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WALD UND HOLZ 9/06 53 ausland 20 Jahre nach «Tschernobyl» Wald als radioaktive Senke Wäre die Region um Tschernobyl nicht so dicht bewaldet gewe- sen, hätte der Super-Gau 1986 noch weit schlimmere Auswir- kungen haben können. 20 Jahre danach sind die verstrahlten Wälder in der Sperrzone rund um den Reaktor zu radioaktiven Senken geworden: Sie verhin- dern ein Ausbreiten der Strah- lung. Doch dafür müssen sie gepflegt werden. d urch einen dichten Jungwald führt das geteerte Strässchen, und man muss das Dickicht genau mustern, um zu erken- nen, dass das hier einmal eine Quartier- strasse in der Stadt Tschernobyl war, gesäumt von den typischen einstöckigen Holzhäusern. Jetzt sind die Dächer einge- stürzt, die Farben abgeblättert, und die wuchernde Kraft der Natur arbeitet gedul- dig daran, die Spuren der Menschen, die hier über 1000 Jahre gesiedelt haben, zu tilgen. Mitten in diesem laubgrünen, von weis- sen Birkenstämmen durchzogenen Wäld- chen leuchtet es blau am Strassenrand: ein stattliches Haus mit der trotzigen Auf- schrift «Hier wohnen Einheimische». Eine alte Frau stapft in Gummistiefeln mit einer Schale Roggenkörner am Zaun entlang. Im Garten kräht ein hungriger Hahn. Nein, hereinlassen könne sie die Besucher nicht. «Der Hund ist bissig geworden. Es gibt nicht mehr viele Leute hier, und schon gar keine Fremden», meint sie entschuldi- gend. Seit ihr Mann vor fünf Jahren ver- starb, ist Olga Hawrelenko allein. Er sei eines natürlichen Todes gestorben, betont die 75-Jährige. «Nicht wegen der Strahlung. Sein Herz hörte nach einem harten Leben einfach auf zu schlagen.» 20 km nördlich der Stadt liegt der Unglücks-Reaktor, der in der Nacht vom 25. auf den 26. April 1986 in die Luft flog, nach einer ganzen Reihe von Grobfahrläs- sigkeiten des Bedienungspersonals. Erst sieben Tage später wurde die Stadt Tscher- nobyl evakuiert. Auch Hawrelenko musste ihren Geburtsort verlassen. Es hiess, das sei nur eine vorübergehende Massnahme. Doch nichts passierte, und nach und nach sickerte durch, dass die radioaktiv ver- seuchte Sperrzone, wo 130 000 Men- schen gelebt hatten, für lange Zeit unbe- wohnbar bleiben würde. Ein Jahr später war sie mit ihrem Mann wieder da – trotz des strikten Verbots. Sie hätten es einfach nicht mehr ausgehalten in den provisorischen Notunterkünften, sagt Olga Hawrelenko. Das Paar liess sich nicht mehr einschüchtern, fand sogar Arbeit und blieb, von den Behörden ge- duldet, aber ohne jegliche medizinische und soziale Versorgung. Heute sind die rund 300 ausschliesslich alten Menschen, die sich dem Wohnverbot widersetzt hat- ten und in der Sperrzone leben, offiziell anerkannt. Sie beziehen Renten und wer- den ab und zu auch mit Lebensmitteln ver- sorgt. Der eigene Garten bleibt dennoch die wichtigste Nahrungsquelle. Dass sie damit ein erhebliches gesundheitliches Risiko eingeht, nimmt Olga Hawrelenko in Kauf. «Ich bin alt. Sterben muss ich sowieso», meint sie lapidar. Grosseunterschiede Der Blick auf den Geigerzähler zeigt: Die Strahlendosis am Zaun des Hauses liegt um rund das Zehnfache über dem natür- lichen Wert. Das ist Durchschnitt im Sperr- gebiet. Doch die Schwankungsbreite ist riesig, und wenn auf der einen Strassen- seite extrem hohe Werte gemessen wer- den, so kann nur wenige Meter davon entfernt die radioaktive Strahlung im nor- malen Bereich liegen. Der Niederschlag aus radioaktiven Wolken, die noch Wochen nach dem Reaktorunglück über der Region waberten, nahm einen unberechenbaren, von Wind und Wetter abhängigen Ver- lauf. Je nach Beschaffenheit des Bodens ver- sickern die radioaktiven Teilchen mal schnell, mal langsam. So können Pilze jahrelang * Pressebüro Seegrund, 8280 Kreuzlingen. Fotos: U. Fitze In der Stadt Tschernobyl macht sich in den menschenleeren Strassen Wald breit. Olga Hawrelenko hat sich nicht aus Tscher- nobyl vertreiben lassen. Von Urs Fitze*

Wald als radioaktive Senke - Kercomp GmbH: HOMEa-i.kercomp.de/fileadmin/pdf/wsl_radioaktive_senke_originalartikel.pdf · würden radioaktiv belastete Ascheteile über grosse Flächen

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W A L D U N D H O L Z 9/06� 53

a u s l a n d

20 Jahre nach «Tschernobyl»

Wald als radioaktive SenkeWäre die Region um Tschernobyl nicht so dicht bewaldet gewe-sen, hätte der Super-Gau 1986 noch weit schlimmere Auswir-kungen haben können. 20 Jahre danach sind die verstrahlten Wälder in der Sperrzone rund um den Reaktor zu radioaktiven Senken geworden: Sie verhin-dern ein Ausbreiten der Strah-lung. Doch dafür müssen sie gepflegt werden.

durch einen dichten Jungwald führt das geteerte Strässchen, und man muss

das Dickicht genau mustern, um zu erken-nen, dass das hier einmal eine Quartier-strasse in der Stadt Tschernobyl war,

gesäumt von den typischen einstöckigen Holzhäusern. Jetzt sind die Dächer einge-stürzt, die Farben abgeblättert, und die wuchernde Kraft der Natur arbeitet gedul-dig daran, die Spuren der Menschen, die hier über 1000 Jahre gesiedelt haben, zu tilgen.

Mitten in diesem laubgrünen, von weis-sen Birkenstämmen durchzogenen Wäld-chen leuchtet es blau am Strassenrand: ein stattliches Haus mit der trotzigen Auf-schrift «Hier wohnen Einheimische». Eine alte Frau stapft in Gummistiefeln mit einer Schale Roggenkörner am Zaun entlang. Im Garten kräht ein hungriger Hahn. Nein, hereinlassen könne sie die Besucher nicht. «Der Hund ist bissig geworden. Es gibt nicht mehr viele Leute hier, und schon gar keine Fremden», meint sie entschuldi-gend. Seit ihr Mann vor fünf Jahren ver-starb, ist Olga Hawrelenko allein. Er sei eines natürlichen Todes gestorben, betont die 75-Jährige. «Nicht wegen der Strahlung. Sein Herz hörte nach einem harten Leben einfach auf zu schlagen.»

20 km nördlich der Stadt liegt der Unglücks-Reaktor, der in der Nacht vom 25. auf den 26. April 1986 in die Luft flog, nach einer ganzen Reihe von Grobfahrläs-sigkeiten des Bedienungspersonals. Erst sieben Tage später wurde die Stadt Tscher-nobyl evakuiert. Auch Hawrelenko musste

ihren Geburtsort verlassen. Es hiess, das sei nur eine vorübergehende Massnahme. Doch nichts passierte, und nach und nach sickerte durch, dass die radioaktiv ver-seuchte Sperrzone, wo 130 000 Men-schen gelebt hatten, für lange Zeit unbe-wohnbar bleiben würde.

Ein Jahr später war sie mit ihrem Mann wieder da – trotz des strikten Verbots. Sie hätten es einfach nicht mehr ausgehalten in den provisorischen Notunterkünften, sagt Olga Hawrelenko. Das Paar liess sich nicht mehr einschüchtern, fand sogar Arbeit und blieb, von den Behörden ge-duldet, aber ohne jegliche medizinische und soziale Versorgung. Heute sind die rund 300 ausschliesslich alten Menschen, die sich dem Wohnverbot widersetzt hat-ten und in der Sperrzone leben, offiziell anerkannt. Sie beziehen Renten und wer-den ab und zu auch mit Lebensmitteln ver-sorgt. Der eigene Garten bleibt dennoch die wichtigste Nahrungsquelle. Dass sie damit ein erhebliches gesundheitliches Risiko eingeht, nimmt Olga Hawrelenko in Kauf. «Ich bin alt. Sterben muss ich sowieso», meint sie lapidar.

Grosse�unterschiede

Der Blick auf den Geigerzähler zeigt: Die Strahlendosis am Zaun des Hauses liegt um rund das Zehnfache über dem natür-

lichen Wert. Das ist Durchschnitt im Sperr-gebiet. Doch die Schwankungsbreite ist riesig, und wenn auf der einen Strassen-seite extrem hohe Werte gemessen wer-den, so kann nur wenige Meter davon entfernt die radioaktive Strahlung im nor-malen Bereich liegen. Der Niederschlag aus radioaktiven Wolken, die noch Wochen nach dem Reaktorunglück über der Region waberten, nahm einen unberechenbaren, von Wind und Wetter abhängigen Ver-lauf. Je nach Beschaffenheit des Bodens ver-sickern die radioaktiven Teilchen mal schnell, mal langsam. So können Pilze jahrelang * Pressebüro Seegrund, 8280 Kreuzlingen.

Foto

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In der Stadt Tschernobyl macht sich in den menschenleeren Strassen Wald breit.

Olga Hawrelenko hat sich nicht aus Tscher-nobyl vertreiben lassen.

Von Urs Fitze*

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unbelastet sein, um dann plötzlich, wenn die radioaktiven Teilchen das Myzel im Boden erreichen, eine gefährlich hohe Strahlung abzugeben.

Unter solchen Bedingungen ist an eine Wiederbesiedlung der 2040 km2 grossen Sperrzone noch auf viele Jahrzehnte hinaus nicht zu denken – auch wenn keine un-mittelbare Gesundheitsgefährdung besteht, solange keine dort produzierten Lebens-mittel konsumiert werden. Während eines eintägigen Aufenthaltes nimmt der Kör-per in etwa dieselbe radioaktive Dosis auf wie bei einem zweistündigen Flug mit einem Passagierjet.

74 Dörfer und zwei grössere Städte – Tschernobyl und das erst 1970 gebaute Prypyat – sind auf dem Gebiet der Ukra-ine heute praktisch menschenleer. Dazu kommen weitere verseuchte Regionen in Weissrussland und Russland (Kasten). In Prypyat, einer 1970 nur für das Personal der sechs damals geplanten Kernkraft-werke gebauten Stadt mit 45 000 Ein-wohnern, nur 3 km vom Reaktorgelände entfernt, gibt es ausser ein paar verwil-derten Hunden und Katzen niemanden mehr. Es ist still auf dem grossen Haupt-platz, wo Jungbäume aus dem Asphalt spriessen gespenstisch still und auch flat-ternde Schmetterlinge, summende Bienen und Vogelgezwitscher können die Atmo-sphäre nicht aufhellen, die an einen der düsteren Science Fiction-Filme aus den 1970er-Jahren erinnert, die eine Welt nach dem Atomkrieg zeigten.

In unmittelbarer Nähe der in einer dicken, immer brüchiger werdenden Hülle aus Stahl und Beton verpackten Reaktorruine liegt die Strahlung in einem für die dort rund 4000 mit Aufräum- und Stilllegungsarbeiten beschäftigten Menschen tolerierbaren Rah-men, solange gewisse Verhaltensregeln eingehalten werden: keinen Staub auf-wirbeln, Strassen und Wege nicht verlas-sen, keinerlei Beeren, Früchte oder Pilze konsumieren. Jene Arbeiter, die im Innern des Reaktor-Sarkopharges Wartungs- und Reparaturarbeiten ausführen müssen, kön-nen dies an manchen Stellen nur für wenige Minuten tun. Dann haben sie das gerade noch zulässige Mass an radioaktiver Strah-lung bereits erreicht. Sämtliche Nahrungs-mittel für die Beschäftigten, die mit Zügen aus einer neu angelegten Siedlung über 100 km östlich des Reaktorgeländes anrei-sen, müssen in die Sperrzone geliefert werden. Diese darf man nur mit offizieller Genehmigung betreten, und wer das Gebiet wieder verlässt, wird auf Kontami-nation geprüft.

Die Sperrzone wird derweil zum Natur-paradies, und manche Arten wie der

Wolf, die hier bereits ausgestorben waren, sind zurückgekehrt in das Gebiet, in dem einst intensive Land- und Forstwirtschaft betrieben worden war.

«Rote�Wälder»

75% des Sperrgebietes sind mit Wald bedeckt. Unmittelbar und tödlich geschä-digt wurden nach dem Super-Gau rund 3500 ha innerhalb eines Radius von 7 km um den Reaktor. Die Baumnadeln, vor allem Föhren (Pinus sylvestris), erhielten in den ersten Wochen Gamma-Strahlendosen von 80 bis 100 Gray* und starben binnen weniger Tage ab. Wegen ihrer rötlichen Verfärbung gingen diese atomar verstrahl-ten Wälder als «Red Forests» in die Ge-schichte ein. Die buchstäblich strahlenden Baumleichen mussten von den Räum-

kommandos gefällt werden. Stämme und Äste wurden an Ort und Stelle vergraben.

Auch die weiter entfernten Wälder mussten mit enormen Strahlendosen fer-tig werden. Betroffen waren zu Beginn vor allem die Baumkronen. Innerhalb eines Jahres erreichte dieses verseuchte orga-nische Material die Böden, die nun die Hauptquelle für die Verstrahlung sind. Seither nehmen Pflanzen durch ihre Wur-zelsysteme weiter radioaktive Teile auf – und geben sie wieder an die Böden zurück. Dieses biologisch bedingte Gleichgewicht wird primär durch die Hydrologie beein-flusst. Dabei zeigen sich grosse Unter-schiede. Generell betrachtet sind feuchte Wälder wegen des verstärkten Wasserab-flusses eher begünstigt, trockene Stand-orte eher benachteiligt. Doch auch die einzelnen Pflanzenarten reagieren unter-schiedlich auf die Verstrahlung. Flach- wurzelnde Bäume sind stärker betroffen als Arten, deren Wurzeln tiefer ins Erd-reich reichen. In nährstoffarmen Böden

Teure�«Reparaturarbeiten»(fi) 150 000 km2 Land in den drei Staaten Ukraine, Weissrussland und Russland wurden durch die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl verseucht. Rund 400 000 Menschen wur-den evakuiert, eine weitere Million verliess das Katastrophengebiet aus freien Stücken. Die Schutzhülle, die binnen weniger Monate hastig um den zerstörten Reaktor gelegt wurde, ist akut einsturzgefährdet. Das Projekt für eine neue Hülle ist inzwischen spruch-reif. Mit den Bauarbeiten soll im kommenden Jahr begonnen werden. Finanziert wird das rund 800 Mio. EUR teure Bauwerk aus Mitteln des mit 837 Mio. EUR ausgestatteten «Chernobyl Shelter Fund», der 1997 von der Europäischen Union und der Ukraine gegründet worden war. Auch die Schweiz ist mit 9,3 Mio. EUR beteiligt. Daneben engagieren sich die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) und das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) mit verschiedenen kleineren Projekten in der Region um Tschernobyl.

Blick auf den Unglücksreaktor, der in einer Hülle aus Stahl und Beton eingeschlossen ist, die zunehmend brüchig wird. Die Sanierungsarbeiten sind fast abgeschlossen. Dann wird eine neue Hülle gebaut.

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* Gray: Masseinheit für die absolute absorbierte Strahlung. 1 Gray entspricht 1 Joule pro Kilo-gramm. Für den Menschen sind schon wenige Gray tödlich.

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wird Cäsium, das chemisch eng verwandt ist mit Kalium, stärker aufgenommen. Vor allem Föhren sind äusserst empfindlich und sterben schon bei Dosen von 40 Gray, während Birken und Eichen sich resis-tenter zeigen und bis zur 15-fachen Dosis aushalten. Darauf gilt es bei Wiederauf-forstung zu achten. So sind in den «Roten Wäldern» vor allem Birken gepflanzt wor-den, die besser mit der radioaktiven Strahlung fertig werden.

In den Bäumen selbst finden sich die radioaktiven Teilchen vor allem in Blättern und Nadeln sowie der Rinde. Das Holz ist nur zu einem kleinen Teil von der Strah-lung betroffen. So enthält die Rinde 20- bis 30-mal mehr Cäsium137 als das Holz, und auch bei den Blättern und Nadeln ist es noch das 4- bis 8-fache. Deshalb müs-sen kontaminierte Stämme unbedingt noch vor Ort entrindet werden. Deutlich stärker belastet sind Waldfrüchte, Pilze und Eri-kakraut.

Als Grenzwert für eine forstliche Nut-zung gelten 40 Curie**/m3. Rund um das Reaktorgelände werden auf den 150 000 ha Wald 10 bis 100 Curie gemessen. Die Wälder in dieser von Sümpfen und Marsch-land geprägten Landschaft wurden nach gigantischen Drainageprojekten zwischen 1950 und 1970 aufgeforstet. Zuvor war die Gegend schon im 19. Jahrhundert nahezu entwaldet worden, bedingt durch Über-nutzung und Ausdehnung der landwirt-schaftlichen Nutzflächen. Doch die kargen, humusarmen Böden waren rasch ausge-laugt.

Die planmässige Wiederbewaldung folgte weniger den Gesetzen der Natur als dem Nutzdenken der Förster. So wurden vor allem Föhren gepflanzt. Sie machen heute rund die Hälfte des Baumbestandes aus. Der ursprüngliche Mischwald aus Föhren (Pinus sylvestris), Eichen (Quercus robur), Birken (Betula pendula und Betula pube-scens), Pappeln (Populus tremula) und Erlen (Alnus glutinosa und Alnus incana) wurde in ökologische Nischen verdrängt.

Kaum�mehr�Holz�geerntetFrüher gab es in der Sperrzone drei grosse

Forstbetriebe. Davon ist einer übrig geblie-ben. Die Mitarbeiter samt Direktor Mikola Mikolajewich wohnen alle ausserhalb.

Auch Nahrungsmittel müssen von draus-sen mitgebracht werden. Mikolajewich ist seit 1999 im Amt und hatte zuvor an der forstwissenschaftlichen Fakultät in Kiev gelehrt. Seine Promotion mit einer Arbeit über die Strahlenbelastung der Wälder in der Folge der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl prädestiniert ihn für diese Funktion. «Wir beschränken uns in der Sperrzone auf die Waldpflege», erklärt er. Doch diese Pflege sei notwendig. «Natür-lich kämen die Wälder auch alleine zurecht.

Doch der Mensch hat sie seit Jahrtausen-den beeinflusst.» So habe die monokultur-artige Aufforstung mit Föhren die Wälder sehr empfindlich gemacht. Windwurf, Pilze, schädliche Insekten und Brände set-zen ihnen zu. Das wäre unter normalen Umständen in einem Gebiet, in dem die waldwirtschaftliche Nutzung zum Erlie-gen kommt, vertretbar. «Ein natürliches Gleichgewicht würde sich über kurz oder lang einstellen», sagt Mikolajewich. «Aber wir haben es hier mit verstrahlten

Der Wald kehrt allmählich zurück auf die verlassenen Felder um Tschernobyl.

Nur noch ein Achtel der ursprünglichen Holzmenge wird in der Sperrzone in Tschernobyl verarbeitet.

** Curie ist die veraltete, im ehemaligen Ostblock bis heute gebräuchliche Einheit der Aktivität eines radioaktiven Stoffes; sie wurde übergangsweise noch bis 1985 gebraucht, dann durch die Einheit Becquerel ersetzt. 1 Curie ist definiert als die Akti-vität von 1 g Radium-226, entsprechend etwa 37·109 Becquerel (= 37 GBq).

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Im staatlichen Forstbetrieb im Kreis Ivankiv laufen die Geschäfte bestens.

Wäldern zu tun, deren Verschwinden un-weigerlich zur neuerlichen Freisetzung von radioaktiven Teilchen führen müsste. Das wäre wie eine Folge weiterer atomarer Katastrophen.»

Am schlimmsten wäre ein grossflächi-ger Waldbrand. Durch die grosse Hitze würden radioaktiv belastete Ascheteile über grosse Flächen verteilt. In den ersten Jahren nach der Katastrophe war es zu mehreren Waldbränden gekommen. Der Anteil des toten Materials in den Wäldern verfünffachte sich. Erst mit der Begrün-dung einer eigenen, für die Sperrzone zuständigen Forstabteilung kam es zu einer Verbesserung. Die Herausforderung war weltweit einmalig. Es musste deshalb in den ersten Jahren auch viel Grundlagen-arbeit betrieben werden. So wurden ein Forstinventar angelegt, abgebrannte Flächen

wieder aufgeforstet, ein Feueralarmsystem aufgebaut, über 1200 km Forststrassen instandgesetzt, ein Teil der landwirtschaft-lichen Flächen aufgeforstet und ein Kon-zept zur Erhaltung der Wildbestände ent-wickelt.

doppelt�gefährliche�arbeit

Die Wälder um Tschernobyl sind zu radioaktiven Senken geworden. Sie haben schon vor 20 Jahren noch Schlimmeres verhindert, weil sie einen Grossteil der freigesetzten radioaktiven Teilchen absor-bierten. Nun müssen sie diese Last auch noch weiter tragen – wahrscheinlich für Jahrhunderte. Das Ziel von Mikolajewich ist ein möglichst naturnaher Baumbestand. Gezielte Schläge werden deshalb durch-geführt, um diese Verjüngung zu fördern.

Die Stämme werden vor Ort entastet und entrindet. Operiert wird aus drei Basis-stationen heraus. Die Forstarbeiter sind einer hohen Strahlenbelastung ausgesetzt, die jene der mit Aufräumarbeiten auf dem Reaktorgelände Beschäftigten um das Ein-einhalbfache übersteigt. Der Holzschlag ist drastisch gesunken. Wurden vor 1986 jähr-lich 85 000 m3 geerntet, so sind es heute noch 10 000 m3. Das Holz darf nach einer Kontrolle von lizensierten Unternehmen auch ausserhalb der Sperrzone verarbei-tet werden. Damit ist «Chornobyl Forest» der einzige Betrieb innerhalb der Sperr-zone, der noch ein wenig Geld verdient. Es ist wenig genug. Doch ums Geld geht es hier nur sehr bedingt: Das Fernziel von Mikolajewich ist eine durchgängig bewal-dete Zone um Tschernobyl mit einem vitalen Mischwald, der dem Naturzustand möglichst nahe kommt. Und, wer weiss, vielleicht wird ja in einigen Jahrzehnten einmal ein Nationalpark daraus.

Viel bessere Geschäfte macht Volodir Musienko, Direktor des staatlichen Forst-betriebes im Kreis Ivankiv, der südlich an die Sperrzone grenzt. 70 000 ha werden bewirtschaftet, ein unabhängiges Labor prüft regelmässig, ob die geernteten Bäume die Grenzwerte für radioaktive Strahlung nicht überschreiten. 35% der jährlich 143 000 m3 Holz werden exportiert – mit steigender Tendenz. Sogar für Investitio-nen in neue Maschinen hat das Geld ge-reicht. Voller Stolz präsentiert Musienko eine neue Halle, wo jetzt Holzstücke für ein Europalettenwerk in den Niederlanden zugeschnitten werden. 652 Arbeiter be-schäftigt der Forstbetrieb inzwischen und ist damit der mit Abstand grösste Arbeit-geber im Kreis. Musienko träumt davon, diese Zahl noch weiter zu steigern. Holz dafür ist in der Region, die zu 70% bewal-det ist, noch mehr als genug da.