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Sieben kleine Prosagedichte Eine literarische Übersetzung von sieben Petits poèmes en prose Baudelaires Martina Müller Kantonsschule Küsnacht Klasse 6b 8. Januar 2018

Sieben kleine Prosagedichte - impulsmittelschule.ch · 1 Vorwort «Warum eine literarische Übersetzung?», mag man berechtigterweise fragen, denn als Ansatz für eine Maturaarbeit

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Sieben kleine Prosagedichte

Eine literarische Übersetzung von sieben Petits poèmes en prose Baudelaires

Martina Müller

Kantonsschule Küsnacht

Klasse 6b

8. Januar 2018

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Vorwort «Warum eine literarische Übersetzung?», mag man berechtigterweise fragen, denn als

Ansatz für eine Maturaarbeit wird dies wahrlich nicht häufig gewählt. Kenntnisse in

zwei Sprachen sind gefragt, ebenso eine gewisse Hartnäckigkeit, gilt es doch, Diverses

zu erkennen, zu erforschen und letztlich gegeneinander abzuwägen. Die Antwort lau-

tet in meinem Fall: Aus Liebe und Neugier. Aus Liebe zu Sprachen, insbesondere zur

französischen und zur deutschen, zu ihren Wendungen und Spielereien, ihren Nuan-

cen und Raffinessen. Und aus Neugier, zu erfahren, wie es so ist zu übersetzen und

wie nahe ich dem Original kommen konnte.

Es war aber keineswegs so, dass für mich schon lange vor April des letzten Jahres fest-

gestanden hätte, dass ich eine Übersetzungsarbeit schreiben würde. Vielmehr hatte ich

mir seit zweieinhalb Jahren den Kopf darüber zerbrochen, worum sich meine Matu-

raarbeit drehen sollte. Erst als ich Ideen im gestalterischen oder historischen Bereich

ebenso verworfen hatte wie naturwissenschaftliche Ansätze, und die erste Frist immer

näher rückte, fiel mein Augenmerk auf die Sprachen, die mich sosehr begeistern. In

Gesprächen mit den entsprechenden Lehrpersonen kam die Idee einer «traduction

littéraire» auf, und sie erwies sich als hervorragende Lösung: In ihrem Rahmen

brauchte ich keine Geschichte zu erfinden, wie ich es zum Beispiel bei einem Novel-

lenprojekt hätte tun müssen, konnte aber genauso intensiv und detailversessen mit

Wörtern und Ausdrücken jonglieren, bis die ideale Konstellation gefunden war. Dass

ich nebenbei noch einen grossen französischen Literaten genauer kennenlernen und

studieren konnte, setzte dem Ganzen die Krone auf.

So entstand während einem Jahr eine Sammlung von mehreren kurzen literarischen

Übersetzungen, die ich letztendlich zusammen mit den französischen Originaltexten

zu einem Büchlein verarbeitete, sowie dieser Begleittext, in dem ich mein Vorgehen

beim Übersetzen anhand einiger Vergleiche mit Fremdübersetzungen erläutere.

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Inhalt

Vorwort ................................................................................................................................1

Einleitung .............................................................................................................................4

Originaltexte und Hintergründe ........................................................................................5

Charles Baudelaire ...........................................................................................................5

Le Spleen de Paris / Petits poèmes en prose .........................................................................5

Das Prosagedicht..........................................................................................................6

Textauswahl .....................................................................................................................7

Literarisches Übersetzen nach Elisabeth Edl.....................................................................9

Satzbau..............................................................................................................................9

Wortwahl und Sprachebene ...........................................................................................9

Doppelsinn und Wortspiel..............................................................................................9

Vokabular ....................................................................................................................... 10

Vergleich mit Fremdübersetzungen ................................................................................ 12

« L’Étranger » ................................................................................................................. 12

« Qui aimes-tu le mieux, homme énigmatique, dis ? » .......................................... 12

« ton père, ta mère, ta sœur ou ton frère ? » ............................................................ 13

« Le Désespoir de la vieille » ......................................................................................... 13

« en voyant ce joli enfant …» .................................................................................... 13

« … à qui chacun faisait fête, à qui tout le monde voulait plaire » ........................ 14

« Le Confiteor de l’artiste » ............................................................................................. 15

« les fins de journées d'automne » ............................................................................ 15

« Un Plaisant »................................................................................................................ 16

« un beau monsieur ganté, verni, cruellement cravaté et emprisonné dans des

habits tout neufs » ...................................................................................................... 16

« qui me parut concentrer en lui tout l'esprit de la France. » ................................. 17

« Enivrez-vous »............................................................................................................. 18

« l’ivresse déjà diminuée ou disparue » ................................................................... 18

« à tout ce qui fuit, à tout ce qui gémit » .................................................................. 18

Reflexion ............................................................................................................................. 20

Textauswahl ................................................................................................................... 20

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Recherche ....................................................................................................................... 20

Übersetzen ...................................................................................................................... 22

Zur ganzen Maturaarbeit .............................................................................................. 23

Danksagung ....................................................................................................................... 25

Literaturverzeichnis .......................................................................................................... 26

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Einleitung Dieser Begleittext soll dem Leser Einblick gewähren in das Handwerk, das den sieben

übersetzten Prosagedichten zu Grunde liegt, es erklären und präsentieren, und gleich-

zeitig den Arbeitsprozess des letzten Jahres aufzeigen. Dazu folgt der Aufbau dieses

Textes im Groben meinem Vorgehen seit April 2017.

Begonnen wird mit einigen Informationen zu den Originaltexten und den Hintergrün-

den derselben, präziser: Zu Charles Baudelaire, dessen Bedeutung für die literarische

Moderne, zu seinen Petits poèmes en prose1 generell sowie zu den spezifischen Merkma-

len des Prosagedichts. Ferner erläutere ich in jenem Kapitel, nach welchen Kriterien

ich die Gedichte auswählte, die ich schlussendlich übersetzte.

Es folgt ein Kapitel, das sich mit den theoretischen Grundlagen des literarischen Über-

setzens, die ich bei meiner Arbeit berücksichtigte, befasst.

Dann kommt das Herzstück dieses Begleittextes, in dem Theorie und Praxis zusam-

menfliessen. Passagenweise vergleiche ich meine eigene Übersetzung mit den Werken

anderer ÜbersetzerInnen (diese Werke werden fortan oft als Fremdübersetzungen be-

zeichnet). Dabei werden die einzelnen Auszüge im kleinen Rahmen aufgeschlüsselt

und Lösungsansätze diskutiert. Wichtig sind dabei Aspekte wie: Wodurch kam man

auf unterschiedliche Lösungen? Welche Ziele hatte ein fremder Übersetzer – respek-

tive eine fremde Übersetzerin – bei einer bestimmten Stelle, welche Ziele hatte ich?

Wie beeinflussen die unterschiedlichen Varianten jeweils den Text und/oder die Wahr-

nehmung des Lesers?

Unweigerlich führt diese Arbeit auch zur Frage, wie weit ich als Laienübersetzerin,

ohne Studium oder Übung, dafür aber mit verhältnismässig viel Zeit, kommen kann;

wie meine Übersetzung im Vergleich mit jenen professioneller Übersetzerinnen und

Übersetzer, die über viel umfangreicheres Wissen und mehr Erfahrung, aber weniger

Zeit verfügten, letztendlich dastehen wird. Auf diese und weitere Fragen gehe ich in

einem letzten Kapitel ein: In Form einer Reflexion werfe ich einen Blick zurück und

fasse meine Erkenntnisse nochmals zusammen, bevor ein Schlusswort das Dossier ab-

schliesst.

1 Baudelaire, 1975, S. 273-374.

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Originaltexte und Hintergründe

Charles Baudelaire

Charles Baudelaire (*1821, †1867), zeitlebens wenig beachtet oder milde belächelt,

zählt heute zu den bekanntesten und bedeutendsten französischsprachigen Autoren

des neunzehnten Jahrhunderts. Zu Beginn seiner Karriere schrieb Baudelaire Kunst-

kritiken, später vor allem Gedichte, die Novelle La Fanfarlo, dann Prosagedichte. Aus-

serdem übersetzte er Werke von E.A. Poe aus dem Englischen ins Französische.2 In

aller Munde ist sein Gedichtband Les Fleurs du Mal, der ab 1857 in unterschiedlichen

Fassungen erschien.3

Oft und gerne bezeichnet man Baudelaire auch als Wegbereiter der Moderne.4 Diese

Moderne ist die Epoche des Aufbruchs, der Neuausrichtung, die sich in Frankreich

bereits in den 1860er Jahren zu entwickeln begann (eben mit Baudelaire als Initianten),

in der deutschen Sprache jedoch erst gegen 1900 auftrat. Ihr Hauptmerkmal ist, dass

man sich vom bisherigen Vorbild, der Antike, abwendete und nach neuen, zeitgemäs-

sen Idealen und Ausdrucksformen suchte und strebte. Baudelaire selbst sagte es so:

«Die Modernität, das ist das Vorübergehende, das Flüchtige, das Zufällige, die Hälfte

der Kunst, deren andere Hälfte das Ewige und Unwandelbare ist.»5.

In seinem Werk manifestiert sich diese neue Epoche einerseits im Inhalt, andererseits

in der Form. Baudelaire schrieb vom Grossstadtleben anstelle der idyllischen Natur,

nahm die Hässlichkeit in seine Texte auf und schweifte nicht selten ins Triviale ab.

Formal beschritt er unbekanntes Terrain, indem er das Genre des Prosagedichts mit-

entwickelte und nutzte.6

Le Spleen de Paris / Petits poèmes en prose

Das Projekt «Prosagedichte» gehörte zum Letzten, womit Baudelaire sich vor seinem

Tod beschäftigte, und wurde nie wirklich abgeschlossen. Die gängige Sammlung (Bau-

delaire hatte diverse Titel für sie, Le Spleen de Paris und Petits poèmes en prose sind bloss

die geläufigsten) umfasst fünfzig Texte, doch man weiss von unzähligen weiteren, un-

fertigen Gedichten; insgesamt hätten es einmal hundert werden sollen.7 Die fünfzig

fertigen Texte erschienen erst 1869, zwei Jahre nach Baudelaires Tod, in Buchform.

Davor waren bloss ab und an einzelne Stücke in ausgewählten Zeitschriften veröffent-

licht worden.

2 Baudelaire, 2011, S.115-117. 3 Baudelaire, 2008, S. 253-258. 4 Baudelaire, 2011, S. XXI. 5 Baudelaire, 1976, S. 695. 6 Vioux, 2017. 7 Baudelaire, 2008, S. 258.

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Allein die Tatsache, dass die Gedichte voneinander isoliert publiziert werden konnten,

benennt schon eine besondere Eigenschaft dieser Prosagedichte – eine Eigenschaft, de-

rer sich auch ihr Autor bewusst war: Die Eigenständigkeit jedes einzelnen Textes. Bau-

delaire verglich den Stapel Prosagedichte Weihnachten 1861 in einem Brief an Arsène

Houssaye, den Chefredakteur von La Presse (des Blattes, in dem 1862 vierzehn Prosa-

gedichte erschienen)8, mit einer Schlange: «il n’a ni queue ni tête, puisque tout, au

contraire, y est à la fois tête et queue, alternativement et réciproquement.»9 Von den

fünfzig Texten könnten alle allein oder in jeder beliebigen Kombination mit ihresglei-

chen stehen.

Das Prosagedicht

Weitaus intoleranter gibt sich Baudelaire, wenn es um Änderungen innerhalb eines

einzelnen Textes geht: «Streichen Sie ein ganzes Stück, wenn Ihnen in diesem Stück ein

Komma missfällt, aber streichen Sie nicht das Komma; es hat seinen Grund»10, schrieb

er 1863 dem Herausgeber der Revue Nationale, Gervais Charpentier. Die Vehemenz,

mit der Baudelaire die Form seiner Prosagedichte verteidigt, beweist, dass er exzessiv

an dieser Form arbeitete. Es drängt sich die Frage auf, was denn ein Prosagedicht über-

haupt ausmacht. Dies soll hier kurz erläutert werden.

Die Prosagedichte waren für Baudelaire gewissermassen eine Neuauflage einiger Ge-

dichte aus seinem bekanntesten Werk, dem Poesieband Les Fleurs du Mal. Er träumte

vom «Wunder einer poetischen Prosa […], die ohne metrischen Rhythmus und ohne

Reim geschmeidig und zugleich rau wäre …»11 Um die lyrischen Fleurs in Prosage-

dichte zu verwandeln, eliminierte Baudelaire praktisch alle Figuren und Formen, die

dem lyrischen Repertoire entstammen: Alliterationen oder Reime wurden umge-

schrieben, bis sie keine mehr waren, und regelmässige, jambische Betonungen brach

er mithilfe vielsilbiger Wörter, die die Anzahl unbetonter Silben in einem Satz markant

steigen liessen.12

Noch etwas änderte Baudelaire an seiner Sprache, um dem Genre der klassischen

Poesie zu entfliehen: Das Vokabular. Es wurde grundsätzlich unedler, näherte sich der

Alltagssprache des gemeinen Volkes an – allerdings ohne ins Vulgäre abzudriften.

Familiäre Begriffe tauchen auf (beispielsweise das Kinderwort «Joujoux» in «Un

8 Baudelaire, 2011, S. 97. 9 Baudelaire, 1975, S. 275-276. 10 Baudelaire, 2011, S. XXVI. 11 Baudelaire, 2011, S. XIV. 12 Baudelaire, 2011, S. XV.

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Plaisant»13), ebenso Fachausdrücke und platte Floskeln («Je vous la souhaite bonne et

heureuse!» in «Un Plaisant»14).15

Inhaltlich wandte sich Baudelaire ab vom Noblen und Mythologischen und setzte –

ganz im Zeichen der anbrechenden Moderne – Alltagsleben und Normalsterbliche an

deren Stelle. Gleichermassen wich die Schönheit dem Hässlichen und die Natur dem

Grossstadtgewimmel.16

Prosagedichte bleiben, besonders bei Beschreibungen, oft unpräzise, verschwommen.

Kennzeichnend sind Ausdrücke wie «vague», «incomparable», «je ne sais …»17. Ein

Ziel war dabei, die Fantasie des Lesers zunächst anzustossen und ihr dann den not-

wendigen Raum zu lassen, sich zu entfalten.18

Nebst der Befürchtung, sich nicht ausreichend von der klassischen Poesie abzugren-

zen, trieb Baudelaire noch eine andere Sorge um: Er wollte auf keinen Fall, dass sich

der Leser seiner Prosatexte langweilte. Daher fasste er sich grundsätzlich kurz – «Alles,

was länger ist als die Aufmerksamkeit, die der Mensch der poetischen Form entgegen-

bringen kann, ist kein Gedicht.»19 – und suchte den Leser stets zu überraschen. Irène

Kuhn drückte es so aus: «Indem er das triviale Wortmaterial in einen unerwarteten

Kontext einbaut, indem er unerwartet von der sprachlichen Norm abweicht, erzeugt

er […] eben jenes Staunen.»20

Textauswahl

Natürlich konnte ich nicht alle fünfzig Prosagedichte übersetzen – jedenfalls nicht im

Rahmen dieser Arbeit, die sich um das literarische Übertragen eines Textes in eine an-

dere Sprache dreht. Folglich stellte sich die Frage, nach welchen Kriterien ich mich für

oder gegen ein Prosagedicht entscheiden würde – und wie viele Gedichte meine Aus-

wahl überhaupt zählen sollte.

Ich dachte, zehn Stück sollten gut machbar sein (eine Fehleinschätzung, schlussendlich

würde ich nur zu sieben kurzen Texten Übersetzungen verfassen). Und weil ich da

gerade gelesen hatte, dass gewisse Sujets in den Prosagedichten wiederholt vertreten

seien, wollte ich eine thematische Auswahl treffen. Zehn Prosagedichte, die sich mit

der Liebe befassen, beispielsweise.

13 Baudelaire, 1975, S. 279. 14 Baudelaire, 1975, S. 279. 15 Baudelaire, 2011, S. XVI-XVII. 16 Baudelaire, S. XVII-XIX. 17 Baudelaire, 2011, S. XXII. 18 Baudelaire, 2011, S. XXVI. 19 Baudelaire, 2011, S. XXVII. 20 Baudelaire, 2011, S. XXVI-XXVII.

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Um die Texte aber nach Themen gruppieren zu können, wären umfangreiche Recher-

chen zu jedem einzelnen der fünfzig Prosagedicht erforderlich gewesen – zeitlich

kaum machbar. Kam hinzu, dass letzten Endes doch das persönliche Gefühl, meine

subjektive Einschätzung entschieden hätte (ob das Gedicht nun wirklich die Liebe um-

schrieb oder nicht).

Ein Einfall Herrn Zollingers entspannte die Situation massgeblich: Wenn doch auch

eine thematisch motivierte Auswahl schlussendlich auf meiner subjektiven Wahrneh-

mung basieren würde, warum nicht gleich ganz frei wählen?

So suchte ich für meine Arbeit zu Beginn die zehn Gedichte heraus, die mich formal

oder inhaltlich am meisten beeindruckten, interessierten, bewegten.

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Literarisches Übersetzen nach Elisabeth Edl Mit Anleitungen, wie ein Text literarisch zu übersetzen sei, ist es so eine Sache. Denn

sobald man sich ein bestimmtes literarisches Werk vorgenommen hat, gilt es, mög-

lichst viele Eigenheiten dieses einen Werkes in eine andere Sprache zu übertragen;

jedes Werk fordert neue Herangehensweisen. Folglich existiert kaum Fachliteratur

zum Handwerk des literarischen Übersetzens, und wenn doch, ist diese nachvollzieh-

barerweise sehr vage gehalten.

Als eine grosse Hilfe erwies sich in meinem Fall der Leitfaden «Zu Sprache und Über-

setzung»21, den die bekannte Übersetzerin Elisabeth Edl als Anhang zu ihrer Neu-

übersetzung von Gustave Flauberts Madame Bovary verfasst hatte. Dort nennt Edl fol-

gende vier Punkte, die bei literarischen Übersetzungen besondere Beachtung finden

sollen, insbesondere wenn man weiss, dass der Autor sehr präzise formulierte und

konstruierte.

Satzbau

Die Position der Wörter in einem Satz ist kaum je zufällig gewählt, stattdessen wurden

einzelne Einheiten sehr bewusst an ihre Stelle gesetzt. Besonders wichtig ist dies hin-

sichtlich des letzten Wortes in einem Satz, da es als abschliessendes Element für den

Leser stark ins Gewicht fällt. Das Wort, das im Original unmittelbar vor dem Satz-

zeichen steht, soll sich daher in der Übersetzung nicht auf einmal in der Satzmitte be-

finden oder durch eine nachplätschernde Vorsilbe (wie sie in der deutschen Sprache

gerne vorkommen) von ihrem Platz verdrängt werden. Ebenso ist bei Aufzählungen

die Reihenfolge der einzelnen Elemente zwingend zu wahren.22

Wortwahl und Sprachebene

Gerne kommt es vor, dass eine Szene nicht wie gewohnt von einem ausgeglichenen,

neutralen Erzähler geschildert wird, sondern dem Leser durch den subjektiven, oft

negativ wertenden Blick einer involvierten Figur nähergebracht wird. In solchen Fäl-

len ist es essenziell, Blick und Haltung in ihrer subjektiven Form zu übernehmen – und

entsprechendes Vokabular zu wählen.23

Doppelsinn und Wortspiel

Sollte sich der Autor erlaubt haben, (zuweilen obszöne) Doppeldeutigkeiten in den

Originaltext einzuweben (eine Spezialität Flauberts), so haben Übersetzende diese

bestmöglich wiederzugeben. Voraussetzung hierfür ist natürlich, dass man die zweite

21 Flaubert, 2012, S. 642-653. 22 Flaubert, 2012, S. 644-646. 23 Flaubert, 2012, S. 646-649.

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Bedeutungsebene überhaupt entdeckt – weswegen eine genaue Analyse und Recher-

che vor dem Übersetzen unabdingbar ist.24

Vokabular

Beim Übersetzen unter diesen Auflagen wird man nicht umhinkommen, Wörter zu

wählen, die nicht die lexikalische Übersetzung des Originals sind. Gewissermassen

verzichtet man auf den ursprünglichen Wortlaut, um die ursprüngliche Idee wieder-

geben zu können.25

Angesichts der obigen Aufzählung wird auch ersichtlich, wie sorgfältig und präzise

man sich als ÜbersetzerIn ans Werk machen muss. Elisabeth Edl mahnte folgender-

massen: «Der ganze Roman muss Satz für Satz auf seine verschiedenen Bedeutungs-

ebenen hin durchgehört werden; Satz für Satz muss entschieden werden, was den

künstlerischen Sinn gerade hier, in jedem Einzelfall, trägt: Bedeutung, Wort- und Satz-

klang, Wort- und Satzrhythmus, Wortwahl, Sprachregister und so weiter.»26

Im Fall der sieben Prosagedichte, die ich selbst übersetzt habe, war vor allem Punkt

eins (der Satzbau) von grösster Bedeutung – schlicht weil er überall angewendet wer-

den konnte. Um allfällige Subjektivitäten und Mehrdeutigkeiten, die gemäss den

Punkten zwei (Wortwahl und Sprachebene) und drei (Doppelsinn und Wortspiel)

ebenfalls nach einer besonderen Behandlung verlangten, aufzuspüren, führte ich zu

jedem Gedicht Recherchen durch – auch indem ich Fremdübersetzungen einsah. Ab

und an konnte ich auf diese Recherchen zurückgreifen, beispielsweise bei der Über-

setzung von Prosagedicht II, «Le Désespoir de la vieille»27: Der Baudelaire-Experte

Claude Pichois verwies darauf, dass Baudelaires Blick auf alte Frauen ein milder, mit-

fühlender war28; aufgrund dieser Erkenntnis entschied ich mich unter anderem, den

Ausdruck «bonne femme»29 mit «Alte» zu übersetzen – und nicht etwa abwertend mit

«Weib» oder «Frauenzimmer».

Nebst den Anregungen Edls schien mir noch ein anderer Punkt wichtig: Der «mittlere

Stil»30, um den sich Baudelaire in seinen Prosagedichten bemüht hatte, sollte bewahrt

werden. Folglich ersetzte ich, als ich die erste Fassung der Übersetzungen überarbei-

tete, viele poetische Ausdrücke durch geläufigere – so geschehen in «L’Étranger»31, wo

24 Flaubert, 2012, S. 649-650. 25 Flaubert, 2012, S. 651. 26 Flaubert, 2012, S. 650. 27 Baudelaire, 1975, S. 277-278. 28 Baudelaire, 1975, S. 1311. 29 Baudelaire, 1975, S. 277-278. 30 Baudelaire, 2011, S. XVII. 31 Baudelaire, 1975, S. 277.

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ich von einem (noch dazu uneindeutigen) Konjunktiv absah: «Je l’aimerais volen-

tiers»32 wurde nicht zu «Ich liebte sie gerne», sondern zum umgangssprachlicheren

«Ich würde sie gern lieben».

Zu guter Letzt war es mir ein Anliegen, so nahe wie möglich am Original zu bleiben.

Oft reizte es mich, Sätze leicht umzugestalten, um sie im Deutschen etwas eleganter,

geschliffener klingen zu lassen. Ich sah jedoch davon ab, weil ich wollte, dass meine

Übersetzung möglichst korrekt wurde. Sie sollte es letztendlich einem Leser ermögli-

chen, formale Kniffe oder angedeutete Kritik, die Baudelaire in der französischen Ver-

sion gesetzt hatte, nachzuvollziehen.

32 Baudelaire, 1975, S. 277.

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Vergleich mit Fremdübersetzungen Bereits während ich selber aktiv übersetzte, hatte ich die Versionen folgender Überset-

zerInnen konsultiert: Walther Küchler (Diogenes, 1977)33, Kay Borowsky (Reclam,

2008)34 und Irène Kuhn (Lambert Schneider, 2011)35. Nachdem ich alle gewünschten

Prosagedichte ins Deutsche übertragen und fertig überarbeitet hatte, interessierten

mich Stellen, an denen meine eigene Übersetzung stark von Fremdübersetzungen ab-

wich. Woher rührten diese Differenzen? Worauf hatte ein anderer Übersetzer oder

eine andere Übersetzerin Wert gelegt, worauf ich? Wie wirkten sich diese Unter-

schiede auf den Text als Ganzes aus, respektive können sie die Wahrnehmung des

Lesers beeinflussen?

Im Folgenden werden solche Passagen, geordnet nach Prosagedicht, in dem sie vor-

kommen, präsentiert und diskutiert.

« L’Étranger »36

« Qui aimes-tu le mieux, homme énigmatique, dis ? »37 38

In allen drei eingesehenen Übersetzungen39 wurde das «dis» mit «sag» übersetzt, wäh-

rend ich persönlich mich für «sprich» entschieden habe.

Rein lexikalisch gesehen ist das Verb «sagen» das exakte Pendant zum französischen

«dire», während «sprechen» eher «parler» entspricht. Im Imperativ fällt dieser Unter-

schied jedoch weg, es bliebe höchstens anzumerken, dass «sprich» autoritärer wirken

kann, während «sag» eher neugierig und freundschaftlich rüberkommt.

Ausschlaggebend für meine Wahl war, dass «sprich» im Wortlaut dem «dis» Bau-

delaires viel näherkommt als ein gewöhnliches «sag», zumal beide Versionen einsilbig

sind wie im Original. Der herrische Unterton dieser neuen Lösung scheint mir vertret-

bar, da das Verhältnis zwischen den beiden Figuren im Text (ich nenne sie fortan «Fra-

ger» und «Antworter») kaum freundschaftlich wirkt. Vielmehr bedrängt der «Frager»

sein Gegenüber, welches er mit «rätselhaft» und «ungewöhnlich» anspricht.

Mit Blick auf das ganze Prosagedicht könnte das «sprich» also die Sicht des Lesers auf

den «Frager» leicht negativ beeinflussen; anders als mit einem «sag» schränke ich den

Leser in seiner Interpretation der Szene ein, indem ich ihm die Vorstellung des auf-

dringlichen, vorlauten «Fragers» nahelege. Andererseits darf man vermuten, dass

33 Baudelaire, 1977. 34 Baudelaire, 2008. 35 Baudelaire, 2011. 36 Baudelaire, 1975, S. 277. 37 Baudelaire, 1975, S. 277. 38 In diesem wie in jedem folgenden Untertitel sind die Unterstreichungen nicht Teil des Originaltextes,

sondern von mir zur Veranschaulichung eingefügt. 39 Baudelaire, 1977, S. 68 ; Baudelaire, 2008, S. 11 ; Baudelaire, 2011, S. 2.

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Baudelaire genau dieses Bild vermitteln wollte. Er hätte grammatikalisch und inhalt-

lich gesehen auf das Nachdruck verleihende «dis» verzichten können – und setzte es

trotzdem.

« ton père, ta mère, ta sœur ou ton frère ? »40

Angesichts der Tatsache, dass deutsche Possessivpronomen wie auch die verwende-

ten Bezeichnungen für Familienmitglieder doppelt so viele Silben haben wie ihre fran-

zösischen Entsprechungen, hätte eine wörtliche Übersetzung letztendlich 18 Silben

aufgewiesen, während das Original lediglich deren neun zählt. Anders als Walther

Küchler41 und Kay Borowsky42 habe ich hier von einer wörtlich exakten Übersetzung

abgesehen und die Possessivpronomen weggelassen; so heisst es bei mir (wie auch bei

Irène Kuhn): «Vater, Mutter, Bruder oder Schwester?».

Für einmal nahm ich mir die Freiheit, im Vergleich zum Originaltext zu kürzen. Wes-

halb? Nun, im Abschnitt «Das Prosagedicht» wurde bereits aufgeführt, dass Bau-

delaire nahezu sämtliche lyrischen oder platt-rhythmischen Elemente aus seinen Pro-

sagedichten verbannte. Hier aber findet sich eine grosse Ausnahme: «ton père, ta mère,

ta sœur ou ton frère ? » ist (abgesehen vom «ou») eine streng jambisch durchgetaktete

Aufzählung, wie sie ihresgleichen sucht. Diese Besonderheit wollte ich möglichst ge-

nau übernehmen. Bestimmt, die Version «Vater, Mutter, Bruder oder Schwester?» ist

nicht jambisch, sondern trochäisch aufgebaut. Sie weist dennoch immer aus zwei Sil-

ben bestehende Versfüsse mit einer Kürze und einer Länge auf – während die Ver-

wendung von «deinen, deine» etc. in viersilbigen Versfüssen resultiert, die einen ganz

anderen Rhythmus schaffen.

Letztendlich bin ich der Ansicht, dass diese kürzere und prägnantere Version den gan-

zen Text aufzulockern vermag. Man bedenke, dass sich die Passage noch am Anfang

des Prosagedichtes befindet und ihr – insbesondere in der deutschen Ausgabe – eine

nicht ganz simple Zeile vorausgeht. Und dadurch, dass ich die Possessivpronomen

nicht übernehme, wird der Rhythmus nahezu originalgetreu wiedergegeben.

« Le Désespoir de la vieille »43

« en voyant ce joli enfant …»44

Hier will ich zunächst auf die Übersetzungsmöglichkeiten, die «en voyant» bietet, ein-

gehen. Bekannterweise lässt sich diese Konstruktion, ein französischer gérondif, nicht

exakt ins Deutsche übertragen. Grammatikalisch gesehen ersetzt der gérondif einen

Nebensatz, und zwar entweder einen temporalen, Gleichzeitigkeit ausdrückenden,

40 Baudelaire, 1975, S. 277. 41 Baudelaire, 1977, S. 68. 42 Baudelaire, 2008, S. 11. 43 Baudelaire, 1975, S. 277. 44 Baudelaire, 1975, S. 277.

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oder einen modalen Nebensatz. In unserer Sprache behilft man sich in der Regel mit

einem Partizip I (sehend) oder einem temporalen Nebensatz, wie ihn der gérondif er-

setzt hat (als sie sah).

Theoretisch ist hier beides möglich, «das hübsche Kind sehend / erblickend» wie auch

«als sie das schöne Kind sah». Unglücklicherweise steht bei keiner der beiden Optio-

nen das Kind wie im Original am Ende des Teilsatzes – was auch den Anschluss der

folgenden Relativsätze (die sich auf das Kind beziehen) holpriger gestaltet. Dennoch

wird in allen eingesehenen Übersetzungen mit der «als-Variante» gearbeitet45.

Eine Lösung ist aber möglich, wenn man auf eine Substantivierung zurückgreift: Mit

«Beim Anblick des hübschen Kindes» wahrte ich Baudelaires Satzstruktur («enfant»

am Ende des Teilsatzes) und formte gleichzeitig eine Konstruktion, die erlaubte, den

folgenden Relativsatz direkt an sein Bezugswort (Kind) anzuhängen. Ersteres dürfte

von geringer Relevanz sein, da es sich um einen Teilsatz inmitten eines Textes handelt,

das letzte Wort folglich nicht immenses Gewicht hat. Schon wichtiger ist der direkte

Anschluss der Relativsätze; durch ihn wird der Text flüssiger, unkomplizierter – ele-

ganter.

« … à qui chacun faisait fête, à qui tout le monde voulait plaire »46

Mit «als sie das niedliche Kindlein sah, das jeder freundlich begrüsste und dem jeder

zu gefallen suchte», übersetzte Kay Borowsky diesen Abschnitt47. Walther Küchler for-

mulierte «als sie das hübsche Kind erblickte, mit dem jedermann schön tat, dem alle

Leute gefallen wollten»48, und Irène Kuhn schrieb «als sie das hübsche Kind sah, dem

jeder mit Entzücken entgegentrat, dem alle Welt zu gefallen suchte»49. Ich persönlich

habe mich für «beim Anblick dieses hübschen Kindes, dem jeder einen fröhlichen

Empfang bereitete, dem alle gefallen wollten» entschieden. Worin liegt der nennens-

werte Unterschied?

Beachtenswert ist die Art, wie Baudelaire die Relativsätze einleitete: Zweimal ein «à

qui». Eine bewusst konstruierte Formulierung, denn der Autor hätte theoretisch auch

transitive Verben wie beispielsweise «ravir qn» (jmdn. entzücken) oder «dérider qn»

(jmdn. erheitern) wählen können. Um in der deutschen Version «dem …, dem …»

schreiben zu können, waren daher zwei passende Verben mit Dativobjekt gefragt. Ich

persönlich fand sie in «(einen Empfang) bereiten» und «gefallen», Irène Kuhn wählte

nebst «gefallen» die – sehr ansprechende – Lösung «(mit Entzücken) entgegentreten».

45 Baudelaire, 1977, S. 96. Baudelaire, 2008, S. 13. Baudelaire, 2011, S. 3. 46 Baudelaire, 1975, S. 277. 47 Baudelaire, 2008, S. 13. 48 Baudelaire, 1977, S. 96. 49 Baudelaire, 2011, S. 3.

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Dieses Fallbeispiel weist Ähnlichkeiten mit dem vorne behandelten «ton père, ta mère,

ta soeur ou ton frère» auf; wieder stiess ich auf eine – in den Prosagedichten rare –

rhetorische Figur. Und wieder bin ich der Ansicht, dass diese Seltenheit auch in der

deutschen Übersetzung anzutreffen sein sollte, um einem deutschsprachigen Leser

Baudelaires Texte näherzubringen, um dem Original nahe zu sein.

« Le Confiteor de l’artiste »50

« les fins de journées d'automne »51

Enden der Herbsttage oder Tagesenden des Herbsts? Mehrmals muss man lesen, bis

man sich sicher ist, welches der beiden genau gemeint ist. Schlussendlich geht es um

logische Unterteilung, es kommt nur auf das «de» an; «fins de journées d’automne»

heisst Tagesenden des Herbsts.

Weshalb die Spitzfindigkeit? Weil das Grundverständnis unabdingbar ist, wenn man

den Ausdruck noch leicht verfeinern möchte. Wie Walther Küchler, der daraus «die

letzten Stunden herbstlicher Tage» machte52, oder Irène Kuhn, die die Stelle zu «die

Herbstabende» umschrieb53. Etwas gar frei (und eigentlich grammatikalisch inkorrekt)

schien mir Kay Borowskys Variante «die letzten Tage des Herbstes»54; dazu müsste es

nämlich «les fins des journées d’automne» (die Enden der Herbsttage) oder gleich «la

fin des journées d’automne» (das Ende der Herbsttage) heissen.

Es war, ehrlich gesagt, erst diese Übersetzung Kay Borowskys, die mich auf die Pas-

sage aufmerksam machte. Ich persönlich hatte geschrieben: «die Tagesenden des

Herbstes» – obwohl ich mehrmals kurz davorgestanden hatte, eine fantasievollere

Version zu Blatt zu bringen. Meine Version ist damit korrekter als die Borowskys, aber

weniger blumig als die zwei anderen Fremdübersetzungen. Denn diese besondere

Stelle ist wohl eine der wenigen, die Fantasie rechtfertigen. Die gesamte Einleitung des

«Confiteor des Künstlers» ist geradezu kryptisch verfasst, wie Einfälle, die alle schnell

ins Bewusstsein geraten aber nie zu Ende gedacht worden sind. Dafür sind diese Ein-

fälle äusserst malerisch niedergeschrieben, es ist ein Seufzen und Schmachten in Text-

form. Vielleicht hätte ich hier tatsächlich auf eine wörtliche Übersetzung verzichten

sollen, denn sie macht den Text an sich nicht zwingend verständlicher. Vielleicht hätte

ich mich etwas weiter aus dem Fenster lehnen sollen, um wenigstens die Atmosphäre,

die der Text beschreibt, wiedergeben zu können und so den gesamten ersten Absatz

dieses Prosagedichts etwas kohärenter zu gestalten. Doch damit wäre ich von meinem

50 Baudelaire, 1975, S. 278. 51 Baudelaire, 1975, S. 278. 52 Baudelaire, 1977, S. 70. 53 Baudelaire, 2011, S. 3. 54 Baudelaire, 2008, S. 15.

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Grundsatz für diese Übersetzungen, immer möglichst nahe am Originaltext zu blei-

ben, abgewichen, hätte meiner Arbeit ihr Fundament geraubt. Das kam für mich nicht

in Frage.

« Un Plaisant »55

« un beau monsieur ganté, verni, cruellement cravaté et emprisonné dans des

habits tout neufs »56

Eine Beschreibung, die an unterschwelliger Aggression und Verachtung schwer zu

übertreffen ist, ein Grollen und Knurren mit ihren harten Konsonanten und Zisch-

lauten.

Dieses Meisterwerk zu übersetzen, war Freude und Verausgabung zugleich. Die kon-

sultierten Übersetzungen waren keine Hilfe; sie alle hatten den Abschnitt mit vielen

Nomen und gegebenenfalls Partizipien übersetzt: «ein schöner Herr, in Handschuhen,

Lackstiefeln, grausam von einer Krawatte gewürgt und in einen kläglichen nagel-

neuen Anzug gepresst»57 (Kay Borowsky), «ein feingekleideter Herr, in Handschuhen,

Lackstiefeln, peinlich hohem Kragen und in einem funkelnagelneuen Anzug einge-

schnürt»58 (Walther Küchler), «ein feiner Herr mit Handschuhen, Lackstiefeln, straff

gebundener Krawatte und sichtlich engen, nagelneuen Kleidern»59 (Irène Kuhn).

Keine dieser Übersetzungen berücksichtigt, dass Baudelaire zur Beschreibung des

Monsieurs bis zum Wort «habits» kein einziges Nomen verwendet hat. Dabei lässt sich

auch dieses Problem mit Hartnäckigkeit und Fantasie (hierbei hatte ich sie) lösen: «ein

schöner Herr, behandschuht, gelackt, brutal beschlipst und eingekerkert in seinen

brandneuen Kleidern».

Dass «beschlipst» kein Wort ist, das im Duden vorkommt, nahm ich gerne in Kauf;

denn das Wort ist verständlich (hat es doch denselben Aufbau wie «behandschuht»).

Ausserdem bedient meine Formulierung mit ihrem «br[…]» und dem scharfen

«[…]pst» dasselbe harte, aggressive Klangregister wie «cruellement cravaté» und ba-

siert obendrauf noch auf einer Alliteration. Im Duden vertreten ist dafür – wer hätte

das gedacht – «gelackt», und zwar als «abwertend» verwendetes Adjektiv mit Bedeu-

tung «(im äußeren Erscheinungsbild) allzu glatt wirkend», ergänzt mit den Beispielen

«gelackte Anzugsträger» und «in gelackter Montur erscheinen»60.

Diese eine Passage hat mich etwa zwei Stunden gekostet, auch weil ich sichergehen

wollte, dass keine adäquate, im Duden aufgeführte Alternative existierte. Dafür gehört

55 Baudelaire, 1975, S. 279. 56 Baudelaire, 1975, S. 279. 57 Baudelaire, 2008, S. 17. 58 Baudelaire, 1977, S. 72. 59 Baudelaire, 2011, S. 5. 60 Dudenredaktion, 2017.

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sie nun zu meinen Lieblingsstellen überhaupt, und ich bin geneigt zu behaupten, hier

die bestmögliche Übersetzung gefunden zu haben.

« qui me parut concentrer en lui tout l'esprit de la France. »61

Noch so eine Wucht von Satz, respektive Satzteil. «Pour moi, je fus pris subitement

d'une incommensurable rage contre ce magnifique imbécile, qui me parut concentrer

en lui tout l'esprit de la France. »62 – der gesamte letzte Absatz des Prosagedichts «Un

Plaisant»63 ist eine Anklage, in der Baudelaire sich die Mentalität seiner Nation vor-

knöpft. Die geballte Wut («incommensurable rage»64) die zu Beginn dieses letzten Sat-

zes genannt wird, entlädt sich eruptionsartig in diesem letzten Wort: France.

Schade wäre es also, in der Übersetzung nicht auch «Frankreich» an den Schluss zu

setzen. Doch aufgrund der Formulierung «parut concentrer», die der Infinitivkon-

struktion «schien (mir) zu konzentrieren» oder Ähnlichem entspricht, hat man im

Deutschen mit einem nicht konjugierten verbalen Teil zu kämpfen, der am Satzende

stehen muss. Dort also, wo «Frankreich» stehen müsste. So geschehen in den Überset-

zungen Kay Borowskys («der mir in seiner Person den französischen Geist schlechthin

zu repräsentieren schien»65) und Irène Kuhns («der mir Frankreichs ganzen Geist und

Witz in sich zu vereinen schien»66). Walther Küchler versuchte es mit einer Umstruk-

turierung des Satzes («der mir in seiner Person alles zu vereinigen schien, was Frank-

reich an Geist besitzt»67); es steht dort «besitzt» anstelle von «scheint», aber noch im-

mer nicht «Frankreich».

Umgehen lässt sich das Problem, indem man diesen letzten Teilsatz nicht als Relativ-

satz schreibt, sondern einen Strichpunkt setzt und anstelle des Relativpronomens

«der» ein einfaches «er» verwendet: «Was mich anbelangt, wurde ich plötzlich erfasst

von einer unermesslichen Wut auf diesen hinreissenden Dummkopf; es schien mir, er

konzentriere in sich den ganzen Geist Frankreichs.»

Erst dadurch, dass «Frankreich» am Ende des Satzes bleibt, wird der Satz mit seinem

Spannungsverlauf, seiner Eigenschaft, zum letzten Wort hinzustreben, auch für den

deutschsprachigen Leser greifbar. Und durch das Genitiv-s bei «Frankreichs» wird der

scharfe Zischlaut, der im Original das Gedicht abschliesst, auch in der deutschen Ver-

sion erlebbar. Ohne diese zwei Punkte franst das Ende des Prosagedichts aus, es wird

dünn und kraftlos.

61 Baudelaire, 1975, S. 279. 62 Baudelaire, 1975, S. 279. 63 Baudelaire, 1975, S. 279. 64 Baudelaire, 1975, S. 279. 65 Baudelaire, 2008, S. 17. 66 Baudelaire, 2011, S. 5. 67 Baudelaire, 1977, S. 72.

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« Enivrez-vous »68

« l’ivresse déjà diminuée ou disparue »69

Nicht oft waren zwei Fremdübersetzungen identisch, hier schon: «wenn […] die Trun-

kenheit schon schwächer geworden oder verschwunden ist», heisst es bei Walther

Küchler70 wie auch bei Kay Borowsky71. Irène Kuhn schrieb «wenn […] der Rausch

schon nachgelassen oder sich ganz verflüchtigt hat»72.

Der Originaltext unterscheidet sich in zwei Punkten von diesen Übersetzungen. Ers-

tens steht da kein Hilfsverb, «diminuée» und «disparue» sind daher adjektivisch ver-

wendete Partizipien und nicht Teil einer Vergangenheitsform. Zweitens hat Bau-

delaire einmal mehr eine Alliteration eingebaut, beide Partizipien beginnen mit

«di[…]».

Mit «der Rausch schon vermindert oder verschwunden» ist mir, denke ich, eine Über-

setzung gelungen, die beides berücksichtigt. Die Alliteration beizubehalten war gut

möglich, da deutsche Partizipien (I) oft mit «ver[…]» beginnen; ich hatte aber auch

Glück, dass sich diese beiden Wörter nicht noch reimen (denn das tun sie bei Bau-

delaire auch nicht, und ich wollte nicht einen Reim andeuten wo keiner war). Die Par-

tizipien ihrerseits vermögen den Text meines Erachtens wesentlich zu verdichten, so-

dass ich schlussendlich Baudelaires Original recht nahegekommen bin.

« à tout ce qui fuit, à tout ce qui gémit »73

Bei allem Erfolg, den ich bis anhin hatte – an dieser Stelle fand ich schlicht keine zwei

Wörter, die sich reimten und gleichzeitig einem einfachen Vokabular entstammten.

«Alles was flieht» war quasi gesetzt, denn Synonyme sind rar, und weder «entläuft»

noch «flüchtet» noch «davonrennt» kamen meiner Meinung nach in Eleganz und

Klang an ersteres heran. Zumal auch mit ihnen kein reiner Reim gelungen wäre;

«gémit» übersetzt sich mit «stöhnen», «quietschen», «knarren», «heulen», «jammern»

etc. Schlussendlich hätte ich etwas wie «alles was flieht, alles was fiept/quietscht»

schreiben können – da beliess ich es doch lieber beim reimlosen, dafür simplen «alles

was flieht, alles was stöhnt».

Immerhin, auch keiner der anderen Übersetzenden hatte hier die zündende Idee. Da-

für hatten sie alle die gleiche: «alles, was flieht, alles, was seufzt»74.

68 Baudelaire, 1975, S. 337. 69 Baudelaire, 1975, S. 337. 70 Baudelaire, 1997, S. 172. 71 Baudelaire, 2008, S. 175. 72 Baudelaire, 2011, S. 68. 73 Baudelaire, 1975, S. 337. 74 Baudelaire, 1977, S. 172. Baudelaire, 2008, S. 175. Baudelaire, 2011, S. 68.

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Natürlich ist es schade um die Passage; «à tout ce qui fuit, à tout ce qui gémit» befindet

sich in einer stampfenden Aufzählung, die Feinheit des kleinen Reims war in dem

Umfeld entzückend. Doch mir bleibt nur eines übrig: Dem nächsten Übersetzer, der

nächsten Übersetzerin mehr Erfolg zu wünschen.

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Reflexion Da steht oder sitzt man nun, weitestgehend fertig mit seiner Maturaarbeit, soll zurück-

blicken. Was war gut, was schlecht, was anders? Wie war es überhaupt, und wie hätte

man es besser machen können? Und weil ich dazu tendiere, mich bei solchen Reflexi-

onen zu verlieren, möchte ich hier nochmals, wie schon im gesamten Begleittext, dem

Ablauf der letzten neun Monate folgen.

Textauswahl

Die Idee Herrn Zollingers, Baudelaires kleine Prosagedichte als Basis für diese Matu-

raarbeit zu wählen, erwies sich als hervorragend. Die Texte waren kurz, voneinander

unabhängig und sprachlich ausgefeilt.

Aus den fünfzig Prosagedichten dann gewisse auszuwählen, war schon komplizierter.

Wie zu Beginn dieses Begleittextes erwähnt, schwebte mir anfänglich eine thematische

Auswahl vor – allein schon um diese Auswahl rechtfertigen zu können. Ich bin eine

Person, die immer nach dem Warum fragt, die wissen will, weshalb etwas geschieht

und wie etwas vor sich geht. Wie sollte ich da am Ende etwas vertreten, das nichts

weiter war als eine Momentaufnahme meiner subjektiven Wahrnehmung, und bei

dem jede Erklärung auf ein «weil es mir gefiel» herauslaufen würde? Gleichzeitig war

ich realistisch genug, um einzusehen, dass eine thematische Auswahl Recherchen in

einem nicht umsetzbaren Ausmass erfordert hätte.

Es brauchte schliesslich zwei neue Standpunkte, um einer «Auswahl nach Bauchge-

fühl» zustimmen zu können: Erstens überzeugte mich der Ansatz meines Referenten,

wonach jede Auswahl, auch die thematische, im Fall der komplexen Prosagedichte

letztendlich auf meiner Meinung, meinen Ansichten, meinem Gefühl basieren würde.

Zweitens entschied ich, meine Arbeit nicht weiter als wissenschaftlich, sondern als

künstlerisch aufzufassen. Das bedeutete nicht, dass ich fortan weniger seriös arbeitete,

sondern lediglich, dass Intuition erlaubt, ja erwünscht war, dass nicht alles rein ratio-

nal erklärbar zu sein brauchte.

Gerade dieser zweite Punkt sollte mir auch die weitere Arbeit erleichtern. Beim Über-

setzen drehte sich so vieles um meine Einschätzung; darum, ob ich nun «fliehen» schö-

ner, passender fand als «davonrennen» etwa. Was die künstlerische Ausrichtung auch

noch mit sich brachte: Akzeptieren, dass andere Leute dieselbe Stelle womöglich an-

ders lesen, anders verstehen und anders interpretieren würden als ich.

Recherche

Noch im Grobkonzept hatte ich geschrieben: «Dem Übersetzen voraus geht eine inten-

sive Recherche, bei der ich mich einerseits mit der Person Baudelaire, hauptsächlich

aber mit den einzelnen Texten befasse. Zudem lese ich bereits Fremdübersetzungen,

um auf allfällige Doppeldeutigkeiten, Wortspiele etc. aufmerksam zu werden.». Die

Wirklichkeit sah dann etwas anders aus: Einen Grossteil der Recherchezeit verbrachte

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ich damit, überhaupt Material zu finden, in das ich mich einlesen konnte. Grundsätz-

lich wollte ich mich nur schwach auf Artikel aus dem Internet stützen und stattdessen

Bücher und Fachpublikationen zum Thema beiziehen, um sicherere Quellen zu ver-

wenden. Doch im «Klapp», dem wohl ergiebigsten Verzeichnis zu Veröffentlichungen

im Bereich der französischen Sprache, fand sich nur wenig, und von dem wenigen

wiederum praktisch nichts in der Zentralbibliothek Zürich. Ausserdem wurden Bau-

delaires Prosagedichte in den allermeisten literaturwissenschaftlichen Publikationen

nicht als Hauptthema behandelt, sondern für Vergleiche mit anderen Werken bei-

gezogen. Und auch die vielen Gespräche mit Personen, die sich mit französischer Li-

teratur gut auskennen, ergaben nichts, was mir in diesem Punkt hätte weiterhelfen

können.

Schliesslich stützte ich mich bei meinen Nachforschungen auf die Kommentare Claude

Pichois’ in der Gesamtausgabe der Werke Baudelaires (erschienen bei Bibliothèque de

la Pléiade)75, ausserdem auf einige seriöse Webseiten (Einträge von französischen

Literaturprofessoren beispielsweise). Pichois zählt zu den renommiertesten Kennern

des französischen Autors, und seine Anmerkungen wurden in allen Ausgaben und

Fremdübersetzungen, die ich konsultierte, zitiert.

Es ist nicht zu bestreiten, dass ich nicht viel über die übersetzten Gedichte weiss. Wo

Claude Pichois im Kommentar noch etwas anderes vermerkt hatte als Angaben zur

Erstpublikation des jeweiligen Prosagedichts, habe ich diese Informationen berück-

sichtigt. Ab und an wurden Gedichte aus den «Fleurs du Mal» erwähnt, die Ähnlich-

keiten mit einem Prosagedicht aufwiesen; in den Fällen habe ich auch jene Gedichte

gelesen. Nur zu gerne hätte ich auf grosse Analysen der einzelnen poèmes zurückge-

griffen, hätte ich denn welche gefunden. Vielleicht hätte es etwas gebracht, wenn ich

die Publikationen, die ich von vornherein als «nicht wirklich die Prosagedichte betref-

fend» abstempelte (sprich die, die die Prosagedichte nur zu Vergleichszwecken beizo-

gen) doch gelesen hätte. Andererseits – wenn auch Claude Pichois, der sich hauptbe-

ruflich mit Baudelaire beschäftigte, nicht mehr wusste als Publikationsort und -datum,

wie gross wäre die Wahrscheinlichkeit gewesen, etwas Wegweisendes zu finden?

Zu den Fremdübersetzungen: Anders als vorgesehen hatte ich nur eine Übersetzung

(die Kai Borowskys76) eingesehen, bevor ich mich selbst an die Arbeit machte – die

Lieferung der zwei weiteren Exemplare (Walther Küchlers77 und Irène Kuhns78), die

ich noch bestellt hatte, war im Verzug. Ich stellte jedoch erleichtert fest, dass diese eine

Version fürs Erste reichte; entweder waren Baudelaires Texte weniger kompliziert

oder mein Französisch besser als angenommen …

75 Baudelaire, 1975. 76 Baudelaire, 2008. 77 Baudelaire, 1997. 78 Baudelaire, 2011.

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Als die weiteren Fremdübersetzungen dann eingetroffen waren, gedachte ich mit ihrer

Hilfe meine Übersetzungen noch zu überarbeiten. Davor wollte ich noch das Vorwort

der einen Ausgabe (jener Irène Kuhns) lesen. Und in diesem Vorwort fand ich dann,

nachdem ich schon alle Texte übersetzt hatte, ironischerweise eine hervorragende

Analyse der Prosagedichte – etwas, wonach ich während der gesamten Recherche-

phase gesucht hatte. Gewisses aus diesem Vorwort, wie etwa den Hinweis zur Ein-

fachheit des Vokabulars, konnte ich dann gleich anwenden, als ich meine Übersetzun-

gen überarbeitete.

Übersetzen

Übersetzen, der praktische Teil, das war es, worauf ich mich am meisten gefreut hatte.

Ich hatte eine gute Grundlage (erneut dank Herrn Zollinger, der mich auf Elisabeth

Edls Nachwort aufmerksam gemacht hatte), viel Zeit, und vertraute auf mein Sprach-

gefühl. Wie ich dabei vorgegangen bin, beschrieb ich bereits im Kapitel «Vergleich mit

Fremdübersetzungen»; dieser Abschnitt hier dreht sich nun um die Fragen, wie es war

und was ich von meinen Übersetzungen halte.

Wie war es also? – Intensiv. Zeitintensiv, mehr als erwartet, und das obwohl ich mich

auf eine lange Übersetzungsphase eingestellt hatte. Eine Reclam-Seite französischen

Text ins Deutsche zu übertragen, bedeutete schnell sechs Stunden Arbeit, Zeit für Re-

cherchen und Überarbeitung nicht miteingerechnet. Vor allem deswegen musste ich

den Umfang meiner Arbeit von zehn auf sieben Prosagedichte verringern. Es kam

auch vor, dass ich zwei Stunden lang an einer einzigen Zeile feilte, mit Online-Syno-

nymwörterbuch und Duden nach einer Handvoll Wörter suchte, die einfach waren

und sich reimten, nur um am Ende alles zu verwerfen und mich für die einfachste,

reimlose Variante zu entscheiden.

Intensiv auch auf mentaler Ebene. «Verausgabung des Geistes», so altbacken der Aus-

druck auch sein mag, ist in dieser Hinsicht bezeichnend. Des Öfteren arbeitete ich nur

drei Stunden an einem Tag, und auch wenn diese mir grosse Freude bereiteten, war

ich danach derart ausgelaugt, dass in den folgenden zwei Stunden zu nichts zu ge-

brauchen war, manchmal sogar einschlief (was ich sonst nie tue). Doch ich sah das

Ganze nicht als Belastung, sondern als Herausforderung. Es war ein Spiel gegen sich

selbst, es ging oft nur um Hartnäckigkeit. Problemlos könnte man ein Prosagedicht

innert einer Stunde lieblich übersetzen; aber meine Anforderung an mich selbst war,

die bestmögliche Übersetzung zu finden. Ich würde auch nicht wiedersprechen, wenn

man von dieser Phase sagte, es sei mitunter ein Kräftemessen mit den anderen Über-

setzerInnen gewesen. Das war ja ein Ziel: Herauszufinden, wie gut meine Laienüber-

setzung im Vergleich mit den Fremdübersetzungen abschliessen konnte. Und dazu

brauchte es höchsten Einsatz.

Womit ich bei der zweiten Frage wäre, der Frage nach der Qualität meines Werks.

«… tout ce qui n’est pas la perfection devrait se cacher, et […] tout ce qui n’est pas

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sublime est inutile et coupable … »79, schrieb Baudelaire einst, und ich fürchte, ich hätte

ihn mit meiner Übersetzung nicht zufriedenstellen können – denn perfekt ist sie nicht.

Mittlerweile denke ich, dass eine literarische Übersetzung fast nicht perfekt sein kann.

Es sind immer noch zwei verschiedene Sprachen, mit verschiedenen Wörtern und ver-

schiedenen Regeln, und es ist immer noch ein hochkomplexes Kunstwerk, das es zu

übertragen gilt. Die einzige Reproduktion der Prosagedichte, die Baudelaires An-

spruch wohl je genügen würde, wäre eine reine Kopie.

Ist die Sache mit der Perfektion einmal geklärt, kann man dazu übergehen, eine Über-

setzung realistisch zu beurteilen. Meine Übersetzung ist, würde ich sagen, sicher nicht

schlecht, gehört eher zu den Besseren. Weniger blumig als andere, dafür exakt – man

merkt es schon, da drückte immer noch der wissenschaftliche Gedanke durch. Es wäre

Unsinn, hier mit Superlativen aufzutrumpfen, zum einen, weil ich bei weitem nicht

alle anderen Übersetzungen eingesehen habe, zum anderen, weil «andere Leute die-

selbe Stelle womöglich anders lesen, anders verstehen und anders interpretieren wür-

den als ich.» Ich kann nur sagen, dass ich mein Bestes gegeben habe, dass es mir,

glaube ich, nicht schlecht gelungen ist, einem deutschsprachigen Leser Zugang zu den

Feinheiten in Baudelaires Werk zu verschaffen. Und dass ich mit dem Ergebnis sehr

zufrieden bin.

Zur ganzen Maturaarbeit

«Wählt ein Thema, das euch interessiert», «Beginnt früh genug», «Organisation ist die

halbe Miete»; es ist noch nicht lange her, dass man von allen Seiten her solche Rat-

schläge hörte. Ich befinde mich nun, am Ende meiner Arbeit, in der glücklichen Posi-

tion, all dem zustimmen zu können, ohne dass ich erfahren musste, was geschieht,

wenn man diesen Empfehlungen nicht folgt. Es war Mitte Oktober, als ich diesen Be-

gleittext schrieb, während den Herbstferien und damit perfekt im Zeitplan. Bestimmt,

danach kamen noch Korrekturen und Kleinigkeiten wie die Gestaltung des Büchleins.

Aber meine Situation war durchaus komfortabel, ab Oktober wie auch in den Monaten

davor.

Ein Teil ist immer Glück; ob alles so funktioniert wie geplant und gewünscht, ob man

in ein Tief fällt oder nicht. Dieses Glück hatte ich. Es wäre eine Illusion, zu denken, ich

hätte nicht eine Krise, kein einziges Problem gehabt. Doch die Probleme, denen ich

begegnete, liessen sich lösen.

Ein Teil ist aber auch Eigenverantwortung, und es kommen die Ratschläge vom April

zum Zug. Da habe ich wohl gut abgeschnitten. Themenwahl – ins Schwarze getroffen.

Ich erinnere mich nicht, jemals für mehr als einen halben Tag nicht fasziniert gewesen

zu sein von Baudelaire, von Sprachen und von allem rundherum. Bezüglich Zeitma-

nagement half mir, wenn man es so nennen will, eine Unterteilung in Strategie und

79 Zitiert nach: Baudelaire, 2011, S. V.

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Taktik. Die Strategie war, in den Frühlingsferien alle Prosagedichte zu lesen, in den

Sommerferien meine Auswahl zu übersetzen und in den Herbstferien den Begleittext

zu schreiben. Die Taktik betraf alles dazwischen, das, was jeweils vor den nächsten

Ferien gemacht werden musste. Die Strategie war unantastbar, die Taktik Mittel zum

Zweck und entsprechend plastisch. Und der Punkt Organisation war für mich nie ein

Problem, ich liebe Struktur viel zu sehr, als dass ich meine Maturaarbeit ohne Plan

angegangen wäre. Natürlich bedeutete Organisation Aufwand, aber sie machte sehr

vieles – vom Journal bis zu Zwischengesprächen – sehr viel einfacher.

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Danksagung Im letzten April schien alles noch ewig weit weg, man hatte einen Berg von Arbeit vor

sich und ein flaues Gefühl im Magen. Die berühmte Maturaarbeit, der erste Schritt in

Richtung Abschluss. Ein Dreivierteljahr später kann ich lächelnd zurückschauen auf

eine Zeit, von der ich nie glaubte, ich würde sie nicht überstehen, aber die ich mir auch

nie so angenehm erträumte, wie sie letztendlich geworden ist.

Ein Teil ist Glück, schrieb ich gerade noch, und dabei habe ich den wichtigsten Be-

standteil dieses Glücks noch gar nicht genannt: Den Rückhalt. Ich durfte während der

Dauer dieser Arbeit – und weit darüber hinaus – immer eine riesige Unterstützung

erfahren, und dafür möchte ich mich ganz herzlich bedanken.

Ein gewaltiges Dankeschön gilt meiner Familie. Meiner Mutter für die Denkanstösse

und die Tricks beim Formatieren; meinem Vater fürs Nachfragen; meinem Bruder für

die grossartig auflockernden Gespräche und Blödeleien während der Arbeitspausen;

ihnen allen fürs Korrekturlesen.

Ebenfalls fürs Redigieren, und ausserdem für die höchst interessanten Diskussionen

rund um einige Übersetzungen, bedanke ich mich herzlichst bei Thomas Bähler.

Besten Dank auch Herrn Edi Zollinger für die Idee, Baudelaires Prosagedichte zu wäh-

len und den Ratschlag, Elisabeth Edls Nachwort zu konsultieren; dafür, dass er mich

bremste, wenn ich übers Ziel hinausschiessen wollte, und anspornte, wenn ich etwas

zu vernachlässigen drohte. Danke aber auch für die Freiheit, die er mir von Anfang an

liess, und das Vertrauen, das er mir schenkte.

Weiter herzlichen Dank Frau Silvia Buda dafür, dass sie mich auf die Idee brachte, eine

literarische Übersetzung als Ansatz meiner Maturaarbeit zu wählen, und mir auch da-

nach bei Fragen immer weiterhalf.

Und Schliesslich danke ich meiner Klasse, meinen Lehrern, Christiane Herzog, Domi-

nique Pourailly und all den vielen Leuten, denen ich in diesem Jahr über den Weg lief,

für ihre Offenheit, ihr Lachen, für die spannenden Diskussionen und die Ideen, auf die

sie mich brachten.

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Literaturverzeichnis Baudelaire, Charles. Œuvres Complètes (Band 1). Texte établi, présenté et annoté par

Claude Pichois. Paris 1975.

Baudelaire, Charles. Œuvres Complètes (Band 2). Texte établi, présenté et annoté par

Claude Pichois. Paris, 1976.

Baudelaire, Charles. Die Tänzerin Fanfarlo und Der Spleen von Paris. Aus dem Französi-

schen von Walther Küchler. Zürich 1977.

Baudelaire, Charles. Le spleen de Paris Pariser Spleen. Übersetzt von Kay Borowsky.

Nachwort von Kurt Klooke. Stuttgart 2008.

Baudelaire, Charles. Der Spleen von Paris. Herausgegeben, übertragen und eingeleitet

von Irène Kuhn. Darmstadt 2011.

Dudenredaktion (o.J.). Duden online. «gelackt (Adjektiv)». https://www.duden.de

/node/847833/revisions/1358024/view. Zuletzt besucht am 19.11.2017.

Flaubert, Gustave. Madame Bovary. Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl.

München 2012.

Vioux, Amélie. Commentaire composé. 30.04.2012. « La modernité chez Baudelaire : ré-

ponse pour un oral de français ». https://commentairecompose.fr/la-modernite-chez-

baudelaire/. Zuletzt besucht am 18.11.2017.