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Sonntag, 26. August 2012 / Nr. 35 Zentralschweiz am Sonntag 30 chauplatz S Bei Hochwasser werden die Männer nervös GÖSCHENEN Im Herbst kann Peter Tresch (51) oft nicht mehr ruhig schlafen. Dann muss der Betriebsleiter des Kraftwerks schwierige Entscheide treffen. ANDREA SCHELBERT [email protected] «Jetzt machen wir etwas Verrücktes», sagt Peter Tresch. Sein spitzbübischer Blick verrät, dass er sich darauf freut. Und der Betriebsleiter des Wasserkraft- werks Göschenen hat nicht übertrieben: Dieses Abenteuer wird uns noch lange in Erinnerung bleiben. Mit einer Stand- seilbahn, die sich mit einem heftigen Ruck in Bewegung setzt, fahren wir in den tiefen, dunklen Berg. Es ist kühl, Wasser tropft von der glitschigen Decke. Wir sind im Innern des Staudamms Göscheneralp und fahren im Schräg- schacht 130 Meter abwärts ins Loch. Für die zwei Talsperrenwärter Bern- hard Mattli (49) und Franz Baumann (55) ist diese Fahrt nichts Besonderes. Ungewöhnlich für sie ist wohl eher der Besuch. Nur selten haben die zwei Männer hier oben auf der Göscheneralp Gäste. Bernhard Mattli ist im Gwüest unterhalb des Staudamms aufgewach- sen. Schon sein Vater war als Talsperren- wärter tätig. «Ich habe ihn als Bub hierher begleitet», sagt der Urner mit leisem Stolz. Wehe, wenn das Wasser kommt Mit einem überraschenden Ruck wird die Fahrt in die Tiefe nach dreieinhalb Minuten wieder beendet. Peter Tresch schreitet zielstrebig voran. «Ich sage manchmal, dass es mein Kraftwerk ist. Denn ich lebe für dieses Kraftwerk», gesteht der 51-Jährige. Wir stehen vor dem Grundablass, 155 Meter unterhalb der Dammkrone und damit am tiefsten Punkt des Sees. Über unseren Köpfen befindet sich das Speicherbecken mit 75 Millionen Kubikmeter Wasser. «Von hier aus können wir den ganzen See entleeren. Das ist von keinem anderen Ort aus möglich», erklärt Tresch. Zwar wird die ganze Talsperre, wie Tresch den Staudamm nennt, mittlerweile elek- tronisch überwacht. Doch die wichtigs- ten Vorgänge können nur vor Ort regu- liert werden. «Das System ist so abge- sichert, dass man im Automatikbetrieb nichts kaputtmachen kann. Es ist bei- spielsweise strikte verboten, aus der Ferne eine Wasserfassung zu öffnen. Das muss zwingend vor Ort passieren.» Nur 3 der 19 Mitarbeiter sind autorisiert, diese Anlage zu bedienen. Und die zwei passenden Schlüssel sind in zwei ver- schiedenen Kästen weggesperrt. «Wenn das Wasser ausser Kontrolle gerät, ist es nichts Angenehmes mehr. Wir wollen gar nicht darüber nachden- ken, was passieren würde, wenn die gesamte Wassermenge durch die Gö- scheneralpreuss hinunterdonnern wür- de», sagt Tresch. Der zweifache, energie- geladene und temperamentvolle Fami- lienvater wird was an diesem Nachmittag nur selten passiert – für einen Moment ruhig. 150 Kubikmeter Wasser pro Sekunde würden dann Rich- tung Tal jagen. Gross ist darum die Verantwortung, die auf den Schultern des Betriebsleiters lastet. Wenn die Ge- fahr von Hochwasser droht, dann schläft Peter Tresch nicht mehr ruhig. «Heikel wird es immer im Herbst, wenn der Stausee langsam voll wird. Dann bin ich immer nervös.» Auf die innere Stimme hören Die friedliche Reuss, die im Normal- fall etwa 10 Kubikmeter Wasser pro Sekunde Richtung Schöllenen trans- portiert, kann bei einem Unwetter inner- halb weniger Stunden zur reissenden Bestie werden. Dann strömen plötzlich 160 Kubikmeter Wasser in der Sekunde. Kraftwerk abstellen? Wasserfassungen öffnen? Oder doch noch einen Moment lang zuwarten? Das sind Fragen, die sich Tresch in solchen Situationen stel- len muss. Die Fähigkeit, schnell zu entscheiden, ist eine wichtige Voraus- setzung für den Chef des Wasserkraft- werks Göschenen. Doch er weiss er- fahrungsgemäss: «Wenn ich auf meine innere Stimme höre, habe ich die besten Voraussetzungen, dass ich später zu meinen Entscheiden stehen kann.» Ne- ben seinem enormen Wissen und seiner grossen Begeisterung für dieses Wasser- kraftwerk hat Tresch noch einen weite- ren Trumpf im Ärmel: Er kennt das Brummen der Turbinen und Generato- ren wie kein anderer. Er hört sofort, wenn etwas nicht stimmt. Was die meis- ten Menschen als monotones Rauschen und zugleich als störend empfinden, ist für ihn beruhigend. Doch nicht alle Menschen sind von einem Wasserkraftwerk begeistert. Noch heute muss sich Tresch Vorwürfe an- hören. «Es gibt Menschen, die sagen, dass wir ihnen ihr Zuhause weggenom- men hätten.» Rund 70 Personen muss- ten 1952 ihr Daheim aufgeben und umziehen. Ein Kapitel, über das Tresch weniger gerne spricht: «Wir wollen nicht mehr in alten Wunden wühlen. Schliess- lich feiern wir heuer unser 50-jähriges Bestehen.» Die Stromindustrie hatte zuvor aber noch andere Pläne: Sie woll- te das Urserntal in einem gigantischen Stausee ertränken. Andermatt, Hospen- tal und Realp sollten unter Wasser ge- setzt, 2000 Urschner umgesiedelt wer- den. Am 19. Februar 1946 handelten die zornigen Urschner entschlossen und mit Gewalt. Diese Nacht sollte als Krawall- nacht in die Geschichtsbücher eingehen. Erst nach diesem Widerstand entschied man sich für das weitaus kleinere Was- serkraftwerk auf der Göscheneralp. Talsperrenwärter Bernhard Mattli steht im Grundablassstollen, mit dem der See entleert wird. Bilder Eveline Beerkircher Thomas Furger auf Kontrolltour. Zieht Wanderer und Fischer an: der Stausee, wegen dem damals rund 100 Personen umgesiedelt werden mussten. Bahnfahrt: Franz Baumann (links) und Bernhard Mattli. Peter Tresch, Betriebsleiter des Wasserkraftwerks. Strom für etwa 53 000 Personen FAKTEN asc. Das Wasserkraftwerk Göschenen produziert jährlich 420 Millionen Kilowattstunden Strom. Dies entspricht dem Stromverbrauch von zirka 53 000 Personen. Im Ver- gleich: Das Kernkraftwerk Mühle- berg produziert für 400 000 Personen Strom. Das Wasserkraftwerk Gösche- nen ist ein Speicherkraftwerk. Im Stausee Göscheneralp sammelt sich das Wasser der Damma- und der Chelenreuss,. Das Wasser aus ent- fernten Tälern (Furka- und Voralp- reuss) wird durch Stollensysteme ebenfalls in den See geleitet. Erhöhung abgeblasen 1954 hat der Urner Landrat die Konzession für das Kraftwerk erteilt, 1962 wurde mit der Aufstauung be- gonnen. Die Anlage hat rund 300 Millionen Franken gekostet. Wegen Uneinigkeit wurde vor einem Jahr die Erhöhung des 155 Meter hohen Staudamms um 8 Meter fallen ge- lassen. An der Kraftwerk Göschenen AG sind die CKW mit 50 Prozent, die SBB AG mit 40 Prozent und der Kanton Uri mit 10 Prozent beteiligt. HINWEIS Der Stausee kann via Göschenen mit dem Bus erreicht werden. Führungen sind auf Anfrage möglich www.kw-goeschenen.ch

Sonntag, 26. August 2012 / Nr. 35 S ch au pl at z€¦ · Andermatt, Hospen-tal und Realp sollten unter Wasser ge-setzt, 2000 Urschner umgesiedelt wer-den. Am 19. Februar 1946 handelten

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Page 1: Sonntag, 26. August 2012 / Nr. 35 S ch au pl at z€¦ · Andermatt, Hospen-tal und Realp sollten unter Wasser ge-setzt, 2000 Urschner umgesiedelt wer-den. Am 19. Februar 1946 handelten

Sonntag, 26. August 2012 / Nr. 35 Zentralschweiz am Sonntag 30

chauplatzSBei Hochwasser werden die Männer nervös Göschenen Im Herbst kann Peter Tresch (51) oft nicht mehr ruhig schlafen. Dann muss der Betriebsleiter des Kraftwerks schwierige Entscheide treffen.

AnDrEA ScHElBErT [email protected]

«Jetzt machen wir etwas Verrücktes», sagt Peter Tresch. Sein spitzbübischer Blick verrät, dass er sich darauf freut. Und der Betriebsleiter des Wasserkraft-werks Göschenen hat nicht übertrieben: Dieses Abenteuer wird uns noch lange in Erinnerung bleiben. Mit einer Stand-seilbahn, die sich mit einem heftigen Ruck in Bewegung setzt, fahren wir in den tiefen, dunklen Berg. Es ist kühl, Wasser tropft von der glitschigen Decke. Wir sind im Innern des Staudamms Göscheneralp und fahren im Schräg-schacht 130 Meter abwärts ins Loch.

Für die zwei Talsperrenwärter Bern-hard Mattli (49) und Franz Baumann (55) ist diese Fahrt nichts Besonderes. Ungewöhnlich für sie ist wohl eher der Besuch. Nur selten haben die zwei Männer hier oben auf der Göscheneralp Gäste. Bernhard Mattli ist im Gwüest unterhalb des Staudamms aufgewach-sen. Schon sein Vater war als Talsperren-wärter tätig. «Ich habe ihn als Bub hierher begleitet», sagt der Urner mit leisem Stolz.

Wehe, wenn das Wasser kommtMit einem überraschenden Ruck wird

die Fahrt in die Tiefe nach dreieinhalb Minuten wieder beendet. Peter Tresch schreitet zielstrebig voran. «Ich sage manchmal, dass es mein Kraftwerk ist. Denn ich lebe für dieses Kraftwerk», gesteht der 51-Jährige. Wir stehen vor dem Grundablass, 155 Meter unterhalb der Dammkrone und damit am tiefsten Punkt des Sees. Über unseren Köpfen befindet sich das Speicherbecken mit 75 Millionen Kubikmeter Wasser. «Von hier aus können wir den ganzen See entleeren. Das ist von keinem anderen Ort aus möglich», erklärt Tresch. Zwar wird die ganze Talsperre, wie Tresch den Staudamm nennt, mittlerweile elek-tronisch überwacht. Doch die wichtigs-ten Vorgänge können nur vor Ort regu-liert werden. «Das System ist so abge-

sichert, dass man im Automatikbetrieb nichts kaputtmachen kann. Es ist bei-spielsweise strikte verboten, aus der Ferne eine Wasserfassung zu öffnen. Das muss zwingend vor Ort passieren.» Nur 3 der 19 Mitarbeiter sind autorisiert, diese Anlage zu bedienen. Und die zwei passenden Schlüssel sind in zwei ver-schiedenen Kästen weggesperrt.

«Wenn das Wasser ausser Kontrolle gerät, ist es nichts Angenehmes mehr. Wir wollen gar nicht darüber nachden-ken, was passieren würde, wenn die gesamte Wassermenge durch die Gö-scheneralpreuss hinunterdonnern wür-de», sagt Tresch. Der zweifache, energie-geladene und temperamentvolle Fami-lienvater wird – was an diesem Nachmittag nur selten passiert – für einen Moment ruhig. 150 Kubikmeter Wasser pro Sekunde würden dann Rich-

tung Tal jagen. Gross ist darum die Verantwortung, die auf den Schultern des Betriebsleiters lastet. Wenn die Ge-fahr von Hochwasser droht, dann schläft Peter Tresch nicht mehr ruhig. «Heikel wird es immer im Herbst, wenn der Stausee langsam voll wird. Dann bin ich immer nervös.»

Auf die innere stimme hörenDie friedliche Reuss, die im Normal-

fall etwa 10 Kubikmeter Wasser pro Sekunde Richtung Schöllenen trans-portiert, kann bei einem Unwetter inner-halb weniger Stunden zur reissenden Bestie werden. Dann strömen plötzlich 160 Kubikmeter Wasser in der Sekunde. Kraftwerk abstellen? Wasserfassungen öffnen? Oder doch noch einen Moment lang zuwarten? Das sind Fragen, die sich Tresch in solchen Situationen stel-

len muss. Die Fähigkeit, schnell zu entscheiden, ist eine wichtige Voraus-setzung für den Chef des Wasserkraft-werks Göschenen. Doch er weiss er-fahrungsgemäss: «Wenn ich auf meine innere Stimme höre, habe ich die besten Voraussetzungen, dass ich später zu meinen Entscheiden stehen kann.» Ne-ben seinem enormen Wissen und seiner grossen Begeisterung für dieses Wasser-kraftwerk hat Tresch noch einen weite-ren Trumpf im Ärmel: Er kennt das Brummen der Turbinen und Generato-ren wie kein anderer. Er hört sofort, wenn etwas nicht stimmt. Was die meis-ten Menschen als monotones Rauschen und zugleich als störend empfinden, ist für ihn beruhigend.

Doch nicht alle Menschen sind von einem Wasserkraftwerk begeistert. Noch heute muss sich Tresch Vorwürfe an-

hören. «Es gibt Menschen, die sagen, dass wir ihnen ihr Zuhause weggenom-men hätten.» Rund 70 Personen muss-ten 1952 ihr Daheim aufgeben und umziehen. Ein Kapitel, über das Tresch weniger gerne spricht: «Wir wollen nicht mehr in alten Wunden wühlen. Schliess-lich feiern wir heuer unser 50-jähriges Bestehen.» Die Stromindustrie hatte zuvor aber noch andere Pläne: Sie woll-te das Urserntal in einem gigantischen Stausee ertränken. Andermatt, Hospen-tal und Realp sollten unter Wasser ge-setzt, 2000 Urschner umgesiedelt wer-den. Am 19. Februar 1946 handelten die zornigen Urschner entschlossen und mit Gewalt. Diese Nacht sollte als Krawall-nacht in die Geschichtsbücher eingehen. Erst nach diesem Widerstand entschied man sich für das weitaus kleinere Was-serkraftwerk auf der Göscheneralp.

Talsperrenwärter Bernhard Mattli steht im Grundablassstollen, mit dem der See entleert wird. Bilder Eveline Beerkircher

Thomas Furger auf Kontrolltour.

Zieht Wanderer und Fischer an: der Stausee, wegen dem damals rund 100 Personen umgesiedelt werden mussten.

Bahnfahrt: Franz Baumann (links) und Bernhard Mattli. Peter Tresch, Betriebsleiter des Wasserkraftwerks.

Strom für etwa 53 000 Personen FAkten asc. Das Wasserkraftwerk Göschenen produziert jährlich 420 Millionen Kilowattstunden Strom. Dies entspricht dem Stromverbrauch von zirka 53 000 Personen. Im Ver-gleich: Das Kernkraftwerk Mühle-berg produziert für 400 000 Personen Strom. Das Wasserkraftwerk Gösche-nen ist ein Speicherkraftwerk. Im Stausee Göscheneralp sammelt sich das Wasser der Damma- und der Chelenreuss,. Das Wasser aus ent-fernten Tälern (Furka- und Voralp-reuss) wird durch Stollensysteme ebenfalls in den See geleitet.

erhöhung abgeblasen1954 hat der Urner Landrat die

Konzession für das Kraftwerk erteilt, 1962 wurde mit der Aufstauung be-gonnen. Die Anlage hat rund 300 Millionen Franken gekostet. Wegen Uneinigkeit wurde vor einem Jahr die Erhöhung des 155 Meter hohen Staudamms um 8 Meter fallen ge-lassen. An der Kraftwerk Göschenen AG sind die CKW mit 50 Prozent, die SBB AG mit 40 Prozent und der Kanton Uri mit 10 Prozent beteiligt.

HINWEIS Der Stausee kann via Göschenen mit dem Bus erreicht werden. Führungen sind auf Anfrage möglich www.kw-goeschenen.ch