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SONNABEND, DEN 11. JANUAR 2020 OSTFRIESLAND OSTFRIESEN-ZEITUNG, SEITE 8 BORKUM - Wer sich mit den sogenannten Verschickungs- kindern der 60er bis 80er Jah- re beschäftigt, kommt nicht an Anja Röhl vorbei. Sie hat das Schicksal von zur Erho- lung in Kinderkurheime ge- schickten Mädchen und Jun- gen öffentlich gemacht, trägt Berichte von misshandelten Betroffenen zusammen und kämpft für eine wissenschaft- liche Aufarbeitung. Es geht um körperliche und psy- chische Gewalt und um Ängste und Verhaltensstö- rungen, mit denen die Kinder von damals heute als Er- wachsene leben müssen. Auf die Frage, ob es neue Er- kenntnisse über die ehemali- gen ostfriesischen Heime gibt, sagt Anja Röhl: „Borkum gehört doch zu Ostfriesland, nicht wahr? Dann habe ich tatsächlich was Neues für Sie.“ Es geht um André. Auch er sollte sich auf Borkum er- holen. Doch was der Vierjäh- rige aus Osnabrück in Ost- friesland fand, war keine Bes- serung seiner Gesundheit. Er fand den Tod. Eine Aufsichtsakte der Be- hörden über das Kinderkur- heim, in dem André die letz- ten Tage seines Lebens ver- bracht hat, liegt am Standort Oldenburg des Niedersächsi- schen Landesarchivs. Die OZ fragt dort an, doch die Akte über das Kinderheim „Frie- senhof“ ist zunächst nicht bestellbar: Datenschutz. Dr. Wolfgang Henninger, stell- vertretender Leiter in Olden- burg, gibt nach Abstimmung mit Datenschutz-Experten aber doch das Okay: Die Re- daktion bekommt Zugriff auf die Unterlagen – allerdings unter Auflagen. Zunächst müssen Formulare unter- schrieben werden, um den Datenschutz zu garantieren. Deshalb werden in diesem Text so gut wie keine Namen genannt. André, so steht es in den archivierten Unterlagen, wurde am 21. August 1960 geboren. Der Osnabrücker starb am 22. Mai 1965 im Emder Krankenhaus. Er wur- de keine fünf Jahre alt. Bevor er nach Emden kam, war er in der Obhut des Kinderkur- heims auf Borkum. An die Behörden schrieb die Heim- leiterin kurz nach Andrés Tod, sie bedauere, dass es elf Jahre nach der Eröffnung des „Friesenhofs“ einen ersten Todesfall gegeben habe. Sie schreibt auch: „Die Todesur- sache ist eine plötzliche Er- krankung, die mit der Betreu- ung im Heim in keinem Zu- sammenhang stehen kann.“ Eine ärztliche Bescheinigung vom 24. Mai 1965 attestiert: „Diagnose: Herz- und Kreis- laufversagen.“ Details zu den Todesumständen gibt es nicht. Eine Obduktion hat es offensichtlich nicht gegeben. Recherchen der OZ ergeben, dass André in seiner Heimat- stadt Osnabrück 1965 in ei- nem Kinderreihengrab beige- setzt wurde. 1980 wurde das Grab aufgelöst. „André ist nicht der einzi- ge Todesfall in einem der Kinderkurheime“, sagt Anja Röhl. Die Bundeskoordinato- rin der Verschickungskinder- Initiative weiß inzwischen von mindestens sieben wei- teren toten Kindern: Aus Ak- ten gehe hervor, dass in der Kinderheilstätte Mammols- höhe in Königstein im Tau- nus mindestens vier Kinder an Medikamentenversu- chen gestorben seien – un- ter Aufsicht des ehemali- gen Nazi-Euthanasie-Arz- tes Werner Catel. Drei wei- tere Kinder seien in einem Kinderheim in Bad Salz- detfurth bei Hildesheim gestorben – eines von äl- teren Kindern totgeprü- gelt, zwei mutmaßlich erstickt. Bei den letzte- ren Kindern fanden sich laut medizinischen Un- terlagen Nahrungsreste in den Lungen. „Zwangsernährung und das Einzwängen von Erbrochenem wa- ren übliche Methoden in diesen Heimen“, sagt Anja Röhl. Auch Röhl hat Ein- blick in die „Friesen- hof“-Akte bekom- men. „Es ist erschre- ckend, wie wenig Auf- schluss sie über die Todes- umstände des Osnabrücker Jungen gibt“, sagt die Päda- gogin und Autorin. Dem klei- nen Zettel, auf dem die Diag- nose steht, misst sie keine große Bedeutung zu: „Am Ende stirbt jeder von uns an Kreislaufversagen – das ist schlicht ein Synonym für den Tod.“ Die tatsächliche Todes- ursache tauche in den Akten nicht auf. Ob die Todesum- stände jemals ans Licht kom- men werden, ist mehr als fraglich. Die Heimbesitzerin war erst 24 Jahre alt „Ich bin für die radikale Lö- sung und würde eine Exhu- mierung des Leichnams vor- schlagen“, sagt Anja Röhl. Unklar ist allerdings, in wel- chem Zustand sich der Kör- per des Jungen nach fast 55 Jahren befindet – und wel- che Erkenntnisse sich aus den sterblichen Überresten noch ziehen ließen. „Dazu bedürfte es sicher auch einer engen Abstimmung mit der Familie“, sagt Röhl. Nach OZ- Informationen ist der Vater des Jungen inzwischen eben- falls verstorben, die Mutter soll noch in Osnabrück le- ben. Röhl ist sich noch nicht sicher, ob sie mit der Familie Kontakt aufnehmen möchte. „Wenn, dann muss das mit sehr, sehr viel Fingerspitzen- gefühl geschehen.“ Zwar gibt die dicke Akte wenig Auskunft über den Tod von André. Doch über die Zustände im Heim und das Zusammenspiel zwischen Heimleitung, Mitarbeitern und Behörden wird schnell einiges klar. Demnach wurde das Heim im Jahr 1954 eröff- net. OZ-Recherchen zufolge war die Besitzerin damals 24 Jahre alt und betrieb auf Borkum noch ein weiteres Kinderkurheim und ein Ho- tel. Wie die junge Frau zu den finanziellen Mitteln für den Betrieb mindestens dreier Häuser gekommen war, ist offen. Viele Insulaner, mit de- nen die OZ gesprochen hat, vermuten ein großes Erbe. Von wem? Unklar. Sicher ist allerdings, dass die Frau genug Geld hatte, um das Heim nach dem Kauf in den 50er Jahren aufwendig renovieren zu lassen. Außer- dem ließ die Frau einen Neu- bau errichten, sodass im „Friesenhof“ in den 60er Jah- ren gleichzeitig 119 Jungen und Mädchen untergebracht werden durften – eine Zahl, an die sich dort laut Akten so gut wie nie gehalten wurde. Aus fast allen Besichtigungs- protokollen geht eine Über- belegung der Zimmer hervor. Interne Schreiben zwischen dem Landkreis Leer und dem Landesjugendamt in Hanno- ver zeugen zudem von der Unzufriedenheit der Behör- den mit der Personalzusam- mensetzung des Heims. Es seien zu wenige Pädagogen und zu viele Krankenschwes- tern angestellt, so die Kritik. Erster Einblick in die „Tätersperspektive“ Die Heimleitung entgegnete damals, es komme nicht auf die Qualifikation der Mitar- beiter an – vielmehr sei wich- tig, dass „alles gewissenhaft“ geschehe. Außerdem sei es schwer, geeignete Kinder- gärtnerinnen zu finden und auf der Insel zu halten. Das belegen die diversen, immer wieder aktualisierten Perso- nallisten und Zeugnisse: Nur wenige Mitarbeiterinnen blieben länger als eine Sai- son, oft waren sie erst um die 20 Jahre alt und unerfahren. Unter dem Punkt „Ausbil- dung“ findet sich bezüglich der Heimleiterin selbst zu- nächst der Eintrag „keine“. Später wurde sie von den Be- hörden dann und wann als „Kauffrau“ bezeichnet. Anja Röhl sagt: „Wir haben inzwischen rund 1400 Be- richte von ehemaligen Ver- schickungskindern erhalten, die meisten davon habe ich gelesen.“ Die Oldenburger Akte gebe ihr nun erstmals einen Einblick in die „Täter- perspektive“. Die Unterlagen machten sie „wütend und traurig“. Für sie steht fest: „Die Leiterin des Heims woll- te mit dem Haus nur Geld machen – das Wohl der Kin- der lag ihr nicht am Herzen.“ Tatsächlich geht aus der Akte hervor, dass sich die Frau nicht an Anordnungen der Behörden gehalten hat. Die ständigen Überbelegun- gen führten dazu, dass in den Schlafsälen pro Kind zwi- schenzeitlich nur 1,2 Qua- dratmeter Fläche zur Verfü- gung standen. Das sei nicht viel mehr „als mein Schreib- tisch“, merkte einer der Be- hördenmitarbeiter seinerzeit an. Gemäß der Heimrichtli- nien sollte jedes Kind damals 3,5 Quadratmeter Platz ha- ben. Nicht im „Friesenhof“ auf Borkum. Warum die Äm- ter keine Schritte gegen das Heim einleiteten, geht aus der Akte nicht hervor. Viel mehr als Ermahnungen scheint es nicht gegeben zu haben. Gegenüber den Behörden gelobte die Frau ständig Bes- serung. Es änderte sich nichts. Ende der 60er dulde- ten die Behörden in dem Heim 128 Kinder gleichzeitig, was den Heimrichtlinien wi- dersprach. Im Zuge dessen schrieb ein Beamter Mitte 1968, er habe jahrelang zuge- lassen, dass Richtlinien ge- dehnt worden seien. Man sei ihr damit entgegengekom- men. Nun bat er inständig darum, die Heimleiterin mö- ge sich doch nun endlich an die Vorschriften halten. Agressives Auftreten bei Kontrollen Die Schreiben der Behörden dürfte die Frau als ziemli- chen Affront aufgefasst ha- ben, denn ein mehrere Seiten umfassender interner Ver- merk aus dem Sommer 1969 schildert auf eindrückliche Weise, wie mit den Kontrol- leuren auf der Insel umge- gangen wurde: Die Heimlei- terin „behandelt das Landes- jugendamt als ihren persönli- chen Feind“, ist dort zu le- sen. Sie zeige „Aggressionen gegen das Amt und Sachbe- arbeiter“ und empfinde de- ren Arbeit als „Schnüffeln, Bespitzeln, Überfallen“. Zu der Tatsache, dass es bei je- der Besichtigung Überbele- gungen und Personalmangel gegeben habe, habe sich die Frau nicht geäußert. Zudem sei den Mitarbeitern häufig der Zutritt zu einigen Räu- men ganz verwehrt oder erst nach einiger Zeit erlaubt worden. „Für mich zeigt das ganz klar, dass diese geldgie- rige Frau vorsätzlich gehan- delt hat“, sagt Anja Röhl. „Dieses Kinderheim war wie eine Fabrik – und die Kinder waren der Rohstoff.“ Initiative fordert Geld vom Staat Geschlossen wurde das Heim 1971, nicht etwa von den Be- hörden, sondern von der Heimleiterin selbst. Als Grund gab die Frau damals an, dass das Personal nicht mehr ausreichend habe spu- ren wollen und ihr gegenüber zu aufmüpfig geworden sei. Weil ihr das alles zu bunt ge- worden sei, habe sie sich zur Schließung des Heims ent- schieden, teilte sie den Be- hörden mit. Den Satz, in dem sie sich für die jahrelange und gute Zusammenarbeit mit den Ämtern bedankt, hat ein Sachbearbeiter dick un- terstrichen und mit Ausrufe- zeichen versehen – so als wollte er sagen: „Von wegen!“ Das Gebäude wurde spä- ter unter anderem als Ferien- domizil und Appartement- Komplex genutzt. Seit 1990 verwendet die Knappschaft das Haus für die Unterbrin- gung des Personals ihrer Bor- kumer Kurklinik. Die damali- ge Heimleiterin hat die Insel OZ-Recherchen zufolge 1990, zwei Jahre nach dem Tod ih- res Mannes, verlassen. Im Jahr 2010 starb sie in Bad Iburg. Begraben ist sie auf ei- nem Friedhof in Osnabrück – etwa sechs Kilometer ent- fernt von Andrés Grab. Laut Röhl befinden sich unter den Berichten, die sie und ihre Mitstreiter erhalten haben, auch welche, die Qua- len im „Friesenhof“ beschrei- ben. Auch in Archiven auf der Insel gibt es negative Erleb- nisberichte. Allerdings haben sich auch ehemalige Verschi- ckungskinder von Borkum zu Wort gemeldet, denen es nicht allzu schlimm erging. Eine Frau schreibt etwa: „Ich kann nicht behaupten, dass es traumatisierend war.“ Die abschließende Aufklä- rung der Zustände im Kin- derkurheim „Friesenhof“ muss laut Röhl Teil der Aufar- beitung der Geschehnisse in ganz Deutschland werden. Dafür verlangt die Initiative um die Pädagogin Geld vom Bund, von den Ländern und von den Trägern der damali- gen Heime. In der kommen- den Woche haben Röhl und einige Mitstreiter einen Ter- min im niedersächsischen Sozialministerium in Hanno- ver. „Wir erhoffen uns eini- ges“, sagt sie. Û Waren auch Sie in Ost- friesland auf Kinderkur? Möchten Sie ihre – positiven wie negativen – Erlebnisse mit uns teilen? Melden Sie sich gern bei Redakteur Da- niel Noglik, 04 91 / 97 90 189, [email protected]. Die Initiati- ve von Anja Röhl ist unter www.verschickungsheime.de zu finden. VON DANIEL NOGLIK Eine bisher geschlossene Akte gibt Einblicke in den Umgang mit Verschickungskindern in den 60er Jahren Statt Erholung fand ein Vierjähriger auf Borkum den Tod KINDER- KURHEIM Friesenhof

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SONNABEND, DEN 11. JANUAR 2020 O S T F R I E S L A N D OSTFRIESEN-ZEITUNG, SEITE 8

BORKUM - Wer sich mit densogenannten Verschickungs-kindern der 60er bis 80er Jah-re beschäftigt, kommt nichtan Anja Röhl vorbei. Sie hatdas Schicksal von zur Erho-lung in Kinderkurheime ge-schickten Mädchen und Jun-gen öffentlich gemacht, trägtBerichte von misshandeltenBetroffenen zusammen undkämpft für eine wissenschaft-liche Aufarbeitung. Es gehtum körperliche und psy-chische Gewalt und umÄngste und Verhaltensstö-rungen, mit denen die Kindervon damals heute als Er-wachsene leben müssen. Aufdie Frage, ob es neue Er-kenntnisse über die ehemali-gen ostfriesischen Heimegibt, sagt Anja Röhl: „Borkumgehört doch zu Ostfriesland,nicht wahr? Dann habe ichtatsächlich was Neues fürSie.“ Es geht um André. Aucher sollte sich auf Borkum er-holen. Doch was der Vierjäh-rige aus Osnabrück in Ost-friesland fand, war keine Bes-serung seiner Gesundheit. Erfand den Tod.

Eine Aufsichtsakte der Be-hörden über das Kinderkur-heim, in dem André die letz-ten Tage seines Lebens ver-bracht hat, liegt am StandortOldenburg des Niedersächsi-schen Landesarchivs. Die OZfragt dort an, doch die Akteüber das Kinderheim „Frie-senhof“ ist zunächst nichtbestellbar: Datenschutz. Dr.Wolfgang Henninger, stell-vertretender Leiter in Olden-burg, gibt nach Abstimmungmit Datenschutz-Expertenaber doch das Okay: Die Re-daktion bekommt Zugriff aufdie Unterlagen – allerdingsunter Auflagen. Zunächstmüssen Formulare unter-schrieben werden, um denDatenschutz zu garantieren.Deshalb werden in diesemText so gut wie keine Namengenannt.

André, so steht es in denarchivierten Unterlagen,wurde am 21. August 1960geboren. Der Osnabrückerstarb am 22. Mai 1965 imEmder Krankenhaus. Er wur-de keine fünf Jahre alt. Bevorer nach Emden kam, war erin der Obhut des Kinderkur-heims auf Borkum. An dieBehörden schrieb die Heim-leiterin kurz nach AndrésTod, sie bedauere, dass es elfJahre nach der Eröffnung des„Friesenhofs“ einen erstenTodesfall gegeben habe. Sieschreibt auch: „Die Todesur-sache ist eine plötzliche Er-krankung, die mit der Betreu-ung im Heim in keinem Zu-sammenhang stehen kann.“Eine ärztliche Bescheinigungvom 24. Mai 1965 attestiert:„Diagnose: Herz- und Kreis-laufversagen.“ Details zu denTodesumständen gibt esnicht. Eine Obduktion hat esoffensichtlich nicht gegeben.Recherchen der OZ ergeben,dass André in seiner Heimat-stadt Osnabrück 1965 in ei-nem Kinderreihengrab beige-setzt wurde. 1980 wurde dasGrab aufgelöst.

„André ist nicht der einzi-ge Todesfall in einem derKinderkurheime“, sagt AnjaRöhl. Die Bundeskoordinato-

rin der Verschickungskinder-Initiative weiß inzwischenvon mindestens sieben wei-teren toten Kindern: Aus Ak-ten gehe hervor, dass in derKinderheilstätte Mammols-höhe in Königstein im Tau-nus mindestens vier Kinderan Medikamentenversu-chen gestorben seien – un-ter Aufsicht des ehemali-gen Nazi-Euthanasie-Arz-tes Werner Catel. Drei wei-tere Kinder seien in einemKinderheim in Bad Salz-detfurth bei Hildesheimgestorben – eines von äl-teren Kindern totgeprü-gelt, zwei mutmaßlicherstickt. Bei den letzte-ren Kindern fanden sichlaut medizinischen Un-terlagen Nahrungsrestein den Lungen.„Zwangsernährungund das Einzwängenvon Erbrochenem wa-ren übliche Methodenin diesen Heimen“,sagt Anja Röhl.

Auch Röhl hat Ein-blick in die „Friesen-hof“-Akte bekom-men. „Es ist erschre-ckend, wie wenig Auf-schluss sie über die Todes-umstände des OsnabrückerJungen gibt“, sagt die Päda-gogin und Autorin. Dem klei-nen Zettel, auf dem die Diag-nose steht, misst sie keinegroße Bedeutung zu: „AmEnde stirbt jeder von uns anKreislaufversagen – das istschlicht ein Synonym für denTod.“ Die tatsächliche Todes-ursache tauche in den Aktennicht auf. Ob die Todesum-stände jemals ans Licht kom-men werden, ist mehr alsfraglich.

Die Heimbesitzerinwar erst 24 Jahre alt

„Ich bin für die radikale Lö-sung und würde eine Exhu-mierung des Leichnams vor-schlagen“, sagt Anja Röhl.Unklar ist allerdings, in wel-chem Zustand sich der Kör-per des Jungen nach fast55 Jahren befindet – und wel-che Erkenntnisse sich ausden sterblichen Überrestennoch ziehen ließen. „Dazubedürfte es sicher auch einerengen Abstimmung mit derFamilie“, sagt Röhl. Nach OZ-Informationen ist der Vaterdes Jungen inzwischen eben-falls verstorben, die Muttersoll noch in Osnabrück le-ben. Röhl ist sich noch nichtsicher, ob sie mit der FamilieKontakt aufnehmen möchte.„Wenn, dann muss das mitsehr, sehr viel Fingerspitzen-gefühl geschehen.“

Zwar gibt die dicke Aktewenig Auskunft über den Todvon André. Doch über dieZustände im Heim und dasZusammenspiel zwischenHeimleitung, Mitarbeiternund Behörden wird schnelleiniges klar. Demnach wurdedas Heim im Jahr 1954 eröff-net. OZ-Recherchen zufolgewar die Besitzerin damals24 Jahre alt und betrieb aufBorkum noch ein weiteresKinderkurheim und ein Ho-tel. Wie die junge Frau zu denfinanziellen Mitteln für denBetrieb mindestens dreierHäuser gekommen war, ist

offen. Viele Insulaner, mit de-nen die OZ gesprochen hat,vermuten ein großes Erbe.Von wem? Unklar.

Sicher ist allerdings, dassdie Frau genug Geld hatte,um das Heim nach dem Kaufin den 50er Jahren aufwendigrenovieren zu lassen. Außer-dem ließ die Frau einen Neu-bau errichten, sodass im„Friesenhof“ in den 60er Jah-ren gleichzeitig 119 Jungenund Mädchen untergebrachtwerden durften – eine Zahl,an die sich dort laut Akten sogut wie nie gehalten wurde.Aus fast allen Besichtigungs-protokollen geht eine Über-belegung der Zimmer hervor.Interne Schreiben zwischendem Landkreis Leer und demLandesjugendamt in Hanno-ver zeugen zudem von derUnzufriedenheit der Behör-den mit der Personalzusam-mensetzung des Heims. Esseien zu wenige Pädagogenund zu viele Krankenschwes-tern angestellt, so die Kritik.

Erster Einblick in die„Tätersperspektive“

Die Heimleitung entgegnetedamals, es komme nicht aufdie Qualifikation der Mitar-beiter an – vielmehr sei wich-tig, dass „alles gewissenhaft“geschehe. Außerdem sei esschwer, geeignete Kinder-gärtnerinnen zu finden undauf der Insel zu halten. Dasbelegen die diversen, immerwieder aktualisierten Perso-nallisten und Zeugnisse: Nurwenige Mitarbeiterinnenblieben länger als eine Sai-son, oft waren sie erst um die20 Jahre alt und unerfahren.Unter dem Punkt „Ausbil-dung“ findet sich bezüglichder Heimleiterin selbst zu-nächst der Eintrag „keine“.Später wurde sie von den Be-hörden dann und wann als„Kauffrau“ bezeichnet.

Anja Röhl sagt: „Wir habeninzwischen rund 1400 Be-richte von ehemaligen Ver-schickungskindern erhalten,

die meisten davon habe ichgelesen.“ Die OldenburgerAkte gebe ihr nun erstmalseinen Einblick in die „Täter-perspektive“. Die Unterlagenmachten sie „wütend undtraurig“. Für sie steht fest:„Die Leiterin des Heims woll-te mit dem Haus nur Geldmachen – das Wohl der Kin-der lag ihr nicht am Herzen.“

Tatsächlich geht aus derAkte hervor, dass sich dieFrau nicht an Anordnungender Behörden gehalten hat.Die ständigen Überbelegun-gen führten dazu, dass in denSchlafsälen pro Kind zwi-schenzeitlich nur 1,2 Qua-dratmeter Fläche zur Verfü-gung standen. Das sei nichtviel mehr „als mein Schreib-tisch“, merkte einer der Be-hördenmitarbeiter seinerzeitan. Gemäß der Heimrichtli-nien sollte jedes Kind damals3,5 Quadratmeter Platz ha-ben. Nicht im „Friesenhof“auf Borkum. Warum die Äm-ter keine Schritte gegen dasHeim einleiteten, geht ausder Akte nicht hervor. Vielmehr als Ermahnungenscheint es nicht gegeben zuhaben.

Gegenüber den Behördengelobte die Frau ständig Bes-serung. Es änderte sichnichts. Ende der 60er dulde-ten die Behörden in demHeim 128 Kinder gleichzeitig,was den Heimrichtlinien wi-dersprach. Im Zuge dessenschrieb ein Beamter Mitte1968, er habe jahrelang zuge-lassen, dass Richtlinien ge-dehnt worden seien. Man seiihr damit entgegengekom-men. Nun bat er inständigdarum, die Heimleiterin mö-ge sich doch nun endlich andie Vorschriften halten.

Agressives Auftretenbei Kontrollen

Die Schreiben der Behördendürfte die Frau als ziemli-chen Affront aufgefasst ha-

ben, denn ein mehrere Seitenumfassender interner Ver-merk aus dem Sommer 1969schildert auf eindrücklicheWeise, wie mit den Kontrol-leuren auf der Insel umge-gangen wurde: Die Heimlei-terin „behandelt das Landes-jugendamt als ihren persönli-chen Feind“, ist dort zu le-sen. Sie zeige „Aggressionengegen das Amt und Sachbe-arbeiter“ und empfinde de-ren Arbeit als „Schnüffeln,Bespitzeln, Überfallen“. Zuder Tatsache, dass es bei je-der Besichtigung Überbele-gungen und Personalmangelgegeben habe, habe sich dieFrau nicht geäußert. Zudemsei den Mitarbeitern häufigder Zutritt zu einigen Räu-men ganz verwehrt oder erstnach einiger Zeit erlaubtworden. „Für mich zeigt dasganz klar, dass diese geldgie-rige Frau vorsätzlich gehan-delt hat“, sagt Anja Röhl.„Dieses Kinderheim war wieeine Fabrik – und die Kinderwaren der Rohstoff.“

Initiative fordertGeld vom Staat

Geschlossen wurde das Heim1971, nicht etwa von den Be-hörden, sondern von derHeimleiterin selbst. AlsGrund gab die Frau damalsan, dass das Personal nichtmehr ausreichend habe spu-ren wollen und ihr gegenüberzu aufmüpfig geworden sei.Weil ihr das alles zu bunt ge-worden sei, habe sie sich zurSchließung des Heims ent-schieden, teilte sie den Be-hörden mit. Den Satz, in demsie sich für die jahrelangeund gute Zusammenarbeitmit den Ämtern bedankt, hatein Sachbearbeiter dick un-terstrichen und mit Ausrufe-zeichen versehen – so alswollte er sagen: „Von wegen!“

Das Gebäude wurde spä-ter unter anderem als Ferien-

domizil und Appartement-Komplex genutzt. Seit 1990verwendet die Knappschaftdas Haus für die Unterbrin-gung des Personals ihrer Bor-kumer Kurklinik. Die damali-ge Heimleiterin hat die InselOZ-Recherchen zufolge 1990,zwei Jahre nach dem Tod ih-res Mannes, verlassen. ImJahr 2010 starb sie in BadIburg. Begraben ist sie auf ei-nem Friedhof in Osnabrück –etwa sechs Kilometer ent-fernt von Andrés Grab.

Laut Röhl befinden sichunter den Berichten, die sieund ihre Mitstreiter erhaltenhaben, auch welche, die Qua-len im „Friesenhof“ beschrei-ben. Auch in Archiven auf derInsel gibt es negative Erleb-nisberichte. Allerdings habensich auch ehemalige Verschi-ckungskinder von Borkum zuWort gemeldet, denen esnicht allzu schlimm erging.Eine Frau schreibt etwa: „Ichkann nicht behaupten, dasses traumatisierend war.“

Die abschließende Aufklä-rung der Zustände im Kin-derkurheim „Friesenhof“muss laut Röhl Teil der Aufar-beitung der Geschehnisse inganz Deutschland werden.Dafür verlangt die Initiativeum die Pädagogin Geld vomBund, von den Ländern undvon den Trägern der damali-gen Heime. In der kommen-den Woche haben Röhl undeinige Mitstreiter einen Ter-min im niedersächsischenSozialministerium in Hanno-ver. „Wir erhoffen uns eini-ges“, sagt sie.Û Waren auch Sie in Ost-friesland auf Kinderkur?Möchten Sie ihre – positivenwie negativen – Erlebnissemit uns teilen? Melden Siesich gern bei Redakteur Da-niel Noglik, 04 91 / 97 90 189,[email protected]. Die Initiati-ve von Anja Röhl ist unterwww.verschickungsheime.dezu finden.

VON DANIEL NOGLIK

Eine bisher geschlossene Akte gibt Einblicke in den Umgang mit Verschickungskindern in den 60er Jahren

Statt Erholung fand einVierjähriger auf Borkum den Tod

KINDER-KURHEIMFriesenhof