auffang-schale des Ausdruckers am Funkempfänger lagen zwei gestanzte Folien, beides Anfragen, weshalb ein gewisser Yuhrat, offensichtlich der Anführer der hier ansässigen Techno-Posten, sich nicht meldete.

Bald würde es hier von Technos wimmeln. Ich fragte mich sowieso, warum noch nie-mand aufgetaucht war. Sie mußten doch hin-ter den Halbbären her sein.

Eine früher ausgedruckte Folie enthielt In-formationen über Unruhen im Zentrum. Of-fenbar spielte sich dort ein Machtkampf ab, deshalb auch die Vernachlässigung der Jagd auf die Flüchtlinge.

»Wenn sie uns finden, war alles umsonst«, meinte Razamon.

»Also wieder nichts«, stellte ich fest. »Al-les, was wir wissen, ist, daß diese Senke der verlorenen Seelen ein riesiges Arsenal von Musterwesen ist, die Pthor auf seiner Reise aufgesammelt hat und irgendwann irgendwo abliefern wird.«

»Wozu?« fragte Razamon. »Was steckt da-hinter?«

Ich gab vorerst keine Antwort, denn mir fielen die betäubten Technos ein. Es war eine irreale Hoffnung, aber vielleicht konnten sie

uns eine Antwort geben. Wir mußten uns um sie kümmern. Sie durften keine Gelegenheit haben, uns an ihre Führer zu verraten.

Wir mußten jedoch wohl oder übel warten, bis sie zu sich kamen. Inzwischen konnten ihre Freunde hier sein.

»Zeig, was du kannst«, sagte ich grinsend zu dem Atlanter. »Wir nehmen sie mit bis zu dem Rand der Senke. Von dort aus haben wir eine gute Übersicht und können die Lage ü-berblicken. Wir können getrost abwarten, bis sie zu sich kommen.«

»Und wenn sie Zugors haben?« »Das glaube ich nicht, sonst würden die

hier draußen nicht auf diesen Komfort ver-zichten.«

Razamon schien mit sich selbst im Hader zu liegen.

»Glaubst du nicht, daß wir weiter im Zent-rum mehr erfahren könnten?«

»In wenigen Stunden wird es hier von Technos wimmeln, Razamon! Wenn sie uns entdecken und unsere Anwesenheit an die FESTUNG weitermelden, können wir gleich einpacken.«

Der Atlanter gab nach. Wir machten uns fertig, um den Glaspalast zu verlassen, als wir das Singen hörten. Es war, als ob jemand mit nassem Finger über ein bauchiges Weinglas fuhr und dabei hochfeine Schwingungen er-zeugte.

»Was ist das?« zischte der Atlanter kaum hörbar.

Das Singen wurde intensiver. Es kam aus dem Korridor jenseits der zerbrochenen Trennwand, aus dem Konservierungskom-plex.

»Es muß eines der gefangenen Wesen sein, eine dieser grünen Stangen«, flüsterte ich. »Komm!« Ich zog den Atlanter mit mir in eine Deckung. Hinter einer Reihe von techni-schen Geräten warteten wir und beobachteten durch die gläsernen Wände der Techno-Wohnräume den Ausgang des Korridors.

Irgendwo zerbarst eine Scheibe des glas-ähnlichen Materials. Der Ton wurde heller und plötzlich schmerzend. Noch ein paar Mi-nuten und ...

Eine giftgrüne, am oberen Ende jetzt violett schimmernde Stange erschien im Eingang des Korridors. Sie schwebte einen halben Meter

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ATLAN 13 – Senke der verlorenen Seelen

über dem Boden.

Wir fuhren mit den Händen an den Kopf und hielten uns die Ohren zu. Endlich kam das Ding im benachbarten Wohnraum zum Stehen. Der Ton erstarb augenblicklich.

»Der Argot, der die Trennwand und den Korridor demoliert hat, muß den Weckme-chanismus aktiviert haben«, flüsterte Raza-mon. Er hatte kaum wahrnehmbar gespro-chen. Trotzdem hatte ich den Eindruck, daß sich die etwa zwanzig Zentimeter dicke Stan-ge drehte. Es gab keine klaren Konturen, an denen man es genau hätte erkennen können.

Die Stange kam auf uns zu! »Verdammt!« flüsterte Razamon. »Wir

müssen weg hier, Atlan!« »Warte noch!« Das obere Ende des seltsamen Wesens be-

gann plötzlich heftig zu flackern. Blaue Lichtkränze entstanden und wurden zur Seite geschleudert.

»Wie eine Kerze, die verlischt«, murmelte ich halblaut. Das Wesen konnte uns ruhig hören. Es kannte unseren Aufenthaltsort so-wieso. Mit ziemlicher Sicherheit verfügte es über uns unzugängliche Sinne.

Noch einmal gab die Stange sich einen Ruck und schwebte weiter auf uns zu. Sie befand sich in unserem Raum und glitt näher.

Wieder kam sie zum Stillstand, und jetzt veränderte sich die Farbe am ganzen Körper. Aus dem stechenden Grün wurde ein matter, an manchen Stellen schon ins Graue überge-hender Farbton.

»Es ... es stirbt!« brachte Razamon entgeis-tert heraus.

Die Stange kam endgültig zum Stillstand. Das Flackern umfaßte jetzt ihren ganzen Kör-per. Das zylinderförmige Wesen stand nun nicht mehr senkrecht in der Luft, sondern kippte langsam zur Seite. Tatenlos mußten wir zusehen, wie sein Körper von einem letz-ten Zittern durchlaufen wurde. Noch einmal erklang das Singen, und diesmal ging es uns beiden durch Mark und Bein.

Die Stange taumelte, dann sackte sie in sich zusammen, als ob jemand die Luft aus einem Ballon gelassen hätte. Sekunden später klatschte sie leblos auf den Boden.

Wir verließen die Deckung und gingen vor-sichtig auf das zu, was von der Stange übrig-

geblieben war. Ich begriff, daß unser Ver-steckspiel unnötig gewesen war.

Das Wesen hatte Hilfe gesucht! Offensicht-lich war es durch die Raserei des Argots ohne Vorbereitung und viel zu schnell entkonser-viert worden und nicht mehr lebensfähig.

Aus dem Korridor erklang das bekannte Singen.

»Es sind noch mehr!« keuchte Razamon. »Laß uns von hier verschwinden, Atlan!«

Das brauchte er mir nicht zweimal zu sa-gen. Es gab kaum etwas Schlimmeres, als tatenlos zusehen zu müssen, wie sie alle um-kamen.

Wir machten, daß wir aus dem Palast ka-men. Razamon lud sich zwei der gelähmten Technos über die Schultern, ich nahm den dritten.

Keiner von uns redete ein Wort, bis wir die Hügel erreicht hatten, die die Senke an dieser Stelle einrahmten. Von hier aus konnten wir das Gelände auf Kilometer hinaus übersehen.

Es war mittlerweile Nachmittag geworden. Wenn die Technos nicht bald zu sich kamen, würden wir die DEEHDRA nicht mehr vor Anbruch der Dunkelheit erreichen. Unser Ziel stand fest, ohne daß wir ein Wort darüber verloren hätten. Razamon fieberte danach, endlich zum Taamberg zu gelangen, um nach Überresten seiner Familie zu suchen.

Endlich regte sich der erste der Technos. Dann waren innerhalb weniger Minuten alle drei wach. Wir hatten die erbeuteten Waggus in der Hand, aber der Respekt vor den Waffen war nichts gegen die panische Furcht, die die drei vor Fenrir zeigten, der mit gefletschten Zähnen um sie herumschlich und sie keinen Moment aus den Augen ließ.

»Du da!« rief ich denjenigen der drei heran, der mir am gefaßtesten erschien. Ohne den Blick von Fenrir zu nehmen, kam er näher.

Ich erzählte ihm von dem, was während ih-rer Betäubung vor sich gegangen war. Der Techno starrte mich aus ungläubigen Augen an.

»Wir werden jetzt von hier verschwinden«, kündigte ich an. »Ihr drei kehrt in euren Palast zurück und wartet, bis die Suchtrupps kom-men. Inzwischen werden ihnen die Ausbre-cher sicher schon in die Arme gelaufen sein, aber man wird Fragen stellen.«

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ATLAN 13 – Senke der verlorenen Seelen

»Tötet uns«, preßte der Techno hervor. Einen Augenblick lang war ich verblüfft.

Ich hatte mit dem Gedanken gespielt, ihnen den Tod anzudrohen, falls sie uns verraten würden, es dann aber verworfen. Jetzt erkann-te ich, daß meine Entscheidung richtig gewe-sen war. Sie baten uns, sie zu töten!

»Warum?« »Wir haben versagt«, murmelte der Tech-

no. »Sie werden einen Schuldigen brauchen und uns bestrafen.«

»Wer sind ›sie‹?« »Heinzkoor und Gryp, die Führer unseres

Stammes.« (Der Techno konnte nicht wissen, daß mitt-

lerweile Sirkat an ihre Stelle getreten war.) Ich überlegte. Hier bot sich eine Möglich-

keit. Wir hatten zwar immer noch keine Ah-nung, was diese Technos nun wirklich waren, aber wir hatten Gelegenheit gehabt, festzustellen, daß sie Gefühle hatten, die denen eines Menschen nicht unähnlich waren – im Guten wie im Bösen.

Sie hatten Angst vor ihren Anführern. Und sie würden uns verpflichtet sein, wenn wir ihre Haut retteten.

»Ihr geht zurück in euren Glaspalast und berichtet, daß die Argots euch überraschten und das Gebäude verwüsteten. Man wird euch keine Schuld geben können. Es sei denn, daß herauskommt, wie es wirklich war. Wenn eure Führer davon erfahren, daß ihr von zwei Fremden überrumpelt worden seid ...«

»Ich verstehe«, murmelte der Techno. Er versicherte, daß weder er noch seine

Kameraden ein Wort über uns verlieren wür-den. Und das war der einzige Ausweg. Vier tote Technos hätten die anderen argwöhnisch gemacht, außerdem konnte ich keine Wesen umbringen, die zwar objektiv gesehen verbre-cherisch handelten, aber in Wirklichkeit nur im Bann einer fremden Macht standen, die sie beherrschte.

»Was wißt ihr über euren Auftrag?« fragte ich zum Schluß. Razamon wurde bereits un-geduldig und zeigte auf den Himmel. Es wur-de Zeit für uns. »Was geschieht mit den Ge-fangenen?«

»Den verlorenen Seelen«, ergänzte Raza-mon verbittert.

Der Techno zuckte die Schultern. Ich sah

ihm an, daß er sich nicht verstellte. »Das weiß keiner, nicht einmal Heinzkoor

und Gryp. Eines Tages werden wir sie ablie-fern, und dann ...«

»Wo?« fragte ich dazwischen. »Bei wem?« Der Techno ging nicht darauf ein. »Irgend

etwas wartet auf sie, es muß etwas Unfaßba-res sein ...«

Ich begriff, daß aus den Technos nicht mehr herauszuholen war. Außerdem sah ich, daß in der Ferne eine große Wagenkolonne auf den zerstörten Glaspalast zurollte.

»Geht, ihr müßt euch beeilen. Und denkt daran: ein Wort über uns, und ihr seid gelie-fert!«

Die Technos gingen schweigend. Razamon, Fenrir und ich brachen auf. We-

nig später hatten wir die Hügelkette hinter uns – und damit die Senke. Razamon war schweigsam. Ich begann zu fürchten, daß er wieder etwas ausbrütete.

Aber er blieb ruhig, bis wir den Seitenarm des Regenflusses vor uns sahen.

Von der DEEHDRA fehlte jede Spur. Die Dschunke war verschwunden.

*

Als wir unsere Anlegestelle erreicht hatten,

kniete Razamon nieder und schlug wie ein Verrückter auf den Boden.

»Dieses verfluchte Land!« schrie er. »Die-ses gottverdammte Land!«

Auch ich hatte Mühe, meine Enttäuschung zu verbergen. Ich wünschte mir, einfach mal abzuschalten und alles um mich herum kurz und klein schlagen zu können, so wie Raza-mon, wenn es über ihn kam.

Das brachte uns keinen Schritt weiter. Es begann zu dämmern. Das Licht reichte

gerade noch aus, um die Verwüstungen am Ufer zu erkennen. An unserem ehemaligen Anlegeplatz mußte ein heftiger Kampf statt-gefunden haben.

Ich sah etwas Weißes und bückte mich. Unsicher blickte ich zu dem Atlanter hinüber. Er hatte sich anscheinend beruhigt, aber wie würde er reagieren, wenn er die Federn sah?

Bevor es dazu kam, richtete er sich auf. Ra-zamons hagere Gestalt straffte sich. Langsam trat er an den Rand des Flusses.

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ATLAN 13 – Senke der verlorenen Seelen

»Atlan!« Ich schloß die Hand um die Feder und ging

zu ihm, um nachzusehen, was er entdeckt hatte. Mittlerweile war ich daran gewöhnt, dem Grauen ins Auge zu schauen, dennoch spürte ich, wie mir die Beine weich wurden.

Mitten im Seitenarm des Flusses trieb et-was Großes auf dem Wasser. Erst nach lan-gem Hinsehen sah ich, was wir vor uns hat-ten.

Der Zyklop! Das mächtige Wesen trieb auf der Seite an der Oberfläche. Sein Rücken war uns zugewandt, und ich sah das riesige Auge auf dem Kopf des Monstrums. Direkt darüber steckten zwei gewaltige Lanzen in seinem Schädel.

»Dieses tausendmal verfluchte Land!« schrie Razamon erneut.

»Es ist nicht Pthor, Razamon. Keine Welt und kein Lebewesen im Universum besteht nur aus Haß, es sei denn, es wird dazu abge-richtet, zu hassen und zu töten.«

Unwillkürlich hatte ich den Kopf gedreht. Mein Blick ging in Richtung Osten.

Und die Monstren in der FESTUNG? mel-dete es sich in mir. Sind sie nicht das gestalt-gewordene Böse?

In Gedanken versunken, hatte ich die Feder genommen und damit gespielt. Razamon nahm meine Hand und starrte entgeistert dar-auf.

»Woher?« fragte er nur. Ich zeigte ihm die Stelle. Nach kurzem Su-

chen fanden wir weitere Federn. »Ich schwöre dir, Stormock, ich werde dich

finden«, murmelte der Atlanter. »Und wenn sie dir nur einen einzigen Schmerz zugefügt haben, werde ich sie töten ...«

Mir fuhr ein Schauer über den Rücken. Diese Worte hatten etwas Endgültiges. Mir wurde klar, daß ich immer noch nicht wußte, welche Bedeutung dieser Vogel wirklich für Razamon hatte.

»Woher weißt du, daß sie ihn nicht längst ...?«

Razamon warf mir einen vernichtenden Blick zu.

»Niemand tötet einen Stormock!« »Und wohin nun?« »Wir müssen ihnen nach, und wenn ich al-

lein gehen muß. Fenrir wird ihre Spur fin-

den.« Ich wunderte mich immer mehr über den

Pthorer. Die Verfolgung der Plünderer war ihm wichtiger als die Suche nach seiner Fami-lie am Taamberg!

Es war mittlerweile dunkel. Vor dem nächsten Morgen konnten wir nichts unter-nehmen.

»Fenrir!« rief ich. Der Fenrirwolf tauchte am Ufer auf.

Wir setzten ihn auf die Spur der Plünderer an. Nach wenigen Minuten hatte er ihre Wit-terung. Der treue Wolf zeigte uns die Rich-tung, in der wir sie zu suchen hatten.

»Sie sind nach Norden gegangen!« staunte ich. »Womöglich in die Senke?«

Razamon schüttelte energisch den Kopf. Obwohl er seine Erinnerung verloren hatte, hatte er ein Gefühl für die Gegebenheiten auf Atlantis bewahrt.

»Die Senke ist ein Ghetto, da geht niemand hinein, schon gar keine Wegelagerer.«

»Wohin dann?« »Erinnerst du dich, was die Technos sag-

ten? Was ihre Führer mit Versagern ma-chen?«

»Sie schicken sie in die Wüste.« Razamon nickte.

»Denk an die Karte, die wir auf der DEEHDRA fanden. Nördlich und westlich der Senke liegt die Wüste Fylln.«

»Du glaubst, daß sie ...?« »Wir werden es sehen. Morgen«, sagte der

Atlanter. Damit zog er sich zurück. Er wollte allein sein. Und ich verstand ihn.

Ich saß noch lange am Ufer und starrte auf den toten Zyklopen. Fenrir hockte neben mir.

Wir hatten wieder so gut wie nichts über die Herren dieses Gebildes erfahren können. Und wieder waren wir einer undurchdringli-chen Mauer aus Schweigen und Angst begeg-net.

Ein neues Bild baute sich vor meinem geis-tigen Auge auf. Ein dickes Gesicht mit zwei listigen Kugelaugen. Ich mußte unwillkürlich lächeln, als ich an Dölbe dachte, den liebens-werten Tolpatsch aus dem Dorf der Kröppel. Der Gedanke gab mir neue Hoffnung. Wo es möglich war, daß ein paar unbeholfen wir-kende Wesen den Gefahren eines Mord-dschungels trotzen konnten, war noch nicht

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ATLAN 13 – Senke der verlorenen Seelen

alles verloren.

Ich legte mich zurück und betrachtete den Sternenhimmel.

Es waren immer noch die gleichen Konstel-

lationen. Der Sternenhimmel der Erde.

ENDE

Weiter geht es in Band 14 von König von Atlantis mit:

Koy, der Trommler von H. G. Ewers

Impressum: © Copyright der Originalausgabe by Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt Chefredaktion: Klaus N. Frick

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ATLAN 13 – Senke der verlorenen Seelen

© Copyright der eBook-Ausgabe by readersplanet GmbH, Passau, 2005, eine Lizenzaus-gabe mit Genehmigung der Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

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