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Silikon Valley

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S I L I C O N V A L L E Y

Im Tal der TräumeWer bestimmt, welche Informationen der Menschheit nutzen– und welche sie bekommt? Wer braucht noch Journalisten,wenn Software Nachrichten ordnen kann? Wer die Zukunft desdigitalen Zeitalters sucht, muss ins Silicon Valley reisen. Es istder Ort der großen Ideen. Aber es gibt dort auch Mahner, die vorder Macht der Algorithmen warnen.VON Moritz Müller-Wirth;Heinrich Wefing | 06. Juni 2013 - 08:00 Uhr

© Justin Sullivan/Getty Images

Google-Niederlassung in Mountain View im Silicon Valley

Das Internet ist ortlos, flüchtig. Es ist überall und nirgends, das ist sein Wesen. Aber

es hat eben doch ein Zentrum, einen geografischen Ort, an dem alles zusammenläuft,

ökonomisch, symbolisch, intellektuell: das Silicon Valley .

Wir sind zu spät, viel zu spät, nicht zehn, nicht zwanzig Minuten, fast eine

Dreiviertelstunde. Wir wollen zu Twitter, wir wollen über die Zukunft des Journalismus

reden. Aber der Verkehr auf der Interstate 101 Richtung Norden steht still, sieben Spuren

und alle verstopft. Amerikaner hassen Unpünktlichkeit. Doch als wir schließlich bei

Twitter eintreffen, in einem hübsch heruntergekommenen Hochhaus an der Market

Street, Downtown San Francisco, sind alle total entspannt, branchenüblich. Katie Jacobs

Stanton, die Auslandschefin des Unternehmens, zeigt uns ein Stück der Berliner Mauer auf

ihrem Schreibtisch und trichtert uns per PowerPoint eine konzentrierte Dosis Information

ein. Dann führt sie uns durch ein Riesenloft, in dem fast tausend junge, hippe Start-

up-Menschen den weltumspannenden Kurznachrichtendienst jeden Tag ein bisschen

erfolgreicher machen.

Am Durchgang zur Kantine hängt ein Schild. Jeder Angestellte kommt jeden Tag daran

vorbei. Ein Mantra für die Mitarbeiter und eine Botschaft an die Welt: "Reach every person

on the planet" steht auf der grellgrünen Scheibe – erreiche jeden Menschen auf der Erde.

Das kann man als Verheißung lesen. Oder als Drohung.

In der Twitter-Zentrale wirkt gar nichts bedrohlich, vielleicht ist es das, was besonders

unheimlich ist. Man möchte sofort hierbleiben. An den langen Tischen, im Gewirr von

Stimmen und Ideen, mit Kollegen von allen Kontinenten arbeiten. Das große Ding

durchziehen, die ganze Welt verbinden und Spaß haben dabei.

Aber Twitter ist kein Spaß, so wenig wie irgendetwas, das in Kalifornien lässig

daherkommt. Twitter ist riesig, ernst und ehrgeizig: Seid unbescheiden!, ruft es seinen

Mitarbeitern zu, und auch den Usern, dem Papst zum Beispiel oder Barack Obama.

Akzeptiert keine Grenzen! Kommunikation ist alles!

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Twitter ist jung, keine zehn Jahre alt, der Laden verdient noch kein Geld, er ist klein

im Vergleich zu den Branchenriesen wie Google und Facebook. Aber die Nutzerzahlen

explodieren, 500 Millionen angemeldete User gab es 2012 , und wenn nicht alles täuscht,

hat das Unternehmen die Art und Weise, wie die Welt kommuniziert, grundstürzend

verändert.

Dieser Artikel stammt aus der aktuellen Ausgabe der ZEIT, die Sie am Kiosk oder online erwerbenkönnen.

Jeder Mensch mit Internetzugang kann per Twitter mit jedem anderen in Kontakt treten

und kurze Botschaften austauschen, kostenlos, in Echtzeit, maximal 140 Zeichen lang. Das

meiste, was da gezwitschert wird, ist banales Zeug, alles, was der Menschheit gerade durch

Herz und Hirn geht, aber die möglichen Folgen sind gewaltig – für die Demokratie, für

die Gesellschaft, für das große Gespräch der Welt mit sich selbst. Und damit auch für den

Journalismus. Twitter, schrieb der Guardian- Kolumnist Michael Wolff unlängst , "könnte

der bedeutendste Fortschritt für Nachrichtenmedien sein, wenn nicht seit Erfindung des

Telegrafen, dann mindestens seit Einführung des Kabelfernsehens".

Über Twitter wurde der Arabische Frühling verkündet, mithilfe von Twitter wurden

Diktatoren gestürzt, Twitter hat Foto-Ikonen geschaffen. Twitter, der Nachrichtenlieferant,

hat selbst Nachrichten gemacht.

Jede Epoche hat ihren Ort. Die Industrialisierung ging von Nordengland aus. Das All

wurde von Texas aus erschlossen. Jetzt prägen ein paar Unternehmen in Kalifornien den

Journalismus, die Informationskultur, das Denken, Entscheiden, Handeln der Menschen

weltweit.

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In Deutschland kann man dieser Tage den Eindruck bekommen, die Zukunft des

Journalismus hänge von der Durchsetzung einer Bezahlschranke bei Bild.de ab . Doch das

ist nur eine späte Reaktion auf Veränderungen, die in Kalifornien ihren Anfang nahmen,

hier, wo das Informationszeitalter beinahe täglich neue Wendungen erfährt.

Wer sich fragt, wie er sich in Zukunft informieren wird, als Leser, User, Bürger, Wähler,

als Mensch, der sollte sich dort umhören, wo die Zukunft des Digitalen verfertigt wird: bei

Twitter, bei Google, bei all den Riesen im Silicon Valley.

MISSION LOCALSeit Oktober 2008 erzählen die Studenten der Berkeley School of Journalism auf der InternetseiteMission Local Geschichten aus Mission, einem Viertel in San Francisco. Sie experimentieren mitverschiedenen Medien, nutzen Soziale Netzwerke wie Facebook als Werkzeuge und suchen nachKooperationen in der Nachbarschaft. Damit wollen sie einen neuen Lokaljournalismus schaffen.

TWITTERStaatsoberhäupter tun es, Konzerne und Privatpersonen auch: Insgesamt 500 Millionen Nutzerverschicken über Twitter Nachrichten. Maximal 140 Zeichen dürfen die lang sein, pro Tag sind es400 Millionen. Empfänger sind sogenannte Follower, also Abonnenten der kurzen Meldungen. Dasist die Idee hinter dem 2006 gegründeten Dienst aus San Francisco mit rund 1.000 Mitarbeitern.

GOOGLE1998 startete Google als Suchmaschine. Sie beantwortet heute drei Milliarden Anfragen am Tag.Der Konzern mit Sitz in Mountain View ist ein Internet-Riese: Sein E-Mail-Dienst gmail hat 425Millionen Nutzer, das Soziale Netzwerk Google+ eine Viertelmilliarde, mit YouTube besitzt Googledie größte Videoplattform. Die etwa 54000 Mitarbeiter erwirtschaften weltweit einen Umsatz vonmehr als 50 Milliarden Dollar im Jahr.

STORIFYDen Überblick in Sozialen Medien wie Twitter oder Facebook zu behalten und Nachrichten inGeschichten zu verwandeln, dabei will Storify helfen. Eine Mannschaft von elf Personen betreibtin San Francisco den Dienst, der Meldungen auf einer Zeitleiste anordnet. 2010 gestartet, wurdeStorify ein Jahr später vom Time- Magazin als eine der 50 besten Seiten im Internet gekürt. Imgleichen Jahr bedachte ein Investor das Unternehmen mit zwei Millionen Dollar.

BILD.DEKai Diekmann, Chefredakteur der größten Tageszeitung Deutschlands, hat neun Monate imkalifornischen Palo Alto verbracht, um die digitale Zukunft zu erkunden. Seit Montag ist er zurückin Berlin, aber die Präsenz im Valley soll bleiben: Der Springer-Konzern wird dort eine ständigeVertretung einrichten, um den Kontakt mit der Digitalindustrie zu halten. Und Bild wird demnächstein Büro in Los Angeles eröffnen.

Das Valley ist ein breiter Streifen Land südöstlich von San Francisco, eingeklemmt

zwischen den Santa Cruz Mountains am Pazifik und der San Francisco Bay. Ein

Gewirr von Autobahnen und Schnellstraßen, ein Durcheinander von Gewerbekisten,

Einfamilienhäusern und Shoppingmalls, nicht Stadt, nicht Land. Mitten in diesem

zersiedelten Gebiet stehen die Kathedralen der Digital-Industrie, die Machtzentren der

Gegenwart, die Firmensitze von Apple, Google, Facebook.

Das Valley ist für die Hightechwelt, was Hollywood für den Film ist. Ein magischer Ort.

Ein einzigartiges "Soziotop", ein Neben- und Miteinander von kleinen Klitschen und

Riesenkonzernen, von brillanten Programmierern und Anwälten, den Universitäten in

Berkeley und Stanford. Irgendwo in einer Garage im Silicon Valley tüftelt vielleicht gerade

der nächste Steve Jobs an einer Sache herum, die die Welt auf den Kopf stellen könnte.

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Das Valley ist der Ort, wo Amerika kein müder, ausgebrannter Riese ist, sondern ein

Zukunftslabor. Wo mit höchster Konzentration an der totalen Zerstreuung gearbeitet wird.

Von hier ist ein kultureller Wandel ausgegangen, dessen Bedeutung sich noch gar nicht

ganz erfassen lässt: Früher, vor 20, 25 Jahren, war Information eine Mangelware. Es gab

immer zu wenig davon. Sie zu beschaffen war mühsam und teuer. Aber für Informationen,

für verlässliche zumal, wurde gutes Geld gezahlt. Das hat sich verändert: Informationen,

manchmal auch Scheininformationen, sind nicht mehr knapp, sie sind im Überfluss

vorhanden, ein ewiger Strom von Daten, Tweets, Gerüchten, Bildern, Blogs. Jeder kann

heute schreiben, Fotos versenden, Videos online stellen. Und alles ist umsonst.

Wie lässt sich diese Flut kanalisieren, wie kann man auf ihrer Welle reiten, statt zu

ersaufen? Wie trennt man das Wichtige vom Geschnatter? Das Verlässliche vom Gerücht?

Und, ganz wichtige Frage: Wer tut das? Wer sortiert, filtert, ordnet ein?

Bisher ist das eine der wichtigsten Aufgaben der Journalisten. Aber wird das so bleiben?

Im Valley gibt es darauf zwei Antworten. Sie stammen aus zwei unterschiedlichen

Denkschulen.

Antwort Nummer eins: Das Filtern übernehmen Algorithmen, Computerprogramme. Sie

werden immer raffinierter, können immer genauer vorausberechnen, was die Menschen

interessiert. Weil sie immer genauer Bescheid wissen über die Nutzer. Das ist, kurz gesagt,

die Google-Antwort.

Die andere Antwort lautet, wieder ganz grob gesagt: Das Sortieren, Filtern, Einordnen

übernehmen die Nutzer per Schwarmintelligenz. Wie das geht, zeigt Storify.

Ein schäbiges Backsteinhaus, ein paar Blocks von Twitter entfernt. Keine schicke Gegend,

gleich um die Ecke hockt eine verwahrloste Frau auf der Straße, sie hat nur ein Hemd an,

keine Unterwäsche.

Burt Herman, einer der Gründer von Storify, empfängt uns mit ein paar Worten auf

Deutsch: "Schön, dass ihr hier seid." Er war eine Weile AP-Korrespondent in Berlin, dann

in Moskau und Usbekistan, später zog er mit den amerikanischen Truppen in den Irak

und nach Afghanistan. Ein erfahrener Journalist um die 40, geschmeidig, offenes Hemd.

Neun Mitarbeiter hat sein Unternehmen, das seit einem Jahr online ist. Während wir reden,

schlurfen nach und nach die Programmierer herein, ohne ein Wort, fahren ihre Rechner

hoch, setzen sich Kopfhörer auf, legen los. Womit genau, ist für Gäste aus der analogen

Welt schwer zu begreifen.

Die Idee für Storify entstand, als Burt Herman in Stanford studierte. Da saßen rings um ihn

Studenten in den Hörsälen und surften auf ihren Laptops, statt dem Professor zuzuhören.

Herman fragte sich: Wie kann man diese Generation noch mit Nachrichten erreichen?

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Es ist eine dieser Millionen-Dollar-Fragen.

Storify ist, sehr grob gesagt, eine Sortiermaschine, in erster Linie für die Flut der

Informationen in und aus den Sozialen Netzwerken. Die Firma verspricht, dort die Stimmen

zu finden, die wirklich zählen. "Curating" heißt das im Valley-Sprech, "kuratieren".

Filtern wäre wohl das bessere Wort, denn eine inhaltliche Wertung der Informationen, ein

Faktencheck oder eine Analyse, findet nicht statt. Wer aktuell bei Google den "Taksim-

Platz" eingibt, bekommt den Wikipedia-Eintrag angezeigt, dazu aktuelle Nachrichten von

Onlinemedien. Wer bei Storify dasselbe sucht, erhält Twitter-Meldungen, Videos und

Fotos, hochgeladen von Demonstranten auf dem Platz. "Let the web tell a story", heißt der

Slogan, lass das Netz eine Geschichte erzählen.

Das Magazin Time zählte Storify 2011 zu den 50 besten neuen Websites . Der

Guardian nutzt das Instrument für seinen Onlinedienst, ebenso die Washington Post

und CNN. Storify ersetzt keinen Journalismus, es arbeitet mit Inhalten, die die Nutzer

zusammentragen. Klar, sagt Herman, der selbst einmal Journalist war, wir brauchen auch

weiter Journalisten. Als Gewährsleute für Qualität. Als Marken für Verlässlichkeit.

Und was sagt Google über den Journalismus der Zukunft, der bei Weitem mächtigste

Player? Fahren wir nach Mountain View, zum Hauptquartier der Firma.

Das Gelände von Google ist ein künstliches Paradies. Ein Garten in der Sonne, drum

herum helle Bürohäuser, in der Luft ein Duft von Eukalyptus und Lavendel. Was immer

man sich für seinen Arbeitsplatz wünschen könnte, hier ist es Realität. Es gibt einen

Beachvolleyballplatz, Fitnesscenter und Swimmingpools. Überall stehen Fahrräder in den

bunten Google-Farben. Am Rand der Plaza, auf der sich um die Mittagszeit die Mitarbeiter

treffen, junge Menschen aus aller Welt, alle in T-Shirt und Badelatschen, gibt es einen

Kräutergarten, in dem sich die Kantinenköche bedienen.

Drinnen, zwischen Schreibtischen und Monitoren, gibt es frische Erdbeeren, ein Dutzend

Teesorten, Laufbänder und Massagestühle.

Kostenlose Shuttle-Busse, klimatisiert und mit WLAN, sammeln die Googler rings um die

Bucht von San Francisco ein und fahren sie zum Google-Campus. Immer mal wieder gibt

es "Bring Your Kids to Work Days", Arbeitstage, an denen die Angestellten ihre Kinder

mit auf den Campus bringen dürfen, damit die Kleinen wissen, wohin ihre Eltern jeden Tag

verschwinden. Seit Kurzem gibt es auch den "Parents’ Day", damit die Großen wissen, wo

ihre Kinder all die viele Zeit verbringen.

Vor einer der Kantinen steht ein langer Tisch, darauf alle gängigen amerikanischen

Softdrinks, Cola, 7 Up, Dr Pepper. Und vor jeder Flasche sind Zuckerwürfel aufgestapelt,

zur Abschreckung. In der Kantine sind vorne die Salate, das Kurzgebratene, die

Reisgerichte aufgebaut, die fette Pasta, die leckeren Schokotörtchen stehen weiter hinten,

hinter einem Paravent. Die Auswertung der Nutzerdaten habe ergeben, dass die Hungrigen

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sich die Teller mit Grünzeug volllüden, wenn das ganz vorne stehe, wird uns später eine

PR-Dame erklären. Google weiß, was du suchst. Google weiß, was dir guttut. Auf dem

Bildschirm, in der Kantine und vielleicht auch im ganzen Leben.

Wir warten. Der Tisch, an dem wir warten, ist bunt. Wie die Häuser, wie die Fahrräder, wie

das Google-Logo. Unter der gläsernen Tischplatte wächst Moos.

Dann kommt Scott Huffman. Er trägt Vollbart, Brille, ein Holzfällerhemd mit kurzen

Ärmeln, und er lächelt ein breites Lächeln. Huffman ist Vice President Engineering,

zuständig für das Suchen. Suchen und Finden ist das Kerngeschäft von Google, damit hat

alles angefangen, und diese Suche soll noch besser werden, intuitiver, dialogischer. Daran

arbeitet Huffman mit seinem Team. Wie groß das Team ist, darf er nicht verraten. "Wir

sind ein bisschen zurückhaltend mit Zahlen", sagt Huffman und lächelt.

Die Firma, die daran arbeitet, dass alle alles wissen können, ist also ein bisschen

zurückhaltend mit Zahlen.

"Wir wollen", sagt Huffman, "wie eine perfekte Sekretärin sein, die Ihnen alles abnimmt.

Eine perfekte Sekretärin weiß schon ein paar Sekunden früher als Sie selbst, was Sie

als Nächstes brauchen. Eine perfekte Sekretärin weist Sie auf Nachrichten hin, die Sie

interessieren könnten. Eine perfekte Sekretärin sucht Ihnen ein Restaurant, bevor Sie

überhaupt Hunger verspüren. Sie schlägt einen Umweg um den Stau vor, von dem Sie noch

gar nichts wissen."

"Kennen Sie Raumschiff Enterprise?", fragt Huffman. Da gibt es diesen Computer, der

alles weiß, der jede Frage beantworten kann. "Das ist unser Ziel."

Eine Science-Fiction-Serie als Vorbild, und erwachsene Männer, die daran arbeiten, die

Fernsehbilder ihrer Jugend Realität werden zu lassen: Das ist das Silicon Valley.

Ob Google uns irgendwann auch eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens

geben wird?

"Na ja", sagt Huffman und grinst, "das ist ein bisschen komplex, so weit sind wir noch

nicht."

Noch nicht. Zwei Tage später wird Huffmans Boss Larry Page verkünden, die Menschheit

habe vielleicht " gerade mal ein Prozent dessen erreicht, was möglich ist ".

Man muss sich, wenn man bei Google über den sonnenbeschienenen Campus läuft und

all diese schlanken, schlauen Menschen sieht, immer mal wieder zur Ordnung rufen: Ja,

der Lunch ist kostenlos hier, man kann während der Arbeitszeit schwimmen gehen oder

Klavier spielen, aber hier auf dem Campus, oder irgendwo in der Nähe, in einer dunkleren

Parallelwelt, sitzen auch die Typen, die das Kleingedruckte so formulieren, dass die Nutzer

von Google bei Streitereien fast immer den Kürzeren ziehen. Irgendwo hier hocken die

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Kerle, die die Suchergebnisse so einrichten, dass die Dienste und Angebote von Google

immer hübsch oben stehen und die der Konkurrenz weiter unten (jedenfalls behauptet das

die EU-Kommission). Irgendwo hier werden die supergeheimen Algorithmen geschrieben,

mit denen Google seinen gewaltigen Datenschatz automatisch erschließt, schneller und

effektiver, als das Menschen je könnten.

Don’t be evil, sei nicht böse, heißt das inoffizielle Motto von Google.

Und dann sitzt man in einem engen, fensterlosen Konferenzraum, trinkt grünen Tee aus

Pappbechern, und herein kommt Richard Gingras, ein Mann Mitte 50, Typ taz- Abonnent,

graue Haare, grauer Bart, schwarzes T-Shirt, ein MacBook unter dem Arm. Richard, wie

ihn alle nennen, ist offiziell "Head of News + Social Products", in Wahrheit ist er Googles

oberster Journalist. Was er denkt und sagt, ist Konzernposition zum Thema "Zukunft des

Journalismus".

Gingras hat über das Thema schon nachgedacht, als die meisten seiner heutigen Kollegen

noch gar nicht geboren waren, als man Artikel noch per Fax in die Redaktionen schickte.

Anders gesagt: Google, ausgerechnet die Zukunftsmaschine Google, hat eines der

wichtigsten Themen einem Mann mit Vergangenheit anvertraut. Graduiert 1973 in

Boston, ist Gingras erst seit 2011 bei Google, wo er, wie er auf seiner Homepage schreibt ,

"wöchentlich mehr als eine Milliarde Leser" mit Artikeln von "Journalisten aus 72 Ländern

und 45 Sprachen" verknüpft.

Richard, wann haben Sie zuletzt eine Zeitung auf Papier gelesen?

Schweigen. "Na ja, gelesen? Wir haben zu Hause eine gedruckte Tageszeitung, eine

Lokalzeitung, sie kommt jeden Morgen, ich lese sie aber eigentlich nur am Wochenende."

Pause. "Meine Familie liest viel Zeitung. Morgens, am Frühstückstisch, sitzen wir alle da,

die Laptops offen, und lesen. Manchmal lesen wir uns auch vor."

Der Mann weiß noch, wovon er spricht, wenn er über Print redet. Und hält ansatzlos

eine Rede über die Lage des amerikanischen Journalismus, die man Wort für Wort

drucken, Pardon: online stellen könnte. Er spricht von den drei, vier fetten Jahrzehnten

für Zeitungsverleger, von den katastrophalen Fehlern, die sie gemacht haben, als sie alle

Innovationen verpassten, und von den glänzenden Aussichten der Branche: "Die Zukunft

des Journalismus wird besser sein als seine Vergangenheit."

Es wird dramatische Umwälzungen geben, da ist Gingras sicher, es geht um "24/7-

journalism", um Berichterstattung rund um die Uhr, um die Organisation von Abläufen,

es geht weniger um Inhalte, nicht um Ressorts oder Artikel, sondern um "mediale

Landschaften". Es geht weniger um Recherche als um das "Kuratieren" von Informationen.

Als Gingras merkt, wie irritiert wir dreinschauen, bremst er sich, und Gingras, der

Euphoriker, wird zu Gingras, dem nachdenklichen taz- Abonnenten. "Im Internet gibt

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es Platz für jede Meinung, jeden Glauben, jede Angst – mehr Platz als in jedem anderen

Medium."

Aber es gibt so viel Mist im Netz, jeder Verschwörungstheoretiker kann dort

veröffentlichen, was er will.

"Deshalb brauchen wir Instanzen, die den Nutzern den Weg weisen, hin zum redlichen,

relevanten Journalismus", antwortet Gingras.

Sind diese Instanzen, von denen Sie sprechen, noch Menschen, leibhaftige Menschen?

"Wir bei Google arbeiten daran, dass das möglichst präzise und fehlerfrei von der Technik

übernommen werden kann. Mit unseren Algorithmen können wir auf Dauer nahezu jede

menschliche Entscheidung antizipieren."

Man braucht also Menschen, die Programme schreiben, damit Menschen überflüssig

werden? Gingras zögert – und spricht dann einen Satz aus, der anders klingt als alle, die

wir gehört haben, seit wir bei Google über die Zukunft des Journalismus, nein: über die

Zukunft des Menschen gesprochen haben. Es wird der letzte Satz sein, bevor wir uns

verabschieden, ein Menschensatz, kein Satz über Algorithmen. Gingras steht schon, er hat

sein MacBook wieder unter dem Arm, hält aber noch einmal kurz inne.

"Wissen Sie", sagt er, "in Wahrheit weiß niemand, wie das alles weitergeht."

Wir fahren nach Palo Alto, tief im Valley, beste Gegend. Breit hingelagerte Villen, alte

Eichen, üppige Rosenstöcke. Vor dem Haus, das wir ansteuern, steht ein offener BMW.

Als Kai Diekmann , der Bild- Chefredakteur, vor ein paar Monaten hierherkam, war nicht

ganz klar, was er vorhatte. Er schien wie ein Zaungast aus der analogen Welt. An diesem

Mittag im Mai ist davon nichts zu spüren, auf der Terrasse des Springer-Hauses in Palo

Alto sitzt ein Euphoriker, ein Mann mit tausend Plänen, braun gebrannt von der pazifischen

Sonne. Diekmann trägt keine Socken, an seinen Schuhen fehlen die Schnürsenkel. Wir

trinken Wasser aus kleinen Plastikflaschen, als Snack gibt es zwei Packungen Himbeeren.

Begeistert zeigt er ein paar seiner Entdeckungen vor. Kennen Sie diese App hier, Action

Movie? Oder die Plattform Rebelmouse ?

Diekmann und Christoph Keese, der ehemalige Welt- Chefredakteur und heutige Springer-

Cheflobbyist, der neben ihm sitzt, sie sind Erleuchtete. Große Jungs, die ein riesengroßes

neues Spielzeug entdeckt haben. Er sei "getauft worden", sagt Diekmann, mit digitalem

Weihwasser.

"Wir müssen die Chancen des Digitalen nutzen, um dem Leser genau das Angebot zu

machen, das er will", sagt Diekmann. Zum Beispiel: Wer sich als Bild- Leser gerade

in Regensburg befinde, der solle auf sein Endgerät die Regensburg-relevanten Themen

"prominent aufgespielt" bekommen, inklusive Restauranttipps, Wettervorhersage

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und Vorschlägen fürs Kulturprogramm. In solchen Rundum-Paketen sieht Diekmann

die Zukunft: "Der Leser hat vor allem über die Sozialen Netzwerke immer mehr die

Gelegenheit, sich das Material zu den Themen, die ihn interessieren, zusammenzustellen."

Nicht mehr nur die Redaktion stellt das Angebot zusammen, aus dem der Leser sich seinen

Teil auswählt.

Zum Informationsumschlagplatz werden vor allem die Sozialen Netzwerke, davon ist

Diekmann überzeugt. Und die Aufgabe der Journalisten sei es, dort präsent zu sein. Wie

aber macht man das? Durch Haltung, sagt Diekmann, durch einen unverwechselbaren Ton.

Durch die Art, wie eine Geschichte erzählt und inszeniert wird.

Wie das geht, lässt sich eine Woche später studieren. Da ist der Bundeswirtschaftsminister

beim Bild- Chef zu Gast. Philipp Rösler in den Armen des bärtigen Diekmann – das Foto

wird für ein paar Tage berühmt in Deutschland. Dank der Sozialen Netzwerke.

Mission Local Eatery, ein Café in San Francisco. Ein langer, dunkler Raum, laute Musik,

süßes Gebäck, in der offenen Küche wird Gemüse geschnitten. Hier treffen wir Tay Wiles,

Andrea Valencia und Rigoberto Hernandez. Sie sind die Zukunft des Journalismus, eine

Zukunft jedenfalls. Sie sind Mission Local, eine Website mit Lokalnachrichten , ein

Experiment der renommierten Berkeley School of Journalism.

Der Mission District liegt westlich der Innenstadt von San Francisco, 60.000 Menschen

leben hier, in schlichten Holzhäusern, längs der Straßen stehen Platanen, es gibt Lokale,

kleine Läden, viele spanische Plakate. Ein urbaner Glücksfall kurz vor der Gentrifizierung.

Alle Studenten der Journalismus-Schule aus Berkeley müssen ein paar Wochen bei Mission

Local arbeiten. Sie lernen ganz traditionellen Journalismus, die klassischen Fragen: Wer hat

geschossen? Wann, wo und warum?

Klassisches Handwerk, aber annähernd in Echtzeit. Die Jungjournalisten sind ständig auf

Twitter, berichten fast ungefiltert, was sie sehen, bei Verkehrsunfällen, bei Ausschreitungen

mit der Polizei, bei örtlichen Sportveranstaltungen. "Manchmal bin ich mit zwei

Smartphones unterwegs", sagt Hernandez, "mit einem filme ich und streame die Bilder

direkt ins Netz, das andere habe ich am Ohr, höre die Anweisungen aus der Redaktion, wo

ich hingehen soll, wo ich noch nachfragen könnte."

"Manchmal", fügt Andrea Valencia hinzu, "machen wir aber auch lange Geschichten, in

Print."

"In Print?" Tay lacht. "Print, damit meinen wir die längeren Stücke auf der Website, im

Gegensatz zu den Tweets, den Fotos und den Videos, die wir hochladen."

Um den Journalismus, so scheint es, muss man sich keine Sorgen machen. Immer passiert

irgendwo irgendwas, Wichtiges und Unwichtiges. Es gibt immer Geschichten, und es

gibt immer Menschen, die Geschichten lesen, hören, sehen wollen, wahre, wichtige

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Geschichten, fesselnd erzählt, egal in welchem Medium. Sorgen machen muss man sich

nicht über ein Ende des Informationshungers, sondern wegen der Frage, welchen Preis die

Menschen für ihre Sättigung bezahlen. In den Worten von Kai Diekmann: "Wenn keiner

mehr bezahlt für Journalismus, dann ist Schluss mit Journalismus."

Kostenlos lassen sich Geschichten nicht recherchieren, lassen sich keine Korrespondenten

bezahlen, lässt sich die Wahrheit nicht herausfinden.

Das aber verstößt gegen das Mantra des Silicon Valley, gegen dessen Glaubensbekenntnis:

"Information will frei sein." Das ist die herrschende Orthodoxie.

Ein Abend im Jewish Community Center in Palo Alto, der Himmel leuchtet rosa und

orange. Jaron Lanier liest. Ein Berg von einem Mann, schwarze Schlabberklamotten, Rasta-

Haare bis in die Kniekehlen. Badelatschen, keine Socken.

Lanier ist ein Abgefallener. Ein Dissident im Valley. Einer, der nicht mehr glüht.

Who Owns the Future? heißt sein neues Buch , "Wem gehört die Zukunft?", und seine

Antwort ist klar: dem, der den größten, schnellsten, besten Computer hat. Das Netz, sagt

Lanier, führe nicht zu mehr Gleichheit, es führe zu einer dramatischen Konzentration von

Macht und Geld.

Lanier spricht mit einer hohen Stimme, er ist witzig, pointiert, auf leise Weise böse. Lanier

ist kein Spinner, der keine Ahnung vom Geschäft hat, im Gegenteil. Lanier gehört zum

Uradel des Valley, er hat diverse Start-ups gegründet und an die Branchenriesen verkauft,

er forscht jetzt für Microsoft, er weiß, wovon er spricht.

"Ich bin kein Pessimist", sagt er. "Ich bin ein Silicon-Valley-Typ. Ich mag Erfolg. Aber ich

bin ein Empiriker."

Es sei ein "süßer, wunderbar unschuldiger Gedanke" gewesen, "dass das Netz die

Gesellschaft unweigerlich voranbringen" werde. Dass alles besser werde. "Aber wir haben

uns geirrt. Unser Utopia funktioniert nicht."

Bei Lanier bekommt man eine Ahnung davon, dass das Zentrum des Digitalen nicht

zufällig in Kalifornien liegt. Dass die Hacker und die Start-ups nicht nur wegen des

schönen Wetters kommen oder wegen der weißen Brandung des Pazifiks. Das Valley ist

hier entstanden, weil es nicht zu denken ist ohne die Hippiekultur von San Francisco, ohne

das Bunte, Schräge, Utopische, das lange das Denken hier bestimmt hat. Daher kommt

die Neigung zum Lässigen und zum Experimentellen, Irrtum inbegriffen. Einfach mal was

versuchen. "Better done than perfect" steht auf einem der riesigen Motivationsposter auf

dem Facebook-Campus, ein Slogan, der sich kaum ins Deutsche übersetzen lässt: Besser

ausprobieren als perfektionieren, oder so ähnlich.

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Aber wie in einem Horrorfilm hat sich vieles von den guten Absichten in ihr Gegenteil

verwandelt, ganz langsam, fast unmerklich. Ganze Industrien würden entmonetarisiert,

klagt Lanier. Die Musikindustrie. Die Filmbranche.

"Wir überbewerten Technik, wir unterschätzen den Wert von echtem Denken", sagt Lanier.

"Wir müssen dafür sorgen, dass Informationen wieder Geld kosten." Lanier bekommt

Beifall, aber der Beifall ist matt. Im Zuschauerraum sitzen höchstens 60 Leute.

Die Nacht fällt schnell ein im Valley. Während Lanier noch Bücher signiert, treten wir

aus dem Saal hinaus auf eine Dachterrasse. Da unten liegt es und funkelt, das Valley. Da

draußen sitzen sie, die Unternehmer und Programmierer, die Anwälte und Erfinder, sehen

die Sterne über Kalifornien, hören das Rauschen der Freeways und träumen entschlossen

vom nächsten ganz großen Ding.

Mitarbeit: Piotr Heller

Siehe auch das Interview mit Google-Chef Eric Schmidt

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