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ISSN 0080-5319 ISBN 3-49-T-45560-T" - SAECULUM Sonderdruck BEGRÜNDET VON GEORG STADTMÜLLER t HERAUSGEGEBEN VON JAN ASSMANN " HERBERT FRANKE WOLF-DIETER HAUSCHILD " ANDREAS KAPPELER JOCHEN MARTIN " KARL J. NARR " ALBRECHT NOTH WOLFGANG REINHARD " WOLFGANG RÖLLIG RÜDIGER SCHOTT " ROLF SPRANDEL HEINRICH VON STIETENCRON " GERD TELLENBACH ROLF TRAUZETTEL " HUBERT WOLF 49. JAHRGANG 1998 " II. HALBBAND VERLAG KARL ALBER FREIBURG / MÜNCHEN JAHRBUCH FÜR UNIVERSALGESCHICHTE

Sonderdruck - mgh-bibliothek.de · Peter Schäfer Institut für Judaistik (WE 1) Schwendencrstraße 27 14195 Berlin Michael Szczekalla Schloßstraße 21 45468 Mülheim/Ruhr Andrea

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ISSN 0080-5319 ISBN 3-49-T-45560-T" -

SAECULUM Sonderdruck

BEGRÜNDET VON GEORG STADTMÜLLER t HERAUSGEGEBEN VON JAN ASSMANN " HERBERT FRANKE

WOLF-DIETER HAUSCHILD " ANDREAS KAPPELER JOCHEN MARTIN " KARL J. NARR " ALBRECHT NOTH

WOLFGANG REINHARD " WOLFGANG RÖLLIG RÜDIGER SCHOTT " ROLF SPRANDEL

HEINRICH VON STIETENCRON " GERD TELLENBACH ROLF TRAUZETTEL " HUBERT WOLF

49. JAHRGANG 1998 " II. HALBBAND

VERLAG KARL ALBER FREIBURG / MÜNCHEN

JAHRBUCH FÜR UNIVERSALGESCHICHTE

INHALT

BAND 49 " JAHRGANG 1998 " II. HALBBAND

Jörg Rüpke Institut für Klassische Philologie Postfach 601553 14415 Potsdam

August Nitschke Bei der Ochsenweide I 72076 Tübingen

Christoph Schmidt Historisches Seminar

- Osteuropäische Geschichte - Am Lconhardsbrunn 4 60054 Frankfurt/Main

Peter Schäfer Institut für Judaistik (WE 1) Schwendencrstraße 27 14195 Berlin

Michael Szczekalla Schloßstraße 21 45468 Mülheim/Ruhr

Andrea Reikat Institut für Historische Ethnologie Liebigstraße 41 60323 Frankfurt/Main

Edwin Wieringa Faculty of Arts - Department of Languages and Cultures of Southeast Asia and Oceania P. N. van Eyckhof 3/P. O. Box 9515 N1-2300 RA Leiden

Manfred Hettling Fakultät für Geschichtswissenschaft Universität Bielefeld 33501 Bielefeld

Kommensalität und Gesellschaftsstruktur: Tafelfreu(n)de im alten Rom ............ 193

Kranke als Zeugen einer Epoche. Die Entstehung

eines religiösen Individualismus im Frühen Mittelalter 216

Das Wunder bei Helmold von Bosau und Nestor. Materialien zu einem Kulturvergleich ........ 235

Tochter, Schwester, Braut und Mutter. Bilder der Weiblichkeit Gottes in der frühen Kabbala ..... 259

Leviathan und Behemoth - Natur und Geschichte bei Hobbes .....................

280

Das Schisma von Garango: Orale Traditionen und Herrschaftslegitimation in Burkina Faso (\Vestafrika) 296

Structure and function of the Salasilab Kutai, a Malay dynastic myth from East Kalimantan ... 316

Der Mythos des kurzen 20. Jahrhunderts ..... 327

Vorschau auf den Jahrgang 50,1999 ........ 351

Die Phönix-Zeichnung auf dem Umschlag geht zurück auf ein chinesisches Relief um 150 n. Chr.

Schriftleitung: Prof. Dr. Jochen Martin, Seminar für Alte Geschichte, Werthmannplatz, 79085 Freiburg Prof. Dr. Heinrich von Stietencron, Seminar für Indologie, Münzgasse 30,72070 Tübingen

Das Jahrbuch Saeculum" und alle in ihm enthaltenen einzelnen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des

Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Verlag Karl Alber Freiburg / München 1998

Satz: Satz\Vcise, Trier Druck und Einband: Freiburger Graphische Betriebe

ISSN 0080-5319 ISBN 3-495-45560-4

Kommensalität und Gesellschaftsstruktur

Männerbiinde: Zur Rolle des Mannes im Kulturvergleich 2. Ethnologica NF 15,1. Köln: Gesellschaft für Völkerkunde.

\Vissowa, Georg 1912. Religion und Kultus der Römer. 2. Aufl. HbdA 5,4. München: Beck. 612 S.

Zorzetti, Nevio 1990. The Carmina Convivalia. " Murray. 289-307.

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Kranke als Zeugen einer Epoche Die Entstehung eines religiösen Individualismus

im Frühen Mittelalter

Von AUGUST NITSCHKE

Tübingen

Papst Gregor der Große berichtet im dritten Buch seiner Dialoge eine recht eigentümliche Geschichte. Abt Eleutherius, dessen Kloster an der Mauer der Stadt Spoleto lag, kam auf einer Reise abends in ein Frauenkloster. In diesem Kloster lebte ein kranker Junge, der nachts gequält wurde, - die Nonnen

meinten: vom �bösen Feind". Sie fragten den Abt, ohne von der Krankheit etwas

zu erwähnen, ob der Junge in dessen Stube schlafen dürfe. Er stimmte zu, und in dieser Nacht, im Zimmer des Abtes, blieb der Junge schmerzfrei. Am Morgen erzählten die Nonnen, was in letzter Zeit nachts geschehen sei, und baten den Abt, er möchte den Jungen doch bei sich behalten. Daraufhin nahm ihn dieser in

sein Kloster mit. Von der Krankheit war seitdem nichts mehr zu spüren. Eines Tages jedoch sagte der Abt zu den Mönchen:

�Brüder, der Teufel hat mit jenen

Schwestern seinen Scherz getrieben; als sie aber zu dem Diener Gottes gingen, wagte der Teufel nicht, sich diesem Knaben zu nähern. " Daraufhin wurde der Junge sofort wieder krank. Er konnte jetzt nur durch das Gebet der Mönche geheilt werden'.

Die Krankheit wird in dieser Geschichte auf das Wirken des Teufels oder, wie es bei Gregor sonst oft heißt, auf das Wirken eines Dämons zurückgeführt. Eine Gesundung tritt ein, sobald der Dämon vertrieben wird. Diese Erklärung von Krankheiten war sehr verbreitet. Sie stützt sich auch auf das Neue Testament'.

' Gregor der Große, Dialoge, hrsg. von Umberto Moricca, in: Fonti per la storia d'Italia 57 (1924) III 33, S. 209f. - In der Literatur werden die Kranken des Mittelalters" oft nach den Quellen charakterisiert, die seit dem 11. Jahrhundert entstanden: Heinrich Schipperges, Der Garten der Gesundheit. Medizin im Mittelalter, München, Zürich 1985, S. 13 ff.; doch seit jener Zeit werden Krankheiten aus den in der Natur - in den Elementen - liegenden Kräften abgeleitet: Wolfgang Stürner (Hrsg. ), Urso von Salerno, De commixtionibus elementorum libellus, Stuttgart 1976, S. 26 ff. Zu dieser neuen Verbindung von Elementen und Kräften, die einer Wahrnehmungsweise entspricht, bei der Veränderungen nicht auf einen unmittelbaren Eingriff Gottes zurückgeführt werden müssen: August Nitschke, Naturerkenntnis und politisches Handeln im Mittelalter. Körper - Bewegung - Raum, Stuttgart 1967, S. 79ff. - Zur Behandlung der Kranken im oströmischen Reich: Charles Lichtenthaeler, Geschichte der Medizin, 3. Aufl., Köln 1982, S. 237ff. ' Klaus Berger, Historische Psychologie des Neuen Testamentes, Stuttgart 1991. Die Dämonen im Neuen Testament haben eine Fähigkeit, die später - bei den Krankengeschichten - nicht mehr erwähnt wird: Sie - und zu dem damaligen Zeitpunkt: nur sie - erkennen, daß Jesus der

�Sohn des

Höchsten Gottes" ist (Markus 5,7; 1,24; 3,11 f. ): Albert Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu- Forschung, 5. Aufl., Tübingen 1933, S. 399ff. -In Gregor von Tours' Berichten können Dämonen im

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Kranke als Zeugen einer Epoche

Da im Johannes-Evangelium (Joh. 5,14) auch noch ein Zusammenhang zwi- schen Sünde und Krankheit angedeutet wird, verbanden die Christen die Vor- stellung, daß Krankheit Folge der Sünde sei, mit der anderen Vorstellung, daß Krankheiten von Dämonen hervorgerufen würden. So haben sich unter den Griechen Origines und unter Lateinern Augustin, Tertullian, Cyprian und an- dere geäußert'.

Diese Deutung der Krankheit war Gregor I. vertraut. Doch er nutzte sie selten. So sagte er in der gerade erzählten Geschichte nicht, daß der kranke Junge irgendeinen Fehler begangen habe. Von einer Sünde ist nicht die Rede. Noch merkwürdiger ist der Rückfall in die Krankheit. Dieser hat nichts mit dem Jungen zu tun. Der Junge wird vielmehr erneut krank, weil der Abt, der ihn geheilt hatte, zu selbstherrlich auftritt. Gregor ist offenkundig an dem Geschick des armen Jungen, der nach seiner eigenen Schilderung unter entsetzlichen Schmerzen litt, nicht interessiert. Ihn kümmert es auch nicht, daß sich die Ungeschicklichkeit des Abtes so verhängnisvoll auf den gerade erst geheilten Kranken auswirkt. Diese etwas überraschende Gleichgültigkeit gegenüber je- nem, der ohne eigene Schuld in ein Verhängnis geriet, bedarf der Erklärung. - Zum besseren Verständnis noch eine andere Geschichte.

Gregor der Große erzählt, daß der Bischof Fortunatus von Todi einen Kran- ken geheilt habe, und zwar einen Besessenen, indem er aus ihm einen �unreinen Geist" vertrieb. Dieser nahm nun die Gestalt eines Menschen an und ging als Fremder durch die Straßen der Stadt und beschwerte sich laut rufend über den Bischof:

�Seht, was hat er getan! Er hat einen Fremdling aus seiner Herberge vertrieben. Ich suche einen Ruheplatz und finde keinen in dieser Stadt. " Ein Mann, der mit Frau und Sohn in seiner Wohnung am Herd saß, lud ihn daraufhin als Gastfreund ein. Sie unterhielten sich. Da fuhr der böse Geist in seinen Sohn und trieb ihn in das brennende Feuer des Herdes, so daß er starb,.

Wieder ist Mehreres sehr eigentümlich. Was ist mit der Heilung eines Kranken

- durch den Bischof - gewonnen, wenn diese zur Folge hat, daß der Geist, der die Krankheit verursachte, nun ein unschuldiges Kind dazu veranlaßt, sich ins Feuer zu stürzen? Gregor erörtert, warum ein Mann, der Gastfreundschaft ausübte, seinen Sohn verlor, und bringt dafür eine Reihe von Gründen, die darauf hinauslaufen, daß der Mann wahrscheinlich gar nicht aus Liebe zu dem

Besessenen allerdings das unbekannte Grab eines Heiligen entdecken: Gregor von Tours, De gloria confessorum, c. 21, in: ders., Libri miraculorum 2, hrsg. von H. L. Bordier, Paris 1860, S. 38. Trüb nimmt - zu unrecht - an, daß Wunder erst seit der Karolingerzeit für die Heilung eines Kranken wichtig werden: C. L. Paul Trüb, Heilige und Krankheit, Stuttgart 1978, S. 143 ff. ' Trüb (wie Anm. 2) S. 13 ff.; Martin Honecker, Christus medicus, in: Peter Wunderli (Hrsg. ), Der kranke Mensch in Mittelalter und Renaissance, Düsseldorf 1986, S. 35 ff.; auch im Hohen und Späten Mittelalter ist der Zusammenhang zwischen Erkrankung und Sünde nicht selbstverständlich: Rudolf Hiestand, Kranker König - kranker Bauer, in: Wunderli S. 76 f.: Anette Niederhellmann, Arzt und Heilkunde in den frühmittelalterlichen Leges, Berlin, New York, S. 47ff. mit weiteren Belegen. ' Gregor, Dialoge (wie Anm. 1) 110, S. 60ff.

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August Nitschke

Fremden so gehandelt habe. Wie dem auch sei, wenn der Mann, der den Fremden einlud, schuldig geworden sein sollte - dies nimmt Gregor an -, dann läßt sich daraus doch nicht ableiten, daß der Sohn dieses Mannes in den Tod getrieben wird. - Wieder eine ähnliche Situation: Gregor hat keinerlei Mit- empfinden für die Personen, die wirklich zu leiden haben.

Diese uns sehr befremdende Einstellung zu Kranken ist in jener Zeit keines- wegs nur bei Gregor anzutreffen. Von Zeitgenossen Gregors berichten deren Lebensbeschreibungen, selbst wenn sie in späterer Zeit - im B. und 9. Jahrhun- dert - aufgezeichnet wurden, Ähnliches: Der irische Abt Columban wurde auf seinen Wanderungen durch Frankreich, Süddeutschland und Italien von Mön- chen begleitet. Unter diesen befand sich am Anfang Gallus. Als Columban sich mit seinen Anhängern am Bodensee in der Nähe von Bregenz aufhielt, wurde Gallus schwer krank. Das Fieber schwächte ihn so, daß er nicht mit Columban weiterziehen konnte. Dieser sagte daraufhin zu ihm:

�Wenn Du meine Mühen nicht teilen willst, wirst Du zu meinen Lebzeiten die Messe nicht feiern. " Dann ließ er ihn, den Hochfiebrigen, unversorgt zurück. Bereits diese Art, mit Kran- ken umzugehen, wundert uns. Wir erwarten sie nicht von einem Christen, schon gar nicht von einem Abt, der schon zu Lebzeiten von seinen Bewunderern für einen Heiligen gehalten wurde. - Nun, den kranken Gallus pflegten zwei Kleriker, und er wurde, wie sein Biograph meinte, �durch

die Gunst Christi" wieder gesund. Ihm selber widerfuhr später folgendes:

Gallus hatte durch seine Gebete Dämonen vertrieben. Einer von diesen ergriff nun in Überlingen Fridiburga, die Tochter des Herzogs Cunzo, so daß diese erkrankte, nichts aß und sich mit Schaum vor dem Mund auf dem Boden wälzte. Der Herzog ließ daraufhin Gallus, den er verbannt hatte und der sich schon an einen anderen Ort begeben hatte, zurückholen, damit dieser den Geist aus seiner Tochter austreibe. - Wieder versetzt uns die Erzählung in eine ähnliche Situa- tion: Ein Mädchen wird krank. Wir hören nicht, daß es einen Fehler begangen hätte, sündig nach den Vorstellungen der Christen geworden sei. Wir erfahren nur, daß es von einem Geist ergriffen wurde, den Gallus bei seinen Geistaus- treibungen - zuletzt in Bregenz - weiterziehen ließ. Gallus verursachte somit die Krankheit des Kindes, das völlig unschuldig in die Ereignisse hineingezogen wurde, die für das Mädchen qualvolle Folgen hatten. Weder Gallus, der die Ereignisse in Gang gebracht hatte, noch der Herzog, der Gallus zuvor schlecht behandelte, mußten die Schmerzen spüren'.

Diese Vorstellungen über Krankheiten verbreitete Sulpicius Severus sehr früh schon, am Ende des 4. Jahrhunderts, im Abendland. In seinen Schriften be- kämpft der von ihm hochgeschätzte Martin von Tours Krankheiten dadurch, daß er Dämonen austreibt. Sulpicius ist etwas mehr als die bisher geschilderten

' Wetti, Vita S. Galli c. 9,16,18,28, in: Monumenta Gcrmaniae Historica (= MGH), Script. rcrum Merowing. 4, S. 261,265,266,268.

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Kranke als Zeugen einer Epoche

Autoren an einzelnen Kranken interessiert6, selbst an den Schmerzen kranker Tiere', doch auch er berichtet von Ereignissen, in denen ihm wichtiger als der Kranke eine andere Person ist. Der Proconsul Taetradius hatte einen kranken, von einem Dämonen besessenen Sklaven. Taetradius bat Martin, den Kranken durch Handauflegung zu heilen. Martin forderte, man soll den Kranken bringen. Dieser weigerte sich jedoch, sein Zimmer im Haus von Taetradius zu verlassen. Nun war Taetradius kein Christ. Martin erklärte jetzt, er ginge nicht in das Haus eines Heiden. Erst als Taetradius versprach, sich nach der Gesundung des Sklaven taufen zu lassen, betrat Martin die Wohnung und heilte den Sklaven8. Martin war somit das Verhalten des Proconsuls wichtig - und nicht das Leiden des Kranken.

Betrachtet man diese Berichte aus dem Aspekt der Kranken, so mußte jede dieser Personen sich sagen: Meine Krankheit hat möglicherweise mit meiner Person nichts zu tun. Ich habe nichts gemacht, was eine Krankheit zur Folge haben könnte. Vielmehr steht es so: Weil mein Herr sich nicht zum christlichen Glauben bekennt, soll ich nicht geheilt werden. Oder: Weil irgendwelche Per- sonen bei anderen Menschen Dämonen vertrieben und weil diese sich von wieder anderen Menschen gekränkt fühlten, wurde ich krank. - So mußte jeder, der diese Geschichten hörte, reagieren. Der Junge, der, von einem bösen Geist getrieben, sich ins Feuer stürzte, konnte gegen sein Geschick nichts mehr tun. Er starb. - Der Junge, der, schon geheilt, erneut krank wurde, konnte ebenfalls dagegen von sich aus nichts unternehmen. Sein Glück war, daß Mönche für ihn beteten und daß diese Gebete wirkten. Er konnte nicht einmal ahnen, warum ein Rückfall ihn erneut krank werden ließ. - Auch die Tochter des Herzogs wußte nicht, warum sie krank geworden war, und konnte infolgedessen nichts tun, um wieder gesund zu werden.

Das Eigentümliche bei dieser Art, das Entstehen von Krankheiten zu be- schreiben, ist, daß zwar nach Ursache und Wirkung gefragt wird - es sind ja Dämonen, die Krankheiten hervorrufen -, doch der Kranke selber verursacht sein Leiden nicht. \Vir kennen ähnliche Deutungen von Krankheiten aus dem frühen Griechentum. Als Agamemnon die Bitte des Apollonpriesters Chryses, ihm die Tochter zurückzugeben, nicht erfüllt, da ließ Apollon nach dem Bericht Homers

�im Heer eine Seuche entstehen". Neun Tage lang litten die Griechen unter dieser Krankheit, �und

immer brannten zuhauf die Feuer der Toten". Doch alle, die so krank wurden, und auch die, die an den Folgen dieser Krank- heit starben, waren unschuldig. Der einzig Schuldige, Agamemnon, wurde nicht

` Sulpicius Severus, \ ita S. Martini c. 6 ff., in: ders., Libriqui supersunt, hrsg. von Carolus Halm, in: Corpus scriptorum ecclesiasticorum Latinorum 1, \\rien 1866, S. 125 ff.; ders., Dialogus 112, in: ebd. S. 200. ' Sulpicius, Dialogus (wie Anm. 6) 19, S. 190 f. ' Sulpicius, \ rita (wie Anm. 6) c. 17, S. 126.

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August Nitschke

krank9. So ist eine gewisse Ähnlichkeit zwischen der Beurteilung der Kranken im frühen Griechentum und der Kranken in der späten Völkerwanderungszeit, in der Zeit um 600 nach Christi Geburt, zu beobachten. Freilich: In den Jahrhunderten dazwischen - von Hippokrates bis Galen - hatten die Griechen und Römer entweder eine an Körpersäften und am Klima - und somit an natürlichen Kräften - orientierte Auffassung von Krankheiten10, oder sie hofften, an heiligen Orten schlafend, auf die Hilfe des sie heilenden Gottes Asklepios, der ihnen im Traum erscheinen konnte". Selbst einige Christen über- nahmen in der Spätantike diese Vorstellungen des Asklepios-Kultes. So wurde von den christlichen Ärzten Kosmas und Damian erzählt, sie hätten, ohne dafür Geld zu fordern, den Kranken durch einen Heilschlaf, der mit Traumerschei- nungen verbunden war, geholfen12. - Mit anderen Worten: Von dem Krankheits- verständnis Homers waren in diesen Jahrhunderten Heiden wie Christen weit entfernt.

Wenn nun zur Zeit Gregors des Großen - nach der Gründung der Germa- nenreiche auf römischem Boden hatte sich auch die Zusammensetzung der dort lebenden Bevölkerung verändert -wieder ähnliche Interpretationen von Krank- heiten wie bei Homer zu beobachten sind, so war dies den Christen im 6. Jahr- hundert nicht bewußt. (Auf die Tatsache, daß bei ihnen die Krankheiten von Dämonen ausgingen, bei den Griechen jedoch von Göttern, achteten sie schon gar nicht. ) Wohl aber war ihnen klar, daß sich ihre Interpretation gegen das

�naturwissenschaftliche" Erklärungsmodell der Griechen und Römer - gegen Hippokrates und Galen - wandte. Das bezeugt am entschiedensten Gregor von Tours.

Gregor von Tours spricht oft von Krankheiten. �An

inneren Krankheiten werden genannt Magenübel, Brechreiz, Darmblutungen, - auch Gelenkrheuma- tismus scheint vorgekommen zu sein. "" Diese sind für ihn von Dämonen ver-

Homer, Ilias 1 10 ff. 10 Paul Diepgen, Geschichte der Medizin 1, Berlin 1949, S. 81 ff.; Anastassia Elephtheriadis, Die Struktur der hippokratischen Theorie der Medizin, Frankfurt/M., Bern, New York, Paris 1991, S. 32 ff. 1' Diepgen (wie Anm. 10) S. 138 ff.; Helmut Siefert, Inkubation, Imagination und Kommunikation im antiken Asklepioskult, in: Hanscarl Leuner (Hrsg. ), Kathatymes Bilderleben, Bern, Stuttgart, Wien 1980, S. 324ff. N Ludwig Deubner, Kosmas und Damian. Texte und Einleitung, Leipzig, Berlin 1907; Anneliese Wittmann, Kosmas und Damian. Kultausbreitung und Volksdevotion, Berlin 1967; Gerhard Ficht- ner, Das verpflanzte Mohrenbein. - Zur Interpretation der Kosmas- und Damian-Legende, in: Gerhard Baader, Gundolf Keil (Hrsg. ), Medizin im mittelalterlichen Abendland, Darmstadt 1982, S. 318; Diepgen (wie Anm. 10) S. 173; Siefert (wie Anm. 11) S. 342ff.; R. Zieger, Kulte, Agone und städtisches Leben in der römischen Kaiserzeit, in: Deutscher Historikertag 40,1994 Leipzig, Leipzig 1994, S. 49. " Carl Albrecht Bernoulli, Die Heiligen der Merowinger, Tübingen, Freiburg, Leipzig 1900, S. 294; Krankheit als �Teufelswerk": ebd. S. 327ff.; Heilige und Dämonen in beständiger Fehde" um den

�Besitz von Natur und Menschenwelt": ebd. S. 328 if.

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Kranke als Zeugen einer Epoche

ursacht, und er bekämpft sie - wie Gregor der Große - mit Hilfe der Heiligen. Er setzt sich dabei ausdrücklich mit der antiken Medizin der letzten Jahrhunderte auseinander. Er belehrt sogar die naturwissenschaftlich vorgehenden Ärzte. So ließ er sich - zwei Jahre nach seiner Weihe zum Bischof - zuerst, als er von einem hartnäckigen Durchfall verbunden mit hohem Fieber gequält wurde, von einem Arzt Armentarius behandeln. Er nahm schon keine Nahrung mehr zu sich und litt unter heftigsten Schmerzen. Seine Freunde rechneten mit seinem Tod und bereiteten bereits das Begräbnis vor. Da rief Gregor, so erzählt er selber, seinen Arzt zu sich und sagte zu ihm:

�Du hast alle Fähigkeiten Deiner Kunst ange-

wandt; Du hast die Kraft aller Deiner Salben bemüht; aber nichts nutzt einem Todkranken ein Mittel der der Zeit unterworfenen Welt. Es bleibt, was ich tun werde. Ich werde Dir ein Heilmittel zeigen: Nimm Erde vom hochheiligen Grab des Herrn Martin und bereite mir daraus einen Trank. " Der Arzt gehorchte, und die Genesung - so berichtet Gregor - trat sofort ein'{.

Hier wird - gegen die Lehren der naturwissenschaftlich orientierten antiken Medizin - eine Therapie angewandt, die auf einem damals neuen Verständnis des Menschen beruht: Der Mensch ist das Feld, auf dem Heilige und Dämonen - hinter denen Gott und der Teufel stehen - ihre Kämpfe austragen.

\Vir können somit aufgrund der Ähnlichkeit der Krankheitsschilderungen vermuten, daß es sich wie bei Homer auch in der späten Völkerwanderungszeit um ein Krankheitsverständnis handelt, das in bestimmten Gesellschaften oder in bestimmten Epochen einer Gesellschaft verbreitet war. Wir stellen noch einmal zusammen, was dafür spricht, daß das Bild von der Krankheit - zumindest in der Zeit Gregors des Großen und Gregors von Tours - gesellschafts- und epochen- typisch war. " Die Schilderungen von Krankheiten ähneln zwar Formulierungen des Neuen

Testamentes - so werden Krankheiten wie im Neuen Testament von Dämo- nen verursacht -, doch sie erwähnen nur selten die sonst sehr verbreitete Vorstellung, daß die Krankheit den Menschen treffe, der sündig wurde15.

" Es gab unter den Christen in der Antike auch andere - am Asklepios-Kult orientierte - Interpretationen von Krankheiten. Diese wurden nicht über- nommen.

" Wir finden die Vorstellung, daß Krankheiten durch Dämonen verursacht worden, zur selben Zeit auch bei den noch nicht zum Christentum bekehrten

germanischen Stämmen, - mit ähnlichen Hinweisen zur Therapie". Diese sind somit nicht von der christlichen Religion geprägt.

" Gregor von Tours, De virtutibus sancti Martini 11 1, in: ders., Libri 2 (wie Anm. 2) S. 94. ' Einige Kranke, die zuvor sündigten, nennt Bernoulli (wie Anm. 13) S. 320 f. � Herbert Reier, Heilkunde im mittelalterlichen Skandinavien. Seelenvorstellungen im Altnordi- schen 1, Kiel 1976, S. 41 ff., 55 ff.

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August Nitschke

Unsere Aufgabe wird es nun sein zu untersuchen, ob diese in der damaligen Gesellschaft verbreiteten �Vorstellungen" aus einem theoretischen Konzept entwickelt wurden oder ob sie auf Erfahrungen einzelner Personen beruhten, die diese möglicherweise verallgemeinerten. Dafür wollen wir die uns über- lieferten Aussagen über die Entstehung und Heilung von Krankheiten noch genauer mit denen des Neuen Testamentes vergleichen.

Zu dem schon genannten Bischof Fortunatus von Todi kam, wie Papst Gregor berichtet, einmal ein Blinder. Dieser bat den Bischof, er solle ihm durch sein Gebet helfen. Der Bischof betete und machte dann auf den Augen des Erkrank- ten das Zeichen eines Kreuzes. Sofort konnte dieser wieder sehen. - Ein Sol- datenpferd, das wütete und alle biß, wurde gebunden vor den Bischof gebracht. Dieser zeichnete mit ausgestreckter Hand auf dem Kopf des Tieres das Kreuz, und danach verwandelte sich dessen Wut in Sanftmut". - Gregor von Tours kann berichten, daß ein Fieberkranker mit Schüttelfrost bereits Erde vom Grabe Martins geschluckt hatte - ohne Erfolg - und erst durch das Schlagen des Kreuzzeichens geheilt wurde16. (Freilich ist für Gregor selber, wir hörten es, die Erde vom Grabe Martins - in Wasser angerührt - immer noch wirkungs- voller als die Medikamente seines Arztes". )

Diese Formen, einen Kranken dadurch zu heilen, daß über ihm das Kreuzzei- chen geschlagen wird, sind im Neuen Testament nicht bekannt. Auch für den Beginn einer Erkrankung ist das Schlagen des Kreuzes von Bedeutung: Eine Nonne ging im Garten spazieren. Da sah sie eine Salatstaude, und es ergriff sie ein solches Verlangen nach dem Salat, daß sie, ohne das Kreuzzeichen zu schlagen, in die Blätter biß. Sie wurde sofort krank, fiel zu Boden und litt unter Schmerzen. Die Nonnen benachrichtigten daraufhin einen Abt Equitius. Als er den Garten betrat, schrie ein Geist durch den Mund der Nonne:

�Was habe ich

getan? Ich saß ruhig auf der Salatstaude. Sie kam und hat mich gebissen. " - Nun, Equitius vertrieb ihn20.

Bei diesen Heilungen kann außer dem Kreuzzeichen auch die Berührung wichtig sein. Von ihr wird im Markus-Evangelium berichtet: Jesus heilte einen Blinden, indem er seine Hände auf die Augen des Kranken legte (Markus 8,22 ff. ). Jesus sagte freilich, daß nicht der Körperkontakt, sondern der Glaube ein Heilung möglich macht (Matthäus 8,10; 17,16ff. ). Doch unter den Christen verschiebt sich - schon vor Gregor - der Akzent. So berichtet Sulpicius Severus von mancherlei Kontaktübertragungen. Von den Christen, die als Heilige ver- ehrt wurden, geht nach seinen Erzählungen nicht nur zu ihren Lebzeiten, sondern auch nach dem Tode eine heilende \X'irkung aus, nun freilich nur von ihrem Körper. Wer diesen berührt, kann gesund werden. Dieser Körper kann

" Gregor, Dialoge (wie Anm. 1) 110, S. 62. Gregor von Tours, De virtutibus sancti Martini (wie Anm. 14) IV 37, S. 322.

" Gregor von Tours, De virtutibus (wie Anm. 14) 11 1, S. 94; vgl. I 37 f., S. 84 ff. '0 Gregor, Dialoge (wie Anm. 1) 14, S. 31.

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Kranke als Zeugen einer Epoche

jedoch seine heilende Kraft auch auf Sachen übertragen, wenn diese Kontakt zu ihm hatten. So erzählt Sulpicius: Kranke wickelten sich Stoffetzen von Martins Bettuch oder Kleidern um den Finger oder um den Hals und wurden so gesund21. - Diese Sicht der Wirklichkeit, die den Germanen nicht fremd war22, verbreitete sich und blieb als Reliquienkult erhalten23.

Damit haben wir bereits so viele Zeugnisse uns vergegenwärtigt, daß erkenn- bar wird: Die Krankheitsvorstellungen dieser Männer gehören zu ihrer Art, sich und ihre Umgebung wahrzunehmen. Überall

- in Personen, Tieren und auch in Pflanzen - wirken Dämonen. Überall treten auch Gegner der Dämonen auf, die die Fähigkeit haben, diese zu vertreiben. Sie geben ihre Kräfte durch Berührun- gen weiter und bekämpfen ihre Gegner durch Handbewegungen, die Zeichen setzen. So muß sich für jeden Menschen die Frage stellen, ob er Anschluß an die Gruppe gefunden hat, die Dämonen zu verjagen vermag. Auch davon berichtet Gregor.

Eine junge Ehefrau konnte sich eine Nacht vor dem Kirchenbesuch, von der Liebe überwältigt, �ihres Mannes nicht enthalten". Dies war nach römischem Brauch nicht gestattet, doch die Frau scheute sich, ihren Fehler einzugestehen, und ging mit ihrer Schwiegermutter zur Kirche, die gerade eingeweiht wurde. Sobald die Reliquien in die Kirche gebracht worden waren, ergriff der böse Geist die junge Ehefrau, so daß sie unter Qualen schrie. Ein Priester nun dachte, er könne den Geist bekämpfen, und nahm die Leinendecke vom Altar und legte sie über die Frau. Daraufhin fuhr der Teufel auch in ihn. Er hatte etwas tun wollen, was, wie Gregor sagt, über seine Kräfte ging, und mußte nun in der

�eigenen Pein erkennen, was er in Wirklichkeit sei"2+. Nicht jeder Christ ist imstande, wie so zu erfahren ist, in diesem Kampf zu siegen. - Wer - so ist jetzt zu untersuchen - vermag Dämonen zu überwinden-und so auch gelegentlich Kranke zu heilen? Wir kommen somit zu der Frage, ob die Vorstellungen vom Wirken Gottes und seiner Heiligen und vom Wirken der Dämonen auf Erfahrungen einzelner Personen beruhten.

Über die Wandlungen, denen siegreiche Dämonenbekämpfer unterworfen sind, berichtet Gregor unabhängig von den Krankheits- und Wundergeschich- ten. So erwähnt er in einem Brief, daß er selber eine Zeitlang unter dem Einfluß von Dämonen gestanden habe und daß diese verjagt worden seien. �Nachdem eine Schar von Dämonen von mir vertrieben worden war, wollte ich vergessen,

` Sulpicius Severus, Dialogus (wie Anm. 6) 11 8, S. 190; ders., Vita c. 18, ebd. S. 127. Zu den Namen der Krankheiten s. Gerhard Baader, Die Entwicklung der medizinischen Fachsprache in der Antike und im frühen Mittelalter, in: ders., Keil (wie Anm. 12) S. 431 ff. u Wilhelm Grünbech; Kultur und Religion der Germanen 1, Darmstadt 1954, S. 135ff.; Frantisek Graus, Volk, Herrscher und Heilige im Reich der Merowinger, Prag 1965. ' Bernoulli (wie Anm. 13) S. 238ff. " Gregor, Dialoge (wie Anm. 1) 110, S. 59.

223

August Alitschke

was ich wußte, und nur zu den Füßen des Heilandes ruhen. "21 Diese Wendung zu Gott hat für ihn Folgen. Gott verleiht ihm - wie allen Christen, die sich so Gott nähern -, wenn sie erschöpft zum �Schoß

der Betrachtung rennen", besondere Fähigkeiten. Es wird in ihnen

�die Flamme eines Brandes" erneut

entfacht. Dank dieses Brandes geben sie etwas weiter- etwa in einer Predigt, die

strömend �fließt"26. Was Gott dabei in den Christen an Aktivität weckt, läßt

diese predigen und Wunder tun. Diese treten wie Blitze aus den Wolken hervor. Die Christen

�zucken dann mit Wundern und regnen mit Worten". Diese

wenden sich dabei gegen Personen, die Gott angreifen. So werden die Herzen ihrer Widersacher - und das sind Gottes Widersacher - �durch

die Blitze der Wunder verwirrt". Auch

�gleichen die Predigten Wurfspeeren, mit denen die

Gegner vernichtet werden"27. So lernen wir bei Gregor dem Großen eine Erfahrung kennen, die uns einen

Zugang zu dieser eigentümlichen Sicht der \Velt ermöglicht. Dieser Papst hat

sich selbstverständlich auch mit den überlieferten theologischen Theorien aus- einandergesetzt und von diesen, was ihm angemessen schien, übernommen. Doch 'er maß diese an einer persönlichen Erfahrung und deutete sie von dieser. Zu dieser Erfahrung kam er, da er sich an einem Handeln orientierte, das ihn

erschöpfte. Und in diesem Zustand des Mattwerdens erfuhr er, daß eine Zuwen- dung zu dem Gott, dessen Handeln im Alten und Neuen Testament bezeugt ist, ihn in eine neue Aktivität versetzte. Dabei erfuhr er, daß Gott sich in einem Kampf gegen Feinde befand und daß er ihn in diesem Kampf einsetzte und dafür

stärkte, wobei Gott ihn gegen seine Widersacher predigen und Wunder tun ließ. Diese Erfahrung, von Gott bewegt zu werden, prägte Gregors Wahrnehmung.

(Sie ist übrigens nicht neutestamentlich. Nirgends wird im Neuen Testament

gesagt, daß der Gläubige sich Gott zuwendet und dann von diesem wie ein Feuer entfacht wird, um Gegner zu verwirren und mit Wurfspeeren zu vernichten. ) Überall sahen diese Christen der späten Völkerwanderungszeit, die wir zitierten, wie Gregor zwei Mächte handeln: den Teufel mit seinen Dämonen und Gott mit seinen Heiligen. Diese Mächte befanden sich ständig im Kampf. Alles, was geschah, spiegelte eine Phase dieses Kampfes wider. In diesen Kampf wurden kranke Menschen mit einbezogen; doch den Kampf beschrieben Päpste, Bischö- fe und andere Chronisten - und nicht die Leiden eines Kranken.

Es muß sich dabei um Erfahrungen gehandelt haben, die die Menschen in den Gesellschaften jener Epochen gewinnen konnten; denn auch die heidnischen

Gregor, Registrum I3 ff.; in: MGH. Epistolae 1, S. 3 ff. 'b Gregor, Moralia in Iob XXX 2,8, hrsg. von Marcus Adriaen, in: Corpus Christianorum, Ser. Lat. 143 B, Turnholt 1985, S. 1495 f. _' Ebd. XXX 2,6, S. 1494. Diese Erfahrung war für Gregor so zentral, daß sie auch sein Haltung zu Mission und Krieg beeinflußte: August Nitschke, Vom Verteidigungskrieg zur militärischen Expan- sion: Rechtfertigung der Kriege beim Wandel der Wahrnehmungsweise, in: Heinrich von Stietcn- cron, Jürgen Rüpke (Hrsg. ), Töten im Krieg, Freiburg, München 1995, S. 261 ff.

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Kranke als Zeugen einer Epoche

Germanen deuten die Welt sehr ähnlich. So bekriegten Odin und die anderen Götter die Mächte der Nacht und der Finsternis. An diesen Kämpfen nahmen die germanischen Krieger teil. Sie meinten, auf der Seite ihres Gottes oder ihrer Göttin gegen die Unholde, die Nachtgestalten, die Lindwürmer und Drachen zu ziehen. Bei diesen Kämpfen wurden sie von ihren Göttinnen und Göttern unter- stützt und sie setzten sich nach dem Tode fort: Von Walhalla aus ritten die Krieger mit Odin erneut in die Schlacht2s.

Selbstverständlich bleiben Unterschiede bestehen. Und diese sind nicht ge- ring. Grendel und seine Mutter, von Beowulf bekämpft, gleichen nicht dem Teufel und den Dämonen, von denen die Christen sprechen. Auch handelt Beowulf, der sich mit Gold, dem Metall der Sonne umgibt, nicht wie ein Heiliger Gregors des Großen, selbst wenn dieser Dämonen vertreibt29. Doch die Grund- struktur ihrer Wirklichkeiten ist ähnlich: " Jeder Mensch kann von einer der beiden Mächte ergriffen werden, die ihn

gegen die andere Macht handeln läßt. " Diese beiden Mächte sind entgegengesetzter Natur und bekämpfen sich

gegenseitig. " Eine dieser Mächte bringt Krankheiten, die andere läßt gesunden. (Ihre

Widersacher kann sie gelegentlich freilich auch erkranken lassen30. ) " Für die Menschen sind nicht die Schmerzen eines Erkrankten bedeutungsvoll,

sondern die Situation, in der sich die kämpfenden Mächte befinden. " Die einzelne Person ist daran interessiert, mit den Wesen in Verbindung zu

kommen, die es ihr ermöglichen, an diesem Kampf auf der richtigen Seite teilzunehmen.

Wenige Jahrhunderte später - im B. und 9. Jahrhundert - haben wir erneut Berichte über Kranke und Krankheiten. Soweit sie von der gerade beschriebenen Sicht abweichen - und nur auf diese Texte wollen wir jetzt achten - haben sie einen recht anderen Charakter.

Karl der Große spricht auch in offiziellen Schriftstücken, in Rundschreiben und in Gesetzen, in den sogenannten Kapitularien, gelegentlich von Krankhei- ten. In einem dieser Schreiben hebt er hervor,

�daß derzeit allerorten der Boden

ungewöhnlich unfruchtbar ist, ...

daß außerdem Unwetter der Feldfrucht arg zusetzen und daß Seuchen umgehen". Ihn beunruhigen diese Seuchen. Dies läßt ihn eine Bitte aussprechen: �Deshalb scheint es uns durchaus gut, daß jeder von

" August Nitschke, Die ungleichen Tiere der Sonne. Verhaltensformen und Verhaltenswandel germanischer Stämme, in: ders., Fremde \\rirklichkeiten I, Politik, Verfassung und Recht im Mittel- alter, Goldbach 1995, S. 42 ff. n August Nitschke, Die Mutigen in einem System. Wechselwirkungen zwischen Mensch und Umwelt, Köln, Weimar, \\ ien 1991, S. 93 ff. " Die Mißachtung eines Heiligen kann schmerzhafte Krankheiten zur Folge haben, etwa Wetti, Vita c. 35 (wie Anm. 5) S. 277.

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August Nitschke

uns sein Herz aufrichtig zu demütigen trachte und sich durch Buße reinige"". In diesem Text ist nicht von einem Kampf zwischen Gott und den Dämonen die Rede. Krankheiten wie auch die anderen Mißgeschicke werden statt dessen mit dem eigenen Verhalten in einen Zusammenhang gebracht und zwar mit eigenen Fehlern; denn sonst wäre keine Buße notwendig.

Im Jahre 811 verschickte Karl zusammen mit den Bischöfen ein Schreiben. In diesem stand: �Wenn wir Christus und den Aposteln

... nachfolgen wollen, müssen wir uns in vielen Dingen anders als bisher verhalten, müssen wir viele unserer Gebräuche und Gewohnheiten aufgeben und vieles tun, was wir bisher

nicht getan haben. "32 Das eigene Verhalten gilt es zu überprüfen. Doch - und das ist überraschend -, Karl ist sich nicht sicher, was am eigenen Verhalten geändert werden soll. Er ordnet deswegen ein dreitägiges Fasten an, �um

Gott zu bitten, daß er uns zeigen möge, in welcher Weise unser Verhalten ihm gegenüber ge- bessert werden müsse"33.

Alle diese Äußerungen zeugen von einer Bindung an Gott; in dieser Hinsicht unterscheiden sie sich nicht von den Stellungnahmen des 5. und 6. Jahrhunderts. Auch die Krankheiten werden wie früher mit Gott in einen Zusammenhang

gebracht. Nur wird der Mensch viel selbständiger gesehen. Es ist nicht von Heiligen die Rede, die mit Gottes Zeichen Dämonen bekämpfen. Statt dessen

scheinen die Menschen für ihre Fehler selbst verantwortlich zu sein. So suchen sie zu erkennen, was für Fehler sie begangen haben; die Fehler hängen dabei

offensichtlich mit dem Verhalten der Menschen Gott gegenüber zusammen. Allerdings scheint es keine klaren Gebote, keine festen Regeln zu geben, sonst müßte man nicht fastend zu erkennen suchen, wogegen man denn verstoßen hatte.

Das Verhalten orientiert sich somit offensichtlich nicht allein an einem Maß- stab, der sich in einer Tugendlehre fassen ließe. Es scheint Karl auch nicht um Verstöße gegen mündlich oder schriftlich formuliertes Recht zu gehen. \V/enn Gott, soviel ist nur sicher, Krankheiten schickt, muß die Beziehung zwischen ihm und den Menschen in irgendeiner Weise von den Menschen gestört worden sein. Gott muß an einer Handlung Anstoß genommen haben. Wie ist das kon- kret vorzustellen?

Folgen wir den Berichten jener Zeit über die Entstehung und den Ablauf von Krankheiten. Schon in den Jahren von Karls Großvater wuchs im Reich der Angelsachsen Wynfreth auf, der später während seiner Tätigkeit bei den Franken den Namen Bonifatius erhielt. Dieser hörte im Alter von vier oder fünf Jahren Predigten von Geistlichen, die seinen Vater besuchten. Diese beeindruckten ihn

so, daß er, der junge Wynfreth, seinem Vater erklärte, er habe vor, ins Kloster zu

" MGH. Capitularia 1, Nr. 124, S. 245. " Ebd. Nr. 72, c. 11, S. 164. 33 Ebd. Nr. 72, c. 1, S. 162.

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Kranke als Zeugen einer Epoche

gehen. Der Vater, �entschieden verblüfft, schimpfte ihn heftig aus". Dann drängte er seinen Sohn mit freundlichen Worten, doch lieber für die Menschen zu sorgen, die zu ihrem Hof gehörten und die auf dem Land lebten. Wynfreth jedoch blieb hartnäckig - der Vater allerdings ebenfalls. Im Verlauf dieser Aus- einandersetzung wurde der Vater krank, so schwer, daß er schon in Todesgefahr schwebte. Doch dann, wie der Biograph von Bonifaz erzählt, �legte er die frühere Hartnäckigkeit seines Sinnes ab und ließ den Jungen, nachdem er mit einem Verwandten darüber gesprochen hatte, ins Kloster"34. Willibald, der Be- richterstatter, läßt keinen Zweifel, wie er das Geschehen sah. Die Krankheit kommt nicht, weil ein Dämon den Vater ergriffen hätte. Das wird überhaupt nicht erwogen. Gott hat die Krankheit geschickt. �Nach

dem wunderbaren Willen und der Schickung Gottes" ergriff die Krankheit den Vater35. Gott bringt auf diese Weise einen Mann durch die Krankheit zur Besinnung,

�wie ja immer

das göttliche Erbarmen zu handeln pflegt"36. Dieser, der Vater, erkennt durch die Krankheit, was Gott vorhat. Gott möchte, daß sein Sohn ins Kloster geht, um später, was niemand wissen konnte, ein erfolgreicher Missionar zu werden und das Reich Gottes auszudehnen. - Damit wird verständlicher, um was es Karl dem Großen ging, als er ein Fasten anordnete, um zu erfahren, was Gott an den Franken mißfiel: Gott konnte an Handlungen Anstoß nehmen, die seine Pläne für die Zukunft hinderten. Diese konnten Karl und seine Franken genausowenig wissen wie der Vater von Bonifaz. Sie merkten nur an ihren Krankheiten, daß ihre augenblicklichen Absichten bei Gott keine Billigung fanden.

Die Verbindung zwischen Gott und den Menschen hat somit einen recht anderen Charakter als in der Gesellschaft des 6. Jahrhunderts. Die Menschen

werden nicht mehr in einen Kampf hineingezogen, der zwischen Gott und seinen Widersachern, den Dämonen, stattfindet. Statt dessen gilt die Aufmerk- samkeit der Menschen erst einmal Gott allein. So suchen sie die Pläne zu erkennen, die er vorhat, um diese dann auszuführen. Welcher Art diese Pläne sind, können Menschen nicht sagen. Sie müssen handeln, und wenn sie durch ihre Handlungen sich gegen Gottes Absichten wenden, wenn sie Gottes Willen falsch interpretieren, wird Gott Unglück über sie bringen, bis sie eingesehen haben, welche Handlungen er wünscht. Zu diesem von Gott verhängten Un- glück gehören die Krankheiten. Krankheiten sind somit von Gott geschickt, wenden sich an eine oder an mehrere Personen, die so darauf hingewiesen

werden, daß das, was sie gerade - möglicherweise besten Willens - tun, nicht Gottes Intention entspricht. Der Mensch kann dann sein Handeln ändern und wird so sehen, ob diese seine Entscheidung jetzt in Gottes Sinne war.

Alle älteren Aussagen über die Entstehung und Heilung von Krankheiten

" Willibald, Das Leben des heiligen Bonifatius, c. 1 f., in: Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe 4 b, Darmstadt 1968, S. 460 ff. " Ebd. " Ebd.

227

August Nitschke

werden nun modifiziert. Heilige erhalten eine andere Position. Es geht nicht so sehr darum, ihren Körper oder die Kleidungsstücke, die sie auf dem Körper trugen, zu berühren. Heilige kämpfen auch nicht mehr mit Wundern - wie mit Wurfspeeren - gegen Dämonen. Sie vermitteln statt dessen, bittend, das An- liegen eines Kranken an Gott". Und Gott ist es, der dann heilt". Die Kranken flehen daher Gottes Huld an19. Die Krankheit, die nicht mehr Schlüsse auf das Wirken eines Dämons zu ziehen erlaubt, dessen Handeln mit den Taten des Erkrankten gar nichts zu tun haben mußte, wird vom Kranken nun mit seinem eigenen Verhalten in einen Zusammenhang gebracht. Er kann immer - wie eine Weberin, die ihre Sprache verlor - annehmen, daß er �nach

Gottes verborgenem, aber gerechtem Ratschluß" krank wurde{'.

Krankheiten können bei dieser Sicht durchaus beunruhigen, aber sie müssen die Erkrankten nicht in eine so tiefe Angst versetzen wie die Männer und Frauen, die annahmen, daß Dämonen ihre Krankheiten hervorriefen, die daher fürchten mußten, krank unter dem Einfluß eines Dämons zu stehen. Nun ist die Krankheit für den von ihr Befallenen ein Zeichen dafür, daß Gott sich mit ihm beschäftigt. Einige Personen haben gerade darauf erstaunlich reagiert.

Über den angelsächsischen König sind wir durch dessen Biographen recht zuverlässig informiert. Dieser erzählt folgendes über den König, der später den Beinamen �der

Große" erhielt: �In der Blüte seiner Jugend" habe Alfred sich

morgens heimlich erhoben, um in der Kirche die Reliquien der Heiligen zu besuchen und dort zu beten.

�Dort betete er lang niedergestreckt, daß der

allmächtige Gott in seiner Huld seinen Sinn durch eine Krankheit intensiver bereit zum Dienst für Gott werden ließe. " Der Biograph bemerkt dann, wo- durch sein Bericht an Glaubwürdigkeit noch gewinnt, Alfred habe seinem Gebet den Wunsch hinzugefügt, Gott solle eine Krankheit schicken, die er ertragen könne. Sie dürfe ihn auch nicht unnütz oder unwürdig machen; denn er wolle weiter für seine Aufgaben als Herrscher taugen. Seine Hoffnung sei nur, daß die Krankheit ihn

�völlig zu Gott wende"{'. Selbst wenn diese Geschichte durch den Biographen ausgeschmückt sein

sollte, wäre sie interessant, da der Berichterstatter ja derselben Gesellschaft

angehörte. - Wir haben noch ein anderes Zeugnis, gegen das sich schwer etwas einwenden läßt, weil die Person über sich selber spricht. So schreibt Otloh von Regensburg im 11. Jahrhundert, er habe sich in seiner Jugend Krankheiten regel-

" Ansgar, Miracula W llehadi c. 12, in: MGH. SS. 2, S. 387; vgl. Walafried, Vita Otmari c. 10, in: ebd. S. 45. J8 Ansgar (wie Anm. 37) c. 4,5,6,7, S. 386. 79 Ebd. c. 28, S. 389. 'D Ebd. c. 29, S. 389. Diese Tendenz, Gott als Urheber der Krankheit anzusehen und die Krankheit als ein Zeichen seiner Zuneigung zu deuten, findet sich auch in einem um 800 niedergeschriebenen Dialog: Heinrich Schipperges, Die Kranken im Mittelalter, München 1990 S. 13 ff. 11 Asser's Life of King Alfred, hrsg. Von W. H. Stevenson, Oxford 1959, c. 74, S. 56.

228

Kranke als Zeugen einer Epoche

recht herbeigewünscht. �Ich

habe häufig dies vom Herrn erbeten, daß, wann immer ich eine schwere Sünde heimlich oder öffentlich beging, ich sofort oder nach wenigen Tagen durch die schwere Not einer Krankheit oder Heimsuchung

verfolgt werde. " Er kann auch mitteilen, daß diese seine Bitte in Erfüllung

ging". Er wurde, wenn er nicht den Absichten Gottes entsprechend gehandelt hatte, krank.

Noch etwas anderes fällt auf: Gregor der Große achtete, wenn er sich Gott

zuwandte, auf seine nachlassende Aktivität und auf Gott, der diese wieder stärkte. Seine Aufmerksamkeit richtete sich gewissermaßen auf seine Bewegung,

und er beobachtete, wie diese durch die Nähe Gottes verändert wurde. Nur dies

- und nicht ein Raum - interessierte ihn. - Die Kranken, von denen seit dem 8. Jahrhundert die Rede ist, befanden sich im Unterschied dazu mit anderen Personen - Wynfreth etwa mit seinem Vater - und mit Gott innerhalb eines Raumes. In diesem Raum handelten die Menschen selbständig. Gott reagierte von einem anderen Ort her auf diese Handlungen, die er auf diese Weise hemmte

oder förderte - und keineswegs nur neu in Gang brachte. Diese Geschichten

zeigen, daß sich das Verhältnis der Kranken zum Raum als dem Feld ihrer Handlungen geändert hat.

Interessanterweise haben in diesem Raum die Orte nun auch einen unter- schiedlichen Charakter. Da Gott auf die Bitten von Heiligen hört, verändert er auch die Orte, an denen sie beerdigt werden. So erfährt nach Ansgars Bericht

eine Frau, daß sie dort, wo \Villehad in der Bremer Kirche sein Grab hatte,

geheilt wurde. �Sie merkte, daß an jenem Ort die in Wahrheit von Gott gewährte Wunderkraft des Heiligen in voller Wirksamkeit war. "" Ein Lahmer muß daher in diese Kirche getragen werden". Es ist dieser

�Ort", an dem der Kranke

�Gottes Güte" spürt". Selbst wer sich nur auf dem Weg zu diesem Ort befindet,

kann geheilt werden-. So gehen die Personen, die uns durch die schriftlichen Zeugnisse bekannt

werden - sie gehören meist einer Oberschicht an -, seit dem B. Jahrhundert davon aus, daß sie wie die anderen Männer und Frauen in einem Raum selbstän- dig handeln können, daß jedoch Gott, der sich mit ihnen in diesem Raum befindet, auf diese Handlungen reagiert. Wenn etwas geschieht, das nicht seinen Intentionen entspricht, schickt er Krankheiten. Er ist jedoch auch durch Bitten

von Heiligen zu beeinflussen und läßt dann Kranke erneut gesunden. Ein

" Otloh, Liber visionum, Visio quarta, in: Migne, Patrologia Latina 146, S. 354. " Ansgar, Miracula (wie Anm. 37) c. 36, S. 390. Im Unterschied zu dieser heilenden Wirkung des Ortes wirkte im 6. Jahrhundert der Heilige mit seinem Körper und mit den Dingen, die dieser berührt hatte, wobei er seinen Ort gegen Frevler allerdings ebenfalls verteidigte: Bernoulli (wie Anm. 23) S. 249 ff.; vgl. Gregor von Tours, De virtutibus (wie Anm. 14) S. 17 f. " Ansgar, Miracula (wie Anm. 37) c. 6, S. 356. " Ebd. c. 7, S. 386. 46 Ebd. c. 37, S. 390.

229

August Nitschke

Mensch, der krank wird, und ein Herrscher, in dessen Reich Seuchen auftreten, überprüfen daher ihr bisheriges Verhalten und suchen, um wieder gesund zu werden, dies zu ändern.

Zwischen dem 6. und B. Jahrhundert liegt somit ein tiefer Einschnitt. Die Männer und Frauen, die im 6. und 7. Jahrhundert bei ihren Krankheiten auf Dämonen - und auf Heilige als Vertreter Gottes - achten mußten, wurden in einen Kampf, der zwischen diesen stattfand, hineingezogen, ohne daß diese auf die einzelnen Personen, auf deren Schuld oder Unschuld, Rücksicht nahmen. Im 8. und 9. Jahrhundert hingegen befinden sich Männer und Frauen in einem Raum, in dem sie selbständig handeln müssen. Allerdings reagiert Gott auf ihre Handlungen oder lenkt - durch Krankheiten - ihre Handlungen. Dabei geht er jetzt ausdrücklich auf den einzelnen und auf dessen Taten ein. Dieser Wandel äußert sich auch in den Veränderungen der Bewegungsweisen, die jeweils in einer dieser Epochen bevorzugt werden, worauf hier nicht weiter eingegangen werden kann47. - Wie kam es zu diesem Wandel?

Es liegt nahe anzunehmen, die beschriebenen Deutungen der Krankheit hätten mit den religiösen Vorstellungen zusammengehangen, die in den Gesell- schaften jeweils verbreitet waren. Diese hätten sich verändert und diese Ver- änderung wäre in einer ideengeschichtlichen Untersuchung zu erklären. Wieder ist ein Vergleich mit Homers \Velt sinnvoll. Auch bei Homer nehmen die Griechen an, daß ein Gott eine Krankheit - die Pest - verursachte. Für die von Homer beschriebene und für die frühmittelalterliche Gesellschaft würde zudem gelten, daß sich, sobald sich die religiösen Bindungen lockerten, die Krankheits- vorstellungen ähnlich wandelten: Von dieser Zeit an führten nämlich die Ärzte die Krankheiten auf die in der Natur liegenden, mit Elementen und Säften verbundenen Kräfte zurück: so die griechischen Ärzte seit dem 6. vorchrist- lichen und die christlichen Ärzte Europas seit dem 11. nachchristlichen Jahr- hundert4B. - Diese am Wandel religiöser Vorstellungen orientierten Erklärungen sind allerdings schwer mit den Aussagen der Personen zu verbinden, die uns begegneten. Sie beriefen sich, wie zum Beispiel Gregor der Große, nicht auf theologische Konzeptionen, sondern auf persönliche Erfahrungen. Gregor

schilderte dabei sein eigenes Verhalten: unter welchen Umständen es schwächer wurde und wodurch es an Aktivität gewann i9. Dies beschrieb er anschaulich und recht genau. Um zu überprüfen, ob Gregor dabei nur seine eigenen Eindrücke

" August Nitschke, Körper in Bewegung. Gesten, Tänze und Räume im Wandel der Geschichte, Stuttgart, Zürich 1989, S. 152f., 179ff.; ders., Bewegungsweisen in Mittelalter und Renaissance. Kämpfe, Spiele, Tänze, Zeremoniell und Umgangsformen, Düsseldorf 1987, S. 24 f., 46 ff., 75 f., 144 ff. 'g Diepgen (wie Anm. 10) S. 81 ff.; August Nitschke, Naturerkenntnis (wie Anm. 1) S. 81 ff.; Stürner, Urso (wie Anm. 1) S. 26ff.; ders., Kaiser Friedrich II., sein Gelehrtenkreis und die Schule von Salerno, in: Karl Borchardt, Enno Bünz, Forschungen zur Reichs-, Papst- und Landesgeschichte, Stuttgart 1998, S. 319 ff. '9 Gregor, Moralia (wie Anm. 26f. )

230

Kranke als Zeugen einer Epoche

oder ob er eine in seiner Gesellschaft verbreitete Verhaltensweise wiedergibt, wollen wir die Gesellschaft noch einmal betrachten und sie mit der ihr ver- wandten Gesellschaft Homers vergleichen. Wir fragen: Warum wenden sich sowohl die griechischen Götter als auch die Dämonen, die die Menschen krank

werden ließen, nicht gegen die Personen, an deren Handeln sie Anstoß nahmen? Warum lassen sie Unschuldige leiden?

Die Aktivitäten der Menschen werden in der frühen griechischen und in der bereits von den Germanen mitgeprägten Gesellschaft der späten Völkerwande-

rungszeit von dem Wunsch gelenkt, durch Handlungen die eigene Ehre zu erhöhen und Schande zu vermeiden. Bei den Griechen ist es nun Sitte, daß die die Ehre mehrenden Handlungen von anderen anzuerkennen und zu würdigen sind. Diese bestätigen die erworbene Ehre - wie Achill bei den Wettspielen nach dem Tode von Patroklos - durch Geschenke, die den Besitz oder die Verfü-

gungsgewalt über Personen des zu Ehrenden vergrößern. Nimmt man einem Mann, der ehrenvoll handelte, dessen Güter oder die von ihm abhängigen Frauen und Männer, bringt man diesen in SchandeSO. (Aus diesem Grunde kommt es zu dem Konflikt zwischen Agamemnon und Achills'. ) - In der späten Völkerwanderungszeit reagieren die Menschen ähnlich ehrbezogen. Sie wissen sich zudem noch dadurch mit anderen verbunden, daß die Zugehörigkeit zu einer Familie und ihre Abhängigkeit von einem König ihre Rechtsfähigkeit und ihren Wen vor Gericht erhöht. Gehen diese Bindungen verloren, leidet ihre Würde ebenfallssl.

Krankheiten - zumal solche mit tödlichem Ausgang - wirken sich in diesen Gesellschaften somit keineswegs nur auf die Erkrankten und Sterbenden aus. Sie haben auch für die Personen Folgen, von denen die Erkrankten abhängig sind oder zu deren Familie sie gehören. Sehen wir nun die beschriebenen Kranken-

geschichten durch, so wird sofort erkennbar: Durch die Erkrankungen wird oft gerade die Ehre der Person, die gesund bleibt - etwa die Ehre Agamemnons -, gemindert. Der Wandel im B. nachchristlichen Jahrhundert spiegelt somit nicht nur eine Veränderung der religiösen Vorstellungen, sondern auch eine Verände-

rung des Handelns. Unsere Frage lautet nun: Wie kam es zu einer Veränderung des Handelns?

In beiden Gesellschaften - in der frühgriechischen und in der spätantik-

" Homer, Ilias XXIII 257ff.; der Schenkende - etwa Achill - kann auch Personen ehren, obwohl diese aufgrund ihres Alters -wie Nestor- keine Taten vollbrachten, die eine Ehrung verdienten: ebd. XXIII 617 ff. " Homer, Ilias 1131 ff.; 1352 tT.; Bei diesem Streit erläutert Achill auch, daß er nur, weil er sich der

Ehre seiner Freunde verpflichtet fühlte, in den Kampf gegen die Trojaner gezogen sei: ebd. 1149 ff. " Grönbech, Kultur (wie Anm. 22) S. 76ff.; August Nitschke, Läßt sich bei der Betrachtung des

älteren Familienrechts die moderne Vorstellung von einer Persönlichkeit aufrechterhalten? In: Ernst Joachim Lampe (Hrsg. ), Persönlichkeit - Familie - Eigentum, Opladen 1987, S. 262; noch im Beonvlf-Lied wird berichtet, wie der Sieger durch Geschenke seine Ehre erhält: Felix Genzmer (Hrsg. ) Beowulf, Stuttgart 1953, Vers 1031 ff., 1749ff., 1866ff.

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August Nitschke

germanischen - genügt es nicht, die Ehre nur zu wahren. Die Menschen sind vielmehr darauf bedacht, ihre Ehre durch Handlungen zu erhöhen. In beiden Gesellschaften benötigen sie dafür Personen, die durch Geschenke und durch Übertragung von Rechten die Vermehrung der Ehre bestätigen. Dies setzt voraus, daß es in diesen Gesellschaften Personen gibt, die über die Fähigkeit verfügen, einem anderen die ihm zustehende Ehre zu verleihen. Es sind dieje-

nigen Personen, die auf ihre Umgebung so einwirken können, daß sie diese

verändern - selbst Kinder in ihrem alltäglichen Geschick. Hektor, wie seine Frau betont, gehörte zu diesen Personen. Er beeinflußte seine Mitmenschen so, daß diese seinen Sohn - und dessen Besitz - achten. Doch sobald Hektor starb, erlosch diese Wirkung, und der Sohn hatte entsprechende Verluste hinzuneh-

mens'. - Bei den Kelten und Germanen der Völkerwanderungszeit wirkten einzelne Personen sogar so auf ihre Umwelt, daß sie auch Wetter und Fruchtbar- keit von Pflanzen und Tieren veränderten. Wieder können gerade diese ihren Mitmenschen durch Gaben Ehre zukommen lassen - meist sind es die Fürsten".

- In beiden Gesellschaften nun sichern diese Personen nicht nur den Besitz, steigern sie nicht nur die Ehre derjenigen, denen sie sich zuwenden, sondern erhöhen sie auch deren Aktivitäten. - Damit haben wir genug erfahren, um das,

was Gregor der Große schilderte, einzuordnen. Gregor wandte sich nach seinen Worten Gott zu und wurde von diesen mit

Gaben versehen, die seine Aktivität steigerten. Er schildert uns somit genau den Handlungsablauf, den wir von den Personen beschrieben bekamen, die darauf bedacht waren, durch ihre Handlungen Ehre zu gewinnen. Gregor bringt nur eine religiöse Variante dieses Verhaltensmusters. Die von ihm beschriebene Erfahrung ist somit nicht das Erlebnis eines Einzelgängers, sondern sie gehört zu Handlungen, die in der Gesellschaft Gregors verbreitet waren. Gregor ist

auch nur ein Repräsentant seiner Gesellschaft. Wir können nun fragen: In welchen Situationen müssen sich die Menschen im 6. Jahrhundert befunden haben, daß sie so handelten - und wie müssen sich diese Situationen geändert haben, daß die Menschen diese Handlungsweise im B. Jahrhundert aufgaben?

Um diese Situationen kennenzulernen, wären umfangreichere Untersuchun-

gen, als sie hier möglich sind, vorzulegen. Da einige Studien dazu bereits

vorliegen, möchte ich mit Hilfe dieser wenigstens andeuten, in welche Richtung die bisherigen Ergebnisse weisen: Für die zwei Gesellschaften, die wir wegen ihrer Ähnlichkeit vergleichend betrachteten, gilt, daß die Menschen in beiden -

s' Homer, Ilias XXII 484 ff.; Jochen Martin, Zur Stellung des Vaters in den antiken Gesellschaften, in: Hans Süssmuth (Hrsg. ) Historische Anthropologie, Göttingen 1984, S. 85ff. - Herrn Martins Kritik und Überlegungen haben mich den letzten Teil dieser Arbeit neu formulieren lassen, - wofür ich herzlich danke. " Nitschke, Körper (wie Anm. 47) S. 170ff.; ders., Die Zukunft in der Vergangenheit. Systeme in der historischen und biologischen Evolution, München, Zürich 1994, S. 143 ff.

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Kranke als Zeugen einer Epoche

durch Kriege, die sich wie der Kampf vor Troja zehn Jahre hinziehen konnten, durch Wanderungen, die bei den germanischen Stämmen über mehrere Genera- tionen anhielten, und durch eine damals einsetzende Vertreibung der eingeses- senen römischen Bevölkerung - immer wieder in Ereignisse gerieten, die für sie völlig unerwartet und sogar unvorhersehbar waren. Sie wurden in ein dis- kontinuierliches Geschehen hineingezogen.

Können die Angehörigen einer Gesellschaft, was für die beschriebenen gerade nicht möglich war, damit rechnen, daß das Geschehen für sie in einer voraus- sehbaren Kontinuität abläuft, werden sie dazu neigen, um eigene Bezirke, etwa um Orte, eine Position aufzubauen, die ihnen und ihrer Familie Sicherheit bietet. Unterliegen sie hingegen einem häufigeren Wechsel - läuft das Gesche- hen, und somit die Zeit, für sie diskontinuierlich ab -, bleibt ihnen oft nichts anderes, als zu versuchen, durch eigene Taten Ehre und somit Autorität zu gewinnen. Dabei lernen sie auf diejenigen Personen zu achten, die das, was sie tun, als ehrenvoll anerkennen und die ihnen so in der Gesellschaft Respekt verschaffen. - Anders wird die Situation mit dem 7. und B. Jahrhundert. Nun konsolidieren sich in Europa die Besitz- und Herrschaftsverhältnisse. Jetzt kön- nen die Menschen an einzelnen Orten Sicherheit finden. Sie sorgen jetzt zu erkennen, wie sie sich dem gegenüber verhalten mußten, der diesen Orten einen heilenden Charakter verlieh. Sie respektierten diesen, wußten jedoch auch, daß es auf ihr Verhalten ankam. - Situationen können sich - so unsere Beobachtun- gen - somit so wandeln, daß, dominiert eine, die Menschen darauf achten, ob ihre Tätigkeiten durch andere aktiviert werden, und, dominiert eine andere, die Menschen darauf sehen, ob sie in einem Raum so handeln, daß die in diesem Raum Mächtigen sie auf den von ihnen erworbenen Orten schützen". Diese Situationen wandeln sich für uns Menschen dabei, wenn wir unterschiedlichen Geschehensabläufen - und somit unterschiedlichen Zeiterfahrungen - ausge- setzt sind. - Dieser Wandel geht weiter: Seit dem 11. Jahrhundert fangen die Männer und Frauen in Europa an, die ihnen wichtigen Orte selbständig zu erwerben, zu verteidigen und von dort aus ihre Herrschaftsbezirke auszudeh- nen, und auch dies ist die Folge einer wieder etwas veränderten Situation 56

ss Den historischen Wandel hatte ich lange darauf zurückgeführt, daß wir Menschen, abhängig von den äußeren Gegebenheiten, unterschiedliche Erscheinungsformen der Energie nutzen, so noch: August Nitschke, Die Mutigen (wie Anm. 29) S. 117ff.; erst beim Vergleich mit der biologischen Evolution wurde mir klar, daß wir in Systemen leben, die sich über Metamorphosen, wie sie bei der Umwandlung von anorganischen zu organischen Stoffen vorliegen, oder durch Beschleunigungen von Bewegungen oder durch Erweiterung von Räumen verändern, Nitschke, Zukunft (wie Anm. 54) S. 143 ff.; 183 ff.; ders., Der Beitrag einzelner Personen zu einem naturwissenschaftlich erklärbaren sozialen Wandel, in: Saeculum 46 (1996), S. 298 ff., 308 f., 316 ff.; ders., Gegen eine anthropozentrische Geschichtswissenschaft. Die Bedeutung der nichteuropäischen Kulturen für den Standort der Historiker, in: Hist. Zeitschrift 265 (1997) S. 294 ff. w Nitschke, Zukunft (wie Anm. 54) S. 146ff.

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August Nitschke

Soviel zum Wandel. Unser zentrales Interesse galt allerdings nicht ihm. - Wir

wollten vielmehr nur zeigen: Innerhalb von religiösen Krankheitsinterpretatio-

nen können Wandlungen auftreten, die von einer Gleichgültigkeit gegenüber dem einzelnen Menschen zu einer Achtung vor dem Individuum und vor dessen

selbständigen Entscheidungen führen. Nebenbei sahen wir zudem - aus einem Aspekt, der bisher kaum beachtet wurde -: \Vie einschneidend waren die Ver- änderungen der europäischen Gesellschaft im B. Jahrhunderts'!

" Dies bestätigt aus einem anderen Aspekt jetzt Arno Borst, Die karolingische Kalenderreform, Hannover 1998, S. 55 ff., 232 ff., 526 ff.

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