164
Michael Henkel Sozialpolitik in Deutschland und Europa

Sozialpolitik in Deutschland und Europa

  • Upload
    others

  • View
    8

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Michael Henkel

Sozialpolitikin

Deutschland und

Europa

Dr. Michael Henkel, geb. 1967, Mitarbeiter am Institut für Politik-wissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Schwerpunktein Forschung und Lehre: Politische Theorie und Geschichte despolitischen Denkens, Friedensforschung, Sozialpolitik und Sozial-staatlichkeit, Verfassungstheorie und Verfassungsrecht, Rechts-philosophie. Verschiedene Veröffentlichungen zu diesen Themen.

Weitere Informationen und Kontakt unter URL:http://www.michael-henkel.net.

Landeszentrale für politische Bildung ThüringenBergstraße 4, 99092 Erfurt, www.thueringen.de/de/lzt2002Satz und Druck: Druckerei Sömmerda GmbHISBN 3-931426-65-3

Inhaltsverzeichnis

I. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

II. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

III. Historische Formen sozialer Politik bis zurFranzösischen Revolution

1. Römische Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132. Das antike China . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133. Sozialpolitik im Mittelalter. . . . . . . . . . . . . . . 144. Sozialpolitik in der Neuzeit bis zum Ende

des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

IV. Die Bedeutung der industriellen und derFranzösischen Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . 18

V. Soziale Frage und Sozialpolitik im Deutschland des 19. Jahrhunderts bis zur Weimarer Republik

1. Liberale Reformen und Industrialisierung in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

2. Die soziale Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233. Formen der sozialen Frage im

19. Jahrhundert: Paupersimus und Arbeiterfrage . . . 244. Die gesellschaftliche Situation der

Industriearbeiterschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 285. Die Entwicklung der Industriewirtschaft

und die Verbesserung der ökonomischen Situation . . 306. Die soziale Frage als gesellschaftliches Strukturpro-

blem und die Durchsetzung staatlicher Sozialpolitik . 327. Sozialpolitik zwischen 1839 und 1871. . . . . . . . . 348. Sozialpolitik zwischen 1871 und 1918. . . . . . . . . 37

3

VI. Sozialpolitik in der Weimarer Republik . . . . . . . . 47

VII. Sozialpolitik im Dritten Reich . . . . . . . . . . . . . 54

VIII. Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland biszur Wiedervereinigung. . . . . . . . . . . . . . . . . 59

IX. Grundlagen und Prinzipien der Sozialpolitik1. Sozialpolitik und Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . 792. Leitideen der Sozialpolitik: Gleichheit,

Gerechtigkeit, Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . 823. Sozialpolitik im Verfassungsstaat des Grundgesetzes 844. Dynamik und Ausdifferenzierung der Sozialpolitik . 885. Prinzipien der sozialen Sicherung im engeren Sinne . 91

X. Sozialpolitik in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . 97

XI. Sozialpolitik in Deutschland nach derWiedervereinigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

XII. Aktuelle Herausforderungen derdeutschen Sozialpolitik1. Die demographische Entwicklung und ihre

sozialpolitischen Folgen . . . . . . . . . . . . . . . 1212. Globalisierung und Sozialpolitik . . . . . . . . . . . 1253. Das Problem des Missbrauchs

sozialpolitischer Leistungen und Einrichtungen . . . 127

XIII. Sozialpolitik in europäischen Staaten . . . . . . . . . 1281. Dänemark . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1292. Großbritannien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1313. Frankreich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1364. Spanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

4

XIV. Sozialpolitik der Europäischen Union . . . . . . . . . 148

XV. Ausblick: Sozialpolitik – nicht nur eine Frage des Geldes . . . . 153

Anhänge:

A. Sozialpolitik: Eine Definition. . . . . . . . . . . . . 155

B. Die Einführung der Koalitionsfreiheit in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156

C. Gewerkschaften: Begriff, Geschichte und Aufgaben . . . . . . . . . . 157

D. Zur demographischen Entwicklungin Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

E. Einpersonenhaushalte in Deutschland . . . . . . . . 162

F. Das Sozialbudget der Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . 162

G. Einige ausgewählte Internet-Adressenzur Sozialpolitik in Deutschland . . . . . . . . . . . 164

5

I. Vorbemerkungen

Sozialpolitik unterliegt einem raschen Wandel und ständiger Verän-derung. Reform folgt auf Reform und es ist selbst Experten kaummöglich, einen Überblick über die sozialrechtlichen und sozial-politischen Details zu behalten. Angesichts dieser Situation ist esdas Hauptanliegen der vorliegenden Broschüre, die hinter den zahl-reichen Einzelheiten und Veränderungen stehenden Zusammen-hänge, Grundlagen und Prinzipien der Sozialpolitik offen zu legen.Dies erfolgt erstens durch einen Blick auf die historische Entwick-lung der Sozialpolitik inklusive einer Darstellung der Sozialpolitikim Dritten Reich und in der DDR (Kapitel III.-VII., X.), zweitensdurch die Diskussion einiger systematischer Zusammenhänge(Kapitel IX.) und schließlich durch die Klärung von Grundbegriffender Sozialpolitik.*

Der Text konzentriert sich auf die Darstellung von sozialpolitischenGesetzen und Maßnahmen, auf das sozialpolitisch jeweils Erreichteund auf die sozialpolitischen Fortschritte. Demgegenüber wird aufdie vielfach vorhandenen Defizite, auf die Funktionsprobleme, aufdas Unvollkommene und Unzulängliche der Sozialpolitik und aufnicht ergriffene sozialpolitische Möglichkeiten ebenso wenig aus-führlicher eingegangen wie auf die tatsächlichen Wirkungen dersozialpolitischen Gesetze, Maßnahmen, Institutionen und Instru-mente. Diese Punkte näher zu besprechen, hätte nicht nur denRahmen der Abhandlung gesprengt, sondern auch die Übersicht-lichkeit der Darstellung beeinträchtigt. Es kommt hier in ersterLinie darauf an, wichtige sozialpolitische Entwicklungslinien undZusammenhänge in der Absicht darzustellen, ein realistischesVerständnis sozialpolitischer Wirklichkeit zu vermitteln. Dazu wirdzwar (in Kapitel XI.) mit einer gewissen Ausführlichkeit auch aufdie jüngsten sozialpolitischen Entwicklungen seit der Wiederver-

7

* Für einige Angaben wurde dabei zurückgegriffen auf das Lexikon Bertelsmann Discovery 2000 – Das große Universallexikon,CD-ROM, Gütersloh, München 1999.

einigung eingegangen, doch ist es nicht Aufgabe der vorliegendenBroschüre, einen umfassenden Überblick über die neuesten Rege-lungen und Tendenzen zu geben. Ebenso wenig kann die sozialpoli-tische Programmatik der politischen Parteien, der Gewerkschaftenund der Arbeitgeberverbände diskutiert werden. Die entsprechen-den Informationen findet der Interessierte in der überregionalenTages- und Wochenpresse.** Eine hilfreiche Ressource für aktuelleInformationen ist auch das Internet. In Anhang G sind daher einigeInternetadressen aufgelistet.

Hinweise auf weiterführende Literatur finden sich in den Fußnoten.Darüber hinaus sei an dieser Stelle auf die folgenden besondersempfehlenswerten Titel hingewiesen:

• Allen voran ist zu nennen das Werk von Heinz Lampert / JörgAlthammer, Lehrbuch der Sozialpolitik, 6. Auflage, Berlin u.a.2001. An diesem (in den Vorauflagen von Heinz Lampert alleinverfassten) kompetenten und bewährten Lehrbuch orientiert sichdie folgende Darstellung in wesentlichen Punkten.

• Unverzichtbar ist das dreibändige Werk von Johannes Frerich /Martin Frey, Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland, 2. Auf-lage, München 1996. Die Autoren stellen die deutsche Sozialpoli-tik sehr umfassend und detailliert bis zum Beginn der Neunzi-gerjahre dar. Der zweite Band stellt die Sozialpolitik der DDR vorund im dritten Band wird nicht zuletzt der sozialpolitischenDimension des deutschen Einigungsprozesses große Aufmerk-samkeit gewidmet. Alle Bände enthalten auch aufschlussrei-ches statistisches Material. (Bd. 1: Von der vorindustriellen Zeitbis zum Ende des Dritten Reiches; Bd. 2: Sozialpolitik in derDeutschen Demokratischen Republik; Bd. 3: Sozialpolitik in derBundesrepublik Deutschland bis zur Herstellung der DeutschenEinheit).

8

** Die jeweils aktuellen Entwicklungen werden auch in den zahlreichen einschlägigen Periodika zur Sozialpolitik und zumSozialrecht vorgestellt und diskutiert. Exemplarisch seien genannt die Vierteljahresschrift für Sozialrecht (VSSR); SozialeSicherheit. Zeitschrift für Arbeit und Soziales sowie das seit 1979 erscheinende Jahrbuch des Sozialrechts. Von der Bundes-regierung und den zuständigen Ministerien sowie von den Landeszentralen und der Bundeszentrale für politische Bildung wer-den immer wieder Publikationen zur Sozialpolitik zur Verfügung gestellt.

• Eine ausgezeichnete Darstellung der Entwicklung der deutschenSozialpolitik von den Anfängen bis zum Ende der Neunzigerjahregibt die kompakte Arbeit von Gerhard A. Ritter, Soziale Frageund Sozialpolitik in Deutschland seit Beginn des 19. Jahrhun-derts, Opladen 1998.

• Eine ausgewogene und wohlinformierte Diskussion aktuellerProbleme der deutschen Sozialpolitik findet sich bei Franz-XaverKaufmann, Herausforderungen des Sozialstaates, Frankfurt amMain 1997.

• Hans F. Zacher, Das soziale Staatsziel, in: Josef Isensee / PaulKirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der BundesrepublikDeutschland, Bd.1: Grundlagen von Staat und Verfassung, Hei-delberg 1987, 1045-1111, bietet eine umfassende Bestandsauf-nahme zum Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes und zur Wir-kungsweise des Sozialstaates.

• Einen aktuellen Überblick über das deutsche Sozialrecht (StandAnfang 2001) vermittelt Wolfgang Gitter / Jochem Schmitt, So-zialrecht. Ein Studienbuch, 5., wesentlich überarbeitete Auflage,München 2001.

• Einen guten vergleichenden Einblick in die Sozialpolitik dereuropäischen Staaten bieten die Beiträge in dem Band Alessan-dra Bosco/Martin Hutsebaut (Hrsg.), Sozialer Schutz in Europa.Veränderungen und Herausforderungen, Marburg 1998.

• International vergleichend ist das historisch orientierte Buch vonGerhard A. Ritter, Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklungim internationalen Vergleich, 2., überarbeitete und erheblich er-weiterte Auflage, München 1991.

• Ebenfalls eine internationale Perspektive (bei gleichzeitigemSchwerpunkt auf Deutschland) bietet Manfred G. Schmidt, So-zialpolitik in Deutschland. Historische Entwicklung und inter-nationaler Vergleich, 2., vollständig überarbeitete und erweiterteAuflage, Opladen 1998.

9

• Für den internationalen Vergleich der Sozialpolitik sei ferner ver-wiesen auf Stephan Lessenich /Illona Ostner (Hrsg.), Welten desWohlfahrtskapitalismus. Der Sozialstaat in vergleichender Per-spektive, Frankfurt am Main, New York 1998.

• Über sozialpolitische Aspekte der Globalisierung informierenschließlich die Beiträge in dem Band von Diether Döring (Hrsg.),Sozialstaat in der Globalisierung, Frankfurt am Main 1999.

Unverzichtbar für eine angemessene sozialpolitische Urteilsbildungist ferner die Kenntnis der tatsächlichen Sozialstruktur eines Lan-des, d.h. der sozialen Verhältnisse wie etwa Bevölkerungsgrößeund -struktur, Einkommensverteilung, wirtschaftliche Entwicklung,Entwicklung der Arbeitslosigkeit und der Lebenshaltung etc. Sehrgute Arbeiten hierüber sind (für Deutschland):

• Rainer Geißler, Die Sozialstruktur Deutschlands. Zur gesell-schaftlichen Entwicklung mit einer Zwischenbilanz zur Ver-einigung, 2., neubearb. und erweiterte Auflage, Opladen 1996.

• Stefan Hradil, Soziale Ungleichheit in Deutschland, 7. Auflage,Opladen 1999.

• Bernhard Schäfers, Sozialstruktur und sozialer Wandel inDeutschland. Mit einem Anhang: Deutschland im Vergleicheuropäischer Sozialstrukturen, 7., neu bearbeitete Auflage, Stutt-gart 2002.

• Aktuelle Informationen vermittelt ferner der jährlich erscheinen-de Fischer Weltalmanach in seinem Kapitel über Deutschland.

Für die Bundesrepublik Deutschland sind alle Währungsangaben inD-Mark ausgewiesen. Eine Umrechnung in die entsprechendenEURO-Werte ist mit der Division der angegebenen Zahlen durchden Wert 1,95583 leicht möglich (1 € = 1,95583 DM).

10

II. Einleitung

Wie in der Gegenwart, so kannte man auch in den Zivilisations-gesellschaften der Vergangenheit die Phänomene der Armut, derBenachteiligung, der sozialen Ungleichheit und der sozialen Aus-gegrenztheit. Und stets verlangten diese Erscheinungen ebenso einegesellschaftliche oder eine politische Antwort wie auch etwaSeuchen, Epedemien oder Hungersnöte. Allerdings war die Art undWeise, wie man auf die genannten Herausforderungen reagierte,historisch sehr unterschiedlich: Der Umgang mit Armut, Krankheit,sozialer Ungleichheit usw. ist davon abhängig, wie solche Sachver-halte in der jeweiligen Gesellschaft bewertet werden. Keineswegserkannte man etwa in der sozialen Ungleichheit immer ein Problem.In den meisten Gesellschaften ging man vielmehr davon aus, dassUngleichheit ein natürliches, als solches für den Menschen un-abänderbar vorgegebenes und ethisch auch nicht problematischesPhänomen sei.

Andererseits gab es in manchen Gesellschaften auch die Einsicht,dass Gegebenheiten wie Armut nicht einfach hinzunehmen seien.Diese Einsicht reifte oft dann, wenn man in Armut und sozialerUngleichheit eine mögliche Bedrohung der Stabilität des Gemein-wesens und der politischen Ordnung sah. So dienten beispielsweisein der späten römischen Republik die Getreidegesetze der Grac-chen, durch die ermäßigte Getreidepreise für die römische Stadtbe-völkerung eingeführt wurden, nicht zuletzt der Vermeidung sozialerUnruhen2.

Doch auch, wo man bestimmte Phänomene wie Armut, Krankheit,soziale Ungleichheit usw. als Missstände ansah und davon ausging,dass man durch menschliches Handeln solche Missstände prinzi-piell lindern oder sogar beseitigen könne, war man oft keineswegsauch in der Lage, die Probleme wirksam anzugehen. Denn Problem-

11

2 Siehe dazu auch weiter unten Kap. III.1.

lösung setzt stets auch das Vorhandensein angemessener Instru-mente, Mittel und Erfahrungen hierzu voraus. Und solche warensehr oft nicht gegeben und mussten dementsprechend erst in langenhistorischen Prozessen entwickelt werden. Hatte man aber einmalMöglichkeiten eines verändernden Umgangs mit den Missständengefunden, so gingen die entsprechenden Maßnahmen und Institu-tionen infolge gesellschaftlicher oder politischer Veränderungen oftauch bald wieder verloren.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass eine Bekämpfungsozialer Missstände stets von einer Vielzahl von Voraussetzungenabhängt, die in der Geschichte nur selten vorlagen (und dann meistwenig dauerhaft gegeben waren). Deshalb kann man davon spre-chen, dass nachhaltige Erfolge in gewisser Weise als unwahr-scheinlich angesehen werden müssen. Doch gelang es einigen Ge-sellschaften, durch verschiedene Anstrengungen und durch dieEinrichtung entsprechender Institutionen erfolgreich soziale Miss-stände zu bekämpfen. Im Folgenden werden zunächst Beispiele ausdem antiken Rom und dem alten China genannt, bevor der Blick aufdie Entwicklung der Sozialpolitik im Europa des Mittelalters undder Neuzeit gerichtet wird.

12

III. Historische Formen sozialer Politik bis zurFranzösischen Revolution

1. Römische Antike

Ein öffentliches Gesundheitswesen existierte im antiken Rom in derForm öffentlich besoldeter Ärzte, die jedermann verfügbar warenund von den Lokalverwaltungen getragen wurden. Eine gezielte Ar-menpolitik stellte etwa das unter Gaius Gracchus (153-121 v. Chr.)eingeführte Getreidegesetz dar, das der stadtrömischen Bevöl-kerung mittels staatlicher Zuschüsse ermäßigte Getreidepreise si-chern sollte. Später wurde Getreide (oder auch Brot) an ärmere Bür-ger der Stadt kostenlos abgegeben. Ferner existierte etwa einSystem von Familienbeihilfen zur Sicherung der Ernährung armerKinder, das durch Stiftungsgelder finanziert wurde. Neben solchenöffentlichen Institutionen gab es im antiken Rom auch Selbsthilfe-einrichtungen auf berufsständischer Grundlage, so beispielsweiseKranken- und Sterbekassenvereine, die durch Beitrittsgebühren undBeiträge finanziert wurden und Heilmittel sowie Krankenhilfe imFalle von Krankheit oder Unfall bzw. Geldbeträge an Hinterblie-bene beim Tod von Mitgliedern gewährten.

2. Das antike China

Ein System staatlich finanzierter Ärzte wurde im antiken China imzweiten vorchristlichen Jahrhundert begründet. Das von der Zen-tralregierung getragene System war zunächst auf die größerenStädte beschränkt, wurde aber im ersten Jahrhundert vor Christusauf ganz China ausgedehnt. Ein derartiges landesweites medizini-sches Versorgungsnetz gab es bis in die Moderne hinein nur inChina. Dem System entsprach später eine organisierte medizinischeAusbildung durch gelehrte Mediziner, seit dem fünften Jahrhundertnach Christus an der kaiserlichen Universität in Ch'ang sowie anmedizinischen Akademien im ganzen Land.

13

3. Sozialpolitik im Mittelalter

Im europäischen Mittelalter wurden sozialpolitische Maßnahmenvor allem von der katholischen Kirche wahrgenommen. Aus demGeist der christlichen Nächstenliebe (caritas) entwickelten sich ver-schiedene Einrichtungen wie Asyle und Hospitäler zur Hilfe, Unter-stützung und Pflege von Armen, Kranken, Alten, Witwen und Wai-sen, getragen von Kirchengemeinden und Klöstern und begleitetdurch die Almosenvergabe der Gläubigen an die Bedürftigen (dasgriechische Wort „Almosen“ bedeutet „mildtätige Gabe“). Armutwurde im Christentum aber auch als Ausdruck besonderer Gottes-nähe idealisiert und prägte die Lebensweise einiger christlicherOrdensgemeinschaften.

Die im Spätmittelalter entstehenden Handwerkszünfte und Gilden3

schufen Unterstützungseinrichtungen für ihre Mitglieder (undderen Familien). Ferner schlossen sich unter anderem zum Zweckeder Unterstützung in Notlagen Gesellenbruderschaften zusammen.Als Vorformen der modernen Sozialversicherung können dieKnappschaften der Bergleute angesehen werden, die sich seit dem13. Jahrhundert zusammenschlossen. Die Knappschaften erbrach-ten Leistungen bei Unfällen an die Bergleute oder bei berufsunfall-bedingtem Tod an deren Hinterbliebene.

Mit dem Aufstieg der Städte in Europa seit dem 14. Jahrhundertwurden die städtischen Verwaltungen zu Trägern lokaler Armen-und Krankenhilfe. Damit ging eine sich langsam etablierende neueSichtweise der Armenhilfe einher: Sie wurde nicht mehr nur als

14

3 Zünfte waren örtliche Handwerkervereinigungen mit meist pflichtmäßiger Zugehörigkeit (Zunftzwang). Sie entstanden im12. Jahrhundert als Zusammenschluss der von der Hofhörigkeit befreiten Handwerker und wurden bald neben der städtischenOberschicht des Patriziats zu den Trägern der mittelalterlichen Städte. Die Zünfte hatten strenge, geschriebene Satzungen, be-stimmten die Zahl der Meister, die Lehrlingsausbildung, die Zunftwappen, gaben Preis- und Qualitätsvorschriften; es ent-wickelten sich strenge Zunftbräuche. Die starre Handhabung der Zugangsbeschränkung (die das Aufkommen eines „unzünfti-gen“ Handwerks zur Folge hatte), der Zerfall der Stadtwirtschaft und schließlich die einsetzende Industrialisierung führten (seitdem 16. Jahrhundert) zum Verfall der Zünfte, der mit der Aufhebung ihrer Vorrechte durch die Gewerbefreiheit (in Frankreich1791, in Preußen 1810, im Norddeutschen Bund 1869) endete. (Siehe zu letzterem unten Kap. V.1.). Gilden waren Zusam-menschlüsse (vor allem von Kaufleuten) zur Wahrung gemeinsamer Interessen. Gilden wurden auch von Bauern oder alsBruderschaften aus religiösen Motiven gegründet.

Mittel zur Behebung individueller Not angesehen, sondern als einInstrument zur Lösung allgemeiner sozialer Probleme. Die Einrich-tung städtischer Armenfonds bedeutete eine Zentralisierung derUnterstützung Bedürftiger und hatte auch eine Zurückdrängung derkirchlichen Fürsorge zur Folge. Die Armenfonds beruhten überwie-gend auf Stiftungen, erst in zweiter Linie auf gesonderten Armen-steuern.

Angesichts all dieser Einrichtungen darf nicht übersehen werden,dass die Betreuung der Armen, Kranken, Alten, Witwen und Waisenim Mittelalter in erster Linie bei den Familien und der Verwandt-schaft lag. Daneben gab es Fürsorgepflichten der Grundherren undder Arbeitgeber gegenüber den von ihnen Abhängigen, der Adligenund Ritter für die Armen und Schwachen. Dieser Befund gilt imWesentlichen – bei allem Wandel der Verhältnisse und der sozial-politischen Einrichtungen – bis weit in die Neuzeit hinein.

4. Sozialpolitik in der Neuzeit bis zum Ende des 18. Jahrhunderts

Die Sozialpolitik in der europäischen Neuzeit ist geprägt durch dieFestigung der lokalen – das heißt vor allem: der städtischen –Sozialpolitik und durch Versuche der Flächenstaaten, das Armen-und Bettlerwesen zu regulieren. Auf beiden Ebenen der Stadt unddes Staates erfolgte eine rationalere Ordnung der Sozialpolitik.Letzteres bedeutete auch Zwang, soziale Kontrolle und Bedürftig-keitsprüfung, da die in lokaler politischer Verantwortung liegendeUnterstützung der Bedürftigen nicht mehr in erster Linie aus cari-tativem Geist erwuchs, sondern als ein Kosten erzeugendes Ord-nungsproblem angesehen wurde. Armut wurde nun auch nicht mehrals gottgegebene Fügung oder gar besondere Gottesnähe betrachtet,sondern als Ergebnis moralischer Defekte und Verfehlungen desIndividuums. So wurde Sozialpolitik auch zur sozialen Diszi-plinierung eingesetzt (z.B. durch Einführung des Arbeitszwanges).

15

Der absolutistische Staat des 17. /18. Jahrhunderts erhob den An-spruch der Zuständigkeit in allen gesellschaftlichen Lebensberei-chen und kam diesem Anspruch durch eine Reglementierung desgesellschaftlichen Lebens nach. Das Ziel war, die Glückseligkeitdes Einzelnen und der Gemeinschaft zu fördern. So wurde der abso-lutistische Staat zum bevormundenden Wohlfahrtsstaat, zum Staatder – wie es damals in Deutschland genannt wurde – „guten Poli-cey“ 4, der glaubte, besser um das Wohl seiner Untertanen zu wissen,als diese selbst.

Im Schatten des absolutistischen Staates hielt der Katholizismus ander Armenhilfe als religiös-kirchlicher, caritativer Aufgabe fest. AufSeiten des Protestantismus wurden namentlich im Pietismus neuesozialethische Ideen und Praktiken im Umgang mit Armut ent-wickelt, die sich um den Gedanken der Arbeitsbeschaffung fürArme und um deren Erziehung zur Selbstständigkeit zentrierten undzur Schaffung von Armenschulen, Waisenhäusern oder Manufak-turen führten. An ihr Engagement in der vorindustriellen Armen-frage konnten die kirchlichen und außerkirchlichen christlichenGruppen später im Zeitalter der industriellen Revolution und dersozialen Frage des 19. Jahrhunderts anknüpfen. Bis heute gibt es einsoziales Engagement der Kirchen und christlicher Organisationen,das auch für die Sozialpolitik im modernen Sozialstaat von großerBedeutung ist und sich insbesondere in den von den Kirchen getra-genen bzw. kirchennahen Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflegemanifestiert5.

Bedeutsam für die Entwicklung der Sozialpolitik im 19. Jahrhun-dert wurden ferner die Ideen der Aufklärung. In der von diesenIdeen ausgehenden Auseinandersetzung mit der vorindustriellenArmut im späten 18. Jahrhundert gewann vor allem der Gedankeder Förderung von Hilfe zur Selbsthilfe sowie der wirtschaftlichenUnabhängigkeit der Betroffenen an Bedeutung. Die aufklärerischen

16

4 „Policey“ im älteren Verständnis hat eine weitere Bedeutung als der heutige Polizeibegriff und meint allgemein die obrigkeit-liche Staatsverwaltung.

5 Zur freien Wohlfahrtspflege siehe den Exkurs G.

Ideen mündeten seitens des Bürgertums in ein vielfältiges ehren-amtliches Engagement in wohltätigen Organisationen.

Staatlicherseits verband sich dann aufklärerisches Gedankengut mitden Traditionen des absolutistischen Wohlfahrtsstaates der „gutenPolicey“, in Preußen beispielsweise in der Regelung des Armen-wesens durch das Allgemeine Landrecht für die PreußischenStaaten (ALR) von 1794. Hier wurde der preußische Staat unteranderem verpflichtet, für die Ernährung und Verpflegung derjeni-gen Personen aufzukommen, die ihren Unterhalt weder selbst nochüber unterhaltspflichtige Personen aufbringen konnten. Das ALRschuf zwar keine subjektiven Rechte – etwa ein Recht auf Arbeit –für die Armen. Es war aber in zwei Punkten zukunftsweisend:Erstens durch den Umstand, dass nun von Rechts wegen niemandvor Schutz bei Armut ausgenommen werden sollte; und zweitensdurch die Förderung des Prinzips der Freizügigkeit.6 Zu diesemZweck übertrug man einerseits die öffentliche Armenpflege denGemeinden, andererseits sollten Landesarmenverbände errichtetwerden, die größere Aufgaben (wie die Einrichtung von Kranken-häusern) übernehmen konnten. Durch das ALR wurde staatlicher-seits anerkannt, dass die Förderung des individuellen Wohlstandesdem Staatszweck – also dem Gemeinwohl – dienlich sei. Gleich-zeitig aber wurde von der paternalistischen Bevormundung, die denalten Wohlfahrtsstaat geprägt hatte, Abstand genommen, indem diestaatliche Macht zu Gunsten der Freiheit und Sicherung des Indi-viduums eingeschränkt wurde. An solche liberalen Tendenzen imRecht konnte in den folgenden Jahrzehnten angeknüpft werden.

17

6 Freizügigkeit bedeutet das Recht der freien Wahl des Aufenthaltsortes; vor den (gleich ausführlicher dargestellten) liberalenReformen war es der unfreien und minderfreien bäuerlichen Bevölkerung im wesentlichen vorenthalten.

IV. Die Bedeutung der industriellen und derFranzösischen Revolution

In den liberalen Tendenzen des ALR zeigten sich bereits Aus-wirkungen zweier Ereignisse, welche seit der zweiten Hälfte des18. Jahrhunderts die sozialen und die politischen Verhältnisse inEuropa – mithin auch in Deutschland – tief greifend prägten. Es wardies einerseits die industrielle Revolution7 mit ihren wirtschaft-lichen und gesellschaftlichen Folgen und andererseits die Epochemachende Französische Revolution8 mit ihren politischen Wirkun-gen. Beide Ereignisse müssen in Bezug auf die Entwicklung derSozialpolitik in einem engen Zusammenhang gesehen werden.Beide Revolutionen führten zu einem grundlegenden Wandel derüberkommenen Wirtschafts- und Sozialstruktur in den europäischenStaaten und definierten zugleich die politischen Bedingungen imUmgang mit diesem Wandel neu: Die neue Wirtschaftsweise einerindustriellen und durch Geld und Preismechanismus gesteuerten(d.h. monetären) Marktwirtschaft war insbesondere bedingt durchdie Aufhebung der alten rechtlichen und sozialen Einbindung desIndividuums in die agrarisch-ständische Gesellschaftsordnung. Dasheißt: Die aus der industriellen Revolution resultierende Sozial- undWirtschaftsordnung verlangte das rechtlich unabhängige, selbst-ständige und eigenverantwortliche Individuum, das nicht mehr derBevormundung beispielsweise durch den Gutsherrn unterworfenwar. Mit anderen Worten war die neue, die bürgerliche Wirtschafts-weise und die entsprechende Sozialordnung aufgebaut auf der recht-lichen Freisetzung des Individuums. Gleiche Freiheit aller (das heißtauch: Gleichheit in der Freiheit) war das Prinzip der neuen Wirt-

18

7 Mit der industriellen Revolution wird der Industrialisierungsprozess bezeichnet, der namentlich durch technische Erfindungenwie beispielsweise und insbesondere die Dampfmaschine und den mechanischen Webstuhl ausgelöst wurde. Ihren Ausgangnahm die industrielle Revolution in England in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Von England aus griff sie auf denKontinent, zunächst auf Frankreich, über. In Deutschland setzten die entsprechenden Entwicklungen erst im ersten Drittel des19. Jahrhunderts ein.

8 Französische Revolution meint die politischen Umwälzungen in Frankreich am Ende des 18. Jahrhunderts. In ihr wurde durchdie politische Durchsetzung des liberalen Freiheitsgedankens und der nationalen Idee die Welt des absolutistischen ancien régi-me in Frankreich (und schließlich in ganz Europa) zerstört. Als Phasen der Französischen Revolution lassen sich unterscheidendie konstitutionelle Phase bis zum Sturz des Königtums (1789-1792), die jakobinische (Schreckens-) Herrschaft bis zurAuflösung des Konvents (1792-1795) und das Direktorium bis zum Staatsstreich Napoléons (1795-1799).

19

schafts- und Sozialordnung. Diese Freiheit musste erst durch eineliberale Gesetzgebung politisch ermöglicht werden. Die liberalenGesetze garantierten dem Individuum Rechte, in deren Rahmenes unabhängig wirtschaften und seine selbstbestimmte Existenzsichern konnte. Freiheit und Gleichheit waren die politischen Prin-zipien der Französischen Revolution und an der Forderung derFreiheit und Gleichheit musste sich bald alle Politik messen lassen.9

Bald galt nur noch eine solche Politik und eine solche Gesetzgebungals legitim, die dem Konzept der gleichen Freiheit aller entsprach.Freiheit und Gleichheit wurden zu den politischen Prinzipien derModerne, denen die freie wirtschaftliche und gesellschaftlicheOrdnung entsprach, die der industriellen Revolution folgte.10

Im Kontext der Französischen Revolution wurde auch die Ideesozialer Grundrechte debattiert, die später vor allem für sozialisti-sche politische Bewegungen wichtig wurde. Die französische Ver-fassung von 1793 enthielt erste Ansätze sozialer Grundrechte, dochkonnte sich eine wirksame Etablierung sozialer Grundrechte als ein-klagbarer Rechte des Bürgers aus Freiheitsgründen in den mo-dernen westlichen Verfassungsstaaten letztlich nicht durchsetzen.11

Gleichwohl gingen von der Idee sozialer Grundrechte wichtigeImpulse für die Auseinandersetzung mit der Frage nach der sozialenVerantwortung des Staates sowie allgemein für die Entwicklung derSozialpolitik in Europa aus.

Es dauerte einige Zeit, bis sich das politische Konzept der gleichenFreiheit und die neue liberale Wirtschafts- und Sozialordnung auchtatsächlich in den einzelnen europäischen Staaten durchsetzten. Dieentsprechenden Entwicklungen in den europäischen Staaten warendabei untereinander durchaus verschieden. Die unterschiedlichenEntwicklungswege führten zu verschiedenen Formen, Ausprägun-

9 Bekanntlich war neben Freiheit und Gleichheit die Brüderlichkeit das dritte Prinzip der Französischen Revolution. Da es sichbei ihm aber nicht um ein eigentlich politisches Prinzip handelt, wird es hier vernachlässigt.

10 Siehe zu diesen Entwicklungen im 18. und 19. Jahrhundert beispielsweise Christoph Buchheim, Industrielle Revolutionen.Langfristige Wirtschaftsentwicklung in Großbritannien, Europa und in Übersee, München 1994; Hans-Ulrich Wehler,Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen „Deutschen Doppel-revolution“. 1815-1845/49, 3. Auflage, München 1996, Bd. 3: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn desErsten Weltkriegs. 1849-1914, München 1995.

11 Siehe dazu ausführlicher den Exkurs H.

gen und Traditionen der Sozialpolitik in den einzelnen europäischenStaaten. Diese Unterschiedlichkeit der Sozialpolitik hat sich bis aufden heutigen Tag erhalten und wird auch in der absehbaren Zukunftdas Gesicht der Sozialpolitik in Europa prägen. Am Beispiel derEntwicklung in Deutschland wird im Folgenden dargestellt, wie undin welcher Gestalt sich die moderne Sozialpolitik, das heißt dienachrevolutionäre Sozialpolitik, herausbildete und etablierte.

20

V. Soziale Frage und Sozialpolitik im Deutschlanddes 19. Jahrhunderts bis zur Weimarer Republik

1. Liberale Reformen und Industrialisierung in Deutschland

Die teilweise (etwa im ALR12) schon im ausgehenden 18. Jahr-hundert vorbereiteten liberalen Reformen, die von den deutschenStaaten – zeitlich allen voran von Preußen – seit der ersten Hälftedes 19. Jahrhunderts durchgeführt wurden, hatten zum einen dierechtliche Freisetzung des Individuums und die Schaffung einesliberalen Wirtschaftsrechtes als Grundlage einer industriellenMarktwirtschaft zur Folge. Zum anderen führten diese Reformenzur Auflösung der überkommenen agrarisch-ständischen Gesell-schaftsordnung.

Exemplarisch seien drei besonders wichtige Gesetze aus denpreußischen Reformen genannt, die den rechtlichen Weg für dieEntfaltung der Industriegesellschaft in Preußen ebneten13: Das sogenannte Oktoberedikt vom 9.10.1807 (Edikt14 den erleichtertenBesitz und den freien Gebrauch des Grundeigentums sowie die per-sönlichen Verhältnisse der Land-Bewohner betreffend) beseitigtedie Standesschranken für die Berufsausübung und ermöglichte denfreien Grundstücksverkehr. Das zweite wichtige Gesetz ist dieKabinettsorder betreffend die Aufhebung der Erb-Unterthänigkeitauf sämmtlichen preußischen Domainen vom 28.10.1807. Mit ihrwurde die Erbuntertänigkeit der preußischen Bauern aufgehoben.Schließlich wurde mit dem Edikt über die Einführung einer allge-meinen Gewerbe-Steuer vom 28.10.1810 die Gewerbefreiheit inPreußen eingeführt.

21

12 Siehe oben Kap. III.4.13 Die Texte dieser Gesetze kann man nachlesen bei Ernst Rudolf Huber (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungs-

geschichte, Band 1, 3., neubearbeitete und vermehrte Auflage, Stuttgart u.a. 1978, 41 ff. Eine erläuternde Darstellung zu denpreußischen Reformen wie überhaupt zur Sozialpolitik in Deutschland seit 1789 bis zum Ende der Weimarer Republik findetsich in Hubers empfehlenswerter Verfassungsgeschichte: Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1989, achtBde., versch. Auflagen, Stuttgart u.a. 1957 ff., zu den preußischen Reformen Bd. 1, 2. verbesserte Auflage, Stuttgart u.a. 1990,insbes. 183 ff.

14 Ein Edikt (von lat. edictio) ist eine (obrigkeitliche) Bekanntmachung oder Anordnung.

Mit den Gesetzen entsprach die (Wirtschafts-) Politik Preußens imBereich der Wirtschaft durchaus dem modernen Prinzip der rechtli-chen Freiheit und Gleichheit des Individuums im Sinne des neuzeit-lichen Liberalismus der Französischen Revolution. Damit waren inPreußen die ersten Schritte der Abwendung vom absolutistisch-feu-dalen Staat vollzogen: Die bisherigen Gutsuntertanen wurden zuStaatsuntertanen; der Staat stand als nunmehr einzige Obrigkeit ineinem unmittelbaren Rechtsverhältnis zu allen seinen Bewohnern;die Ausübung eines Gewerbes wurde allein an die Lösung einesGewerbescheines gebunden, die Macht der Zünfte15 wurde durchAufhebung ihrer gewerblichen Vorrechte und des Zunftzwangs ge-brochen.

Im Hinblick auf die Sozialpolitik ist in den liberalen Reformen unddem in ihnen zur Geltung kommenden Prinzip der gleichen Freiheiteine entscheidende Zäsur zu sehen: Nach den Reformen und mit derFreisetzung des Individuums konnte staatliches Handeln zurSteuerung gesellschaftlicher, insbesondere wirtschaftlicher Verhält-nisse nicht mehr ein Handeln im Sinne des alten bevormundendenWohlfahrtsstaates16 sein, auch wenn in der staatlichen Verwaltungdie alten absolutistischen Traditionen zunächst noch einige Zeitfortlebten. Entscheidend ist, dass sich vom grundlegenden Prinzipder liberalen Freiheit und Gleichheit her der Staat nunmehr einerGesellschaft rechtlich und wirtschaftlich freier Bürger gegenüber-stellte. Die rechtlich und wirtschaftlich freien Bürger waren aller-dings bis zur Parlamentarisierung des politischen Systems und derKonstitution der Weimarer Republik (1918/19), noch keineswegspolitisch frei.

Nicht nur in Preußen, sondern auch in den anderen deutschenStaaten wurde im Verlauf des 19. Jahrhunderts eine liberale Wirt-schaftsgesetzgebung verfolgt. So konnte sich die industrielle Markt-wirtschaft in Deutschland allmählich entfalten. Es begannen umfas-sende wirtschaftliche und gesellschaftliche Wandlungsprozesse,

22

15 Zu den Zünften siehe bereits Fußnote 3.16 Siehe zum Wohlfahrtsstaat der „guten Policey“ Kap. III.4.

geprägt etwa durch den Rückgang des Anteils der in der Landwirt-schaft Tätigen und die Zunahme der Industriearbeiterschaft, durchdie mit beiden Prozessen eng zusammenhängende Landflucht unddas entsprechende rasche Anwachsen der Städte, durch den Ausbaudes Transportwesens, insbesondere des Eisenbahnverkehrs usw.17

2. Die soziale Frage

Die durch die rechtliche und wirtschaftliche Freiheit der Individuenausgelösten gesellschaftlichen Veränderungsprozesse gingen nichtnur mit dem Aufstieg der industriellen Produktion und der monetärgesteuerten Marktwirtschaft einher. Vielmehr ergaben sich ausihnen – als unbeabsichtigte Folge – zahlreiche soziale Problemesowohl auf dem Land als auch in den rasch anwachsenden Städten.Diese negativen gesellschaftlichen Konsequenzen der liberalenReformen wurden schon bald – auch von den liberalen Reformernselbst – als gesellschaftliche Übel erkannt. Man fasste sie seit etwaden 1840er Jahren unter dem Begriff der sozialen Frage zusammen.Die soziale Frage war die Chiffre für die materielle und ideelle Notweiter Bevölkerungsschichten. Diese Not bedrohte die neugewon-nene rechtliche Freiheit der Menschen und erzeugte eine erheblichegesellschaftliche Ungleichheit, ließ damit aber auch eine Gefähr-dung der politischen Ordnung (etwa durch Aufstände oder Revo-lution) befürchten.

23

17 Für einen Überblick über die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung im Deutschland des 19. Jahrhunderts siehe bei-spielsweise die umfassende Darstellung bei Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2 und Bd. 3.

Exkurs A: Die Entdeckung der Gesellschaft und das Wort „sozial“ im Deutschen

Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwälzungspro-zesse ließen bald erkennen, dass eine aus dem freien Handelnfreier Individuen resultierende Gesellschaft ihren eigenenEntwicklungsbewegungen und Gesetzmäßigkeiten folgte unddass diese Gesellschaft (wenn auch weitgehend unbeabsichtig-tes) Resultat menschlicher Entscheidungen war. Diese Einsichtführte dazu, dass die Gesellschaft als eigenständige Wirklichkeitden Menschen allmählich bewusst wurde. Dieser Entdeckungder Gesellschaft entspricht der Umstand, dass seit den 1830erJahren das vorher kaum gebräuchliche Wort „sozial“ in derdeutschen Sprache eine breitere Verwendung fand und sich ersteAnsätze einer Sozialwissenschaft etablierten. So kann man mitdem Soziologen Leopold von Wiese (1876-1969) davon spre-chen, dass mit der liberalen Gesetzgebung in Deutschland nichtnur das liberale, sondern in einem weiteren Sinne auch das„soziale Zeitalter“ anbrach18.

3. Formen der sozialen Frage im 19. Jahrhundert:Pauperismus und Arbeiterfrage

Man unterscheidet zwei Formen der sozialen Frage im Deutschlanddes 19. Jahrhunderts, nämlich den Pauperismus und die Arbeiter-frage.

• Der Pauperismus (von lat. pauper = arm, unbemittelt) bezeichnetdie Armut breiterer Bevölkerungsmassen. Sie ergab sich einer-seits aus dem Umstand, dass durch die liberalen Reformen nicht

24

18 Leopold von Wiese, Der Liberalismus in Vergangenheit und Zukunft, Berlin 1917, 115.

nur die Schollengebundenheit der Landbevölkerung, sondernauch der damit verbundene soziale Schutz entfallen war, den dieGutsherren gegenüber den von ihnen Abhängigen gewährleistethatten. Die ehemaligen Gutsuntertanen waren nun wirtschaftlichauf ihre eigene Kraft gestellt und dem Wettbewerb um Arbeits-plätze ausgesetzt. Arbeitsplätze standen jedoch infolge wirt-schaftlicher Wandlungsprozesse auf dem Land (z.B. infolge derzunehmenden Mechanisierung der Landwirtschaft) nicht hinrei-chend zur Verfügung. So breitete sich in den ländlichen RegionenArmut aus, die viele Betroffene in die Städte abwandern ließ, wosie auf Arbeit in der städtischen Industrie hofften. Doch auch dieaufstrebende Industrie konnte die notwendigen Arbeitsplätze zu-nächst nicht in hinreichender Zahl zur Verfügung stellen. Außer-dem führte die Gewerbefreiheit zu einer Handwerkskrise, da dieZünfte das Handwerk nicht mehr regulierten. Bald gab es nichtnur zu viele Handwerker, sondern zugleich verschärfte sich auchdie Konkurrenz durch die industrielle Produktion. Dies hatte eineVerelendung vieler Beschäftigter in den traditionellen Hand-werkszweigen zur Folge. Der Pauperismus war ein Übergangs-phänomen in der Umbruchphase zwischen dem ausgehenden 18.und dem beginnenden 19. Jahrhundert, das zwar durch die libera-len Reformen mitverursacht worden war. Seiner Struktur nachaber stellte er noch keine industrielle Armut dar.19 Durch Pro-duktivitätszuwachs in Landwirtschaft und Industrie, ein erhöhtesAngebot an Arbeitsplätzen, die Verbesserung von Transport-möglichkeiten und die Schaffung größerer Märkte wurde derPauperismus um die Mitte des 19. Jahrhunderts überwunden.

.• Seit etwa 1830 entwickelte sich in Deutschland neben dem

Pauperismus die Arbeiterfrage als ein spezifisch industriewirt-schaftliches Phänomen des 19. Jahrhunderts. Unter Arbeiterfrageversteht man die politische, wirtschaftliche und gesellschaftlicheHerausforderung der schnell wachsenden Schicht rechtlich freierMenschen, die wegen ihrer Eigentums- und Besitzlosigkeit da-

25

19 Siehe dazu Gerhard A. Ritter, Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, München 1991, 19,46.

rauf angewiesen waren, zur Sicherung ihres Lebensunterhaltsihre Arbeitskraft einem Arbeitgeber zu verkaufen. Diese Schichtlebte vielfach unter menschenunwürdigen wirtschaftlichen undsozialen Bedingungen am Rande des physischen Existenzmini-mums, war gesellschaftlich nicht akzeptiert und politisch ohn-mächtig.20 Die Arbeiterfrage ist unter der Perspektive der Eigen-tumslosigkeit der Arbeiterschaft einerseits, dem Kapital- undProduktionsmittelbesitz der Unternehmer und der damit verbun-denen Gestaltungsmacht über die Arbeitsbedingungen anderer-seits auch Ausdruck des Spannungsverhältnisses ziwschen Arbeitund Kapital.

Die Problematik der Arbeiterfrage ergab sich also im Wesentlichenaus der Eigentumslosigkeit der Arbeiter einerseits, ihrer rechtlichenund wirtschaftlichen Freiheit andererseits. Diese Kombinationmachte es für die nichtbesitzende Bevölkerung notwendig, zurSicherung ihrer Existenz ihre Arbeitskraft gegen Lohn einemArbeitgeber zu verkaufen – was insbesondere voraussetze, dassman körperlich im Stande war, zu arbeiten, dass man also gesundwar. Dementsprechend war die Existenz der Arbeiter insbesonderedurch die typischen Risiken Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität,Altersschwäche, Witwen- oder Waisenschaft bedroht. Diese Risikenwaren auf Grund der Arbeitsorganisation, Arbeitssituation und derLohnstruktur in der noch jungen Industrie besonders groß. So erga-ben sich in der Frühphase der liberalen Wirtschaftsentwicklung inDeutschland namentlich folgende Missstände für die Arbeitnehmer:

• Die wöchentliche Arbeitszeit war im Vergleich zu heute außeror-dentlich hoch. Noch zwischen 1860 und 1870 betrug sie 78, zwi-schen 1885 und 1890 72 und zwischen 1900 und 1905 noch 60Stunden.

• Es gab noch keinen Familienlohn, das heißt: das Arbeitsein-kommen eines männlichen Arbeiters reichte zumeist nicht zum

26

20 Diese Begriffsbestimmung lehnt sich an entsprechenden Überlegungen im Buch von Heinz Lampert / Jörg Althammer,Lehrbuch der Sozialpolitik, 6. Auflage, Berlin u.a. 1998, 14, an. Zu den folgenden Ausführungen über die Missstände fürArbeitnehmer siehe ebenda, 20 f.

Unterhalt einer Familie aus, weshalb auch Frauen und Kinderunter dem Zwang standen, ihre Arbeitskraft anzubieten. Auchwenn Frauen- und Kinderarbeit keine Neuerungen des Industria-lismus waren, so zeitigten sie in ihm doch neue und gravierendeResultate: erstens mussten Frauen und Mütter faktisch zusätzlichzur Wahrnehmung ihrer Aufgaben als Hausfrau und Mutter derErwerbsarbeit außerhalb des Hauses nachgehen; zweitens arbei-teten Kinder nicht mehr wie früher im Schutze ihrer Eltern, son-dern unter Anleitung fremder Personen, mussten sich der stren-gen Disziplin der Abläufe des Fabrikationsprozesses unterwerfenund auch für sie galten lange Arbeitszeiten. In der ersten Hälftedes 19. Jahrhunderts begannen Kinder gewöhnlich im achtenoder neunten Lebensjahr mit der Arbeit, und zwar nicht nur in denFabriken, sondern auch etwa im Bergbau. Dass unter solchenUmständen kaum Zeit für eine schulische Bildung blieb, liegtebenso auf der Hand wie die Tatsache, dass die arbeitendenKinder vielfach gesundheitliche Schäden davontrugen.

• Die auf Grund fehlender rechtlicher Regelungen und des un-ternehmerischen Kapital- und Liquiditätsmangels herrschendenArbeitsbedingungen in den Fabriken – schlechte Licht- und Luft-verhältnisse, Lärm, unzureichende sanitäre Bedingungen, man-gelnde Gesundheits- und Unfallschutzvorrichtungen – führten zuhohen gesundheitlichen Risiken der Industriearbeit. Zudem wa-ren die Arbeiter in den Fabriken oft einer bevormundenden Be-handlung ihrer Vorgesetzen ausgesetzt, die ihnen sogar in Bezugauf ihre private Lebensführung Vorschriften machten.

• Fehlende Kündigungsfristen ermöglichten eine jederzeitige Auf-lösung der Arbeitsverträge, weshalb Arbeitnehmer mit einer ele-mentaren existenziellen Unsicherheit konfrontiert waren.

• Die Situation der Arbeiter wurde verschärft durch ein großesAngebot an Arbeitskraft bei gleichzeitig mangelndem Arbeits-platzangebot, sodass die Löhne lange Zeit sehr niedrig gehaltenwerden konnten. So waren die meisten Arbeitseinkommen zu-nächst überwiegend Existenzminimumlöhne. Während die Brut-

27

toreallöhne in Industrie und Landwirtschaft von den 1820erJahren bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zurückgingen, stiegensie seither wieder an und führten zu einer Verbesserung der mate-riellen Lebensbedingungen.

4. Die gesellschaftliche Situation der Industriearbeiterschaft

Die skizzierten Missstände zogen weitere Konsequenzen für diegesellschaftliche Situation der Industriearbeiterschaft nach sich,von denen drei hervorzuheben sind:

• Die industrielle Wirtschaftsweise zeitigte für die Arbeiterschafteine weit gehende Auflösung der überkommenen Familienstruk-turen. Die Familie, die in der bäuerlich-handwerklich geprägtenvorindustriellen Welt eine solidarische Lebens- und zugleich einean einen Ort gebundene Wirtschaftsgemeinschaft war, wurdedurch das Fabriksystem lokal und beruflich auseinander gerissen.Der Lebensrhythmus der Menschen musste sich dem Arbeits-rhythmus der Fabrik anpassen, Wohnort und Arbeitsort wurdenräumlich getrennt, die Familienmitglieder arbeiteten oft an unter-schiedlichen Orten und die Fabriktätigkeit selbst war in der Regeleintönig und hart. Diese Umstände und die damit einhergehendenAnsprüche an die eigene Lebensführung wurden von vielenArbeitern als soziale Entwurzelung erlebt.

• Der Aufbruch der Menschen in die Städte, die schlechte materiel-le Lage der Arbeiter und das Wachstum der Bevölkerung erzeug-ten Wohnungsnot und Wohnungselend in den Städten. Sie drück-te sich in der Überbelegung der Wohnräume und in mangelhafterhygienischer Ausstattung der Wohnungen aus. Das Wohnen insolchen Wohnungen war vielfach gesundheitsschädlich.

• Die Arbeiterschaft wurde von den bürgerlichen Schichten zu-meist als eine minderwertige gesellschaftliche Klasse betrachtetund behandelt, welche die bürgerliche Welt bedrohe. Man ent-

28

hielt der Arbeiterschaft daher eine angemessene politischeGleichberechtigung lange vor, etwa durch das die Arbeiterschaftpolitisch benachteiligende Dreiklassenwahlrecht in Preußen21

oder durch das Verbot des Zusammenschlusses von Arbeitern (inGewerkschaften) zum Zwecke ihrer Interessenvertretung (Koali-tionsverbot). Gerade letzteres erschwerte es bis zur Einführungder Koalitionsfreiheit 22 den Arbeitern lange Zeit, ihre wirtschaft-lichen und sozialen Interessen gemeinsam gegenüber denArbeitgebern wahrzunehmen. So waren gesellschaftliche undpolitische Ungleichheit ineinander verwoben und gerade dieserUmstand offenbarte, dass die soziale Frage zugleich einen„Sprengsatz“ für die politische Ordnung darstellen konnte.Paradoxerweise hatten also die liberalen Reformen, die demPrinzip der allgemeinen, für alle Bürger gleichen rechtlichen undwirtschaftlichen Freiheit folgten, gesellschaftliche Ungleichheitund Unfreiheit für die von der Lohnarbeit Abhängigen zurFolge.23

Nachdem der Pauperismus überwunden war, galt die soziale Fragebis in das 20. Jahrhundert hinein als mit der Arbeiterfrage weitge-hend identisch. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wurde jedochzunehmend erkennbar, dass diese weit gehende Gleichsetzung vonsozialer Frage und Arbeiterfrage das Problem verengte. Zum einennämlich entschärfte sich die Problemlage der Arbeiterschaft seitder zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allmählich, zum anderenaber bildeten sich im Laufe der gesellschaftlichen und politischenEntwicklung neue soziale Problemfelder und Problemlagen heraus.Das Verständnis der sozialen Frage lediglich als Arbeiterfrage wardaher zunehmend unangemessen.

29

21 In Preußen zwischen 1849-1918 geltendes indirektes Wahlverfahren mit drei verschieden großen, nach der Höhe der Steuerneingeteilten Klassen der Urwähler, von denen jede Wählerklasse über Wahlmänner die gleiche Zahl von Abgeordneten wähl-te. Dies benachteiligte die einkommensschwachen Gruppen, die zahlenmäßig zwar vergleichsweise groß waren, aber durch dieWahlklassenteilung relativ weniger politisches Gewicht hatten als die Gruppen mit höheren Einkommen.

22 Koalitionsfreiheit ist das Recht der Arbeitnehmer (aber auch der Arbeitgeber), sich zu Berufsverbänden (d.h. bei Arbeit-nehmern: zu Gewerkschaften) zusammenzuschließen, um ihre Interessen gemeinsam wahrzunehmen. „Koalition“ (aus demLateinischen) bedeutet allgemein „Zusammenschluss“ oder „Bündnis“. Siehe zur Koalitionsfreiheit den Anhang B.

23 Siehe dazu ausführlicher weiter unten Kap. V.6. und IX.1.

Die allmähliche Verbesserung der sozialen Lage der Arbeiterschaftim 19. Jahrhunderts war im Wesentlichen zwei Entwicklungen ge-schuldet:

• Erstens dem wirtschaftlichen Wachstum der Industriewirtschaftund der dadurch gegebenen Vergrößerung der Kapitalmengen.Dies ermöglichte den Einsatz von Kapital für eine Erhöhung derSicherheit am Arbeitsplatz und für die Verbesserung der finanzi-ellen Lage der Arbeiterschaft.

• Zweitens aber der Durchsetzung von Maßnahmen einer staat-lichen Sozialpolitik, die auf die Verbessserung der Lage der Ar-beiterschaft abzielte.

Beide Entwicklungen waren vielfältig miteinander verflochten undführten erst im Zusammenspiel zum Erfolg.

5. Die Entwicklung der Industriewirtschaft und dieVerbesserung der ökonomischen Situation

Die allmähliche Verbesserung der wirtschaftlichen Situation im19. Jahrhundert erklärt sich vor allem aus einer erheblichen Leis-tungs- und Produktivitätssteigerung und dem damit einhergehendenWachstum in der Industriewirtschaft. Zu Beginn der industriellenEntwicklung in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts man-gelte es den Unternehmen vielfach an Kapital. Aus diesem Grundwar es kaum möglich, die Gestaltung der Arbeitsverhältnisse zuGunsten der Arbeiter wesentlich zu verbessern. Hinzu kam derUmstand, dass sich die Arbeitnehmer auf Grund mangelnder Ver-tretung durch Parteien und Gewerkschaften bis in die Sechziger-jahre hinein kaum machtvoll politisch artikulieren und so die Ge-setzgebung zu ihren Gunsten beeinflussen konnten.

Erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vergrößerten sichdie finanziellen Spielräume der Unternehmen. Dies ermöglichte

30

von ökonomischer Seite ein allmähliches (wenn auch immer wiedervon konjunkturell bedingten Rückschritten begleitetes) Ansteigender Löhne und eine Verbesserung der Arbeitssituation für einengroßen Teil der Arbeiterschaft.

Die qualitative Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lageder Arbeitnehmer im 19. Jahrhundert vollzog sich zunächst sehrlangsam. Zugleich entstanden neue soziale Probleme durch dasBevölkerungswachstum, die Urbanisierung und die Zunahme desAnteils der in der Industrie beschäftigten Arbeitnehmer. Daherkonnte man nicht alleine darauf setzen, dass sich die soziale Situa-tion durch Wirtschaftswachstum allein verbessern würde. Vielmehrmussten politische und rechtliche Maßnahmen zur Entschärfung dersozialen Frage beitragen. Die aus diesem Problemhorizont sich stel-lenden Aufgaben wurden bald in Angriff genommen und brachteninsbesondere:

• Die Etablierung eines Wirtschaftsrechts bzw. Wirtschaftsverwal-tungsrechts mit sozialen Komponenten und positiven sozialenFolgewirkungen. Diese führten unter anderem zur Durchsetzungvon Sicherheitsstandards in den Betrieben und zur Einführungder Koalitionsfreiheit, wobei letztere teilweise noch einschnei-denden Beschränkungen unterlag.24

• Die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zunehmende Möglich-keit der Einwirkung von Parteien, die die Interessen der Arbeitervertraten, auf die politische Willensbildung.

• Die Etablierung und Ausweitung der staatlichen Sozialpolitik, diezu mannigfachen Verbesserungen der Situation der Arbeiter imArbeitsleben sowie zur Absicherung gegen die verschiedenenexistenziellen Risiken (insbes. Arbeitslosigkeit, Krankheit, Inva-lidität, Altersschwäche, Witwen- oder Waisenschaft) und damitzur Reproduktion der Arbeitskraft wie zur allgemeinen Verbes-serung der Lebenslage der Arbeiter führte.

31

24 Siehe dazu auch Anhang B.

Letztlich haben die industrielle Produktionsweise und der Erfolgder Industriewirtschaft die materiellen Grundlagen dafür geschaf-fen, dass seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert die Massenarmutallmählich verschwand. Die Lage der Arbeitnehmer verbessertesich, und im 20. Jahrhundert schließlich wurde ein vorher ungeahn-ter Wohlstand für den ganz überwiegenden Teil der Bevölkerung inder marktwirtschaftlichen Gesellschaft möglich. Dieser Erfolg istaber keineswegs der Wirtschaftsentwicklung allein zuzuschreiben,sondern er stellte sich erst dadurch ein, dass der wirtschaftlicheProzess durch eine staatliche Sozialpolitik ergänzt, reguliert undzum Teil gesteuert wurde.

6. Die soziale Frage als gesellschaftliches Strukturproblemund die Durchsetzung staatlicher Sozialpolitik

Der sozialen Frage war allein durch das Wachstum der Industriedeshalb nicht beizukommen, weil sie sich als ein Strukturproblemder Gesellschaft erwies, das ja vor allem von der Industriewirtschaftselbst erzeugt wurde. Mit dem Strukturproblem der Gesellschaft istgemeint, dass die auf liberaler Freiheit gründende marktförmige In-dustriewirtschaft mannigfache wirtschaftliche Sachzwänge, Abhän-gigkeiten und Risiken erzeugte, die die Freiheit der Menschenbedrohten und sogar vernichten konnten und die von den betroffe-nen Individuen keineswegs aus eigener Kraft allein beseitigt werdenkonnten.

So stand man vor dem bereits erwähnten Paradox, dass aus der vomStaat etablierten rechtlichen und wirtschaftlichen Freiheit sozialeund wirtschaftliche Unfreiheit und Ungleichheit entstanden. DasProblem war nun, wie jene Ideen, welche die Grundlage der libe-ralen Reformen gewesen waren – nämlich Freiheit und Gleich-heit, Selbstbestimmung, Eigenverantwortung und die Würde derPerson –, auch unter den neuen Bedingungen der Industriewirt-schaft dauerhaft für alle Bürger Wirklichkeit werden können: Wenn

32

das Prinzip des Staates seit den liberalen Reformen die Freiheit allerwar, so musste der Staat zur Verwirklichung der Freiheit im Rahmender ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten seinen Teil beitra-gen, damit die Freiheit für alle, insbesondere auch für die Arbeiter-schaft, Realität werden konnte. So wurde die soziale Frage zumpolitischen Problem des Staates.

Der sozialpolitische Handlungsbedarf war rasch offenkundig und erwurde bereits früh – beispielsweise vom preußischen Staatskanzlerund Reformer Fürst Hardenberg (1750-1822) bereits 181725 – er-kannt. Die Frage, welche der sozialen Probleme vordringlich zulösen waren, war damit aber noch nicht beantwortet. Vielmehrmusste zunächst politisch bestimmt werden, welche Probleme alsbesonders drängend anzusehen waren (Frage der Problemlösungs-dringlichkeit). Sodann galt es, die Fähigkeiten des Staates zurLösung der Probleme zu prüfen (Frage der Problemlösungs-fähigkeit). Die Problemlösungsfähigkeit war keineswegs von vorn-herein gegeben, sondern musste zum größten Teil erst hergestelltwerden, indem sich der Staat sozialpolitische Instrumente undHandlungsmöglichkeiten neu einrichtete. Es musste also über mög-liche Institutionen und wirksame Maßnahmen nachgedacht werden,die der Staat auch finanzieren und organisieren konnte. Diese Suchenahm für manche sozialpolitischen Herausforderungen (wie etwadas Problem des Schutzes bei Arbeitslosigkeit) mehrere Jahrzehntein Anspruch. Hatte man die Problemlösungsfähigkeit errungen oderstand eine solche in Aussicht, musste schließlich noch die politischeLösungsbereitschaft zu tatsächlichem Handeln des Staates herge-stellt werden.

Von der Einsicht in die soziale Frage und der Erkenntnis der Vielfaltvon Problemen bis zu einer tatsächlichen staatlichen Maßnahme,etwa in Form eines Gesetzes, war also ein langer Weg zurückzu-legen. Prinzipiell kann man feststellen, dass die hier skizziertenPhasen des sozialpolitischen Entscheidungsprozesses (von der Fest-

33

25 Siehe dazu den Runderlass des Staatskanzlers Hardenberg über die soziale Frage vom 5.9.1817, abgedruckt bei Huber(Hrsg.), Dokumente, Bd.1, 75-78.

stellung eines Handlungsbedarfs bis zur Durchsetzung und Durch-führung konkreter staatlicher Maßnahmen) sich auch heute noch inder dargestellten Weise vollziehen.26

7. Sozialpolitik zwischen 1839 und 1871

Der erkennbare Handlungsbedarf, die Probemlösungsdringlichkeitund -fähigkeit ebenso wie die Problemlösungsbereitschaft warzunächst am größten im Bereich des Arbeitnehmerschutzes, insbe-sondere im Bereich der Kinderarbeit. So markiert ein Arbeits-schutzgesetz den Beginn der sozialpolitischen Gesetzgebung inDeutschland, nämlich das preußische Regulativ über die Beschäfti-gung jugendlicher Arbeiter in Fabriken vom 9.3.1839. Das Regula-tiv verbot die regelmäßige Beschäftigung von Kindern unter neunJahren in Fabriken, Berg-, Hütten- und Pochwerken, erlaubte eineBeschäftigung von Jugendlichen unter 16 Jahren nur nach Nach-weis eines regelmäßigen dreijährigen Schulunterrichts, beschränktedie tägliche Arbeitszeit für Jugendliche unter 16 Jahren auf zehnStunden und verbot für diese Jugendlichen die Sonn-, die Feiertags-sowie die Nachtarbeit.

Exkurs B: Die sozialpolitische Notwendigkeit einer effektivenWirtschafts- und Sozialverwaltung

Dieses erste sozialpolitische Gesetz zeigt exemplarisch, wieschwierig eine tatsächliche Umsetzung sozialpolitischer Gesetz-gebung in der Frühphase moderner Sozialpolitik war: Da dasGesetz keine Vollzugsorgane vorsah, gab es keine zureichendestaatliche Kontrolle über die Einhaltung des Gesetzes. Zudemwirkten die Strafen bei Verletzung des Gesetzes kaum ab-schreckend. Ferner konnte das Gesetz nichts an dem Umstand

34

26 Die hier gegebene Darstellung orientiert sich im wesentlichen an Lampert / Althammer, Lehrbuch der Sozialpolitik, 142 ff.

ändern, dass Familien auf das Arbeitseinkommen ihrer Kinderangewiesen waren und Kinderarbeit daher billigten bzw. zu bil-ligen genötigt waren. So blieben die de jure (d.h. vom Stand-punkt des Rechts aus) klaren Bestimmungen des Regulativs defacto (d.h. tatsächlich) zunächst weitgehend wirkungslos. Hie-ran wird deutlich, dass eine effektive staatliche Sozialpolitik aufeine funktionstüchtige staatliche Wirtschafts- und Sozialver-waltung angewiesen ist. Diese bedürfen wiederum nicht nureines ausgebildeten Personals, das vom Staat – also überSteuern – entlohnt werden muss, sondern zu ihrer rechtmäßigenAufgabenerfüllung auch eigener verwaltungsrechtlicher Rege-lungen. Zu Beginn der modernen Sozialpolitik in Deutschlandwaren diese Bedingungen nur in sehr unzureichendem Maßevorhanden. Staatliche Wirtschafts- und Sozialbehörden musstenerst aufgebaut werden, was Jahre in Anspruch nahm. Im Bereichdes Schutzes jugendlicher Arbeiter in Preußen etwa wurde einegewisse Verbesserung der staatlichen Überwachung der Schutz-bestimmungen erst durch ein Gesetz erreicht, durch welches dasRegulativ von 1839 geändert wurde, das Gesetz über Fabrik-inspektoren vom 16.5.1853, das zugleich den materiellen Schutzder Jugendlichen verbesserte.Auch heute bedarf die Sozialpolitik einer wirksamen Organi-sation durch eine effektive Wirtschafts- und Sozialverwaltung.Ohne eine solche Verwaltung, die beschlossene Gesetze tatsäch-lich umsetzt und ausführt bzw. ihre Befolgung kontrolliert, blei-ben sozialpolitische Gesetze unwirksam.27

Der rechtliche Schutz erwachsener gewerblicher Arbeiter war zu-nächst gering. Einige Regelungen – etwa eine vierzehntägige Kün-digungsfrist – brachte hier die preußische Allgemeine Gewerbe-

35

27 Zur Entwicklung der Sozialverwaltung im Deutschland des 19. Jahrhunderts siehe Hansjoachim Henning, Aufbau derSozialverwaltung, in: Kurt G.A. Jeserich / Hans Pohl / Georg-Christoph von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte,Bd. 3, Das Deutsche Reich bis zum Ende der Monarchie, Stuttgart 1984, 275-310. Zur Sozialverwaltung in der BundesrepublikDeutschland ausführlich die Beiträge von Jochem Schmitt, Karl Heinz Schaefer und Hans-Jürgen von der Heide / Jörg-DetlefKühne in: Jeserich / Pohl / von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 5, Die Bundesrepublik Deutschland,Stuttgart 1987.

ordnung vom 17.1.1845. Der Lohnschutz begann in Preußen durchdie Notgewerbeordnung vom 9.2.1849. Sie verbot, Fabrikarbeitermit Waren anstatt mit Geldlöhnen zu entlohnen (Verbot des sog.Trucksystems). Nach Einschränkungen des Trucksystems 1849 und1855 kam es 1861 im Königreich Sachsen zu dessen Verbot, einJahr später in Württemberg.

Die preußische Gewerbeordnung von 1845 markiert auch denBeginn der modernen Pflichtversicherung in Deutschland. DasGesetz sah die Möglichkeit vor, dass alle an einem Ort beschäftigtenGesellen und Gehilfen durch lokale Statuten zum Beitritt in eine ge-werbliche Unterstützungskasse verpflichtet werden konnten. EineAusweitung der Krankheitsvorsorge für Fabrikarbeiter in Preußenbrachten die Gewerbeordnung vom 9.11.1849 und das Gesetzbetreffend die gewerblichen Unterstützungskassen vom 3.4.1854.Die außerhalb des Handwerks und der Industrie Beschäftigtenblieben jedoch nur unzureichend gegen Krankheitsfolgen gesi-chert.28

Die Gründung des Norddeutschen Bundes im Jahre 1866 hattedurch Gesetz vom 1.11.1867 die Freizügigkeit zur Folge und ließeine Vereinheitlichung des Gewerberechts in den Ländern desBundes notwendig erscheinen. Am 21.6.1869 wurde die Gewerbe-ordnung für den Norddeutschen Bund erlassen. Mit diesem Gesetzwurde die Gewerbefreiheit im Bund weitgehend durchgesetzt.Darüber hinaus brachte es Regelungen zum Betriebs- und Gefah-renschutz, die die Gewerbetreibenden verpflichteten, die Arbeits-stätten gegen Gefahren für Leben und Gesundheit der Arbeiter zusichern. Ferner führte die Gewerbeordnung des NorddeutschenBundes die – allerdings mit zahlreichen Einschränkungen versehe-ne – Koalitionsfreiheit ein. Nach Gründung des Deutschen Reiches1871 wurde die Gewerbeordnung Reichsrecht.

36

28 Nach Preußen trafen auch andere deutsche Staaten verschiedene Regelungen in bezug auf die Krankheitsvorsorge. Siehe dazuim einzelnen Johannes Frerich / Martin Frey, Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland, Bd. 1: Von der vorindustriellen Zeitbis zum Ende des Dritten Reiches, 2. Auflage, München 1996, 58-60.

Das Gesetz über die Verpflichtung zur Armenpflege verpflichtete inVerbindung mit dem die Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheitnahezu uneingeschränkt gewährenden Gesetz über die Aufnahmeneu anziehender Personen (beide vom 31.12.1842) die gemeind-lichen Armenverbände in Preußen (Ortsarmenverbände) zu Leis-tungen der Armenpflege auch für Zugezogene vom Zeitpunkt desZuzuges an. Die sich hieraus ergebende Überlastung der Ge-meinden führte allerdings einige Jahre später zu Einschränkungendieser Regelungen. Um zu hohe finanzielle Belastungen der Ge-meinden durch die Armenfürsorge zu vermeiden, war das Armen-recht in Bayern, Sachsen und anderen Staaten vor allem durchBeschränkungen der Ansässigmachung geprägt.

Die skizzierten Gesetze und Maßnahmen zeigen, wie sich bereits inder frühen Entwicklungsphase noch heute prägende Besonderhei-ten der deutschen Sozialpolitik herausbildeten. Die zentralen Felderder damaligen Sozialpolitik sind bis in die Gegenwart bedeutsam,nämlich der Arbeit(nehm)erschutz, die Sozialversicherung und dieArmenpflege (letztere hieß später Sozialfürsorge und seit 1961Sozialhilfe).

8. Sozialpolitik zwischen 1871 und 1918

Die Sozialpolitik des Deutschen Kaiserreiches ist nicht nur geprägtdurch das Jahrhundertwerk der Einführung der drei so genanntenklassischen Säulen der deutschen Sozialversicherung (Krankenver-sicherung, Unfallversicherung, Invaliditäts- und Altersversiche-rung) unter Reichskanzler Otto von Bismarck, sondern insbeson-dere auch durch Fortschritte in der rechtlichen Regelung derArbeitsbeziehungen sowie durch zahlreiche sozialpolitische Maß-nahmen im Bereich des Arbeitnehmerschutzes.

Das unter Bismarck etablierte System der Sozialversicherung orien-tierte sich im Wesentlichen an fünf Ordnungsprinzipien. Trotz zahl-

37

reicher Wandlungen prägten diese Prinzipien seither und bis zumheutigen Tage das deutsche Sozialversicherungssystem.29 Es sinddies: Das Prinzip der Versicherung, nach dem die Beiträge von denVersicherten und den Arbeitgebern eingefordert und Anspruchs-rechte auf Leistungen begründet werden; das Prinzip des Zwangs,das eine gesetzlich geregelte Versicherungspflicht von Arbeit-nehmern vorsieht und zugleich mit dem Prinzip der Selbstver-waltung der Versicherungsträger gekoppelt ist; das Prinzip, dassSozialleistungen nach Maßgabe rechtlich geregelter Anspruchsvor-aussetzungen bemessen werden, und schließlich das Prinzip derorganisatorischen Vielfalt.

Entsprechend der Tatsache, dass man die soziale Frage vor allem alsArbeiterfrage auffasste, waren die neuen reichseinheitlichen Ver-sicherungen zunächst Arbeiterversicherungen. Schon bald aberwurden entsprechende Regelungen auch für die zunehmend größerwerdende Gruppe der Angestellten sowie für andere Arbeit-nehmergruppen getroffen: Dies zeigt, dass sich die soziale Frageinzwischen von einer reinen Arbeiterfrage zur Arbeitnehmerfragewandelte.

Als erste Versicherung wurde mit dem Gesetz, betreffend die Kran-kenversicherung der Arbeiter vom 15.6.1883 eine reichseinheit-liche Krankenversicherung für Arbeiter eingerichtet. In der organi-satorischen Ausgestaltung der Krankenversicherung konnte manan das bereits bestehende, historisch gewachsene dezentraleSystem von Orts-, Betriebs-, Bau-, Innungs-, Knappschafts- undHilfskassen anknüpfen, dem man zusätzlich die neu eingerichtetenGemeindekrankenkassen zufügte. Alle Kassen waren als genos-senschaftliche Selbstverwaltungskörperschaften des öffentlichenRechts mit eigenem Satzungsrecht organisiert. Sie waren organisa-torisch, finanziell sowie in der Wahrnehmung ihrer gesetzlich fest-gelegten Aufgaben voneinander und auch vom Staat weitgehendunabhängig. Die Unabhängigkeit vom Staat manifestierte sich nicht

38

29 Siehe dazu Volker Hentschel, Geschichte der deutschen Sozialpolitik (1880-1980). Soziale Sicherung und kollektivesArbeitsrecht, Frankfurt am Main 1983, 12 f.

zuletzt darin, dass die Finanzen der Kassen nicht etwa Bestandteildes Staatshaushaltes waren – ein bis heute wichtiger Aspekt derSelbstverwaltung im sozialen Versicherungssystem Deutschlands.Die Versicherungsbeiträge des Arbeitnehmers wurden zu zweiDritteln vom Versicherten, zu einem Drittel von seinem Arbeitgeberaufgebracht. Die Versicherungsleistungen umfassten vor allem diefreie ärztliche Behandlung und eine unentgeltliche Arzneimittel-versorgung, eine Krankengeldzahlung vom dritten Tag der Erkran-kung an in einer Höhe von mindestens 50 % des beitragspflichtigenLohnes sowie Unterstützungszahlungen für Wöchnerinnen. DieEinbeziehung von Familienangehörigen des Versicherten in denVersicherungsschutz konnte von den Krankenkassen per Statutermöglicht werden.

Mit dem Unfallversicherungsgesetz vom 6.7.1884 wurde eine Ver-sicherungspflicht für Arbeiter und Angestellte besonders gefähr-licher Betriebe mit weniger als 2000 Reichsmark Jahreseinkommeneingeführt. Die Kosten der Leistungen wurden von den Unter-nehmern getragen; Träger der Unfallversicherung waren die neugegründeten Berufsgenossenschaften, gegen die sich auch die Ent-schädigungsansprüche im Versicherungsfall richteten. Die Be-rufsgenossenschaften waren Selbstverwaltungskörperschaften desöffentlichen Rechts. Die Versicherungsleistungen bestanden inEntschädigungen für die betroffenen Arbeitnehmer oder im Todes-falle für deren Angehörige, und zwar im Falle von Betriebsunfällen,die eine Minderung der Erwerbsfähigkeit oder den Tod zur Folgehatten. Die Leistungen umfassten die Kosten des Heilverfahrensvom Beginn der 14. Woche nach dem Eintritt des Unfalls. Im Todes-fall erhielten die Hinterbliebenen einen Beitrag für Beerdigungs-kosten. Nach Ablauf der gesetzlichen Krankenfürsorge erhielten derbetroffene Arbeitnehmer bzw. die Hinterbliebenen eine Rente, diezwei Drittel des Arbeitsentgelts nicht überschreiten durfte. Einewichtige vom Unfallversicherungsgesetz eingeführte rechtlicheNeuerung bestand darin, dass für den Versicherungsfall das Ver-ursacherprinzip (Verschuldenshaftung) ausgeklammert wurde: DieEntschädigung war unabhängig von der Frage zu zahlen, ob dem

39

Arbeitnehmer oder dem Arbeitgeber Schuld und Verantwortung amUnfall zukamen. Die Berufsgenossenschaften hatten die Befugnis,den Arbeitsschutz durch Unfallverhütungsvorschriften zu verbes-sern.

Das Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung vom22.7.1889 führte für Arbeiter in Industrie, Handwerk und Land-wirtschaft ab dem 16. Lebensjahr und mit einem Jahresverdienstvon bis zu 2000 Reichsmark eine Versicherungspflicht ein. Danebenbestanden bestimmte Möglichkeiten der freiwilligen Versicherungfür Selbstständige sowie der Weiterversicherung nach Ausscheidenaus der versicherungspflichtigen Tätigkeit. Träger der Invaliden-rente waren Landesversicherungsanstalten, die den Charakter einerMischverwaltung hatten, d.h. einer Verwaltung, in der sich Ele-mente der Selbstverwaltung wie der staatlichen Hoheitsverwaltungfanden. Dass der Staat einen Einfluss in der Verwaltung derInvaliden- und Rentenversicherung hatte, war darauf zurückzu-führen, dass die Finanzierung der Leistungen nicht allein von denArbeitnehmern und Arbeitgebern getragen wurde. Neben derenanteiligen Beiträgen (jeweils die Hälfte), die bei 1,7% des Arbeits-verdienstes lagen, zahlte das Reich einen steuerfinanzierten Zu-schuss von 50 RM pro Rente jährlich. Der Anspruch auf Inva-lidenrente trat ein, wenn ein Versicherter erwerbsunfähig wurde undmindestens fünf Beitragsjahre aufweisen konnte, der Anspruch aufAltersrente trat ein, wenn der Versicherte das 70. Lebensjahr voll-endete und wenigstens 30 Beitragsjahre nachwies. Verstarb derVersicherte vorher, wurde seinen Hinterbliebenen in bestimmtenFällen eine Beitragsrückerstattung gewährt, während eine Witwen-oder Waisenrente nicht gezahlt wurde.

Das trotz z.T. erheblicher politischer Widerstände eingeführteSozialversicherungssystem des Kaiserreichs30 war im internationa-len Vergleich vorbildlich und führte zu einer deutlichen Verbes-serung der Lebensverhältnisse und des sozialen Status der Ver-

40

30 Zur Entstehungsgeschichte der Sozialversicherungsgesetzgebung und zu deren Beurteilung siehe Gerhard A. Ritter, SozialeFrage und Sozialpolitik in Deutschland seit Beginn des 19. Jahrhunderts, Opladen 1998, 27-52; zum internationalen Vergleichsiehe ders., Der Sozialstaat, 61 ff., 87 ff.

sicherten. Namentlich die Krankenversicherung war populär, weildas Krankengeld in gewissem Umfang effektiv gegen existenzielleNot im Krankheitsfalle schützte. Andererseits gab es zahlreicheMängel der Sozialversicherung, die bereits von den Zeitgenossenkritisiert wurden. So galt etwa das Renteneintrittsalter von 70 Jah-ren angesichts der durchschnittlichen Lebenserwartung als zu hoch.Die überwiegend geringen Leistungen sicherten das Existenz-minimum oft nur sehr unzureichend; die Renten beispielsweise, dieim Durchschnitt 200 RM jährlich und damit etwa ein Sechstel desdurchschnittlichen Arbeitsverdienstes eines Industriearbeiters be-trugen, reichten allein kaum zum Leben aus und mussten durcheigene kleinere Arbeiten, familiäre Unterstützung oder Armenhilfeergänzt werden. Ferner war der Kreis der Versicherten zunächstrecht klein, nahm aber seit Einführung der Gesetze insbesondereinfolge von Gesetzesänderungen – von besonderen Entwicklungenbei den Altersrenten abgesehen – ebenso stetig zu, wie sich dieVersicherungsleistungen ausweiteten und verbesserten.31

Die Einführung des sozialen Versicherungssystems erleichterte dieim Kaiserreich gezielt verfolgte Verbesserung der Volksgesundheitdurch verschiedene gesundheitspolitische Maßnahmen. Neben demStaat und den freien Wohlfahrtsverbänden32 waren in erster Linie dieKommunen Träger der Gesundheitspolitik. Schon vor dem ErstenWeltkrieg hatten Kommunen Gesundheitsämter eingerichtet undStadtärzte angestellt – Maßnahmen, die vor allem auch aus der sichverbreitenden Einsicht ergaben, dass die Sorge für die Gesundheitder Bevölkerung (insbesondere der armen Schichten und der Ar-beiterschaft) eine öffentliche Aufgabe sei. So verbesserte sich diegesundheitliche Versorgung immer breiterer Kreise der Gesellschaftdurch den Ausbau der Mütter- und Säuglingsfürsorge, durch zu-nehmende ärztliche Betreuung von Schulkindern, Einrichtungvon Schulspeisungen für bedürftige Kinder, Bekämpfung vonGeschlechtskrankheiten und Alkoholismus, Fortschritte in der Be-treuung Körperbehinderter und psychisch Kranker. Beispielhaft sei

41

31 Einzelheiten dazu bei Frerich / Frey, Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland, Bd. 1, 108 f.32 Zu den freien Wohlfahrtsverbänden siehe den Exkurs G.

auf die Bekämpfung der Tuberkulose (Tbc) hingewiesen, welcheam Ende des 19. Jahrhunderts die bei weitem bedeutendste Ursachevon Invalidität jüngerer Erwerbstätiger war. Den Kampf gegendiese Krankheit machte sich besonders die Invalidenversicherungzur Aufgabe und die verschiedenen Maßnahmen führten dazu, dassdie Zahl der durch Tbc verursachten Sterbefälle zwischen 1876 und1910 um etwa die Hälfte reduziert werden konnte.33

Neben der Einführung des Sozialversicherungssystems standen inder Sozialpolitik des Kaiserreiches vor allem Maßnahmen zurVerbesserung des Arbeitnehmerschutzes und der Arbeitsbeziehun-gen (d.h. der Beziehungen zwischen Arbeitgeber- und Arbeitneh-merorganisationen) im Vordergrund. Wichtig waren hierbei Novel-lierungen der Gewerbeordnung 1891 und 1900. Die Änderung desJahres 1891 brachte unter anderem eine Erweiterung der Befugnisseder Gewerbeaufsichtsbeamten und die Ausweitung der staatlichenFabrikaufsicht zur Gewerbeaufsicht, eine 24-stündige Sonntags-ruhe für die Industrie, ein Beschäftigungsverbot für schulpflichtigeKinder, den 10-Stunden-Arbeitstag für jugendliche Arbeiter undden elfstündigen Arbeitstag für Frauen, das Nachtarbeitsverbot fürJugendliche und Frauen sowie die Schaffung der Möglichkeit, inFabrikbetrieben durch die Bildung von Arbeiterausschüssen einegewisse Mitsprache der Arbeitnehmer zu erreichen, indem die Aus-schüsse bei der Festsetzung von Arbeitsbedingungen gehört werdensollten.

1911 brachte die Reichsversicherungsordnung eine Zusammen-fassung der einzelnen Versicherungsgesetze in einem Gesetzeswerkund im selben Jahr wurde die Sozialversicherung für Angestelltegeschaffen, mit der Angestellte mit einem Jahresgehalt zwischen2000 und 5000 RM pflichtversichert wurden. Versicherungsleis-tungen standen dem Versicherten bei Berufsunfähigkeit, Alter sowieWitwen- und Waisenschaft zu.

42

33 Zum Vorstehenden siehe Ritter, Der Sozialstaat, 96 f.

Der Erste Weltkrieg brachte zahlreiche sozialpolitische Fortschritte.Von besonderer Bedeutung war dabei das Gesetz über den vaterlän-dischen Hilfsdienst vom 5.12.1916. Dieses Gesetz sah – kriegs-bedingt – eine Hilfdienstpflicht für Männer vom 17. bis zum60. Lebensjahr vor und brachte eine wichtige gesetzliche Aus-gestaltung der Betriebsverfassung im Sinne sozialpolitischer Ziele(Mitbestimmung), indem für alle Hilfsdienstbetriebe mit wenigs-tens 50 Beschäftigten die Einrichtung von Arbeiter- und Ange-stelltenausschüssen verpflichtend wurde. Diese Ausschüsse hattenfür gutes Einvernehmen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmernzu sorgen und betriebsbezogene Interessen der Arbeitnehmergegenüber dem Unternehmer vorzutragen. Ferner brachte das Hilfs-dienstgesetz eine wichtige Ausgestaltung des Arbeitsvertragsrechts.Dies bedeutete vor allen Dingen eine bessere politische Aner-kennung der Interessenorganisationen der Arbeitgeber und vorallem auch der Arbeitnehmer. Die Arbeitnehmerorganisationen –also die Gewerkschaften – hatten während des Kaiserreiches einestürmische Entwicklung vollzogen und bis dahin nur sehr zögerlichdie politische Anerkennung des Staates gefunden.34

Eine endgültige Anerkennung der Gewerkschaften als vollwertigeArbeitsmarktpartei wurde durch die Gründung der Zentralarbeits-gemeinschaft der industriellen und gewerblichen Arbeitgeber undArbeitnehmer (ZAG) am 15.11.1918 – wenige Tage nach demWaffenstillstand von Compiègne – ermöglicht. Die ZAG war zwarkeine staatlich initiierte Einrichtung, hatte aber gleichwohl für diestaatliche Sozialpolitik erhebliche Bedeutung. Die ZAG war eineOrganisation der deutschen Arbeitgeberverbände und der Gewerk-schaften mit dem Ziel, die sozialen und wirtschaftlichen Problemeder Nachkriegszeit in Fortsetzung der während des Krieges begon-nenen Zusammenarbeit möglichst einvernehmlich zu lösen.35 ImRahmen der ZAG fanden sich die Arbeitgeber bereit, die Gewerk-schaften als Vertreter der Arbeitnehmer sowie das unbeschränkte

43

34 Zur Geschichte der Gewerkschaften in Deutschland siehe den Anhang C.35 Erheblichen Anteil am Zustandekommen der ZAG hatten der Industrielle Hugo Stinnes und der Gewerkschaftsführer Karl

Legien, weshalb die Vereinbarung über die Gründung der ZAG auch als Stinnes-Legien-Abkommen bezeichnet wird. 1924wurde die ZAG von den Gewerkschaften formell aufgekündigt.

Koalitionsrecht anzuerkennen, den Gewerkschaften ein Mit-spracherecht bei der Festlegung der Arbeitsbedingungen einzuräu-men, und den Achtstundentag als Normalarbeitstag festzulegen.Ferner wurden etwa Vereinbarungen zur Schlichtung von Arbeits-streitigkeiten und zur paritätischen Verwaltung der Arbeitsvermitt-lung getroffen (paritätisch bedeutet gleichberechtigt, gleichgestellt).Die Einigung zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbändenbegründete mithin die Tarifautonomie36 in Deutschland. Aus staats-politischer Perspektive trug die ZAG im Übrigen wesentlich zurBeruhigung in der revolutionären Situation nach dem ErstenWeltkrieg bei.

Schließlich wurden mit dem Gesetz, betreffend die Gewerbe-gerichte vom 29.6.1890 und dem Gesetz, betreffend die Kaufmanns-gerichte vom 6.7.1904 wichtige Schritte in der Etablierung derArbeitsgerichtsbarkeit vollzogen: Die Gesetze sahen eine gesonder-te, verbilligte und formfreie Gerichtsbarkeit für Streitigkeiten zwi-schen Arbeitnehmern und Arbeitgebern vor. Die Gerichte musstenparitätisch mit Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern besetztsein.

44

36 Tarifautonomie meint das nicht durch staatliche Zwangsschlichtung beschränkte Recht der Tarifparteien (das sind dieArbeitgeber[verbände] und die Gewerkschaften), durch Verhandlungen und notfalls wirtschaftliche Kampfmaßnahmen (wieStreik und Aussperrung) die Lohn- und Gehaltstarife von Arbeitern und Angestellten festzulegen. Erfinder der Tarifautonomiewar der Jurist Hugo Sinzheimer (1875-1945). Die Tarifautonomie wurde in Artikel 165 Absatz 1 der WeimarerReichsverfassung anerkannt und ist in Deutschland auch heute verfassungsrechtlich garantiert, nämlich in Artikel 9 Absatz 3des Grundgesetzes.

Exkurs C: Betriebliche Sozialpolitik

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigten auch Unter-nehmer soziales Engagement zu Gunsten ihrer Betriebsange-hörigen und etablierten in ihren Unternehmen eine betrieblicheSozialpolitik. Dabei lassen sich zwei gegensätzliche Typenunterscheiden: Auf der einen Seite standen Unternehmer wieetwa Alfred Krupp (1812-1887), die ihren Arbeitern, von denenstrikte Disziplin und Gehorsam verlangt wurde, ein bevormun-dend-patriarchalisches Verständnis entgegenbrachten. Auch imaußerbetrieblichen Leben suchten diese Unternehmer, ihrenArbeitern (etwa bezüglich ihres politischen Engagements oderWahlverhaltens) Vorschriften zu machen. Aus einer solchenquasi feudalistischen, patriarchalischen Vorstellungswelt herausverstanden sich diese Unternehmer als ihren Arbeitern gegen-über sozial verantwortlich und schufen so z.T. sehr großzügigesoziale Einrichtungen. Auf der anderen Seite gab es Unter-nehmer wie Ernst Abbé (1840-1905; seit 1875 Teilhaber deroptischen Werke von Carl Zeiss [1816-1888] in Jena), die frei-heitliche soziale und politische Auffassungen vertraten und ent-sprechend Selbstbestimmungsrechte, politische Betätigung oderbetriebliche Mitbestimmung der Arbeiter anerkannten. DieseUnternehmer suchten mittels betrieblicher sozialer Maßnahmendas Wohl und die gesellschaftlichen Möglichkeiten ihrer Mit-arbeiter und von deren Familien zu verbessern. Abbé etwa rich-tete unter anderem eine Gewinnbeteiligung für die Zeiss-Arbei-ter ein.

Die meisten der sozial engagierten Unternehmer des 19. Jahr-hunderts standen in ihren Auffassungen und ihrem sozialenWirken zwischen den beiden skizzierten Typen. Sie waren in derRegel davon überzeugt, dass die soziale Frage durch denFortschritt der liberalen Wirtschaft und zusammen mit denbetrieblichen sozialen Einrichtungen im Laufe der Zeit ver-

45

schwände – und zwar als Resultat des von der Industrie erzeug-ten zunehmenden allgemeinen Wohlstandes. Doch diese Auf-fassung war trügerisch: Bei all ihren wohltätigen Wirkungen fürdie Arbeiter blieb die betriebliche Sozialpolitik ungenügend,weil sie außer Stande war, der sozialen Frage als gesamtgesell-schaftlichem Strukturproblem angemessen zu begegnen – schonallein, weil sich die sozialen Einrichtungen der Unternehmen imWesentlichen auf die Betriebsangehörigen und deren Familienbeschränkten. Staatliche Sozialpolitik blieb also unverzichtbar.

Bis heute hat sich die Tradition der betrieblichen Sozialpolitikin Form bestimmter sozialer Leistungen von (insbesonderegrößeren) Unternehmen gegenüber ihren Mitarbeitern erhalten– man denke etwa an betriebliche Krankenkassen, Betriebskin-dergärten, zusätzliche außertarifliche Zahlungen usw. Tatsäch-lich scheint die Bedeutung betrieblicher Sozialpolitik heute wie-der wichtiger zu werden.

Die Sozialpolitik des deutschen Kaiserreiches lässt sich insgesamtals eine Politik beschreiben, die sich primär um die Verbesserungder sozialen Lage der Arbeiterschaft kümmerte. Im Sinne einer sol-chen Arbeiterpolitik traf sie eine Vielzahl unterschiedlicher sozial-politischer Regelungen, um den verschiedensten für Arbeiter typi-schen sozialen Problemlagen und Risiken wirksam zu begegnen.

46

VI. Sozialpolitik in der Weimarer Republik

Die Sozialpolitik der Weimarer Republik ist zunächst geprägt durchden mit dem Zusammenbruch der Monarchie (1918) und den mitder Einführung der republikanischen und demokratischen Ver-fassung vom 11.8.1919 einhergehenden politischen Systemwandel:Mit der Weimarer Reichsverfassung, die auch ausdrücklich dieVerantwortung des Staates für eine soziale Politik hervorhob, war inDeutschland die parlamentarische Demokratie eingeführt. Dieshatte nicht zuletzt zur Folge, dass die Bedeutung gesellschaftlicherInteressen für den politischen Willensbildungsprozess des Staateszunahm: Vermittelt über die nun für die Staatsleitung verantwort-lichen politischen Parteien und die (Interessen-) Verbände fandenpolitisch-gesellschaftliche Interessen unmittelbaren Zugang zumstaatlichen Willensbildungsprozess. Die Einführung der parlamen-tarischen Demokratie bedeutete ferner, dass sich die Sozialpolitikder Republik deutlich an den sozialpolitischen Konzepten undProgrammen der jeweils die Reichsregierung tragenden Parteienorientierte.

Die Weimarer Republik sah sich durch die sozialen Folgen desErsten Weltkrieges ungeheuren sozialpolitischen Aufgaben gegen-über. So kam es in den Zwanzigerjahren zu einer bedeutendenAusweitung der Sozialpolitik. Infolge der Wirtschaftskrisen zu Be-ginn der Zwanzigerjahre und Ende der Zwanziger / Anfang derDreißigerjahre, die nicht zuletzt eine außerordentlich hohe Arbeits-losigkeit zur Folge hatten, geriet jedoch auch die Sozialpolitikjeweils in große Schwierigkeiten. Vor allem die Wirtschaftskrise derspäten Zwanzigerjahre brachte eine erhebliche Verringerung derEinnahmen von Sozialversicherungen, Trägern sozialer Leistungensowie der Steuereinnahmen des Staates mit sich, sodass vielfältigLeistungskürzungen durchgeführt und sozialpolitische Maßnahmeneingeschränkt werden mussten – und dies genau in Zeiten, als dersozialpolitische Bedarf (durch die Arbeitslosigkeit mit ihren Fol-gen) besonders groß war. So ist die Entwicklung der Zwischen-

47

kriegszeit sowohl von einem Ausbau als auch von einer tiefen Kriseder Sozialpolitik geprägt – in Deutschland wie in anderen europäi-schen Industrieländern.

Die angesprochenen kriegsbedingten sozialen Aufgaben resultierteninsbesondere aus der Notwendigkeit, die heimkehrenden Soldatenwieder in das Wirtschaftsleben einzugliedern, was insbesonderehieß, sie mit einem Arbeitsplatz zu versorgen. Dies war nicht zuletztdeshalb besonders schwierig, weil die Wirtschaft selbst zunächstdas Problem der Umstellung der Kriegs- auf die Friedensproduktionzu bewältigen hatte. Zugleich wurde die Wirtschaft durch die hohenReparationslasten und verschiedene andere Auflagen des VersaillerVertrages37 (wie z.B. die Abtretung von 90 % der deutschen Han-delsflotte oder der Verlust Oberschlesiens und anderer Territorien)erheblich belastet. Hinzu trat schließlich der rasche Währungs-verfall, der in den Jahren nach dem Krieg bis zum Oktober 1923 füreine Inflation sorgte. Diese stellte nicht nur eine faktische Ent-eignung von Geldvermögenbesitzern dar, die insbesondere die bür-gerliche Mittelschicht wirtschaftlich traf, sondern die Inflation ver-nichtete auch die noch vorhandenen Vermögensbestände undBetriebsmittel der Sozialversicherungen. Zwar kam es zwischen1924 und 1928 zu einem wirtschaftlichen Aufschwung (die Zeit dersog. „goldenen Zwanziger“), doch handelte es sich um ein nur kur-zes Aufblühen der Wirtschaft: Ab 1929 verschärften sich die Pro-bleme im Kontext der Weltwirtschaftskrise wieder. Im Zuge dieserEntwicklung kam es zu deutlichen Einschnitten in der Sozialpolitik,namentlich im Sozialversicherungswesen.

Waren also bereits die wirtschaftlichen Bedingungen für die Sozial-politik in der Weimarer Republik insgesamt recht ungünstig, so tra-ten auch noch ungünstige politische Begleitumstände hinzu, dieman zusammenfassend kennzeichnen kann als eine Instabilität dergesamten politischen Situation, insbesondere in den ersten Jahrender Republik und dann wieder seit den späten Zwanzigerjahren.38

48

37 Friedensvertrag zwischen Deutschland und den Alliierten zur Beendigung des Ersten Weltkriegs; ohne deutsche Beteiligung anden Verhandlungen abgeschlossen am 28.6.1919.

Trotz dieser ungünstigen Situation wurden in jener Zeit zahlreichesozialpolitische Maßnahmen getroffen und eine Zahl wichtigersozialpolitischer Gesetze verabschiedet. Unmittelbar nach demKrieg wurden vom Rat der Volksbeauftragten, der nach Ausrufungder Republik bis zum 11.2.1919 die Staatsleitung innehatte, mit derVerordnung über Arbeiterschutz vom 12.11.1918 die im Krieg ein-geschränkten Arbeiterschutzgesetze wieder in Kraft gesetzt. Mit derVerordnung über Erwerbslosenfürsorge vom 13.11. leitete er dieÜbertragung der Arbeitslosenfürsorge von der bisherigen Zustän-digkeit der Kommunen auf das Reich ein; die Anordnung über dieRegelung der Arbeitszeit gewerblicher Arbeiter vom 23.11. ordnetegesetzlich die Einführung des Achtstundentages an; die Anordnungüber Arbeitsnachweise vom 9.12. baute den öffentlichen Nachweisvon Arbeitsgelegenheiten aus, und die Verordnung über Tarifver-träge, Arbeiter- und Angestelltenausschüsse und Schlichtung vonArbeitsstreitigkeiten vom 23.12. sicherte die rechtliche Anerken-nung der Tarifautonomie (die dann auch in der Verfassung aner-kannt wurde), machte die vereinbarten Tarife unabdingbar undermöglichte die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifver-trägen. Daneben wurden weitere Maßnahmen vom Rat ergriffen –wie etwa eine Ausdehnung des Arbeitnehmerschutzes auf Schwer-beschädigte, deren Zahl durch den Krieg erheblich angewachsenwar.

Arbeitnehmerschutz, Arbeitsmarktpolitik und Betriebsverfassungs-politik blieben Schwerpunkte der Sozialpolitik in der WeimarerRepublik. Gerade in diesen Bereichen erfolgten wegweisendeNeuerungen: Besonders zu betonen ist der Ausbau des öffentlichenArbeitsnachweiswesens, der mit dem Gesetz über die Errichtungeines Reichsamtes für Arbeitsvermittlung vom 5.5.1920 die Ein-richtung des Reichsamtes für Arbeitsvermittlung brachte. Mit demArbeitsnachweisgesetz vom 22.7.1922 wurde auch die Berufs-

49

38 Siehe zu den politischen Umständen etwa Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bde. 5, 6, 7; Golo Mann,Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, 19. Auflage, Frankfurt am Main 1987, 669-811, insbes. 758 ff.; Gordon A.Craig, Deutsche Geschichte 1866-1945. Vom Norddeutschen Bund bis zum Ende des Dritten Reiches, München 1980, 346-498.

beratung zur öffentlichen Aufgabe und mit dem Gesetz überArbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) vom16.7.1927 schließlich wurden nicht nur die Aufgaben der Arbeits-vermittlung und der Berufsberatung zusammengefasst und derReichsanstalt für Arbeit (die Vorgängerinstitution der heutigenBundesanstalt für Arbeit) übertragen, sondern mit ihm wurde auchdie reichsweite einheitliche Arbeitslosenversicherung eingeführt,die das tradierte Bismarcksche System der Sozialversicherung umeine weitere Säule ergänzte. Die Arbeitslosenversicherung folgte imWesentlichen auch den Organisations- und Leistungsprinzipien derbisherigen Versicherungszweige. Mit ihr wurden alle krankenversi-cherungspflichtigen Arbeitnehmer und ein Teil der Angestelltengegen das Risiko der Arbeitslosigkeit versichert, sofern sie unfrei-willig arbeitslos wurden, zugleich aber arbeitsfähig und arbeitswil-lig waren. Im Versicherungsfall wurde Arbeitslosenunterstützunggewährt und die Versicherung finanzierte die Kranken- sowie Ren-tenversicherungsbeiträge (zur Aufrechterhaltung der Rentenanwart-schaften) für die Arbeitslosen. Neben der Arbeitslosenunterstützungsah das AVAVG auch Kurzarbeiterunterstützung sowie die Mög-lichkeit einer ergänzenden Krisenunterstützung vor. Finanziertwurde die Arbeitslosenversicherung durch Beiträge der Versicher-ten und ihrer Arbeitgeber sowie durch öffentliche Zuweisungen.

Mit dem Gesetz von 1927 war der ehedem mehr oder weniger freie,unorganisierte, aber auch besonders unübersichtliche Arbeitsmarktin einen öffentlich verwalteten und organisierten Arbeitsmarktumgewandelt worden.

Eine Neuerung im Bereich des Sozialversicherungssystems brachteneben der wegweisenden Etablierung der Arbeitslosenversicherungferner das Reichsknappschaftsgesetz vom 23.6.1923, das einereichseinheitliche Sozialversicherung einrichtete, die die nunmehrfür Bergleute zuständige Kranken-, Alters- und Invalidenversiche-rung darstellte und die an die Stelle der 110 bis dato vorhandenenKnappschaftsvereine trat.

50

In der Betriebsverfassungspolitik wurde mit dem Betriebsrätegesetzvom 4.2.1920 ein wichtiger sozialpolitischer Fortschritt erzielt,nach welchem in Betrieben mit mindestens 20 Arbeitnehmern Be-triebsräte zu errichten waren. Diese hatten die Aufgabe der betrieb-lichen Interessenwahrnehmung der Arbeitnehmer gegenüber demArbeitgeber sowie der Unterstützung des Arbeitgebers bei derErfüllung des Betriebszweckes. Das bedeutete beispielsweise dieMitarbeit der Betriebsräte bei der Bekämpfung von betrieblichenUnfall- und Gesundheitsgefahren, Mitwirkung bei der Verwaltungbetrieblicher Wohlfahrtseinrichtungen, bei der Festsetzung derLohnsätze oder bei Kündigungen. Eine eigene dreistufige Arbeits-gerichtsbarkeit (mit Arbeitsgerichten, Landesarbeitsgerichten undReichsarbeitsgericht) wurde zur Regelung von Arbeitsstreitigkeitenmit dem Arbeitsgerichtsgesetz vom 23.12.1926 geschaffen.

Als sozialpolitisches Handlungsfeld wurde in der Weimarer Repu-blik die soziale Wohnungspolitik erschlossen. Nach dem ErstenWeltkrieg gab es einen dringenden Bedarf an Wohnungen, weilwährend der Kriegsjahre die Bautätigkeit nicht vorangetrieben wor-den war. Die wohnungsbaupolitischen Maßnahmen waren vielfältigund umfassten beispielsweise die Einrichtung günstiger Hypothe-ken. Wohnungspolitik entwickelte sich vor allem zu einer Domäneder Kommunen, für die in den Jahren seit 1918 die Förderung desprivaten wie auch des öffentlichen Wohnungsbaus zu einer zentra-len Aufgabe wurden. Große Bedeutung kam dabei den gemeinnüt-zigen (kommunalen) Baugenossenschaften zu, die sich in denZwanzigerjahren stark ausbreiteten. Diese aus Privatinitiative her-vorgehenden Genossenschaften übernahmen vielfach die Träger-schaft von Wohnungsbauprojekten und erhielten zu diesem Zweckund auf Grund ihrer Gemeinnützigkeit kommunale und staatlicheFörderung.39

51

39 Siehe zur Wohnungspolitik in der Weimarer Republik Hartmut Häußermann / Walter Siebel, Soziologie des Wohnens. EineEinführung in Wandel und Ausdifferenzierung des Wohnens, Weinheim, München 1996, 103-130; Hellmut Wollmann,Entwicklungslinien kommunaler Wohnungspolitik – eine wohnungspolitikgeschichtliche Skizze, in: Adalbert Evers / Hans-Georg Lange / Hellmut Wollmann (Hrsg.), Kommunale Wohnungspolitik, Basel, Boston, Stuttgart 1983, 92-106. DerSammelband enthält auch mehrere Beiträge zur kommunalen Wohnungspolitik in der Bundesrepublik.

Im Schicksal der Arbeitslosenversicherung von 1927 zeigt sichbesonders deutlich die mit der Wirtschaftskrise der spätenZwanzigerjahre aufkommende Krise der Sozialpolitik, insbesonde-re der Sozialversicherung: Durch die hohe Arbeitslosigkeit mussteneinerseits immer mehr Erwerbspersonen40 die Leistungen der Ver-sicherung in Anspruch nehmen, andererseits blieben aber immermehr Beiträge aus, mit denen diese Leistungen ja finanziert wurden.Es entstand so der Zwang, einerseits die Leistungen zu senken undandererseits die Sozialversicherungsbeiträge zu erhöhen. Durch dieentsprechenden Maßnahmen fielen insbesondere ab 1929 immermehr Arbeitslose aus dem Sicherungssystem der Arbeitslosenver-sicherung heraus und in die Zuständigkeit der von den Kommunengeleisteten Sozialfürsorge. Dadurch wiederum wurden die Gemein-den finanziell überlastet. Tatsächlich war das System der neu einge-richteten Arbeitslosenversicherung der Massenarbeitslosigkeit jenerKrisenjahre nicht gewachsen und brach faktisch zusammen.41 Dassdie Prinzipien und Instrumente der Arbeitslosenversicherung von1927 dennoch unter günstigeren wirtschaftlichen und politischenBedingungen angemessen waren, erwies sich dann nach 1945, als inder Bundesrepublik das aus der Weimarer Zeit bekannte System derArbeitslosenversicherung in seinen wesentlichen Teilen neu eta-bliert wurde.

Auch das System der Tariffreiheit wurde in den letzten Jahren derWeimarer Republik zunehmend ausgehöhlt: Die ursprünglich (imGesetz über die Erklärung der allgemeinen Verbindlichkeit vonTarifverträgen vom 23.1.1923 in Verbindung mit der Schlichtungs-verordnung vom 30.10. desselben Jahres) als Übergangslösunggedachte gesetzliche Möglichkeit einer staatlichen Zwangsschlich-tung zwischen den Tarifpartnern für den Fall, dass diese sich nichtauf einen neuen Tarifvertrag einigen könnten, führte dazu, dass inZeiten der Krise, als Einigungen zwischen Arbeitgebern und Ge-

52

40 Bei den Erwerbspersonen handelt es sich um denjenigen Teil der Bevölkerung, der prinzipiell am Erwerbsleben teilnimmt, alsosowohl um Erwerbstätige wie auch um Erwerbslose.

41 Ein Streit über die finanzielle Sanierung der Arbeitslosenversicherung in der Wirtschaftskrise war auch Anlass für dasAuseinanderbrechen der letzten von demokratischen Kräften getragenen Regierung der Weimarer Republik am 27.3.1930,nämlich der Regierung des Reichskanzlers Hermann Müller (SPD).

53

werkschaften immer schwieriger zu erzielen waren, immer mehrTarifverträge durch entsprechende Schiedssprüche festgelegt wur-den.

Die Sozialpolitik der Weimarer Republik ist zusammenfassenderstens durch einen Ausbau und eine Weiterentwicklung in über-kommenen Bereichen der Sozialpolitik gekennzeichnet – etwa inden Bereichen des Arbeitnehmerschutzes, der der Art wie dem Um-fang nach verbessert wurde (Schwerbeschädigtenschutz, Mutter-schutz, Arbeitszeitregelung etc.) oder im System der sozialenSicherung durch zahlreiche Fortentwicklungen und die Etablierungder einheitlichen Reichsknappschafts- und der Arbeitslosenver-sicherung. Ein zweites Kennzeichen ist darin zu sehen, dass neueBereiche der Sozialpolitik erschlossen wurden, wie insbesonderedie Arbeitsmarkt-, die Betriebsverfassungs- und die Wohnungs-politik. Den zahlreichen Fortschritten und bedeutenden Leistungenstehen jedoch deutliche Rückschritte in der Sozialpolitik gegenüber,die eine Folge der Wirtschaftskrise und der politischen Krise derWeimarer Republik Ende der zwanziger und Anfang der Dreißi-gerjahre waren. Gerade das Sozialversicherungssystem erwies sichunter den Bedingungen der Wirtschaftskrise als anfällig. Seine Leis-tungen wurden in den letzten Jahren der Republik z.T. erheblich ein-geschränkt.

VII. Sozialpolitik im Dritten Reich

Die Machtübernahme der Nationalsozialisten unter Adolf Hitler am30.1.1933 bedeutete das Ende der parlamentarischen Demokratieder Weimarer Republik und die Etablierung einer unfreiheitlichen,totalitären Diktatur in Deutschland. Die Politik des neuen Regimeswar von Anfang an an der nationalsozialistischen Weltanschauungausgerichtet. Vorstellungen einer pluralistischen Gesellschaft, einerfreien politischen Meinungs- und Willensbildung und die Konzep-tion von Grund- und Menschenrechten hatten darin keinen Platz.Tatsächlich orientierte sich die nationalsozialistische Politik an ras-sistisch-biologistischen gesellschaftspolitischen Ideen42 und an ex-pansionistisch-imperialen Plänen einer deutschen Weltherrschaft.Die Grundlagen der nationalsozialistischen Politik prägten auch dieSozialpolitik des Dritten Reiches. Diese verlor so ihre Orientierungan dem Prinzip der für alle gleichen Freiheit, das für die moderneSozialpolitik in Deutschland seit den liberalen Reformen zu Beginndes 19. Jahrhunderts prägend gewesen war. Gleichwohl beseitigtendie Nationalsozialisten das tradierte System der Sozialpolitik kei-neswegs vollständig, sondern führten (z.B. im Bereich des Sozial-versicherungswesens) die überkommene Sozialpolitik vielfach –mit mehr oder weniger großen Umgestaltungen – fort und ent-wickelten sie sogar in manchen Bereichen weiter, während sie inanderen Bereichen (insbesondere in der Arbeitsmarktpolitik) mitden Traditionen brachen und neue Formen und Instrumente derSozialpolitik einrichteten. Welche Gestalt die nationalsozialistischeSozialpolitik aber auch annahm, stets war sie den letztlich inhuma-nen Zielen des Regimes untergeordnet. Dies wiederum verhindertenicht, dass die nationalsozialistische Sozialpolitik für die einzelnen

54

42 Es ging dabei um die Erhaltung, Vermehrung und „Verbesserung“ der als im Vergleich zu anderen Rassen höherwertig ange-sehenen germanischen Rasse. Aus solchen Vorstellungen ergab sich z.B. eine bevölkerungspolitische Förderung derFortpflanzung durch eine Familienpolitik, welche Kinderreichtum bei Deutschen belohnte und einen propagandistischen Kultkinderreicher deutscher Mütter initiierte. Andererseits folgte aus den rassistisch-biologistischen Vorstellungen die möglichsteVerhinderung der Fortpflanzung solchen menschlichen Lebens, das vom Regime als „minderwertig“ betrachtetet wurde – wieetwa das Leben von Behinderten, Sinti oder Roma. Entsprechend wurden beispielsweise Eheverbote zwischen „rassischhöherwertigen“ Deutschen und „Angehörigen minderen Blutes“ verhängt (im Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und derdeutschen Ehre vom 15.9.1935 [Blutschutzgesetz]) oder Sterilisationen und Tötungen („Euthanasie“) von Behinderten durch-geführt.

Menschen (sofern sie nicht als Juden oder Angehörige anderer vomRegime bekämpfter Gruppen entrechtet, ausgegrenzt, verfolgt undschließlich ermordet wurden) durchaus positive Effekte habenkonnte und auch vielfach hatte. Genau damit rechnete das Hitler-regime: Die nationalsozialistische Sozialpolitik sollte dazu beitra-gen, dem Nationalsozialismus die Unterstützung der deutschenBevölkerung zu verschaffen – eine Rechnung, die durchaus auf-ging. 43

Im Bereich der Sozialversicherung erfolgte eine verstärkte Orien-tierung der Versicherungsleistungen an rassistisch motiviertengesundheits- und bevölkerungspolitischen Zielen, die dem Regimebesonders wichtig waren. Dies führte zur Verstärkung gesundheits-politischer Maßnahmen in allen Bereichen der Sozialversicherung;Ausgaben für Gesundheitsfürsorge und Unfallverhütung wurdenerhöht; die Wochenhilfe wurde verbessert (mit dem Gesetz überWochenhilfe und Genesendenfürsorge in der Krankenversicherungvom 28.6.1935); Versicherungsleistungen im Rahmen der Fami-lienhilfe wurden nach Kinderzahl abgestuft gewährt. Neuerungenstellten etwa die Ausweitung der Sozialversicherungspflicht auf denKreis einiger selbstständiger Berufe (Artisten, Hausgewerbetrei-bende, selbstständige Lehrer und Erzieher), die Einführung desRechts zur freiwilligen Versicherung in Invaliden- und Angestell-tenversicherung auf alle nicht versicherungspflichtigen Deutschenunter 40 Jahren und die Schaffung einer eigenen Versicherung fürselbstständige Handwerker (Gesetz über die Altersversorgung fürdas Handwerk vom 21.12.1938) dar. Diese sicherte den betroffenenPersonenkreis gegen die Risiken des Alters, der Invalidität sowieder Witwen- und Waisenschaft. Mit den genannten Neuerungenwurde Deutschland eines der ersten Länder in Europa, dessenSozialversicherungssystem eine teils zwangsweise, teils freiwilligeVersicherung einer großen Gruppe Selbstständiger vorsah, also dietraditionelle Orientierung des Versicherungswesens am Status desArbeitnehmers zu Gunsten auch der Selbstständigen aufbrach.

55

43 Zur Sozialpolitik im Dritten Reich siehe ausführlich Timothy W. Mason, Sozialpolitik im Dritten Reich. Arbeiterklasse undVolksgemeinschaft, 2. Aufl. Opladen 1978; ferner Hentschel, Geschichte der deutschen Sozialpolitik, 136 ff.

Gleichzeitig blieb das Leistungsniveau der Sozialversicherungenwährend des Dritten Reiches insgesamt vergleichsweise niedrig,weil die in der Endphase der Weimarer Republik durchgeführtenLeistungskürzungen und -einschränkungen nur zögerlich angeho-ben wurden; und zwar trotz der Beseitigung der Arbeitslosigkeit inden ersten Jahren der Hitlerdiktatur und den hieraus folgendenEntlastungen für die Versicherungen. Entsprechend wuchs derKapitalbestand der Versicherungen, der dann zweckentfremdet u.a.auch zur Finanzierung des Krieges eingesetzt wurde – was aucheine Durchbrechung des Versicherungsprinzips bedeutete. Erheb-lich eingeschränkt bzw. aufgehoben wurde auch das Prinzip derSelbstverwaltung in der Sozialversicherung, indem hier das sogenannte Führerprinzip44 etabliert wurde, nach dem die national-sozialistische Herrschaft insgesamt aufgebaut war: Die Versiche-rungseinrichtungen erhielten nunmehr vom Regime eingesetzteLeiter.

Im Arbeitnehmerschutz erfolgten während des Dritten Reichesmehrere Erweiterungen durch verschiedene Verordnungen für denGesundheitsschutz von Arbeitnehmern, durch die Etablierung vonUnfallverhütungsvorschriften, durch das Gesetz über Lohnschutz inder Heimarbeit vom 8.6.1933, durch das Gesetz über die Heim-arbeit vom 23.3.1934 und durch das Jugendschutzgesetz (Gesetzüber Kinderarbeit und über die Arbeitszeit der Jugendlichen) vom30.4.1938.

Vor allem die Bereiche der Arbeitsordnung, der Arbeitsmarkt-, derBetriebsverfassungs- und der Familienpolitik sowie der Wohlfahrts-pflege wurden sehr umfassend an den weltanschaulich motiviertenPlänen der Nationalsozialisten orientiert und erfuhren gegenüberder Weimarer Republik teilweise sehr tief greifende Änderungen:So wurden 1933 die Gewerkschaften zerschlagen, womit eine freie,

56

44 Demnach war die Bevölkerung in zahlreichen Lebensbereichen untergliedert in Führer und deren Gefolgschaften, wobei eineHierarchie von Führern in den einzelnen Bereichen eingerichtet wurde. Oberster Führer für alle Bereiche war Adolf Hitler, derdementsprechend an der Spitze aller Führerhierarchien stand und der alle Führergewalt in sich vereinigte. Das Führerprinzipstand der organisatorischen Selbstverwaltung ebenso entgegen wie jeglicher demokratischen Mitbestimmung undMitverantwortung.

selbstständige Vertretung der Arbeitnehmerinteressen nunmehr ver-hindert war. Die Lohn- und Arbeitsbedingungen wurden durch dasGesetz über Treuhänder der Arbeit vom 19.5.1933 und weitereGesetze nunmehr von Reichstreuhändern der Arbeit in Tarif-ordnungen festgesetzt. Die Reichstreuhänder unterlagen Weisun-gen des Reicharbeitsministers. Insbesondere mit dem Gesetz zurOrdnung der nationalen Arbeit vom 20.12.1934 wurden Koali-tionsfreiheit, Tarifautonomie und Streikrecht abgeschafft sowie dasBetriebsrätegesetz von 1920 aufgehoben. In dieser Weise wurdendie Rechte der Arbeitnehmer (mit geringeren Wirkungen z.T. auchdie der Arbeitgeber) innerhalb der Betriebe abgebaut. Aber auchaußerhalb des betrieblichen Lebens erfolgte eine Beschränkung vonArbeitnehmerrechten, so etwa mit dem Gesetz zur Regelung desArbeitseinsatzes vom 15.5.1934, mit der Verordnung über denArbeitseinsatz vom 25.3.1939 oder der Verordnung über die Be-schränkung des Arbeitsplatzwechsels vom 1.9.1939 sowie verschie-denen weiteren Gesetzen und Verordnungen. Mit einem Erlass Hit-lers vom 21.12.1938 wurde die Reichsanstalt für Arbeit demReichsarbeitsministerium unterstellt und zu einem Instrument derLenkung und Kontrolle des Arbeitseinsatzes und der Diszipli-nierung der Arbeitskräfte durch das Regime umfunktioniert. Frei-heit und Selbstverwaltung waren im Bereich der Arbeitswelt mithinweitestgehend beseitigt.

Die Familienpolitik orientierte sich in besonderer Weise an den ras-sistisch-biologistischen Vorstellungen des Regimes: Sie zielte vorallem auf Kinderreichtum „rassisch wertvoller“ Familien. Kinder-reichtum wurde dementsprechend vor allem mittels Steuerermäßi-gungen und einmaligen sowie laufenden Kinderbeihilfen für kin-derreiche Familien besonders gefördert.

Auch die Fürsorgepolitik orientierte sich daran, ob die Hilfs-bedürftigen als „nützliche“ – das heißt vor allem „rassisch wert-volle“ bzw. politisch zuverlässige – Glieder der Volksgemeinschaftangesehen wurden. Das Regime hielt die Leistungen im Fürsorge-bereich insgesamt niedrig. Auch im Bereich der freien Wohlfahrts-

57

pflege ging es den Nationalsozialisten um die Durchsetzung ihrerWeltanschauung. Wichtiges Instrument war hierfür die National-sozialistische Volkswohlfahrt (NSV), eine Parteiorganisation derNSDAP, die beispielsweise Sammlungen für (im Sinne des Regi-mes) Bedürftige organisierte. Demgegenüber wurden die Betäti-gungsmöglichkeiten nicht nur der konfessionellen Wohlfahrts-pflege, sondern auch etwa des Roten Kreuzes erheblich erschwertund eingeschränkt – so durch das Sammlungsgesetz vom 5.11.1934,das der NSV und dem Hilfswerk Mutter und Kind ein Monopol aufSpendensammlungen einräumte.

Insgesamt erhielt die Sozialpolitik im Dritten Reich eine von dernationalsozialistischen Weltanschauung geprägte Gestalt, wodurchsie ihren vormals freiheitlichen Charakter verlor. Für jene, die zur„Volksgemeinschaft“ gehörten und nicht ausgegrenzt und verfolgtwurden, hatte dies keineswegs nur Nachteile. Tatsächlich bedeutetedie nationalsozialistische Sozialpolitik für solche Personen bei-spielsweise eine z.T. verbesserte Absicherung gegen diejenigensozialen Risiken, die sich aus der Struktur der industriellen Arbeits-organisation ergaben. Indes kam es dem Regime keineswegs inerster Linie auf die positiven Wirkungen für den Einzelnen an. Esging ihm vielmehr um das Erreichen der weltanschaulichen Zieledes Nationalsozialismus – und das hieß letztlich: Um Weltherrschaftund um die Vernichtung sog. „niederer Rassen“. Am Schluss be-zahlte das deutsche Volk für die Verfolgung dieser Ziele mit derweitgehenden Zerstörung und Teilung Deutschlands, mit viel-fachem Tod, mit Leid, Not, Elend und Vertreibung.

58

VIII. Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland bis zur Wiedervereinigung

Die sozialpolitischen Herausforderungen der unmittelbaren Nach-kriegszeit bestanden in der Bekämpfung der sozialen Folgen desZweiten Weltkrieges und in der Wiedererrichtung einer freiheit-lichen Sozialpolitik, mit der die unfreiheitlichen und totalitärenElemente der Sozialpolitik des Dritten Reiches überwunden werdenmussten. Jedoch waren die Bedingungen zur Bewältigung dieserAufgaben anfangs ausgesprochen schlecht: Infolge der Kriegs-schäden lag die deutsche Wirtschaft in vielen Bereichen am Boden,es herrschte eine durch die Zwangsbewirtschaftung (d.h. insbeson-dere Preisfestsetzung und Rationierungen etwa von Lebensmitteln)verdeckte Inflation, die zu einem Schwarzmarktsystem führte; hin-zu kam in den ersten Monaten nach Kriegsende die Demontagenoch intakter Wirtschaftseinrichtungen durch die Siegermächte. Derschwierigen wirtschaftlichen Situation standen eine Vielzahl drän-gender, vor allem vom Krieg bedingter, sozialpolitischer Problemegegenüber. Etwa 40 % der Bevölkerung waren als Witwen undWaisen, als Bombengeschädigte, Flüchtlinge oder Vertriebene un-mittelbar von den Folgen des Krieges betroffen, und es herrschte einMangel an den elementaren Mitteln des Lebens und Überlebens.Diese Situation markierte auch die sozialpolitischen Aufgaben: DieKriegsgeschädigten und Hinterbliebenen mussten versorgt, diegroße Wohnungsnot musste beseitigt, das Elend der Flüchtlinge undVertriebenen und die Unterversorgung der Bevölkerung musstenüberwunden werden.

Nachdem die Westalliierten (USA, Großbritannien, Frankreich) ihreDeutschlandpolitik (insbesondere auch die Demontagepolitik) ver-ändert hatten und auf die Eingliederung des von ihnen besetztenwestlichen Teils Deutschlands in die westliche Staatenwelt drangen,wurden die politischen Rahmenbedingungen für die Wirtschafts-wie die Sozialpolitik im westlichen Deutschland deutlich günstiger.Noch vor der Gründung der Bundesrepublik Deutschland fand in

59

den Westzonen am 21.6.1948 eine Währungsreform statt, mit der dieentwertete Reichsmark durch die Deutsche Mark (D-Mark) ersetztwurde. Die neue Währung, die mit ihrer Einführung verbundenenwährungspolitischen Maßnahmen und die Neuordnung des west-deutschen Wirtschaftslebens im Sinne des wirtschaftsordnungs-politischen Konzeptes der sozialen Marktwirtschaft bildeten dieGrundlage für die Beseitigung der Inflation, für das Verschwindendes Schwarzmarktes und für den Wiederaufstieg von Produktionund Handel.

Exkurs D: Soziale Marktwirtschaft

Unter sozialer Marktwirtschaft ist eine ökonomische Wett-bewerbsordnung zu verstehen. Ihr Ziel ist es, die freie wirt-schaftliche Initiative des Einzelnen im Rahmen einer Markt-bzw. Konkurrenzwirtschaft mit sozialer Sicherheit und sozialerGerechtigkeit zu vereinen. Die Realisierung sozialer Sicherheitund sozialer Gerechtigkeit hängt hierbei einerseits von der wirt-schaftlichen Produktivität und Leistungsfähigkeit des Markt-systems ab, stellt sich nach dem Konzept andererseits jedochnicht „automatisch“ und durch den Markt ein, sondern bedarfbestimmter wirtschaftsordnungspolitischer Maßnahmen desStaates. Zu dieser aktiven Wirtschaftspolitik des Staates sindinsbesondere zu zählen: eine Politik der Einkommensumver-teilung und der Förderung von Eigentum zum Schutz und zurSicherung wirtschaftlich schwächerer Schichten, die Schaffungeiner rechtlichen Rahmenordnung zur Abwehr von Wettbe-werbsbeschränkungen (etwa durch Monopolbildungen) sowieeine auf Vollbeschäftigung45 ausgerichtete Konjunkturpolitik.

60

45 Mit Vollbeschäftigung ist genauer ein hoher Beschäftigungsgrad gemeint. Sie stellt ein wichtiges Ziel moderner Wirtschafts-und Sozialpolitik dar. Vollbeschäftigungspolitik bezweckt, alle vorhandenen Arbeitskräfte bei ausreichendem Lohn in Arbeitzu bringen. Man spricht traditionell von Vollbeschäftigung, wenn die Zahl der Arbeitslosen das Angebot an offenen Stellennicht überschreitet. Vollbeschäftigung gilt als erreicht, wenn der Anteil der Arbeitslosen an der Zahl der abhängigenErwerbspersonen (d.h. die Arbeitslosenquote) eine bestimmte Grenze (zwischen 0,8 und 4 Prozent) nicht überschreitet. Dertheoretische Begründer der Vollbeschäftigungspolitik ist der englische Nationalökonom John Maynard Keynes (1883-1946).

Das Konzept der sozialen Marktwirtschaft geht auf – unterein-ander durchaus unterschiedliche – Entwürfe und Vorstellungender Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Walter Eucken(1891-1950), Alfred Müller-Armack (1901-1978), WilhelmRöpcke (1899-1966), Ludwig Erhard (1897-1977; 1949-1963Bundeswirtschaftsminister; 1963-1966 Bundeskanzler) undanderer zurück. Die Vertreter der Konzeption der sozialenMarktwirtschaft sahen in dieser Wirtschaftsform einen „drittenWeg“ jenseits von ungezügeltem Wirtschaftsliberalismus einer-seits und staatlicher Wirtschaftslenkung andererseits.46 Die deut-sche Wirtschaftsordnung der sozialen Marktwirtschaft wird seiteiniger Zeit gelegentlich auch mit einem Terminus des französi-schen Wirtschaftswissenschaftlers Michel Albert als „rheini-scher Kapitalismus“ bezeichnet und als der US-amerikanischenSpielart des Kapitalismus entgegengestellt.47

Die Wirtschafts- und Sozialpolitik in der Bundesrepublik orien-tiert sich bis heute zwar am Leitbild der sozialen Marktwirt-schaft, es wäre aber falsch zu meinen, diese Politik sei einfachdie „Anwendung“ oder „Umsetzung“ einer wirtschaftswissen-schaftlichen Theorie. Vielmehr beruhte die Wirtschaftspolitik inder Bundesrepublik meist auf einem breiten gesellschaftlichenund politischen Konsens. Nach diesem Konsens unterliegt dieWirtschaftsordnung einer sozialen Verantwortung und man siehtden Staat in der Pflicht zur sozial verantwortlichen Wirtschafts-ordnungspolitik. Wie diese Politik angesichts sich wandelnderAufgaben und Problemlagen im Einzelnen auszusehen hat, istdabei das Resultat politischer Auseinandersetzungen und Übe-reinkünfte, die sich schließlich in wirtschafts- und sozialpoliti-schen Gesetzen und Maßnahmen niederschlagen.

61

46 Siehe zum Konzept der sozialen Marktwirtschaft beispielsweise Ordo. Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft undGesellschaft, Bd. 48: Soziale Marktwirtschaft. Anspruch und Wirklichkeit seit fünfzig Jahren, Stuttgart 1997, in dem sichsowohl zwei Texte Euckens und Röpkes aus den Jahren 1932 bzw. 1953 als auch aktuelle, gegenwartsbezogene Arbeiten fin-den.

47 Siehe Michel Albert, Kapitalismus contra Kapitalismus, Frankfurt am Main, New York 1992.

Der (nach einigen auf die Währungsreform folgenden kurzfristigenSchwierigkeiten einsetzende) lang anhaltende Wirtschaftsauf-schwung ab 1950 (das sog. „Wirtschaftswunder“), der 1957 auchdie Vollbeschäftigung brachte, bot eine sichere ökonomischeGrundlage für die breit gefächerte und höchst erfolgreiche Sozial-politik der Bundesrepublik Deutschland, die bereits in der erstenLegislaturperiode unter Bundeskanzler Konrad Adenauer in Angriffgenommen wurde. Mit entscheidend für diesen Erfolg der Sozial-politik war dabei neben der wirtschaftlichen Prosperität auch diepolitische Stabilität der Bundesrepublik, die sich in der breitenZustimmung der Westdeutschen zur Verfassung vom 23.5.1949,dem Grundgesetz (GG), ausdrückte. Mit dem Grundgesetz wurdenach der Katastrophe des Dritten Reiches zum zweiten Mal aufdeutschem Boden eine freiheitliche staatliche Ordnung mit par-lamentarischem Regierungssystem etabliert. Ausdrücklich kenn-zeichnet das Grundgesetz diese Ordnung auch als Sozialstaat,nämlich in Artikel 20 und 28 GG.48 Zugleich gilt für die Bundes-republik, was bereits für das parlamentarische System der WeimarerRepublik galt: Die Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschlandwar nicht nur geprägt von den Notwendigkeiten der jeweiligenLage, sondern stets auch von den sozialpolitischen Vorstellungender Parteien, die die Bundesregierung trugen. Dementsprechendwurden in den einzelnen Legislaturperioden auch programmatischgeprägte Schwerpunktsetzungen in der Sozialpolitik vorgenommen.Daher sind für ein angemessenes Verständnis der bundesdeutschenSozialpolitik auch die jeweiligen politischen Mehrheitsverhältnissein Rechnung zu stellen – was im Folgenden allerdings nicht imEinzelnen ausgeführt werden kann.49

Im Rahmen des grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzips und auf derGrundlage des enormen wirtschaftlichen Wachstums in den erstenbeiden Jahrzehnten der Bundesrepublik erfolgte mittels einer Viel-

62

48 Zum Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes siehe grundlegend Rolf Gröschner, Artikel 20 (Sozialstaat), in: Horst Dreier(Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Bd. 2, Tübingen 1998, 79-105 und Hans F. Zacher, Das soziale Staatsziel, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1: Grundlagen von Staat und Ver-fassung, Heidelberg 1987, 1045-1111.

49 Siehe dazu etwa Kurt Sontheimer / Wilhelm Bleek, Grundzüge des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland,aktualisierte Neuausgabe, Bonn 2000.

zahl sozialpolitischer Gesetze ein rascher quantitativer und qualita-tiver Ausbau der Sozialpolitik. Zwar verringerten sich die wirt-schaftlichen Wachstumsraten in den Sechzigerjahren, und seit etwaMitte der Siebzigerjahre verschlechterten sich die wirtschaftlichenRahmenbedingungen für die Sozialpolitik in der BundesrepublikDeutschland50 z.T. erheblich. Eine Folge war das Entstehen einerhohen Arbeitslosigkeit, die auch in den Achtzigerjahren anhielt undsich nach der deutschen Wiedervereinigung noch erhöhte. Trotz die-ser verschlechterten wirtschaftlichen Bedingungen erfolgte auch inden siebziger und Achtzigerjahren mit dem vielfältigen Ausbau dessozialpolitischen Schutzes und der Schaffung neuer sozialpoliti-scher Instrumente und Institutionen eine Fortentwicklung und Aus-weitung der Sozialpolitik. Zugleich aber traten in dieser Zeit auchdie vor allem wirtschaftlichen, d.h. insbesondere finanziellen Gren-zen der Sozialpolitik deutlicher in das politische Bewusstsein,sodass seit den frühen Achtzigerjahren mittels zahlreicher gesetzge-berischer Reformprojekte versucht wurde, die Expansion der So-zialpolitik einzudämmen und die hohen finanziellen Kosten derSozialpolitik zu verringern. Dies geschah primär durch diverseLeistungseinschränkungen und -kürzungen, zum Teil aber auch mitMaßnahmen zum „strukturellen Umbau“ einiger Bereiche und Ins-titutionen der Sozialpolitik.51

Wegen der Vielzahl der sozialpolitischen Gesetze und Maßnahmeninnerhalb des hier betrachteten Zeitraumes von 1949 bis 1990 wer-den im Folgenden nur besonders wichtige vorgestellt.52 Fast allegenannten Gesetze wurden mehrfach novelliert und damit der sichwandelnden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Situation sowieden sich ändernden politischen Zielsetzungen in der Bundesrepu-blik Deutschland angepasst. Die meisten der nachfolgend angespro-chenen Gesetze sind dementsprechend in aktuellen Fassungen (und

63

50 Die Ursachen hierfür waren vielfältig. Zu nennen sind etwa die durch Beschluß der OPEC (Organization of the PetroleumExporting Countries = Organisation der erdölexportierenden Länder) ausgelösten massiven Ölpreissteigerungen Ende 1973(„Ölschock“) und 1978 / 79; erhebliche Lohnerhöhungen in den Jahren 1969 bis 1974; der Einsatz neuer Technologien, die zuArbeitskräfteeinsparungen führten; eine Zunahme des Arbeitskräftepotentials und die Verringerung der Investitionsquote.

51 Siehe zu dieser Problematik die knappe, aber inhaltsreiche Studie von Heinz Lampert, Krise und Reform des Sozialstaates,Frankfurt am Main 1997.

52 Eine umfangreiche, aber keineswegs vollständige Liste sozialpolitischer Gesetze der Zeit von 1948 bis Ende 1999 findet sichbei Lampert / Althammer, Lehrbuch der Sozialpolitik, 97-99.

mit veränderten Gewähleistungsbedingungen und Leistungen) auchheute noch in Kraft oder aber durch andere Regelungen ersetzt wor-den.

Den bereits oben genannten drängenden sozialen Problemen, diesich unmittelbar aus den Kriegsfolgen ergaben, galt die besonderesozialpolitische Aufmerksamkeit in den ersten Legislaturperioden:Auf der Grundlage des Soforthilfegesetzes (Gesetz zur Milderungdringender sozialer Notstände) vom 8.8.1949 wurden erste Maß-nahmen des Ausgleichs von Kriegslasten eingeleitet. Sie bestandenin Lebensunterhaltshilfe für Flüchtlinge, Vertriebene und Geschä-digte der Währungsreform. Das am Konzept des Schadensaus-gleichs orientierte Bundesversorgungsgesetz (Gesetz über dieVersorgung der Opfer des Krieges) vom 20.12.1950 schuf eine neueGrundlage für die Versorgung der Kriegshinterbliebenen undKriegsbeschädigten. Mit dem Lastenausgleichsgesetz (Gesetz überden Lastenausgleich; LAG) vom 14.8.1952 wurde eine Vielzahl vonMaßnahmen in die Wege geleitet, die auf einen sozial gerechten undwirtschaftlich vernünftigen Ausgleich der kriegsbedingten Lasten,von denen die Bürger unterschiedlich stark betroffen waren, zielte:Die besonders stark Betroffenen erhielten auf Kosten der wenigeroder nicht Betroffenen Ausgleichsleistungen. Für die gesell-schaftliche Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen in dieBundesrepublik53 war das LAG ein bedeutsamer Schritt, indem esden teilweisen Ersatz von Vermögensverlusten sowie die Gewäh-rung von Aufbaudarlehen vorsah.

Unmittelbar der Beseitigung von Kriegsfolgen diente eine umfang-reiche und vielfältige Wohnungs- und Wohnungsbaupolitik, die zumeinen auf die Förderung des Baus von Mietwohnungen (sozialerWohnungsbau) ausgerichtet war, zum anderen auf die Vermögens-bildung zur Schaffung privaten Wohnungseigentums abzielte (staat-liche Förderung des Bausparens durch Prämien und Steuervergüns-tigungen) und schließlich für bestimmte Personenkreise rechtliche

64

53 In der Bundesrepublik lebten seinerzeit etwa 10 Millionen Vertriebene.

Ansprüche auf Mietbeihilfen / Wohngeld und auf andere das Woh-nen betreffende Begünstigungen gewährte. Zu nennen sind hiernamentlich das Erste Wohnungsbaugesetz vom 24.4.1950, dasWohnungseigentumsgesetz vom 15.3.1951, das Wohnungsbau-Prämiengesetz vom 17.3.1952 und das Zweite Wohnungsbau- undFamilienheimgesetz vom 27.6.1956.

Das nach Kriegsende bestehende Defizit von etwa sechs MillionenWohnungen konnte durch diese und andere Gesetze bis 1962 aufrund eine Million Wohnungen verringert werden. So wurden dieunmittelbaren Kriegsfolgen im Bereich des Wohnbedarfs weitge-hend beseitigt. Auf diesem Sektor der Sozialpolitik stellten sichaber bald kriegsfolgenunabhängige neue Bedarfe und gewandelteProblemlagen ein, die dazu führten, dass nach wie vor eine umfang-reiche und vielfältige Wohnungs- und Wohnungsbaupolitik betrie-ben wird. Die neuen Herausforderungen ergeben sich heute etwaaus der Bevölkerungsbewegung in die Ballungsgebiete; aus demZustrom von Aus- und Übersiedlern insbesondere in den Acht-zigerjahren; aus den gestiegenen qualitativen Ansprüchen an denWohnraum und den dadurch ausgelösten Bedarf an größeren undmoderneren Wohnungen oder aus dem Wandel von Lebensstilenund -formen: Namentlich die rapide Zunahme von Einpersonen-haushalten in der so genannten „Singlegesellschaft“ 54 hat einenMehrbedarf an entsprechenden Wohnungen zur Folge. Dem Bedarfan zu errichtenden Wohnungen wurde Anfang der Siebzigerjahremit einem langfristigen Wohnungsbauprogramm der Bundes-regierung zur Förderung des sozialen Wohnungbaus, in den Acht-zigerjahren durch stärkere Förderung der Bildung von Wohn-eigentum besonders für Familien mit geringeren Einkommensozialpolitisch begegnet. Neben der Baupolitik stand aber auchweiterhin die finanzielle Förderung von Personen zum Zweckeeiner Verringerung ihrer durch Wohnkosten entstehenden Belas-tung. Dem diente etwa das Gesetz über Miet- und Lastenbeihilfen

65

54 Mit dem Begriff der Singlegesellschaft wird der Umstand gefasst, dass immer mehr Menschen bewusst und gewollt, z.T. aberauch ungewollt und infolge äußerer Umstände (etwa durch Verwitwung), alleine in einem Einpersonenhaushalt leben und dasshierin ein kennzeichnendes Merkmal unserer Gesellschaft besteht. In der Bundesrepublik Deutschland waren 1957 18%, 197528 %, 1994 35 % aller Haushalte Einpersonenhaushalte. Siehe auch das Schaubild im Anhang E.

vom 23.6.1970, das Wohngeldgesetz vom 14.12.1970 oder dasGesetz zur Regelung der Miethöhe vom 18.12.1974.

Im Bereich der Sozialversicherungspolitik wurden noch vor Grün-dung der Bundesrepublik unter Anknüpfung an die Regelungen undEinrichtungen der Weimarer Zeit die Renten-, Unfall- und Kranken-versicherung – soweit notwendig – restrukturiert. Mit der Wäh-rungsreform wurde (im Dritten Gesetz zur Neuordnung desGeldwesens vom 20.6.1948 – Umstellungsgesetz) der Wert dererworbenen Sozialversicherungsansprüche im Verhältnis eineReichsmark zu einer D-Mark gesichert (während der allgemeineUmstellungskurs 10 RM zu 1 DM war). In den folgenden Jahrenerfuhr das von Bismarck etablierte und seither weiterentwickelteSozialversicherungssystem umfangreiche Erweiterungen und Ver-besserungen. Unter diesen ragt die (mehrere Gesetze umfassende)Rentenreform von 1957 heraus. Der bis dahin für die Renten-versicherung tragende Bismarcksche Gedanke, dass die Rente einenZuschuss zum Lebensunterhalt darstelle, wurde mit dieser Reformüberwunden, indem nunmehr die Rente als Lohnersatz angesehenwurde. Damit sollte gewährleistet werden, dass der bisherigeLebensstandard der Arbeitnehmer mit Eintritt in das Rentnerlebenselbstständig aufrechterhalten werden konnte. Entsprechend dieserÜberlegung erfolgte eine deutliche Anhebung der Renten von imDurchschnitt 65 %. Damit auch Rentner nicht von der allgemeinenEntwicklung der Erwerbseinkommen abgekoppelt würden und ander Steigerung des gesellschaftlichen Wohlstandes partizipierenkönnten, sollte die Rente ferner „dynamisch“ steigen: Die Renten-reform führte die sog. Dynamisierung der Renten ein, das heißtderen automatische Anpassung an die allgemeine Lohn- undGehaltsentwicklung unter Zugrundelegung einer mathematischenAnpassungsformel (Rentenformel), nach der die Renten jährlich neuzu berechnen waren.55

66

55 Zur Rentenreform von 1957 als „sozialpolitische[r] Tat historischen Ranges“ siehe Hentschel, Geschichte der deutschenSozialpolitik, 159 ff., bes.162 ff. Dort (165 f.) eine Erläuterung der Rentenformel von 1957 (die inzwischen mehrfach geändertwurde). Stark beeinflusst war die Rentenreform des Jahres 1957 von Überlegungen des Wirtschaftswissenschaftlers WilfriedSchreiber, der die Einführung der dynamischen Rente angeregt hatte. Seine Vorschläge waren zunächst vor allem seitens derWirtschaft und ihrer Interessenverbände auf deutliche Kritik gestoßen.

Den Altersrenten vergleichbar wurden 1963 auch die Renten-leistungen der Unfallversicherung sowie 1970 und 1972 Leistungender Kriegsopferversorgung dynamisiert. Zu der umfassenden Re-form im Bereich der Rentenpolitik gehörten ferner die Einführungeiner gesetzlichen Alterssicherung für Landwirte (Gesetz über eineAltershilfe für Landwirte vom 27.7.1957) und die Reform derAlterssicherung für das Handwerk (Gesetz über eine Rentenver-sicherung der Handwerker – Handwerkerversicherungsgesetz vom8.9.1960).

Zunehmende Verbesserungen beim Schutz von Arbeitnehmern imKrankheitsfalle brachten weitere Maßnahmen in der Sozialver-sicherungspolitik: Insbesondere wurden mit dem Gesetz über dieFortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfalle und über Ände-rungen des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung vom27.7.1969 die Arbeiter den Angestellten bei der Lohnfortzahlung imKrankheitsfalle gleichgestellt und erhielten nun wie diese eine volleLohnfortzahlung für die ersten sechs Wochen nach dem Eintreteneiner Erkrankung. In der Unfallversicherung wurde der Versiche-rungsschutz mit dem Gesetz über Unfallversicherung für Schülerund Studenten sowie Kinder in Kindergärten vom 18.3.1971 aufSchüler, Studenten und Kindergartenkinder ausgeweitet. 1972 er-folgte eine zweite wichtige Reform im Bereich der Rentenver-sicherung: Das Rentenreformgesetz vom 16.10.1972 öffnete dieRentenversicherung praktisch für jedermann, also insbesondereauch für Selbstständige, ersetzte die bisherige starre Altersgrenze inder Rentenversicherung zu Gunsten einer flexiblen und führte diesog. Rente nach Mindesteinkommen ein. Danach war für die Ren-tenberechnung eines bestimmten Personenkreises von Versicherten(nämlich jene, die vor dem 1.1.1973 mehr als 24 Jahre in der Ren-tenversicherung pflichtversichert waren) ein Bemessungssatz von75 % anzusetzen – eine Regelung, die vor allem bei Frauen zu einerRentenerhöhung führte.

Eine Neugestaltung erfuhr nach dem Krieg die Fürsorgepolitik, ins-besondere durch das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) vom 30.6.und das Gesetz für Jugendwohlfahrt vom 11.8.1961. In beiden

67

Gesetzen wurden für die jeweils betroffenen Personen Rechts-ansprüche auf eine Hilfe etabliert, die dem Hilfeempfänger dieFührung eines menschenwürdigen Lebens ermöglichen und ihn zurSelbsthilfe befähigen sollte (Hilfe zur Selbsthilfe). Ferner wurdeden Trägern der freien Wohlfahrtspflege56 und den Trägern öffentli-cher Fürsorge (d.h. den Kommunen) im Bereich der SozialhilfeVorrang vor den staatlichen Trägern eingeräumt. Mit dem BSHGwurde der Begriff der Sozialfürsorge durch den der Sozialhilfeersetzt. Eine Neuordnung der Kinder- und Jugendhilfe brachte dasGesetz zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts vom26.6.1990. Dieses sieht eine vorbeugende (präventive) und thera-peutisch umfassende, familienunterstützende Förderung vonKindern und Jugendlichen vor.

Für die Familienpolitik bedeutete das Kindergeldgesetz (Gesetzüber die Gewährung von Kindergeld und über die Errichtung vonFamilienausgleichskassen) vom 13.11.1954, das Arbeitnehmernund Selbstständigen mit drei oder mehr Kindern einen Anspruch aufKindergeld einräumte, einen bedeutsamen Schritt. Den Schwer-punkt der Familienförderung bildete aber bis 1974 nach wie vor dersteuerliche Kinderfreibetrag. Dies ist ein bei der Ermittlung derSteuerbemessungsgrundlage abzuziehender Betrag für Steuer-pflichtige mit Kind(ern), der nicht der Besteuerung unterliegt. Imdeutschen Einkommensteuerrecht wurde der Kinderfreibetrag 1975abgeschafft. Das unmittelbar nun ab dem ersten Kind ausgezahlteKindergeld bildete damit das Hauptinstrument der finanziellen För-derung von Familien. Durch Gesetz vom 20.12.1982 wurde derKinderfreibetrag dann allerdings wieder eingeführt.57 Das Bundes-erziehungsgeldgesetz vom 6.12.1985 führte die Zahlung vonKindergeld (damals max. 600 D-Mark für zehn Monate) für denFall ein, dass eine kindererziehende Mutter bzw. ein Vater wenigerals 19 Stunden in der Woche erwerbstätig war. Zugleich wurde derErziehungsurlaub für Arbeitnehmer mit Anspruch auf Erziehungs-

68

56 Zur freien Wohlfahrtspflege siehe den Exkurs G.57 Der Kinderfreibetrag kann aber seit 1996 nur noch alternativ zum Kindergeld in Anspruch genommen werden.

geld sowie ein Erziehungsjahr in der Rentenversicherung, d.h. dieAnrechnung eines Jahres Erziehungszeit als Versicherungszeit, eta-bliert. Als familienpolitisch (und nicht nur bildungspolitisch) wich-tiges Gesetz ist auch das Bundesausbildungsförderungsgesetz(BAFöG) vom 26.8.1971 anzusehen, das Ausbildung und Lebens-unterhalt von entsprechend begabten Jugendlichen in dem Fallefinanziell förderte, dass die notwendigen Mittel hierzu nicht ander-weitig (also insbesondere nicht durch die Eltern) zur Verfügungstünden.

Exkurs E: Familienlastenausgleich und Ehegattensplitting

Die ökonomische Lage von Familien ist auf Grund der hohenmateriellen Aufwendungen für Kinder in der Regel schwierigerals diejenige von Paaren und Alleinstehenden ohne Kinder.Ökonomisch betrachtet nehmen Paare mit ihrer Entscheidungfür Kinder verschiedene Nachteile in Kauf. Andererseits abererfüllen Familien prinzipiell eine Vielzahl von für die gesamteGesellschaft wichtigen Funktionen: Sie sichern die gesellschaft-liche Reproduktion und damit die Zukunft einer Gesellschaft,gewährleisten durch die Sozialisation der Kinder eine Solida-rität zwischen den Generationen und sie vermitteln als Solidar-gemeinschaften auch soziale Sicherheit in einem weiterenSinne, indem sie ihren Angehörigen oft Hilfe in Notlagenleisten, Erholung und Entspannung oder die Vermittlung vonLebensfreude bieten.58 Die finanziellen Nachteile und Unsicher-heiten einerseits, die gesellschaftlichen Funktionen und dieUnverzichtbarkeit von Familien andererseits, ließen einen sozi-alpolitischen Ausgleich zu Gunsten von Familien notwendigerscheinen. Die staatlichen Leistungen, die die Unterschiede inder Lebenslage von Familien im Vergleich zu Paaren undAlleinstehenden ohne Kinder ausgleichen sollen, fasst manunter dem Begriff des Familienlastenausgleichs im weiterenSinne zusammen, während als Familienlastenausgleich im

69

58 Neben diesen prinzipiellen gesellschaftlichen Leistungen steht der hier nicht weiter verfolgte Umstand, dass Familien auch oftUrsache sozialer Probleme sind, die ihrerseits sozialpolitischer Maßnahmen bedürfen.

engeren Sinne Kindergeld und steuerliche Kinderfreibeträgebezeichnet werden. Zum Familienlastenausgleich im weiterenSinne sind verschiedene familienfördernde und -unterstützendeInstrumente und Maßnahmen zu rechnen – so etwa die beitrags-freie Mitversicherung von Angehörigen in der Krankenversi-cherung, familienorientierte Maßnahmen der Wohnungspolitik,in der Rentenversicherung anrechenbare Kindererziehungszei-ten, Erziehungsgeld, Erziehungsurlaubsregelungen usw. Trotzzahlreicher Leistungen im Bereich des Familienlastenausgleichsim weiteren Sinne gibt es nach wie vor zahlreiche Probleme inder Familienpolitik. Die relative Benachteiligung und Schlech-terstellung von Familien ist noch keineswegs in angemessenerWeise ausgeglichen.

Einen besonderen Problempunkt stellt dabei das steuerrecht-liche Ehegattensplitting dar. Bei diesem werden die Einkommenvon Ehepartnern addiert. Die entstehende Summe wird halbiertund die Steuerlast des Ehepaares berechnet sich dann nach demdaraus resultierenden Betrag, der die Grundlage der Steuer-bemessung darstellt und (pro Ehepartner einmal, also) doppeltversteuert wird. Die generelle Wirkung des Ehegattensplittingsbesteht darin, dass die Steuerprogression (Steigerung desSteuersatzes in Abhängigkeit von der Höhe des Einkommens)für Ehepaare abgemildert wird, diese also dadurch steuerlichbegünstigt werden, und zwar umso mehr, je größer der Unter-schied der zu versteuernden Einkünfte der Partner ist. Dieskommt zwar auch Ehepaaren mit Kindern zugute, doch ist dasEhegattensplitting primär ein eheförderndes, nicht ein familien-förderndes Instrument. Es begünstigt umso mehr die kinder-losen Ehepaare, je größer deren Zahl wird, ohne dass spezifischfamilienpolitische Gesichtspunkte berücksichtigt würden. DasEhegattensplitting ist wegen dieser Wirkungen umstritten undseit Jahren wird über seine Abschaffung diskutiert.59

70

59 Siehe zum Familienlastenausgleich Max Wingen, Familienpolitik. Grundlagen und aktuelle Probleme, Bonn 1997, 182-199,zum Ehegattensplitting Lampert / Althammer, Lehrbuch der Sozialpolitik, 354.

Im Bereich der Ordnung der Arbeitsbeziehungen und des Tarif-rechts war die im Dritten Reich aufgehobene Tarifautonomie vonArbeitgeberverbänden und Gewerkschaften schon vor Gründungder Bundesrepublik wiederhergestellt worden. Das Grundgesetzsicherte die Tarifautonomie in seinem Artikel 9 Absatz 3 und wei-tere Gesetze (nämlich das Gesetz zur Änderung des Tarifvertrags-gesetzes vom 11.1.1952 und das Gesetz über die Festsetzung vonMindestarbeitsbedingungen vom selben Tage) trafen entsprechendeEinzelregelungen.

Im Arbeitnehmerschutz wurde mit dem Kündigungsschutzgesetzvom 10.8.1951 ein allgemeiner Kündigungsschutz im Arbeitsrechtetabliert60; bestimmte Arbeitsverhältnisse und bestimmte Arbeit-nehmergruppen erhielten Schutz durch das Heimarbeitsgesetz vom14.3.1951, das Mutterschutzgesetz (Gesetz zum Schutz der erwerbs-tätigen Mütter) vom 24.1.1952 und das Schwerbeschädigtengesetzvom 16.6.1953. Einen Schutz vor Lohnausfall der Arbeitnehmer imFalle der Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers brachte das Gesetzüber die Einführung eines Konkursausfallgeldes vom 20.7.1974.

Im Bereich der unternehmerischen Mitbestimmungsrechte vonArbeitnehmern etablierten verschiedene Gesetze entsprechendeRegelungen. Den Anfang machte das Montanmitbestimmungsgesetz(Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Aufsichts-räten und Vorständen der Unternehmen des Bergbaues und derEisen und Stahl erzeugenden Industrie) vom 21.5.1951. Ihm folgtendas Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) vom 11.10.1952 und – fürdie Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst – das Personalvertretungs-gesetz vom 5.8.1955; beide wurden in den Siebzigerjahren im Sinneeiner Erweiterung der Mitbestimmungsrechte novelliert.

Nach den Jahren der Vollbeschäftigung stellten sich seit den aus-gehenden Sechzigerjahren infolge der mit verschiedenen Ent-wicklungen in der Wirtschaftsordnung einhergehenden anhaltendenArbeitslosigkeit61 neue Herausforderungen für die Sozialpolitik ein.

71

60 Durch arbeitsrechtlichen Kündigungsschutz wird das ordentliche Kündigungsrecht bei Arbeitsverhältnissen unter sozialenGesichtspunkten eingeschränkt.

61 Siehe zu den Gründen für diese Arbeitslosigkeit Fußnote 50.

Im Bereich der Arbeitsmarktpolitik verfolgte der Gesetzgeber wirt-schaftspolitisch vor allem mit dem Gesetz zur Förderung derStabilität des Wachstums der Wirtschaft (Stabilitäts- und Wachs-tumsgesetz) vom 8.6.1967 eine staatliche Vollbeschäftigungspoli-tik.62 Das Arbeitsförderungsgesetz (AFG) vom 25.6.1969 brachteeine Neuordnung im Bereich der Arbeitsmarktpolitik durch dieEtablierung verschiedener Instrumente zur Förderung der beruf-lichen Aus- und Fortbildung sowie zur Umschulung. WeitereMaßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit stellten etwa dasBeschäftigungsförderungsgesetz vom 26.4.1985 und das Gesetz zurErleichterung des Übergangs vom Arbeitsleben in den Ruhestandvom 13.4.1984 dar. Mit ersterem wurde versucht, durch flexiblereGestaltungsmöglichkeiten von Arbeitsverträgen (z.B. Abbau vonKündigungshemmnissen) zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen, mitletzterem sollten mittels finanzieller Anreize ältere Arbeitnehmerveranlasst werden, vorzeitig in den Ruhestand zu gehen und damitihren Arbeitsplatz für jüngere Arbeitnehmer frei zu machen.

Neben den Problemen im Bereich der Beschäftigungspolitik wur-den seit den Achtzigerjahren auch andere sozialpolitische Problem-bereiche zunehmend deutlicher erkennbar. Man kann hier durchausvon einer neuen Krise der Sozialpolitik sprechen, wobei es aller-dings zu beachten gilt, dass diese Krise von derjenigen der Weima-rer Zeit in vielerlei Hinsicht verschieden ist. Die neue Krise derSozialpolitik enthält kaum das politische Gefahrenpotenzial, das derKrise der Zwanzigerjahre innewohnte – nicht zuletzt weil die politi-sche Gesamtsituation in der Bundesrepublik eine Stabilität auf-weist, die in der Weimarer Republik nicht gegeben war. Die neueKrise verlangte immer dringender steuernde politische Maß-nahmen, mit denen ein sinnvolles Weiterfunktionieren der sozial-politischen Instrumente gesichert werden musste. Es galt, unterveränderten – und im Vergleich zu den Jahren ausgeprägten wirt-schaftlichen Wachstums schwierigeren – Bedingungen, den An-

72

62 Zur Vollbeschäftigungspolitik siehe bereits Fußnote 45. Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz verpflichtete die Wirtschafts-politik auf vier Ziele: Vollbeschäftigung, ein angemessenes und stetiges Wirtschaftswachstum, Preisstabilität und außenwirt-schaftliches Gleichgewicht.

spruch des grundgesetzlichen Sozialstaates aufrechtzuerhalten, näm-lich im Sinne der Gewährleistung der allgemeinen Freiheit dasIndividuum weiterhin wirksam gegen soziale Risiken abzusichern.Als besonders drängende Probleme erwiesen sich die Kosten-steigerungen im Bereich des Gesundheitswesens sowie die starkansteigenden Rentenausgaben.63 Diese Entwicklungen führten zuFinanzierungsproblemen im Bereich der Krankenversicherungeinerseits, der Rentenversicherung andererseits. Würden keinewirksamen Gegenmaßnahmen getroffen, drohten die Schwierig-keiten über kurz oder lang einen Zusammenbruch der entsprechen-den Sicherungssysteme hervorzurufen. Angesichts dieser Situationwurden in einer Vielzahl von politischen Maßnahmen seit den aus-gehenden Siebzigerjahren bestimmte soziale Leistungen zurück-genommen und Reformen durchgeführt, welche die Ausgaben-steigerungen in den Versicherungen reduzieren sollten. Zu nennensind hier besonders das Gesetz zur Strukturreform im Gesundheits-wesen (Gesundheitsreformgesetz) vom 20.12.1988 und das Gesetzzur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung vom 18.12.1989(Rentenreformgesetz 1992). Das Gesundheitsreformgesetz suchteden Ausgabenanstieg im Gesundheitswesen zu bremsen, indemunter anderem das Sterbegeld oder die sog. Bagatellarzneimittel ausdem Leistungskatalog gestrichen, höhere Selbstbeteiligungen derVersicherten bei verschiedenen Leistungen festgelegt und dieMöglichkeit der Bestimmung von sog. Festbeträgen für Arznei- undHilfsmittel eingeführt wurden. Die Festbetragsregelung bedeutet,dass durch die Spitzenverbände der Krankenkassen für die betref-fenden Mittel ein maximaler Preis festgelegt wird. Über denFestbetrag hinausgehende Preise werden von den Kassen nichterstattet: Die Folge hiervon waren von der Pharmaindustrie vor-genommene Preissenkungen bei zahlreichen Arzneimitteln. DasRentenreformgesetz 1992 traf verschiedene Maßnahmen zur Ver-ringerung des Ausgabenwachstums in der Rentenversicherung. Soerfolgte etwa der Übergang von der seit der Rentenreform von 1957üblichen Orientierung der Rentenanpassung (dynamische Rente) an

73

63 Zu Gründen für die sog. Kostenexplosion im Gesundheitswesen und in der Rentenversicherung siehe den Exkurs F.

der Entwicklung der Bruttolöhne hin zur Rentenanpassung an dieNettolohnentwicklung. Ein anderer Aspekt des Gesetzes war dieErhöhung des 1986 eingeführten Kindererziehungsjahres in derRentenversicherung auf drei Jahre. Dieser Aspekt verdeutlicht einallgemeines Charakteristikum der Sozialpolitik, nämlich dass dieunterschiedlichen sozialpolitischen Bereiche oft eng miteinanderverknüpft sind: Die Anrechnung von Kindererziehungsjahren in derRentenversicherung ist nicht nur eine rentenpolitisch, sondern aucheine familienpolitisch relevante Maßnahme.

Exkurs F: Die Kostensteigerung im Gesundheitswesen

Seit Jahrzehnten sind die Gesundheitspolitik und das Systemder gesetzlichen Krankenversicherung in der BundesrepublikDeutschland geprägt von einer massiven Zunahme der finanzi-ellen Ausgaben (bzw. der Kosten) für Gesundheitsleistungen.Dieses Phänomen wird gelegentlich als „Kostenexplosion imGesundheitswesen“ bezeichnet. So haben sich die Leistungs-ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung zwischen 1950und 1960 vervierfacht, zwischen 1960 und 1975 sind sie auf dasSechsfache und von 1975 bis 1990 noch einmal auf das Zwei-einhalbfache (im Gebiet der alten Bundesrepublik) gestiegen(die Leistungsausgaben der gesetzlichen Krankenversicherungbetrugen 1950 insgesamt 2,098 Milliarden DM, 1960 8,965Mrd. DM, 1975 58,170 Mrd. DM, 1990 134,378 Mrd. DM). InGesamtdeutschland sind sie zwischen 1991 und 1996 um 35 %angestiegen. Die Kostensteigerung im Gesundheitswesen er-zwingt letztlich eine Erhöhung der Beitragssätze, weshalb sichdas Problem der Kostenreduzierung stellt. Mit dem Ziel derKostendämpfung im Gesundheitswesen wurden seit den Sieb-zigerjahren verschiedene gesetzliche Maßnahmen eingeleitet,doch erwiesen diese sich meist als „Tropfen auf den heißenStein“: sie waren nicht nachhaltig erfolgreich. Ob die jüngstenReformmaßnahmen eine wirksame Besserung bringen, bleibtabzuwarten.64

74

64 Zu einigen Maßnahmen der aktuellen Gesundheitspolitik siehe unten Kap. XI.

75

65 Siehe dazu auch Kap. XI. und XII.1.66 Zur Problematik der Kostensteigerung im Gesundheitswesen siehe etwa Lothar F. Neumann / Klaus Schaper, Die Sozial-

ordnung der Bundesrepublik Deutschland, 4., überarb. und akt. Auflage, Frankfurt am Main, New York 1998, 194-210.

Die Kostensteigerung hat vielfältige Ursachen. Zu nennen sinddie folgenden: Zunächst führt der medizinisch-technische Fort-schritt zur Entwicklung von teuren Heilverfahren und medizini-schen Geräten und Apparaten, deren Einsatz und Anschaffunggroße Geldsummen verschlingt. So liegt eine Kehrseite dertechnischen Verbesserung von Diagnose und Krankheitsbe-handlung in der Verteuerung der medizinischen Versorgung,was u.a. einen Faktor für die Steigerung der Kosten von Kran-kenhausbehandlungen darstellt. Außerdem ist das Gesundheits-bewusstsein der Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten gestie-gen, was unter anderem zur Folge hat, dass der Einzelnehäufiger den Arzt aufsucht und medizinische Leistungen inAnspruch nimmt. Diese Entwicklung wird ihrerseits gefördertvon den Anbietern medizinischer Leistungen – Arzneimittel-industrie, Medizintechnikproduzenten, Ärzte, Zahnärzte u.a. –die ein wirtschaftliches Eigeninteresse an dieser Entwicklunghaben. Einen weiteren Faktor stellt die Veränderung der Alters-struktur der Bevölkerung dar 65: Die Zunahme der Lebenserwar-tung hat auch zur Folge, dass die krankheitsanfälligeren älterenMenschen zunehmend länger einer – oft besonders aufwändigen– medizinischen Behandlung bedürfen. Schließlich ist als einentscheidender Faktor der Kostensteigerung der im medizini-schen Versorgungssystem bestehende Mangel an Anreizen zumehr Wirtschaftlichkeit zu nennen. Dies gilt für verschiedeneBereiche und Dimensionen des medizinischen Versorgungs-systems. Exemplarisch sei auf die lange Zeit charakteristischeSituation im Krankenhausbereich hingewiesen: Jahrzehntelangkonnten die Krankenhäuser die entstehenden Kosten ohne wei-teres auf die Krankenversicherungen abwälzen, die diese Kos-ten weitgehend trugen, sodass für die Krankenhäuser wenigAnreiz bestand, wirtschaftlicher zu arbeiten. In diesem Bereichwurden erste wirksame Verbesserungen mit Reformen im Jahr1996 erreicht.66

Bedeutend für die deutsche Sozialpolitik nach dem Zweiten Welt-krieg ist schließlich die Zusammenfassung wichtiger sozialrechtli-cher Bestimmungen, die bisher separat kodifiziert waren, in einemeinzigen Gesetzeswerk, dem Sozialgesetzbuch (SGB). Dieses wirdnach seiner Vollendung aus elf Teilen bestehen. Ein Sinn derKodifizierung des Sozialrechts in einem einzigen Gesetzeswerkbesteht in der Absicht, die Rechtsklarheit und damit auch dieRechtssicherheit zu verbessern. Der erste Teil des Gesetzeswerkes,der Allgemeine Teil (SGB I) trat am 1.1.1976 in Kraft. Seither wur-den bis auf Teil II auch alle anderen Teile abgeschlossen, zuletzt dasSGB IX (Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen), dasam 1.7.2001 in Kraft trat.67

Exkurs G: Freie Wohlfahrtspflege

Unter freier Wohlfahrtspflege versteht man die Wohlfahrts-pflege von nicht-staatlichen und nicht-kommunalen Wohlfahrts-verbänden (d.h. Institutionen, Körperschaften oder Verbänden)auf der Grundlage freiwilliger und vielfach unentgeltlicherTätigkeit. Die Arbeit der Wohlfahrtsverbände umfasst die plan-mäßige, vorbeugende und abhelfende Betreuung Not leiden-der oder gefährdeter Menschen auf gesundheitlichem, sitt-lichem und/oder wirtschaftlichem Gebiet. Besonders bedeut-sam ist hierbei die christliche kirchliche und außerkirchlicheWohlfahrtspflege. Sie knüpft an die zwei Jahrtausende alte Tra-dition der aus christlicher Nächstenliebe (caritas) erwachsendensolidarischen Hilfstätigkeit an.68 Die katholische freie Wohl-fahrtspflege ist heute im 1897 gegründeten Deutschen Caritas-verband e.V., die evangelische ist (mit dem 1957 erfolgten Zu-sammenschluss der seit 1848 bestehenden Inneren Mission und

76

67 Das SGB besteht aus folgenden Teilen: SGB I: Allgemeiner Teil, SGB II: Ausbildungsförderung, SGB III: Arbeitsförderung,SGB IV: Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung, SGB V: Gesetzliche Krankenversicherung, SGB VI:Gesetzliche Rentenversicherung, SGB VII: Gesetzliche Unfallversicherung, SGB VIII: Kinder- und Jugendhilfe, SGB IX:Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen, SGB X: Verwaltungsverfahren, SGB XI: Soziale Pflegeversicherung.

68 Siehe zur caritas schon Kap. III.3. und III.4.

dem 1945 gegründeten Hilfswerk der Evangelischen Kirche inDeutschland) im Diakonischen Werk der Evangelischen Kirchein Deutschland e.V. zusammengefasst. Eine christliche (ökume-nische) Organisation ist die seit 1897 bestehende Bahnhofs-mission. Konfessionell orientiert ist auch die Zentralwohlfahrts-stelle der Juden in Deutschland e.V. Wichtige (außerkirchliche,nicht konfessionsgebundene) Wohlfahrtsverbände sind fernerdie Arbeiterwohlfahrt, das Deutsche Rote Kreuz und der Deut-sche Paritätische Wohlfahrtsverband e.V. Letzterem gehörenwiederum zahlreiche Organisationen der Wohlfahrtspflege an,z.B. die Volkssolidarität e.V., die nach der Wiedervereinigungaus der gleichnamigen DDR-Massenorganisation hervorgegan-gen ist und Wohlfahrtspflege in den neuen Bundesländern be-treibt. Unter der Trägerschaft der freien Wohlfahrtsverbändebefinden sich beispielsweise Kindergärten, Altenheime, Pflege-dienste, soziale Beratungs- und Betreuungsstellen, Freizeitein-richtungen für Jugendliche oder die Organisation von Rettungs-diensten. Der deutsche Staat erkennt die Tätigkeit der freienWohlfahrtsverbände nicht nur an, sondern räumt ihnen imBereich der Fürsorgepolitik sogar einen (im BSHG geregelten)Vorrang ein. Dieser Umstand stellt die Kehrseite der Tatsachedar, dass ohne das freiwillige Engagement Tausender von Men-schen in den freien Wohlfahrtsverbänden der Sozialstaat nichtim Stande wäre, seinen Sinn zu erfüllen. Andererseits bedürfenzum einen die Wohlfahrtsverbände ihrerseits der öffentlichenUnterstützung (insbesondere bei der Finanzierung von Einrich-tungen), sodass eine oft nicht unproblematische Verflechtungzwischen Wohlfahrtsverbänden und Staat bzw. Kommunen ent-standen ist. Zum anderen ist ein auf unterschiedliche Gründezurückführbares Nachlassen freiwilligen Engagements in unse-rer Gesellschaft zu erkennen, das sich negativ auf die Wirkungs-möglichkeiten der freien Wohlfahrtsverbände und damit auf dasüberkommene Gefüge des Sozialstaates auswirkt.69

77

69 Siehe zur Problematik Neumann / Schaper, Die Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland, 273 f.

Die Sozialpolitik der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkriegstellt sich insgesamt als eine so kaum zu erwarten geweseneErfolgsgeschichte dar. Nach der Wiederherstellung der im DrittenReich vielfach zerstörten freiheitlichen Grundlagen der Sozialpoli-tik gab es einen raschen Ausbau und eine Weiterentwicklung tradi-tioneller Bereiche der sozialen Sicherung und darüber hinaus einebreit gefächerte Fortentwicklung, mit der sich die staatliche Sozial-politik zahlreichen neuen sozialen Problemlagen zuwandte. Zen-trale Zäsuren stellen etwa der Lastenausgleich, die Dynamisierungder Renten, das Kindergeldgesetz oder das Bundesausbildungs-förderungsgesetz dar. Vor allem seit den Siebzigerjahren wurdendie wirtschaftlichen Rahmenbedingungen jedoch ungünstiger undführten zu einer neuen Krise der Sozialpolitik, die seither denHintergrund der staatlichen Sozialpolitik in der Bundesrepublik bil-det.

78

IX. Grundlagen und Prinzipien der Sozialpolitik

Der vorstehende Blick auf die Geschichte der Sozialpolitik ermög-licht nunmehr einige systematische Überlegungen zu den Grund-lagen und Prinzipien der modernen Sozialpolitik. Deren Verständniskann auch einen vertieften Einblick in die aktuellen Probleme undHerausforderungen der Sozialpolitik vermitteln, auf die später (inKapitel XII.) eingegangen wird.

1. Sozialpolitik und Freiheit

Moderne Sozialpolitik – darauf wurde bereits eingegangen – istuntrennbar verknüpft mit der Durchsetzung des Konzepts der (füralle gleichen) Freiheit der Person in Recht, Wirtschaft, Gesellschaftund Politik. Die rechtliche und wirtschaftliche Freisetzung desIndividuums als Resultat liberaler Reformen und die damit einher-gehende Aufhebung feudaler Gesellschaftsstrukturen führte imKontext der modernen industriellen Marktwirtschaft in Gestaltsozialer Probleme (soziale Frage) zu neuen Freiheitsbedrohungeninsbesondere für die wirtschaftlich Schwachen. Zwar wurden dieanfänglichen Herausforderungen großer Not für breite Bevölke-rungskreise (insbesondere die Arbeiterschaft) in den vergangenen150 Jahren außerordentlich erfolgreich bewältigt, doch bringt diedynamische Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft seitherimmer wieder neue soziale Problemlagen und damit einhergehendeFreiheitsbedrohungen hervor.70 Diese Freiheitsbedrohungen sindmithin Folge der modernen Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturselbst. Soll die Freiheit aller auch unter den Bedingungen moder-nen Wirtschaftens realisiert werden und sollen die sozialenProbleme nicht in dauerhafte Unfreiheit umschlagen, so ist hierzuweder das auf sich gestellte Individuum noch das freiwillige solida-

79

70 Siehe dazu das Kap. IX.4. über Dynamik und Ausdifferenzierung der Sozialpolitik sowie Kap. V.6.

rische Engagement gesellschaftlicher Gruppen allein in der Lage.Die Realisierung der allgemeinen Freiheit kann vielmehr nur poli-tisch vom Staat ins Werk gesetzt werden. Als allgemeines Struktur-problem der modernen Gesellschaft ist die soziale Problematik alsFreiheitsproblem ein unumgängliches politisches Problem. Dermoderne Staat, der auf dem Konzept der Freiheit der Person auf-baut, muss folglich Sozialstaat werden. Seine Aufgabe besteht inder Herstellung und Garantie der allgemeinen (gleichen) materiel-len und äußeren Voraussetzungen für die Realisierung persönlicherFreiheit.

Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Sozialstaat dem Einzelnen dieInitiative und die Risiken seiner Lebensführung und der darin sichausdrückenden Freiheitsverwirklichung abnehmen darf – täte erdies, würde er die Freiheit der Person einschränken und den Ein-zelnen bevormunden. Dem entspricht, dass der Sozialstaat von derEigenverantwortung des Einzelnen für seine Lebensführung aus-geht und Sozialpolitik daher stets auf die Ermöglichung einerselbstbestimmten Lebensführung abzielt. Dieser Vorstellung ent-sprechen etwa das Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe oder auch dieGewährleistung der Autonomie und Selbstverantwortung der Fami-lie, in deren Rahmen der Einzelne auch heute noch elementareSolidarität erfährt, die der Staat weder ersetzen kann noch darf.71

So darf der Staat um der Freiheit willen nur die allgemeinenVoraussetzungen für die Freiheitsverwirklichung realisieren – undals Sozialstaat ist er verpflichtet, dies zu tun. Diese abstrakten Zu-sammenhänge seien an einem Beispiel veranschaulicht: Das imGrundgesetz allen Personen vom Staat verbürgte Recht der Unver-letzlichkeit der Wohnung (Artikel 13 Absatz 1 GG) bedeutet verein-facht gesagt, dass man von der öffentlichen Gewalt nicht „in seinenvier Wänden“ gestört werden darf, dass also der räumlich abge-schlossene individuelle Lebensbereich (die Wohnung) vor Eingrif-

80

71 Zur Selbsthilfe und zur Selbstverantwortung der Familie siehe Zacher, Das soziale Staatsziel, 1062 f.; siehe ferner Neumann /Schaper, Die Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland, 59 ff., 67 ff.

fen des Staates geschützt ist. Dieses Recht aber kann nur derjenigein Anspruch nehmen und für denjenigen wirklich werden, der auchtatsächlich über eine Wohnung verfügt. Damit jeder tatsächlich einerealistische Chance auf eine Wohnung und damit auf einen befrie-deten Lebensbereich zur freien Entfaltung hat, sorgt der sozialpoli-tisch tätige Staat dafür, dass auch für jene Menschen hinreichendWohnungen zur Verfügung stehen oder erschwinglich werden, diesich aus eigener wirtschaftlicher Kraft sonst keine Wohnung leistenkönnten. Dementsprechend entwickelt der Sozialstaat eine vielge-staltige Wohnungspolitik. Aber der freiheitliche Sozialstaat räumtdem Einzelnen kein Recht auf eine Wohnung ein. Denn ein recht-licher Anspruch auf eine Wohnung bedeutete, dass der die Wohnun-gen zur Verfügung stellende Staat auch darüber zu entscheidenhätte, wer wo wann welche Wohnung bekommt. Damit aber würdendem Einzelnen die freien Wahlmöglichkeiten etwa in der Bestim-mung des eigenen Wohnortes genommen. So beschränkt sich derSozialstaat darauf, dass möglichst überall Möglichkeiten günstigenWohnens gegeben sind. Es bleibt aber in der Verantwortung desEinzelnen, die entsprechenden Möglichkeiten auch wahrzunehmen.Diese Verantwortung kann und darf der freiheitliche Staat demEinzelnen nicht abnehmen.72

Ein angemessenes Verständnis von Sozialpolitik fordert also aucheine Auseinandersetzung mit dem Freiheitsbegriff. Entsprechendetheoretische Überlegungen über die Zusammenhänge von Sozial-politik bzw. Sozialstaat und Freiheit wurden in bis heute überzeu-gender Weise bereits vor über 150 Jahren von dem Juristen, Philo-sophen und Sozialwissenschaftler Lorenz von Stein (1815-1890) imEinzelnen theoretisch erörtert. Stein schreibt an einer Stelle über dasFreiheitsverständnis, das für moderne Sozialpolitik konstitutiv ist:„Die Freiheit ist erst eine wirkliche in dem, der die Bedingungenderselben, die materiellen und geistigen Güter als die Vorausset-zungen der Selbstbestimmung besitzt.“ Und an anderer Stelle führt

81

72 Siehe zum Vorstehenden im einzelnen Hans Buchheim, Sozialstaat und Freiheit, in: ders., Beiträge zur Ontologie der Politik,München 1993, 171-182 sowie Gröschner, Artikel 20 (Sozialstaat), 86 ff.

er aus, das oberste Prinzip des sozialen Staates sei die „Erhebungaller einzelnen zur vollsten persönlichen Entwicklung.“ 73 Welchemateriellen und geistigen Güter der Sozialstaat als Voraussetzungder Selbstbestimmung in der jeweiligen historischen Situation zurVerfügung zu stellen hat, ist eine Frage, die im politischen Prozessimmer wieder neu zu stellen und zu beantworten ist.

2. Leitideen der Sozialpolitik: Gleichheit, Gerechtigkeit, Sicherheit

Vom Sinn des Sozialstaates aus, die allgemeinen Bedingungen fürdie Realisierung der persönlichen Freiheit aller zu gewährleisten,ergeben sich drei weitere Leitideen der Sozialpolitik, nämlich (so-ziale) Gleichheit, (soziale) Gerechtigkeit und (soziale) Sicherheit.74

• Geht es in der staatlichen Sozialpolitik um die Ermöglichung derFreiheit aller, so geht es zugleich um die Ermöglichung der glei-chen Freiheit aller, denn als Personen gelten die Menschen inihrer Freiheit als Gleiche. Dementsprechend steht in der politi-schen Moderne seit der Französischen Revolution die Gleich-heitsforderung neben der Freiheitsforderung. Bezogen auf dieSozialpolitik ist mit der Gleichheitsforderung weder die völligeGleichbehandlung aller, noch die Herstellung materieller Gleich-heit gemeint. Beides nämlich – völlige Gleichbehandlung undHerstellung materieller Gleichheit – wäre ebenso freiheitswidrigwie ungerecht, weil die aus Freiheit entstehende Ungleichheit der

82

73 Lorenz von Stein, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage (zuerst erschienen 1850),Darmstadt 1959 (Neudruck der Ausgabe München 1921), Bd. 3, 104, Bd. 1, 45; über Lorenz von Stein aufschlussreich etwader Aufsatz von Ernst-Wolfgang Böckenförde, Lorenz von Stein als Theoretiker der Bewegung von Staat und Gesellschaft zumSozialstaat, in: ders., Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurta.M. 1991, 170-208.

74 Aktuelle, philosophisch grundsätzlich argumentierende Abhandlungen zur Problematik von Freiheit, Gleichheit undGerechtigkeit sind John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit (engl. 1971), Frankfurt am Main 1979 sowie Michael Walzer,Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit (engl. 1983), Frankfurt am Main, New York 1992; eineausgezeichnete Darstellung gibt ferner Bernhard Sutor, Politische Ethik. Gesamtdarstellung auf der Basis der ChristlichenGesellschaftslehre, Paderborn u.a. 2. Auflage 1992; zur ethischen Dimension von Sozialstaatlichkeit und Sozialpolitik auf-schlussreich die Beiträge in dem Band Christoph Sachße / H. Tristram Engelhardt (Hrsg.), Sicherheit und Freiheit. Zur Ethikdes Wohlfahrtsstaates, Frankfurt am Main 1990; zum Begriff der Sicherheit grundlegend Franz-Xaver Kaufmann, Sicherheitals soziologisches und sozialpolitisches Problem, 2. Auflage, Stuttgart 1973 sowie Gerhart Niemeyer, Vom Wesen der gesell-schaftlichen Sicherheit, Berlin 1935.

Menschen verneint und die Menschen nicht fair behandelt wür-den. Dementsprechend zielt die Leitidee der sozialen Gleichheitauf den immer wieder neu vorzunehmenden sozialen Ausgleichab, und zwar auf den Ausgleich der Lebenslagen der verschie-denen gesellschaftlichen Gruppen: Keiner Gruppe soll es aufGrund ihrer wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Situation soschlecht gehen, dass sie dauerhaft und gänzlich außerhalb dertypischen Lebensweisen der modernen Gesellschaft stehen muss;andererseits wird von den wirtschaftlich Begünstigten und Er-folgreichen gefordert, dass ihre Situation auch anderen zugutekomme. Die Leitidee der sozialen Gleichheit führt so zur Recht-fertigung der Umverteilung gesellschaftlicher Güter und Leis-tungen: So wird etwa mit den Beiträgen der Erwerbstätigen zurArbeitslosenversicherung die Arbeitslosenunterstützung für dieaktuell Arbeitslosen finanziert, das heißt: Ein Teil des Verdienstesder Erwerbstätigen wird zu Gunsten der Arbeitslosen umverteilt.

• Der soziale Ausgleich muss gerecht sein. Das heißt insbesondere:er darf nicht willkürlich erfolgen. Daher ist das Recht ein wich-tiges – womöglich das wichtigste – Instrument zur immer wie-der neu vorzunehmenden Herstellung sozialer Gerechtigkeit.Soziale Gerechtigkeit bedeutet aber auch, dass Sozialpolitik denBedürfnissen wie den Leistungen (bzw. der Leistungsfähigkeit)der jeweiligen gesellschaftlichen Gruppen (wie Arbeitnehmer,Arbeitslose, allein stehende Mütter, Witwen, Behinderte etc.)entsprechend ihrer gesellschaftlichen Situation sowie unterBerücksichtigung der Ansprüche der Allgemeinheit angemessendurchgeführt werden muss. Damit dies geschehen kann, ist esentscheidend, dass alle gesellschaftlichen Gruppen ihre Interes-sen und Anliegen politisch zur Geltung bringen können. Hieranwiederum wird erkennbar, dass die Herstellung sozialer Gerech-tigkeit ganz erheblich vom Funktionieren der Demokratie ab-hängt.

• Einen Freiheitsaspekt stellt die Freiheit von Angst und existenzi-eller Ungewissheit dar. Diesen Aspekt kann man im Begriff derSicherheit fassen. Sozialpolitisch meint Sicherheit eine Bere-

83

chenbarkeit und Zuverlässigkeit in Bezug auf die wirtschaftlicheExistenz angesichts der Risiken des Wirtschaftslebens und ange-sichts der so genannten „Wechselfälle des Lebens“. Den sozial-politischen Zusammenhang von Risiken des Erwerbslebens undder Leitidee der Sicherheit kann man besonders gut daran erken-nen, dass mit der Institutionalisierung der Sozialversicherungengegen typische Risiken wie Krankheit, Arbeitslosigkeit, Unfallund Tod geschützt wird. Soziale Sicherheit bedeutet mithin vorallem Schutz beim Eintritt von typischen Risikofällen. Auch fürdie soziale Sicherheit ist das Recht von besonderer Bedeutung:Sicherheit ist erst dann gegeben, wenn der Schutz gegen Risikenauch rechtlich verbindlich und garantiert ist. So ist Rechtssicher-heit – gerade auch im Arbeits- und Sozialrecht – ein zentralesElement sozialer Sicherheit.

Wenn Gleichheit, Gerechtigkeit und Sicherheit Leitideen derSozialpolitik sind, so ist damit darauf verwiesen, dass sie immerwieder neu anzustreben sind, dass sie nie endgültig, ein für allemal,hergestellt sind. Vielmehr sind immer wieder feststellbare Defizitebeim Ausgleich, in der gerechten Behandlung von bestimmtensozialen Gruppen oder bei der Sicherheit ein wichtiger Antrieb fürdie Weiterentwicklung der Sozialpolitik. So bestehen nach wie vorbeispielsweise im Bereich der Familienpolitik trotz aller familien-politischer Maßnahmen und Einrichtungen manche Ungerechtig-keiten, die beklagt werden und die zur Weiterentwicklung derFamilienpolitik aufrufen.75

3. Sozialpolitik im Verfassungsstaat des Grundgesetzes

Neben dem Sozialstaatsprinzip, das den Staat verfassungsrechtlichauf eine tätige Sozialpolitik verpflichtet, konstituiert das Grund-gesetz den deutschen Staat (in Artikel 20 und 20a) auch als Repu-

84

75 Siehe dazu detailliert und ausgewogen Heinz Lampert, Priorität für die Familie. Plädoyer für eine rationale Familienpolitik,Berlin 1996; siehe zur Familienpolitik als aktueller sozialpolitischer Herausforderung auch Kap. XII.1. und Exkurs E.

blik, Rechtsstaat, Demokratie, Bundesstaat und Umweltstaat.76 DasSozialstaatsprinzip ist mithin eines von sechs sog. Staatsfundamen-talnormen – d.h. Prinzipien, die die Ordnung des deutschen Staatesbestimmen. Sie dienen alle gleichermaßen der Realisierung derFreiheit und keines dieser Prinzipien hat von sich aus Vorrang vorden anderen. In den Prinzipien kommt das dem modernen Ver-fassungsstaat zugrunde liegende Konzept der Freiheit zum Aus-druck, wobei sich die Realisierung der Freiheit aus dem immer wie-der neu politisch zu bestimmenden Zusammenspiel der Prinzipienergibt.77

• Dient der Sozialstaat der allgemeinen Gewährleistung der materi-ellen und geistigen Bedingungen persönlicher Freiheit, so ge-währleistet der Rechtsstaat, dass die entsprechende Sozialpolitiknur auf der Grundlage und in der Form des Rechts gestaltet wird.Zum einen bedeutet rechtsstaatliche Sozialpolitik, dass sich derEinzelne im gegebenen Fall auf soziale Rechtsansprüche (derjeweiligen Sozialgesetze) berufen kann, zum anderen bedeutetrechtsstaatliche Sozialpolitik, dass die Ansprüche in vorhersehba-rer und berechenbarer Art und Weise von den Sozialverwaltungen(nach dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung) umge-setzt werden. Der Rechtsstaat schützt mithin vor sozialpolitischerWillkür.

• Das Demokratieprinzip, ausgestaltet im parlamentarischen Re-gierungssystem, verbürgt insbesondere, dass die politischen –also auch die sozialpolitischen – Entscheidungen nach demMehrheitsprinzip getroffen werden und die entsprechendenMehrheiten sich auf die Wahl durch die Bürger zurückführen las-sen. Demokratische Sozialpolitik bedeutet ferner, dass die einzel-nen sozialen Interessen über Parteien und Interessenverbände aufdie politischen Entscheidungen (im Parlament) direkten und indi-rekten Einfluss nehmen können. Die parlamentarische Demo-kratie erweist sich als in besonderer Weise offen für die sozialenInteressen innerhalb der Gesellschaft: Da es nämlich in der

85

76 Das Umweltstaatsprinzip wird im Folgenden nicht eingehender behandelt.77 Zum Folgenden siehe ausführlich Zacher, Das soziale Staatsziel, 1092-1108.

Demokratie immer wieder darauf ankommt, Mehrheiten zu ge-winnen und wieder gewählt zu werden, versuchen Politiker undParteien, die unterschiedlichen sozialen Interessen zu berück-sichtigen und sich für diese Interessen einzusetzen – in derHoffnung, dadurch (insbesondere bei Wahlen) auch die politischeUnterstützung der betreffenden Gruppen zu erhalten. Dies führtdazu, dass wichtige sozialpolitische Bedarfe in der Regel schnellentdeckt werden. Allerdings begünstigen diese Funktionszusam-menhänge der Demokratie vor allem jene sozialen Interessen, diesich gut organisieren lassen. Interessen, die schwer zu organisie-ren sind – wie etwa diejenigen der Verbraucher, der Familien oderder Obdachlosen – drohen daher immer wieder, im demokrati-schen Prozess nicht angemessen berücksichtigt zu werden. Eingewisser Ausgleich für diese sozialpolitischen Funktionsmängelder Demokratie wird wiederum durch andere Verfassungs-prinzipien ermöglicht. Insbesondere das Bundesverfassungs-gericht – eine institutionelle Ausprägung des Rechtsstaatsprin-zips – hat in seiner Rechtsprechung den demokratischenGesetzgeber mehrfach auf eine angemessenere Berücksichtigungschwer organisierbarer Interessen, insbesondere jene der Fami-lien, verpflichtet und erwies sich so als rechtsstaatliches Kor-rektiv der demokratischen Sozialpolitik gerade im Bereich derFamilienpolitik.78 An diesem wichtigen Beispiel wird besondersdeutlich, dass die Realisierung der Freiheit im Verfassungsstaatnur im komplizierten Zusammenspiel der Verfassungsprinzipienund der Verfassungsorgane erfolgen kann.

• In diesem Zusammenspiel steht das Republikprinzip für die allge-meine Verpflichtung des Staates auf die Realisierung des Ge-meinwohls. Gerade dies bedeutet für eine republikanische Sozial-politik, dass keine gesellschaftliche Gruppe dauerhaft von dersozialpolitischen Entwicklung ausgeschlossen bleiben darf. Einwichtiger Garant hierfür sind die (Massen-) Medien, die durch dieHerstellung von Öffentlichkeit allgemein eine unverzichtbare

86

78 Siehe exemplarisch etwa die sozialpolitisch wichtigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 29.5.1990, vom12.6.1990, vom 7.7.1992, vom 14.6.1994 oder vom 10.11.1998 (abgedruckt in der Entscheidungssammlung des Bundesver-fassungsgerichts = BVerfGE Bd. 82, 60 ff.; Bd. 82, 198 ff.; Bd. 87, 1 ff.; Bd. 91, 93 ff.; Bd. 99, 246 ff.).

Voraussetzung republikanischer Politik darstellen; besondersauch für die Sozialpolitik sind es oft die Medien, die auf solchesozialpolitischen Missstände aufmerksam machen, die im demo-kratischen Prozess sonst drohten, unzureichend oder gar nichtberücksichtigt zu werden.

• Das Bundesstaatsprinzip hat für die deutsche Sozialpolitik beson-dere Konsequenzen, da bestimmte sozialpolitische Felder undinsbesondere ein erheblicher Teil der Wirtschafts- und Sozialver-waltung Angelegenheit der Bundesländer ist. Bereiche, in denendie Bundesländer sozialpolitische Zuständigkeiten besitzen undin denen sie die Sozialpolitik des Bundes ergänzen, sind etwa dieGesundheits-, die Bildungs- und die Wohnungspolitik. Im Be-reich der Verwaltung werden der überwiegende Teil der sozialpo-litischen bzw. sozialpolitisch relevanten Gesetze des Bundes alsAngelegenheit der Bundesländer oder im Auftrag des Bundes(Auftragsverwaltung) ausgeführt (entsprechend den Artikeln 20,83 und 85 GG), wobei hier wiederum den Landkreisen undKommunen besondere Bedeutung zukommt, denn in diesen wirdein großer Teil der Sozialpolitik des Bundes und des jeweiligenLandes „vor Ort“ auf regionaler und lokaler Ebene letztlich voll-zogen. Dies gilt vor allem in den Bereichen Wohnungspolitik undSozialhilfe, aber auch etwa bei der (von den Landkreisen vorzu-nehmenden) Organisation von Rettungsdiensten usw.79 Auch dasBundesstaatsprinzip hat einen Freiheitssinn, der etwa darinerkennbar wird, dass die bundesstaatliche Organisation beispiels-weise das Problem der Machtkonzentration im Bereich derSozial- und Wirtschaftsverwaltung reduziert. Darüber hinauswird eine problem- und bürgernähere Gestaltung der Sozial-politik ermöglicht. Zweifellos wird aber die Sozialpolitik durchdie bundesstaatliche Organisation des Sozialstaates in mehr-facher Beziehung auch unübersichtlicher. 80

87

79 Von der staatlichen Sozialverwaltung ist die öffentlich-rechtliche Selbstverwaltung der Sozialversicherungen natürlich zuunterscheiden. Zur kommunalen Sozialpolitik siehe Berthold Dietz / Dieter Eißel / Dirk Naumann (Hrsg.), Handbuch derkommunalen Sozialpolitik, Opladen 1999.

80 Zu den Trägern und Organen der Sozialpolitik siehe Lampert / Althammer, Lehrbuch der Sozialpolitik, 177 f., 207, 314 f., 333,359 f., 363 f. und bes. 426 ff. Zur Sozialpolitik im Bundesstaat Ursula Münch, Sozialpolitik und Föderalismus. Zur Dynamikder Aufgabenverteilung im sozialen Bundesstaat, Opladen 1997.

Die Sozialpolitik im Verfassungsstaat des Grundgesetzes erweistsich somit als ein überaus komplexes politisches Kunstwerk, dessenFreiheitssinn nur realisiert zu werden vermag im politisch auszuta-rierenden Zusammenspiel des Sozialstaatsprinzips mit dem Rechts-staats-, dem Demokratie-, dem Republik- und dem Bundesstaats-prinzip. Gerade die Komplexität der Sozialpolitik ist dabei einGarant der Freiheit, weil sich in dieser Komplexität die Problem-und Aufgabennähe ebenso wie die Interessenorientierung desSozialstaates widerspiegelt.

4. Dynamik und Ausdifferenzierung der Sozialpolitik

Der historische Rückblick hat gezeigt, dass immer mehr Bereichegesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens, die von den sozia-len Auswirkungen der modernen Wirtschaftsweise betroffen waren,zum Gegenstand der modernen Sozialpolitik wurden. So hat sichseit den ersten sozialpolitischen Gesetzen im 19. Jahrhundert diesozialpolitische Tätigkeit des Staates umfassend ausgeweitet: Zumeinen wurden immer neue Sachverhalte als sozialpolitische Pro-bleme definiert und damit neue Bereiche sozialpolitischen Han-delns eröffnet, zum anderen wurde nicht nur der Kreis der vonbestimmten sozialpolitischen Gesetzen und Maßnahmen betroffe-nen Personen zunehmend ausgeweitet, sondern auch die sozialpoli-tischen Leistungen wurden ständig verbessert.

Angesichts dieser Entwicklungstendenzen lässt sich von einerexpansiven (d.h. sich ausdehnenden) Dynamik der Sozialpolitik undvon einer damit einhergehenden Ausdifferenzierung81 reden. HeinzLampert und Jörg Althammer beschreiben diese Entwicklung alsAusweitung des sozialpolitischen Schutzes nach der Art, nach demUmfang und nach Personengruppen.82 Die dynamische Entwick-

88

81 Mit Ausdifferenzierung ist hier das Hervorbringen von immer weiteren Teilbereichen der Sozialpolitik gemeint.82 Siehe Lampert / Althammer, Lehrbuch der Sozialpolitik, 124 ff. Zur Dynamik der Sozialpolitik siehe außerdem Niklas

Luhmann, Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, München 1981 und Zacher, Das soziale Staatsziel, 1065 ff.

lungstendenz der Sozialpolitik wird besonders durch die politischeWirkungsweise der parlamentarischen Demokratie begünstigt. Da-her vollzogen sich die quantitativen und qualitativen Weiterent-wicklungen der Sozialpolitik in der Weimarer Republik und in derBundesrepublik besonders rasch: In der parlamentarischen Demo-kratie finden gesellschaftliche Interessen vergleichsweise leichtEingang in den staatlichen Meinungs- und Willensbildungsprozess.Dies nicht zuletzt deshalb, weil die das parlamentarische Systemtragenden politischen Parteien auf der Suche nach politischerUnterstützung durch gesellschaftliche Gruppen bestrebt sind, beiihrer Politik die Interessen der verschiedenen Gruppen zu berück-sichtigen.83

Insgesamt hat sich die Sozialpolitik im Laufe der Entwicklung dermodernen Gesellschaft im 19. und vor allem im 20. Jahrhundert voneiner Politik des Arbeiterschutzes allmählich zu einer Politik dersozialpolitisch motivierten Gesellschaftsgestaltung, also zu einerGesellschaftspolitik 84 gewandelt. Diese betrifft im Grunde alle Be-völkerungsteile und alle gesellschaftlichen Gruppen in der ein oderanderen Weise. Der Modernisierungsprozess der Gesellschaft hat sonicht nur zu einer Veränderung des Charakters der Sozialpolitik(vom Arbeiterschutz zur Gesellschaftspolitik) geführt, sondern dieSozialpolitik wurde selbst zu einem wichtigen Motor der gesell-schaftlichen Modernisierung. Dementsprechend geht es heute nichtmehr in erster Linie um die Beseitigung unmittelbarer Not, sonderndarum, möglichst allen Menschen ein selbstverantwortetes Lebenzu ermöglichen, das den modernen Lebensformen entspricht.Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik ermöglicht den Menschen –soweit dies in der Macht des Staates steht – die Teilhabe an denmodernen Lebensweisen.

89

83 Siehe dazu schon Kap. IX.3.84 Der Begriff der Gesellschaftspolitik wurde namentlich von dem Nationalökonomen Hans Achinger (1899-1981) entwickelt.

Siehe dazu insbes. die wichtige und noch immer lesenswerte Arbeit Hans Achinger, Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik. Vonder Arbeiterfrage zum Wohlfahrtsstaat (1. Auflage 1958), 3., überarb. Auflage, Frankfurt am Main 1979.

Vor diesem Hintergrund wird auch deutlich, dass es falsch ist zuglauben, Sozialpolitik sei lediglich eine gegen Armut und Notgerichtete Politik. Sie ist dies nach wie vor auch, doch sind diesozialpolitischen Problemlagen heute nicht mehr hauptsächlich sol-che unmittelbarer Not. Vielmehr erzeugt die moderne Gesellschaftimmer wieder neue Lebenslagen, welche für die betroffenen Per-sonen(gruppen) auch dann freiheitsbedrohend und Unsicherheiterzeugend sind, wenn es nicht um unmittelbare (Überlebens-) Notgeht: Solche neueren Problemfelder, die mit der gesellschaftlichenModernisierung einhergehen, sind etwa die Zunahme der Anzahlvon allein lebenden Menschen (Stichwort „Singlegesellschaft“85);die größer werdende Zahl allein erziehender Mütter; der starkeAnstieg der Zahl alter Menschen (die oft pflegebedürftig sind) imVergleich zu jüngeren Menschen; die mit größerer Aufmerksamkeitbetriebene Integration von Behinderten ins Arbeitsleben; dasProblem der Drogenabhängigkeit usw.

Die dynamische Tendenz, welche die moderne Sozialpolitik vonAnfang an auszeichnete, sollte indes nicht als „Naturgesetz“ miss-verstanden werden. Angesichts der krisenhaften Entwicklungen seitden Siebzigerjahren und noch mehr angesichts der noch zu behan-delnden aktuellen sozialpolitischen Herausforderungen gibt esberechtigte Gründe dafür, am Fortgang der aufgezeigten Dynamikzu zweifeln. Zwar sind bemerkenswerterweise in den Jahren desstark verlangsamten wirtschaftlichen Wachstums seit Mitte derSiebzigerjahre die Sozialleistungen insgesamt auch weiterhin starkangestiegen, jedoch lassen sich heute zunehmend Anzeichen dafürerkennen, dass gewisse Grenzen sozialpolitischen Wachstums er-reicht sind. Sollten sich diese Anzeichen bestätigen, bedeutet diesjedoch nicht, dass die moderne Sozialpolitik damit überholt und amEnde wäre. Vielmehr dürfte es zukünftig darum gehen, mittelsUmbau und Reform der überkommenen Sozialpolitik die erreichtensozialpolitischen Errungenschaften in ihrer Substanz zu bewahren.

90

85 Siehe zu diesem Beispiel Fußnote 54 und Anhang E.

5. Prinzipien der sozialen Sicherung im engeren Sinne

Die moderne Sozialpolitik beruht auf verschiedenen Prinzipien. Vonbesonderer Wichtigkeit sind dabei das Versicherungsprinzip, dasVersorgungsprinzip und das Fürsorgeprinzip. Dies sind die Prin-zipien, nach denen das System der sozialen Sicherung im engerenSinne organisiert ist. Damit sind die Einrichtungen und Maßnahmengemeint, die den Bürger vor denjenigen Risiken (Krankheit, Unfall,Arbeitslosigkeit, Alter) schützen, die vorübergehend oder dauerndden Verlust von Arbeitseinkommen oder die den Wegfall des Ernäh-rers (Ehepartner, Eltern) durch Tod bedeuten oder die unplanmäßi-ge Ausgaben in besonderen Bedürfnislagen bedingen (Krankheit,Mutterschaft, Unfall, Tod). Das System der sozialen Sicherung imengeren Sinne umfasst mithin die Absicherung bei Berufs- undErwerbsunfähigkeit, bei Unfall, Krankheit und Arbeitslosigkeit so-wie im Alter und im Falle von Witwen- und Waisenschaft. Nebendiesen Prinzipien der sozialen Sicherung im engeren Sinne stehenweitere allgemeine sozialpolitische Prinzipien wie das Selbsthilfe-,das Solidaritäts- und das Subsidiaritätsprinzip.86 Die folgende Dar-stellung beschränkt sich jedoch der Übersichtlichkeit halber auf diedrei erstgenannten.

• Versicherungsprinzip: Der Gedanke der Versicherung beruht aufder Überlegung, dass der Eintritt eines bestimmten Risikofalles –wie etwa Krankheit, Invalidität oder Arbeitslosigkeit – für dieeinzelne Person zwar unkalkulierbar ist, bei einer großen Anzahlvon Personen, die demselben Risiko ausgesetzt sind, jedoch zurkalkulierbaren Größe wird (so kann man z.B. zwar nicht voraus-sagen, wer genau und wann einen Arbeitsunfall erleidet, dochkann man feststellen, wie viele Arbeitsunfälle sich in einembestimmten Gebiet und einem bestimmten Zeitraum durch-schnittlich ereignen). Zu unterscheiden ist zwischen Privat-versicherung und Sozialversicherung.87 Bei beiden Versiche-

91

86 Zum Selbsthilfeprinzip siehe bereits Kap. IX.1., zum Solidaritäts- und zum Subsidiaritätsprinzip die einschlägigen Artikel in:Staatslexikon, hrsg. von der Görres-Gesellschaft, Bd. 4, Freiburg 1988, Sp. 1191-1194 (Solidarität) und Bd. 5, Freiburg 1989,Sp. 386-390 (Subsidiarität).

87 Siehe dazu auch Frank Nullmeier / Friedbert W. Rüb, Die Transformation der Sozialpolitik. Vom Sozialstaat zumSicherungsstaat, Frankfurt am Main, New York 1993, 75-83.

rungstypen entsteht für den Versicherten durch die Zahlung vonBeiträgen ein Anspruch auf Leistungen für den Fall des Risiko-eintritts. In bestimmten Fällen genießen auch mitversicherteAngehörige, die selbst keine Beiträge einzahlen, Versicherungs-schutz. Traditionell orientiert sich die Finanzierung der Sozial-versicherung am Leitbild des Normalarbeitsverhältnisses, dasheißt eines Arbeitsverhältnisses, das als dauerhafte, kontinuierli-che und qualifizierte Vollzeitbeschäftigung konzipiert ist.88

• Privatversicherung: Die Privatversicherung beruht auf dem ver-sicherungstechnischen Prinzip der individuellen Äquivalenz. Dasheißt, die Leistungen der Versicherung im Falle des Risikoein-tritts entsprechen der individuellen Prämie (d.h. den Beiträgender Privatversicherung). Die Höhe der vertraglich vereinbartenPrämienleistungen orientiert sich dabei an der für den einzelnenVersicherten kalkulierten Wahrscheinlichkeit des Risikoein-tritts. Das Individualäquivalenzprinzip basiert auf dem Kapital-deckungsverfahren, das der Finanzierung von Privatversicherun-gen zu Grunde liegt. Kapitaldeckungsverfahren bedeutet, dass dieVersicherungsleistungen aus dem Vermögensertrag desjenigenVermögens finanziert wird, das der Versicherte durch seineBeiträge (ggf. zuzüglich der Beitragsleistungen des Arbeitgebers)bei der Versicherung aufgebracht hat. Das Vermögen wird in derRegel von der Versicherung am Kapitalmarkt angelegt und zuGunsten des Versicherungsnehmers ebenso wie der Versicherungselbst Gewinn bringend vergrößert. Der Beitritt zu einer Privat-versicherung ist freiwillig und in vielen Fällen rechtlich erst nachÜberschreitung bestimmter Einkommensgrenzen möglich.

• Sozialversicherung: Demgegenüber ist die Sozialversicherungeine Pflichtversicherung; der Beitritt zu ihr ist gesetzlich vorge-schrieben. In ihr erfolgt eine wechselseitige Risikoabdeckunginnerhalb der Versichertengemeinschaft. Die Beitragshöhe be-rechnet sich nicht wie bei der Privatversicherung nach individu-eller Risikowahrscheinlichkeit, sondern nach dem Bruttoein-

92

88 Die folgende Erläuterung orientiert sich am Modell des deutschen Sozialstaates.

kommen des Versicherten. Das Beitragsaufkommen wird (außerin der gesetzlichen Unfallversicherung) anteilig vom versichertenArbeitnehmer und seinem Arbeitgeber erbracht. Die Beiträge derUnfallversicherung werden allein vom Arbeitgeber aufgebracht.

In der Sozialversicherung bilden die Versicherten eine Solidar-gemeinschaft, in der die Belastungen (Kosten) zu Gunsten derfinanziell Schwächeren auf die finanziell besser Gestellten um-verteilt werden: Das Ziel des sozialen Ausgleichs wird dadurcherreicht, dass Menschen mit besonderen Risiken oder wirtschaft-licher Schwäche nicht ausgeschlossen, sondern ohne zusätzlicheBeitragsleistungen mitversichert werden. Im Falle der gesetzli-chen Rentenversicherung und der Arbeitslosenversicherung er-folgt die Finanzierung teilweise nicht nur durch Beiträge vonVersicherten und Arbeitgebern89, sondern auch durch Zuschüsse(oder Darlehen) des Staates an die Versicherungsträger. DieFinanzierung bestimmter Investitionen im Bereich der Pflege-versicherung obliegt den Bundesländern.

Für einen möglichst breiten Risikoausgleich und um die soli-darischen Umverteilungsmaßnahmen auch ohne massive staat-liche Zuschüsse finanzieren zu können, ist für die gesetzlicheSozialversicherung die Versicherung eines möglichst großenPersonenkreises von zentraler Bedeutung. Anders als die Privat-versicherung wird nämlich die Sozialversicherung in einemUmlageverfahren finanziert. Das heißt: Der Versicherte spart beider Versicherung mit seinen Beiträgen kein Vermögen an, ausdem im Versicherungsfall dann die Leistungen für ihn finanziertwürden. Im Umlageverfahren werden vielmehr die gegenwärtigzu erbringenden Versicherungsleistungen durch die gegenwärti-gen Beiträge aller jeweils gesetzlich Versicherten finanziert. Dasbedeutet, dass von der Versicherung keine erheblichen Rücklagengebildet werden können: Die Sozialversicherung lebt insoferngewissermaßen „von der Hand in den Mund“. Für die Renten-versicherung bedeutet das beispielsweise, dass die gegenwärtig

93

89 Daneben stehen im Falle von Kranken-, Unfall-, Renten- und Pflegeversicherung die Beitragszahlungen der Träger vonLohnersatzleistungen, die für die Empfänger dieser Leistungen die Beiträge ganz oder zum Teil entrichten – so zahlt etwa dieBundesanstalt für Arbeit die Beiträge der Arbeitslosen zur Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung.

Erwerbstätigen mit ihren Beiträgen zur Rentenversicherung diegegenwärtigen Renten finanzieren. Diesen Zusammenhang be-zeichnet man auch als Generationenvertrag: Die Generation derjetzt Erwerbstätigen finanziert die Renten der Rentnergeneration.In der Rentenversicherung wurde dieses System des Genera-tionenvertrages, Überlegungen des WirtschaftswissenschaftlersWilfried Schreibers folgend, mit der Rentenreform von 1957 ein-geführt. Es liegt auf der Hand, dass die Sozialversicherung wegendes Umlageverfahrens in besonderer Weise stark von der günsti-gen Entwicklung der Volkswirtschaft abhängig ist.

Das Umlageverfahren bringt im Übrigen die Notwendigkeit mitsich, möglichst viele Menschen in die Versicherungs- und damitBeitragspflicht zu nehmen, weshalb seit der Etablierung desSozialversicherungssystems im Deutschen Kaiserreich eine stän-dige Ausweitung des Kreises der Versicherten erfolgte. Ein mög-lichst großer Kreis von Versicherten hat neben der Sicherung derfinanziellen Grundlagen der Sozialversicherung auch den Sinn,Menschen mit geringer Risikowahrscheinlichkeit oder solche mitrelativ hohem Einkommen in die Solidargemeinschaft einzubin-den, da diese andernfalls zu einer für sie zunächst günstigerenbzw. attraktiveren Privatversicherung wechseln würden. Das wie-derum würde zu höheren Beitragsbelastungen für diejenigen, diein der Sozialversicherung verbleiben (tendenziell sind dies Per-sonen mit höherer Risikowahrscheinlichkeit und / oder eher nied-rigem Einkommen), führen.

• Versorgungsprinzip: In der Sozialpolitik der Bundesrepublik sindRegelungen und Einrichtungen auf der Grundlage des Versor-gungsprinzips die Ausnahme. Nach diesem Prinzip werden Leis-tungen nicht wie nach dem Versicherungsprinzip auf der Grund-lage von Beitragszahlungen, sondern auf Grund von rechtlichenVersorgungsansprüchen gewährt; und zwar für Gruppen vonBegünstigten, denen sich der Staat in besonderer Weise – in ersterLinie auf Grund von Leistungen oder besonderen Opfern für denStaat – verpflichtet sieht. Dementsprechend basiert vor allem dieBeamtenversorgung sowie die Kriegsopferversorgung auf diesem

94

95

Prinzip. Charakteristisch ist hier, dass die Leistungen aus Steuernfinanziert und dass die Versorgungseinrichtungen vom Staat aus-gestaltet werden. Entsprechend existiert hier keine Selbstverwal-tung durch Verbände und / oder Betroffene.

Vom Versorgungsprinzip ist auch dort zu sprechen, wo einheit-liche Leistungen als Basisversorgung im Sinne einer – möglichstbreiten Bevölkerungskreisen zustehenden – Grundsicherung derBevölkerung das jeweilige Sicherungssystem prägen – wie diesetwa in Dänemark der Fall ist.90

• Fürsorgeprinzip: Nach diesem Prinzip werden soziale Leistun-gen (Geld- oder Sachleistungen) des Staates bzw. der Kommunenim Falle einer konkreter Notlage oder eines Schadensfallesgewährt, sofern den Betroffenen eine anderweitige Hilfe nichtzugänglich ist. Die entsprechenden Hilfen werden ohne vorherigeBeitragsleistung der Betroffenen gewährt. Anspruchsgrundlagefür die Leistungsgewährung ist die durch eine Prüfung erst fest-zustellende (rechtlich geregelte) Bedürftigkeit, wobei die Leis-tungen je nach Besonderheit der Lage des Betroffenen gewährtwerden. Die Finanzierung solcher Fürsorgeleistungen erfolgt ausSteuermitteln. Der bedeutendste sozialpolitische Bereich, in demdas Fürsorgeprinzip zur Anwendung kommt, ist der Bereich derSozialhilfe. Die Sozialhilfe ist nach § 1 des BSHG ausgestaltetals „laufende Hilfe zum Lebensunterhalt“ und als „Hilfe inbesonderen Lebenslagen“. Sie soll sozialpolitisch diejenigenLücken schließen, die insbesondere durch das soziale Ver-sicherungssystem nicht (mehr) abgedeckt sind. Sozialhilfe kannandere Leistungen je nach Bedarf ergänzen oder als einzigesInstrument die Existenz von Betroffenen sichern. Eine besondereProblematik der nach dem Fürsorgeprinzip ausgestalteten sozial-politischen Instrumente wie der Sozialhilfe besteht in der Bedürf-tigkeitsprüfung und in ihrem Charakter einer Hilfe, die ohneEigenleistung gewährt wird. Entsprechend werden die Leistun-gen oft als fremdbestimmtes Almosen und ihre Inanspruchnahmeals erniedrigend verstanden.

90 Dazu Kap. XIII.1.

96

Betrachtet man den Bereich der sozialen Sicherung im engerenSinne als den Kernbereich eines modernen Sozialstaates, so lassensich die verschiedenen Sozialstaaten danach unterscheiden, welchesder hier behandelten Prinzipien für den Charakter des jeweiligenSystems sozialer Sicherung prägend ist.91 In der BundesrepublikDeutschland steht das Sozialversicherungsprinzip im Mittelpunktder entsprechenden sozialpolitischen Gestaltung. Das bedeutetallerdings – wie gezeigt – nicht, dass die anderen Prinzipien imSozialstaat der Bundesrepublik unbedeutend wären; doch ist derenBedeutung für die Organisation der sozialen Sicherung nicht sogroß, wie diejenige des Sozialversicherungsprinzips. Insofern er-weist sich das System der sozialen Sicherung in der Bundesrepublikals ein „Mischsystem“ mit einem Schwerpunkt der Gestaltung nachdem Sozialversicherungsprinzip. In anderen Sozialstaaten kann diesdurchaus anders aussehen: Zwar sind die Sicherungssysteme fastaller modernen Sozialstaaten „Mischsysteme“, die Art der Aus-gestaltung muss dabei aber keineswegs stets schwerpunktmäßig amSozialversicherungsprinzip orientiert sein, vielmehr gibt es auchSysteme sozialer Sicherheit (im engeren Sinne), die sich primär amVersorgungsprinzip oder primär am Fürsorgeprinzip orientieren.Beispiele für den letztgenannten Fall wären die USA, für den erst-genannten etwa Dänemark und – mit Abstrichen – Großbritannien,aber auch die DDR.

91 Zum Folgenden siehe auch Manfred G. Schmidt, Sozialpolitik in Deutschland. Historische Entwicklung und internationalerVergleich, 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage, Opladen 1998, 215 ff.

X. Sozialpolitik in der DDR

Die am 7.10.1949 gegründete DDR war eine sozialistische Staats-und Gesellschaftsordnung, aufgebaut entsprechend der marxistisch-leninistischen Doktrin. Dies bedeutete insbesondere eine zentralisti-sche de facto Ein-Parteien-Herrschaft der SED (SozialistischeEinheitspartei Deutschlands).92 Diese Herrschaft war ausgestaltet imSinne der Organisation nach dem Prinzip des DemokratischenZentralismus, der eine Steuerung von Staat und Partei durch dieFührungsspitze der Partei (das Politbüro) bedeutete. Eine freiheit-liche demokratische Willensbildung und Mitbestimmung der Be-völkerung durch frei gegründete Parteien oder staatsunabhängigeInteressenverbände existierte nicht (ausgenommen die letztenMonate des Bestehens der DDR 1989 /90). Die Wirtschaft wurdemit der Verstaatlichung der Produktionsmittel und nahezu desgesamten Wirtschaftslebens zu einer Zentralverwaltungswirtschaft(Planwirtschaft) umgestaltet. Bei ihr handelte es sich um einWirtschaftssystem, in dem – im Gegensatz zur Marktwirtschaft –die Wirtschaftsvorgänge (insbesondere Produktion und Verteilung)durch eine oberste staatliche Wirtschaftsbehörde (in der DDR wardas die Staatliche Plankommission) zentral geplant und gelenktwurden. Die Behörde und nicht der Markt entschied in Abstimmungmit der politischen Führung, was, wie viel, wo und wie produziertwurde und wie die Verteilung des Sozialprodukts erfolgte. DasSystem beruhte auf der Vorstellung, dass durch die Wirtschafts-planung – wiederum im Gegensatz zur Marktwirtschaft – Voll-beschäftigung und Krisenfestigkeit gewährleistet werden könne.Tatsächlich hat sich herausgestellt, dass die Planwirtschaft diebehaupteten Vorzüge gegenüber der Marktwirtschaft keineswegsaufweist93 und dass sie stattdessen unter anderem kaum in der Lage

97

92 Die neben der SED bestehenden vier Blockparteien waren politisch einflusslos.93 Zwar gab es in der DDR offiziell keine Arbeitslosigkeit und tatsächlich befand sich die ganz überwiegende Zahl der

Erwerbspersonen in Erwerbsverhältnissen. Gleichwohl existierte eine verdeckte Arbeitslosigkeit, die insbesondere dadurchzustande kam, daß viele Betriebe, Verwaltungen und sonstige (z.B. wissenschaftliche) Einrichtungen in unökonomischerWeise personell überbesetzt waren. So waren vielfach Personen de iure beschäftigt, für die es in den Betrieben usw. de factokeine hinreichende Beschäftigung gab – dies war auch ein Aspekt der relativ geringen Produktivität der DDR-Wirtschaft. Sieheauch den Exkurs H unten.

ist, die selbstgesteckten Ziele der Wohlstandsförderung zu errei-chen. Die Planwirtschaft erwies sich vielmehr als Mangelwirtschaftmit geringer Effizienz und Effektivität. Vor allem aber ging sie not-wendigerweise mit Freiheitsbeschränkungen für die Menschen ein-her, welche als Objekte der staatlichen Planung behandelt wurden.

Nach der marxistisch-leninistischen Doktrin, der ideellen Grund-lage der DDR-Verfassung, galt Sozialpolitik zunächst als ein politi-sches Instrument des Kapitalismus; als ein Instrument, das denKapitalismus mittels sozialer Wohltaten für die Werktätigen stabili-sieren und aufrechterhalten sollte. Sozialpolitik wurde so prinzipiellals Verschleierung der bestehenden kapitalistischen Ausbeutungangesehen. Sozialpolitik im Kapitalismus verhindere die Etablie-rung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung sowie die erst imSozialismus einsetzende wahre Befreiung des Menschen. Dem-gegenüber bedürfe die sozialistische Gesellschaft keiner Sozial-politik. Die sozialistische sei als solche bereits die Gesellschafts-und Wirtschaftsordnung, in der die kapitalistische Ausbeutung in-folge der Beseitigung des Privateigentums an Produktionsmittelnaufgehoben sei und die Interessen, Bedürfnisse und Leistungen derWerktätigen gerecht berücksichtigt würden.

Diesen Ansichten über Sozialpolitik entsprechend gab es in denfünfziger und frühen Sechzigerjahren eine systematische und alssolche ausgewiesene Sozialpolitik in der DDR tatsächlich nicht undder Gebrauch des Ausdrucks „Sozialpolitik“ wurde offiziell sorgfäl-tig vermieden. Im Mittelpunkt der Politik des Regimes stand dieEntwicklung der sozialistischen Wirtschaft. Dies erforderte zu-nächst vor allem die Mobilisierung eines möglichst großen Arbeits-kräftepotenzials, das sich durch die erhebliche Abwanderung vonMenschen in die Bundesrepublik zum Schaden der DDR-Wirtschaftin dieser Zeit (bis zum Bau der Berliner Mauer am 13.8.1961) deut-lich verringerte.94 In diesem Kontext erfolgte die Etablierung einesSystems der als umfassende Pflichtversicherung gestalteten Sozial-

98

94 Seit der Gründung der DDR 1949 bis zum Mauerbau hatten fast 2,7 Millionen Menschen die DDR verlassen.

versicherung. Bereits vor Gründung der DDR hatte die sowjetischeMilitäradministration im Gebiet der späteren DDR die organisatori-sche Vielfalt des auch über das Dritte Reich hinweg erhaltenenSozialversicherungssystems zerschlagen. In den Ländern der sowje-tischen Besatzungszone wurden statt dessen Einheitsversicherun-gen geschaffen. Die fünf Landesversicherungsanstalten vereinigtennach Beseitigung der Krankenkassen und der Berufsgenossenschaf-ten sowohl Kranken-, Unfall-, Renten- und Arbeitslosenversiche-rung als auch die Versorgung der Kriegsopfer und der einstigenBeamten. Das System der Einheitsversicherung wurde nach Grün-dung der DDR beibehalten; jedoch gab es im Laufe der Zeit nocheinige Änderungen in der Trägerschaft und der Verwaltung desVersicherungssystems: Man fasste die ursprünglichen Landesver-sicherungsanstalten zu einer nach dem Prinzip des DemokratischenZentralismus organisierten Versicherungsanstalt zusammen. 1956wurde dann die Versicherung für Arbeiter und Angestellte (etwa90% der Bevölkerung) getrennt von derjenigen für Bauern, Hand-werker, Freiberufler und Selbstständige. Erstere wurde in dieTrägerschaft des FDGB (Freier Deutscher Gewerkschaftsbund), derEinheitsgewerkschaft der DDR, übergeben. Die Trägerschaft deszweiten Zweiges des Versicherungssystems lag bei der staatlichenVersicherung der DDR. Seit 1950 wurden neben dem Sozialver-sicherungssystem eine Zahl von Sonder- und Zusatzversorgungs-systemen eingerichtet. Mit ihnen wurden vor allem Leistungsträgerdes DDR-Systems und dem System besonders eng verbundenePersonengruppen (etwa technische, wissenschaftliche, künstleri-sche und medizinische Intelligenz, Angehörige von Post, Bahn,Volkspolizei, Nationaler Volksarmee, Staatssicherheit u.a.) vorAltersarmut gesichert.95

Obgleich es Versicherungsbeiträge der Versicherten und der Be-triebe gab (seit 1949 betrugen diese für Arbeiter und Angestellte20% des Arbeitseinkommens, wobei jeweils zehn Prozent vomVersicherten und vom Betrieb gezahlt wurden), war das Versiche-

99

95 Siehe dazu ausführlich Frerich / Frey, Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland, Bd. 2: Sozialpolitik in der DeutschenDemokratischen Republik, 2. Auflage, München 1996, 353-359.

rungssystem der DDR nicht daran orientiert, Beitragsaufkommenund Versicherungsleistungen miteinander in Einklang zu bringen.Vielmehr erfolgte die Finanzierung des Systems in zunehmendemMaße durch den Staat. Tatsächlich gehörte der Etat der sozialenSicherung seit 1950/51 zum Staatshaushalt.96 Die Sozialversiche-rung der DDR war in dieser Perspektive Bestandteil des umfassen-den Subventionssystems des Staates. Vor diesem Hintergrund warfür die Gestaltung des Systems der sozialen Sicherung der DDRgenau genommen weniger das Versicherungs- als vielmehr dasVersorgungsprinzip leitend. Und dies umso mehr, je größer imLaufe der Jahre die Finanzierungsprobleme der Sozialversicherungwurden, die man durch steigende Staatszuschüsse zu bewältigenversuchte.

Mit dem Versicherungssystem verknüpft war eine am Versor-gungsprinzip orientierte (mit Ausnahme von immer wieder auftre-tenden Engpässen bei Medikamenten) gute materielle Versorgungder Bevölkerung im Gesundheitsbereich: Die wirtschaftszentriertePolitik der ersten Jahre der DDR wurde flankiert durch den geziel-ten Aufbau der gesundheitspolitischen Infrastruktur. Die Gesund-heitspolitik galt als wichtiges Element in der Entwicklung der DDR-Wirtschaft. Ähnlich verhielt es sich mit der in den ersten Jahren derDDR ebenfalls forcierten Bildungspolitik, die zu einem günstigenStand der beruflichen Ausbildung führte. Die Bildungspolitik dien-te indes nicht nur der allgemeinen Aus- und Fortbildung, sondernsie stand von Anfang an auch im Dienste der Bildung der „soziali-stischen Persönlichkeit“ und der Erziehung von Führungskadern.

Während sich die bildungs- und die gesundheitspolitische Situationinsgesamt günstig entwickelten, blieb die soziale Absicherungim Falle von Invalidität und Alter – trotz späterer Reformen – mate-riell bis zum Ende der DDR problematisch (die Durchschnittsren-ten erreichten im Jahr 1989 mit 382.– Mark für Altersruhe und404.– Mark bei Invalidität nur etwa 35% und sogar die Höchstrentevon 510.– Mark betrug lediglich 50% der durchschnittlichen

100

96 Siehe ebenda, 267 f., 294.

Nettoeinkommen der Erwerbstätigen). Die Vernachlässigung derSicherung bei Invalidität und Rente ist nicht zuletzt als Resultat dersozialistischen Doktrin anzusehen, nach der der arbeitende und pro-duktive Mensch im Mittelpunkt der sozialistischen Staats- undGesellschaftsordnung steht.97 Der für den Aufbau des Sozialismusnicht mehr leistungsfähige und nicht mehr produktive alte oderinvalide Mensch geriet dieser Vorstellung entsprechend in derPolitik des DDR-Regimes aus dem Blick und wurde tatsächlich –aller offiziellen Rhetorik zum Trotz – als für den Sozialismus nichtmehr wertvoll behandelt. So war der Lebensstandard von Rentnernund Invaliden in der DDR aufs Ganze gesehen bis zum Ende derDDR relativ schlecht.

Erst seit der zweiten Hälfte der Sechzigerjahre anerkannte man inder DDR-Führung die Notwendigkeit einer eigenständig zu betrei-benden Sozialpolitik im Sozialismus und unternahm eine ideologi-sche Kehrtwende, indem nun sozialistische von kapitalistischerSozialpolitik streng unterschieden und die sozialistische als die ein-zig an den Interessen der Werktätigen ausgerichtete Sozialpoli-tik dargestellt wurde. Die Verbesserung der volkswirtschaftlichenLage, die seit etwa Mitte der Sechzigerjahre erreicht war, eröffneteden Spielraum für einige sozialpolitische Maßnahmen wie denÜbergang zur Fünf-Tage-Woche, die Anhebung des Mindestlohnesvon 220.– Mark auf 300.– Mark, eine Anhebung von Kindergeld,Krankengeld und Mindestrenten. Ferner wurde neben einer günsti-geren Rentenberechnungsmethode die Möglichkeit einer freiwilli-gen Zusatzversorgung eingerichtet. Insgesamt blieben die sozialenLeistungen bis Ende der Sechzigerjahre auf dem Niveau des Exis-tenzminimums und damit deutlich hinter den Arbeitseinkommen98

zurück.

101

97 Diese Orientierung an den wirtschaftlich Produktiven kam auch in der Verfassung der DDR von 1968 / 1974 deutlich zumAusdruck, nach der die DDR ein „sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern“ und die „politische Organisation der Werktäti-gen“ war (Artikel 1). Satz 3 des Artikels 2 Absatz 1 lautete: „Die weitere Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebens-niveaus des Volkes auf der Grundlage eines hohen Entwicklungstempos der sozialistischen Produktion, der Erhöhung derEffektivität, des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und des Wachstums der Arbeitsproduktivität ist die entscheidendeAufgabe der entwickelten sozialistischen Gesellschaft.“

98 Die staatliche Lohnpolitik der DDR führte zu einer Ausbeutung der Arbeitnehmer: Die Erhöhungen der Löhne wurden syste-matisch unter der Steigerungsrate der Arbeitsproduktivität gehalten. Die auf diese Weise „eingesparten"“ Vermögen hielt derStaat für andere Zwecke zurück. Das bedeutet, daß die von den Arbeitnehmern der DDR erwirtschaftete Mehrleistung ihnenz.T. vorenthalten wurde.

Seit Beginn der Siebzigerjahre, insbesondere in der Folge desVIII. Parteitages der SED 1971, wurde die Sozialpolitik in der DDRsystematisch fortentwickelt. Der Parteitag proklamierte das „Prin-zip der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“. Dahinter standdie Erkenntnis, dass eine Erhöhung der Arbeitsproduktivität mittelsVerbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen zu erreichenwar. Da die DDR bereits in dieser Zeit wieder mit neuen ökono-mischen Problemen konfrontiert war99, ging es der DDR-Führungdarum, durch Sozialpolitik die wirtschaftliche Leistungsfähigkeitder DDR zu steigern.

Anfang der Siebzigerjahre erfolgten dementsprechend Verbesse-rungen in verschiedenen sozialpolitischen Bereichen: Die Min-destlöhne wurden angehoben (1971 auf 350.– Mark, 1976 auf400.– Mark), ebenso nach langer Stagnation auch die Mindest-renten; außerdem wurde die Höhe der Renten nach Arbeitsjahrengestaffelt. Eine Dynamisierung der Renten erfolgte nicht, stattdes-sen nahm die DDR-Führung in unterschiedlichen Abständen Ren-tenerhöhungen vor. Es erfolgten außerdem verschiedene Modifi-kationen am Rentensystem, auch im Sinne einer Verringerung desAbstandes zwischen Renten und Arbeitseinkommen. Die Modi-fikationen führten auch zu einer gewissen Ausdifferenzierung desSystems, das Rentenleistungsniveau blieb insgesamt unzureichend.1975 wurde der Mindesturlaub auf 18 und 1979 nochmals um dreiTage verlängert.

Die bis dahin vernachlässigte Wohnungspolitik (1971 stammtenlediglich 21% des Wohnungsbestandes aus der Zeit nach 1945)wurde seit den frühen Siebzigerjahren deutlich intensiviert. Dieswirkte sich vor allem im Bereich des Wohnungsneubaus, wenigerdagegen im Bereich der Wohnungsmodernisierung aus. Schließlichlag ein Schwergewicht der Sozialpolitik der DDR im Bereich derFamilienpolitik, deren Forcierung bereits mit dem VII. Parteitag derSED 1967 eingeleitet worden war. Die Familienpolitik war stark

102

99 Neben den der Planwirtschaft immanenten Effizienz- und Effektivitätsmängeln wirkte sich in den Siebzigerjahren auch dieWeltwirtschaftskrise negativ auf die DDR-Wirtschaft aus.

bevölkerungspolitisch orientiert, das heißt sie war ausgerichtet amZiel der Vergrößerung der Bevölkerungszahl. Dies sollte dem wirt-schaftlich nachteiligen Bevölkerungsrückgang entgegenwirken, derseit Mitte der Sechzigerjahre zu beobachten war. Dem Ziel dientenverschiedene familienpolitische Maßnahmen wie die Förderungder Eheschließung durch Kredite und (für Studenten) Stipendien,Einführung eines sechswöchigen Schwangerschafts- und eineszwanzigwöchigen Mutterschaftsurlaubs bei Zahlung eines Wochen-geldes in Höhe des Nettoverdienstes, die Sicherung der Kinder-betreuung in Krippen und Kindergärten und diverse andere Maß-nahmen. Zugleich war die Familienpolitik zur Steigerung derwirtschaftlichen Leistungsfähigkeit darauf ausgerichtet, Frauenmöglichst lange in der Erwerbstätigkeit zu halten. Lässt sich auch inder Familienpolitik der DDR ein klarer Vorrang der Wirtschafts-politik mit dem Ziel des Aufbaus des Sozialismus erkennen, so führ-te diese Orientierung gleichwohl zu einem differenziert ausgebau-ten Leistungssystem insbesondere für Mütter und Kinder, das fürFamilien günstige Umstände schuf und das den internationalenVergleich nicht zu scheuen brauchte.

Im Bereich der Sozialfürsorge lagen die Leistungen noch unterhalbder Renten. Die Fürsorgeleistungen erhielten nur wenige Be-troffene, die in der Regel in ihrer Erwerbsfähigkeit stark einge-schränkt waren und keine anderweitigen Rentenansprüche hatten.Politisch wurde versucht, die Betroffenen auch bei verminderterArbeitsfähigkeit in das Arbeitsleben einzugliedern. Deshalb konn-ten Betriebe dazu verpflichtet werden, entsprechende Personen ein-zustellen.

Das planwirtschaftliche System der Festsetzung niedriger Preise fürGüter des grundsätzlichen Bedarfs (wie Lebensmittel, Wohnung,Gesundheitsmittel, öffentliche Verkehrsmittel) sowie das hiermiteinhergehende Subventionierungssystem war nicht nur ein Teil derWirtschafts- sondern auch der Sozialpolitik der DDR. DiesesSystem hatte für die DDR-Bürger günstige Preise zur Folge, jedochresultierten daraus zugleich weitere Defizite der Planwirtschaft:

103

Produktion am tatsächlichen Bedarf vorbei, Ausbleiben von not-wendigen Reinvestitionen (etwa im Wohnungs- und Verkehrs-wegebau oder in der Modernisierung öffentlicher Verkehrsmittel),Fehlsteuerung der Verteilung, Qualitätsverschlechterung, Ressour-cenvergeudung usw. Zudem bedeutete das Subventionssystem eineschematische Gleichbehandlung aller (da alle Verbraucher von denPreisen profitierten), durch die auch etwa wirtschaftlich Besser-gestellte begünstigt waren, während die in die allgemeine Sub-ventionierung fließenden Mittel zur Deckung anderer Bedarfe nichtmehr zur Verfügung standen. Das Wirtschaftssystem der Plan-wirtschaft und die damit aufs Engste verbundene Sozialpolitik derDDR lebten so im Grunde von der wirtschaftlichen Substanz undzehrten diese auf. Die DDR-Wirtschaft erwies sich als wenig inno-vationsfähig, die Sozialpolitik als insgesamt kaum bedarfsorientiertausdifferenziert. Die gerade für den sozialpolitischen Bereich gele-gentlich aufgestellte Behauptung von der Existenz überlegener„sozialistischer Errungenschaften“ der DDR scheint vor diesemHintergrund als nicht angemessen: Am Schluss war die Moder-nisierungsunfähigkeit des DDR-Systems auch in der Sozialpolitikzusammen mit der Tatsache, dass die positiven Ergebnisse derDDR-Wirtschafts- und Sozialpolitik durch Freiheitsbeschränkungerkauft wurden, so bedeutsam, dass nicht zuletzt deshalb die Bürgerder DDR in ihrer ganz überwiegenden Mehrheit in diesem Sys-tem nicht mehr leben wollten. Mit dem Beitritt der DDR zumGeltungsbereich des Grundgesetzes und der damit vollzogenendeutschen Wiedervereinigung am 3.10.1990, hörte die DDR auf zuexistieren.100

104

100 Der Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes erfolgte auf der Grundlage des Vertrages zwischen derBundesrepublik Deutschland und der DDR über die Herstellung der Einheit Deutschlands (Einigungsvertrag) vom31.8.1990. Zur Sozialpolitik der DDR siehe die knappen, aber informativen Darstellungen bei Lampert / Althammer,Lehrbuch der Sozialpolitik, 101-108; Hentschel, Geschichte der deutschen Sozialpolitik, 215-230 und Neumann / Schaper,Die Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland, 36-38. Ausführlich und detailliert informieren Frerich / Frey, Geschichteder Sozialpolitik in Deutschland, Bd. 2.

XI. Sozialpolitik in Deutschland nach der Wiedervereinigung

Die Sozialpolitik nach der deutschen Wiedervereinigung ist vorallem durch drei Umstände gekennzeichnet:

• Erstens entstand eine Vielzahl von mit der Wiedervereinigung un-mittelbar verknüpften sozialpolitischen Herausforderungen, diedaraus resultieren, dass die sozialpolitische und wirtschaftlicheOrdnung der alten Bundesrepublik im Prinzip vollständig auf dasGebiet der DDR übertragen wurde.

• Gegenüber diesen einheitsbedingten Herausforderungen beste-hen aber zweitens weiterhin diejenigen, die sich mit der neuenKrise der Sozialpolitik seit den Siebzigerjahren offenbaren. Zudenken ist namentlich an die bereits hervorgehobenen Problemeder hohen Arbeitslosigkeit, der Kostensteigerung im Gesund-heitswesen und der Finanzierung der Rentenversicherung. Dieaus der Sozialpolitik der alten Bundesrepublik überkommenenReformaufgaben werden durch die vereinigungsbedingten gewis-sermaßen überlagert.

• Zum Dritten stellt die internationale wirtschaftliche und politi-sche Entwicklung die deutsche Sozialpolitik zusätzlich vorbesondere Herausforderungen, die bei der Bewältigung der bei-den erstgenannten Punkte stets mit zu berücksichtigen sind.Gemeint ist hier zum einen die Entwicklung der EuropäischenUnion (EU) und die „Europäisierung der Wirtschaft“ sowie zumAnderen der Prozess der (insbes. wirtschaftlichen) Globalisie-rung. Beides wirkte sich bereits vor der Wiedervereinigung aufdie westdeutsche Sozialpolitik aus, doch scheinen die internatio-nalen Entwicklungen – vor allem die Globalisierung – heute eingrößeres sozialpolitisches Gewicht zu haben als je zuvor.

Im Folgenden werden die beiden erstgenannten Punkte beleuchtet,während auf den dritten in den Kapiteln XII.2. und XIV. eingegan-gen wird.

105

Bereits vor der Wiedervereinigung schlossen die Bundesrepublikund die DDR am 18.5.1990 den am 1.7.1990 in Kraft getretenenVertrag über die Schaffung einer Währungs- Wirtschafts- undSozialunion, in dem die Vertragsparteien die prinzipielle Einfüh-rung der Wirtschafts- und Sozialordnung der bisherigen Bundes-republik in der (zu diesem Zeitpunkt ja noch existierenden) DDRbeschlossen. Damit wurden neben der sozialen Marktwirtschaft undder D-Mark die westdeutschen Grundsätze der Arbeits(rechts)ord-nung und der Arbeitsförderung, der Sozialversicherung und desSozialhilfesystems – mithin alle wesentlichen sozialpolitischenZiele, Prinzipien, Institutionen und Organisationen – von der DDRübernommen und mit den einschlägigen Regelungen des Eini-gungsvertrages schließlich in ganz Deutschland gültig. Allerdingswurden für verschiedene Bereiche Übergangsregelungen getroffen,da es auf Grund diverser – insbesondere wirtschaftlicher – Umstän-de nicht möglich war, alle Aspekte der bundesdeutschen Arbeits-und Sozialordnung für die DDR bzw. die neuen Bundesländerunmittelbar zu übernehmen. So wurden für bestimmte Übergangs-zeiten beispielsweise die Zuzahlungsregelungen im Leistungsrechtder Krankenkassen der schlechteren Einkommenssituation auf demGebiet der ehemaligen DDR angepasst und waren entsprechendniedriger als in den alten Bundesländern.

Die Einführung der bundesrepublikanischen Arbeits- und Sozial-ordnung bedeutete insgesamt und ganz überwiegend – mit einigenAusnahmen vor allem im Bereich der Familienpolitik – eineVerbesserung der sozialpolitischen Situation für die Menschen inden neuen Bundesländern, da das sozialpolitische System derBundesrepublik für die Betroffenen im Vergleich zu den entspre-chenden Regelungen und Einrichtungen der DDR z.T. erheblichgünstigere Auswirkungen hatte, was sich in fast jeder Hinsichtexemplarisch zeigen lässt. Beispielsweise war der Jahresurlaub inder DDR etwa ein Drittel kürzer als in der Bundesrepublik, derFrauenarbeitsschutz wie der technische Arbeitsschutz waren in derDDR weniger weit ausgebaut und entwickelt, das Sozialversiche-rungssystem der DDR war sehr viel weniger ausdifferenziert, seine

106

Leistungen waren weniger umfangreich und die Wohnungssituationin der DDR schließlich war quantitativ wie qualitativ deutlichungünstiger. Mit der Übernahme der bundesrepublikanischen Ar-beits- und Sozialordnung auf das Gebiet der DDR wurden diese ausder DDR-Sozialpolitik resultierenden Rückstände – in manchenBereichen (etwa bei der Wohnungssituation) erst im Laufe der Zeitund bisweilen auch heute noch nicht vollständig – aufgehoben. AmBeispiel der Renten etwa bedeutet das folgendes: Während in denletzten Jahren der DDR das durchschnittliche Einkommen vonRentnerhaushalten etwa ein Drittel des Einkommens von Arbeit-nehmerhaushalten betrug, erreichte es in der Bundesrepublik in die-ser Zeit zwei Drittel. Dementsprechend stiegen mit der Einführungder westdeutschen Rentenformel die ostdeutschen Renten erheb-lich. Besonders für ostdeutsche Rentnerinnen sind die Auswir-kungen des Systems positiv, gerade auch im Vergleich zu den altenBundesländern: Ostdeutsche Rentnerinnen haben überwiegend län-gere Versicherungszeiten aufzuweisen, sodass die Durchschnitts-renten von Frauen in den neuen Bundesländern heute höher sind alsdie westdeutscher Rentnerinnen.

Den positiven Resultaten der Einführung der westdeutschen Ar-beits- und Sozialordnung in Ostdeutschland stehen zahlreichedaraus resultierende Schwierigkeiten und Probleme gegenüber. Zunennen ist vor allem die Arbeitslosigkeit, die in den neuen Ländernseit 1990 rasch anwuchs und sich seither auf einem hohen Niveaubewegt. Die Arbeitslosenquote101 in den neuen Ländern betrug imJahresdurchschnitt 1991 9,5 % (das waren 842.500 Arbeitslose),1994 16% (1,142 Mio.), 2000 17,4 % (1,344 Mio.) und war damitbis heute deutlich höher als in den alten Bundesländern (dort betrugdie Arbeitslosenquote im Jahr 2000 7,8%, das waren 2,529 Mio.Arbeitslose). Die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland resultiert zumeinen aus der vergleichsweise geringeren Arbeitsproduktivitätder ostdeutschen Wirtschaft. Trotz erheblicher Fortschritte in derEntwicklung der ostdeutschen Wirtschaft seit 1990, die auch zu

107

101 Die Arbeitslosenquote gibt den prozentualen Anteil der Arbeitslosen an der Zahl aller abhängigen Erwerbspersonen wieder.

einer deutlichen Zunahme der Arbeitsproduktivität führte, ist diesenach wie vor vergleichsweise niedrig, was unter anderem aus z.T.unmodernen und zu wenig effizienten Produktionsstrukturen und-prozessen in der ostdeutschen Wirtschaft resultiert. Der unzurei-chenden Produktivität steht ein seit 1990 rascher Anstieg derTariflöhne in Ostdeutschland gegenüber: Die Lohnkosten steigenstärker als die Produktivität, was schließlich vielmals zu Perso-naleinsparungen, meist Entlassungen, führt. Daneben verwandeltedie Einführung der Marktwirtschaft in Ostdeutschland die vormalsverdeckte Arbeitslosigkeit in eine offene. Ferner brach ein erhebli-cher Teil der DDR-Produktionsstruktur zusammen, weil diese zumeinen auf die Produktion innerhalb des Ostblocks und zum anderenfür den Handel auf den mittel- und osteuropäischen Märkten ausge-richtet war, die nun nach dem Zusammenbruch der sozialistischenRegime keine angemessenen Absatzmöglichkeiten mehr boten.Schließlich fehlt es in der ostdeutschen Wirtschaft vielfach anmarktwirtschaftlichem „Know-how“, sodass es ostdeutschen Unter-nehmen an Wettbewerbsfähigkeit nicht zuletzt auf dem gesamtdeut-schen Markt mangelte, weshalb viele ostdeutsche Unternehmenaufgaben und ihre Belegschaft entlassen mussten.

Hat sie in Ostdeutschland ihre besonderen, als Erbschaft des DDR-Wirtschaftssystems zu kennzeichnenden, Ursachen, so bleibt dieArbeitslosigkeit insgesamt wegen der auf andere Ursachen zurück-gehenden Arbeitslosigkeit in den alten Bundesländern ein gesamt-deutsches Phänomen. Die politischen Maßnahmen zu ihrer Be-kämpfung waren seit der Wiedervereinigung vielgestaltig, wobeifür die neuen Länder besondere Instrumente und Mittel einzurichtenwaren: Unmittelbar im Zuge der Währungs- Wirtschafts- und So-zialunion wurden kurzfristige arbeitsmarktpolitische „Notfallmaß-nahmen“ in den neuen Ländern getroffen; insbesondere die Mitteldes Kurzarbeitergeldes und der Frühverrentung fanden zahlreicheAnwendung, um die rasch ansteigende Arbeitslosigkeit in Ost-deutschland sozial abzufedern. Seit 1992 ersetzte man Kurzarbei-tergeld dort zunehmend durch die in den alten Ländern seit län-gerem bewährten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) und

108

109

Maßnahmen der Fortbildung und Umschulung. Diese in den folgen-den Jahren fortgeführte Politik etablierte in den ostdeutschenLändern einen relativ umfangreichen zweiten, d.h. öffentlich sub-ventionierten und nicht prinzipiell marktwirtschaftlich gesteuerten(und daher wiederum mit verschiedenen Problemen behafteten),Arbeitsmarkt.Mit Blick auf die besondere wirtschaftliche Lage in den neuenBundesländern stehen neben den genannten und mehreren anderenMaßnahmen die seit 1990 verfolgten unterschiedlichen wirtschafts-und steuerpolitischen Programme (namentlich das Programm „Auf-bau Ost“) für die neuen Bundesländer, mit welchen insbesonderewirtschaftliche Investitionen in den neuen Ländern gefördert wer-den.

Exkurs H: Die Problematik des Rechts auf Arbeit und der sozialen Grundrechte

In der DDR war ein Recht auf Arbeit als Grundrecht verbürgt(Artikel 24 Absatz 1 der DDR-Verfassung in der Fassung von1974). Es war ein zentrales politisches Ziel der DDR, möglichstalle Arbeitsfähigen mit einem Arbeitsplatz zu versorgen – einePolitik, die tatsächlich zu einem hohen Beschäftigungsgrad undzur offiziellen Abwesenheit von Arbeitslosigkeit führte. Dieswar indes nur dadurch möglich, dass der Staat über die Arbeits-plätze verfügte. Das Recht auf Arbeit war in dieser Weise nur imRahmen der Planwirtschaft zu verwirklichen, in der der Bürgernicht als freies Wirtschaftssubjekt behandelt wurde und die folg-lich mit Freiheitsbeschränkung einherging. Die Freiheitsbe-schränkung wurde zudem erkauft durch ein wenig leistungsfähi-ges Wirtschaftssystem, dem es immer weniger gelang, einenmodernen Lebensstandard für die Menschen zu ermöglichen.Der planwirtschaftlichen Freiheitsbeschränkung entsprach, dassin der DDR dem Recht auf Arbeit zugleich die Pflicht zur Arbeit

korrelierte.102 Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen wirddeutlich, dass es ein Grundrecht auf Arbeit im Rahmen einerfreiheitlichen Verfassung wie dem Grundgesetz genau besehennicht geben kann: Wenn es zu einem Recht gehört, dass es fürden Rechtsträger tatsächlich durchsetzbar und einklagbar ist,dann kann der freiheitliche Staat ein Grundrecht auf Arbeit nichtgewähren, weil er die freie wirtschaftliche Betätigung derBürger im Rahmen einer freien Wirtschaftsordnung garantiertund deshalb über die Arbeitsplätze und ihre Verteilung nichtgebieten kann (der freiheitliche Staat lässt etwa einem Unter-nehmen prinzipiell die Möglichkeit, Arbeitnehmer zu entlas-sen). Wie die Sozialpolitik der Bundesrepublik zeigt, muss diesaber den freiheitlichen Staat keineswegs daran hindern, das Zieleiner Senkung der Arbeitslosigkeit zu verfolgen, eine Voll-beschäftigungspolitik zu betreiben oder die Folgen der Arbeits-losigkeit sozial abzusichern (so kann der Staat etwa regeln, dasseine Entlassung zum sozialen Schutz des Arbeitnehmers anbestimmte Bedingungen wie etwa bestimmte Kündigungsfristengeknüpft wird). Doch kann der freiheitliche Staat keine Garan-tien für sichere Arbeitsplätze geben. Aus solchen Überlegungenheraus wurde 1949 darauf verzichtet, im Grundgesetz einGrundrecht auf Arbeit zu verankern. Ebenso wenig finden sichim Grundgesetz andere soziale Grundrechte103 (etwa das Grund-recht auf eine Wohnung, auf einen Ausbildungsplatz etc.): DerStaat könnte solche sozialen Grundrechte nicht materiell alsunmittelbar geltendes Recht garantieren, sie wären daher für denGrundrechtsträger nicht durchsetzbar oder einklagbar. So wäreihr Status als Recht zweifelhaft. Anstatt soziale Grundrechte alssubjektive Rechte in der Verfassung zu gewähren, ist im Grund-gesetz das Sozialstaatsprinzip verankert, das den Staat zu so-zialer Politik verpflichtet, die Gestaltung derselben aber dem

110

102 „Gesellschaftlich nützliche Tätigkeit ist eine ehrenvolle Pflicht für jeden arbeitsfähigen Bürger. Das Recht auf Arbeit und diePflicht zur Arbeit bilden eine Einheit.“ (Artikel 24 Absatz 2 DDR-Verfassung).

103 Einzige Ausnahme ist Artikel 6 Absatz 4 GG, nach dem „jede Mutter [...] Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge derGemeinschaft“ hat. Dieses soziale Grundrecht ist aber kaum unmittelbar einzuklagen.

demokratischen politischen Prozess überantwortet. Im Übrigengewährt der Staat des Grundgesetzes auf der Ebene des ein-fachen Rechts (vor allem im SGB) seinen Bürgern verschiedenesoziale Rechte. So lautet etwa § 6 SGB I: „Wer Kindern Unter-halt zu leisten hat oder leistet, hat ein Recht auf Minderung derdadurch entstehenden wirtschaftlichen Belastungen.“104

Die Förderprogramme für die neuen Bundesländer sowie die Über-tragung der westdeutschen Arbeits- und Sozialordnung auf dasGebiet der ehemaligen DDR machten eine finanzielle Absicherungdurch West-Ost-Transferleistungen unabdingbar. Transferleistun-gen waren insbesondere für die Sozialversicherungen, namentlichdie Rentenversicherung notwendig, da das rechtlich garantierteLeistungsniveau der Sozialversicherungen aufrecht erhalten werdenmusste. Der Aufbau der Infrastruktur der Sozialversicherungen inden neuen Ländern stellte einen zusätzlichen Kostenfaktor dar.Zugleich aber waren auf Grund des im Vergleich zu den altenLändern niedrigeren Lohnniveaus, der niedrigeren Beitragssätzeund der hohen Arbeitslosigkeit die Beitragseinnahmen der Sozial-versicherungen in den neuen Ländern zu niedrig, um die entstehen-den Kosten mit dem ostdeutschen Aufkommen allein zu decken. Bisheute blieben die finanziellen West-Ost-Transfers im Bereich derArbeitsmarktpolitik und der Sozialversicherungen notwendig undauch in näherer Zukunft wird nicht auf sie verzichtet werden kön-nen.

Um den Belastungen des wirtschaftlichen und sozialen Aufbaus derneuen Länder und der auch in den alten Bundesländern nach wie vorhohen Arbeitslosigkeit zu begegnen, wurde 1992 von der Bundes-

111

104 Zum Recht auf Arbeit siehe Lampert / Althammer, Lehrbuch der Sozialpolitik, 175 f., zur Problematik sozialer Grundrechte(bes. auch des Rechts auf Arbeit) die aus verschiedenen Blickwinkeln geschriebenen Beiträge in dem Sammelband von Ernst-Wolfgang Böckenförde / Jürgen Jekewitz / Thilo Ramm (Hrsg.), Soziale Grundrechte, Heidelberg 1981; ferner (bes. zumGrundgesetz) Josef Isensee, Verfassung ohne soziale Grundrechte. Ein Wesenszug des Grundgesetzes, in: Der Staat 19(1980), 367-384, dort auch zur DDR-Verfassung 380 f. Einige Landesverfassungen deutscher Bundesländer enthalten sozia-le Grundrechte (z.B. die Landesverfassungen von Berlin, Brandenburg, Hessen, Thüringen). Auch hier handelt es sich abertatsächlich nicht um verfassungsrechtliche Gewährleistungen rechtlicher Ansprüche des Einzelnen gegenüber dem Staat, son-dern um eine (problematische) Formulierung von Staatsaufgaben.

regierung ein Spar- Konsolidierungs- und Wachstumsprogrammaufgelegt, in dem mittels Einsparungen, Leistungskürzungen undReformen etwa im Bereich der Arbeitslosenversicherung versuchtwurde, Erwerbstätigkeit für Arbeitslose attraktiver zu machen undzugleich die hohen Kosten der Arbeitslosigkeit zu senken. DasProgramm wurde in mehreren Gesetzen umgesetzt, nämlich demStandortsicherungsgesetz vom 13.9.1993, dem Missbrauchsbe-kämpfungs- und Steuerbereinigungsgesetz sowie dem Ersten undZweiten Gesetz zur Umsetzung des Spar- Konsolidierungs- undWachstumsprogramms vom 21.12.1993. Weitere Maßnahmen folg-ten, beispielsweise das Beschäftigungsförderungsgesetz vom26.7.1994 und das am 25.7.1996 vom Bundestag beschlosseneProgramm für mehr Wachstum und Beschäftigung, das mehreresozial- und wirtschaftspolitische Gesetze anstieß. Zu nennen ist hieretwa das Gesetz zur Förderung des gleitenden Übergangs in denRuhestand vom 29.7.1996, das statt der Frühverrentung nach demGesetz zur Erleichterung des Übergangs vom Arbeitsleben in denRuhestand von 1984 die Altersteilzeit förderte – eine Regelung, mitder die Arbeitslosen- und die Rentenversicherung entlastet wurden.Zu nennen ist ferner das Gesetz zur Reform der Arbeitsförderungvom 24.3.1997, das etwa das Berufsberatungsmonopol der Arbeits-verwaltung (Arbeitsämter) aufhob und private Arbeitsvermittlungzuließ sowie das Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetzin den Bereichen der Rentenversicherung und Arbeitsförderungvom 7.9.1996.

In den Jahren nach 1990 wurden nicht nur im Bereich derArbeitsmarktpolitik und der Arbeitslosenversicherung, sondernauch in anderen sozialpolitischen Bereichen Gesetze erlassen undMaßnahmen ergriffen. Entsprechend der drängenden Problemlagein diesen Bereichen galt dabei die besondere sozialpolitische Auf-merksamkeit in den vergangenen Jahren der Rentenversicherungund der Gesundheitspolitik; daneben wurden wichtige familienpoli-tische Entscheidungen getroffen, und schließlich erfolgte durch dieNeueinrichtung der Pflegeversicherung ein weiterer Ausbau desSozialversicherungssystems.

112

In der Rentenpolitik zeigte sich schon bald nach Inkrafttreten desRentenreformgesetzes 1992 vom 18.12.1989, dass weitere Maß-nahmen zur Eindämmung des Wachstums bei den Rentenausgabengetroffen werden mussten. Die sich in den vergangenen Jahren ver-schärfende Problematik in der Entwicklung der Rentenversicherungbesteht unter anderem darin, dass zum einen auf Grund der steigen-den Lebenserwartung die Rentenlaufzeiten länger werden und dasszum anderen der Anteil der Rentner an der Gesamtbevölkerung aufGrund der sozialpolitisch ungünstigen demographischen Entwick-lung in Deutschland (d.h. der Entwicklung der Größe und Alters-struktur der Bevölkerung) ansteigt („Überalterung der Gesell-schaft“).105 Dies bedeutet insbesondere, dass es im Vergleich zu dendie Rentenversicherungsbeiträge zahlenden Erwerbstätigen zuneh-mend mehr Rentner gibt. Vereinfacht gesagt müssen also (infolgedes Umlageverfahrens in der Finanzierung der Renten) immerweniger Erwerbstätige die Renten für immer mehr Rentner finan-zieren. Aus dieser Entwicklung resultiert ein erheblicher Kosten-druck auf die Rentenversicherung, der auch durch die staatlichenZuschüsse zur Rentenversicherung nicht hinreichend bewältigt wer-den kann. So versucht man auf dem Wege verschiedener Reformeninnerhalb des Rentenversicherungssystems, die Probleme zu bewäl-tigen. Auch das Rentenreformgesetz 1999 vom 16.12.1997 verfolg-te das Ziel einer Eindämmung der Ausgaben der Rentenversiche-rung. Ein wichtiges Instrument war dabei die Einführung eines„demographischen Faktors“, mit dem bei der Berechnung der Ren-tenhöhe die demographische Entwicklung – das heißt die längerwerdenden Rentenlaufzeiten infolge steigender Lebenserwartung,berücksichtigt werden sollte. Nach dem Regierungswechsel 1998106

wurde der demographische Faktor zurückgenommen und die neueBundesregierung erarbeitete ein neues Rentenreformkonzept.Dieses Konzept wurde in drei Schritten umgesetzt. Mit Gesetz vom17.11.2000 wurde an Stelle der bisherigen Invalidenrente dieErwerbsminderungsrente eingeführt. Der Empfang dieser Rente

113

105 Siehe dazu die Grafik in Anhang D.106 Antritt der Bundesregierung unter Gerhard Schröder (SPD).

wurde enger an die noch verbliebene Arbeitsfähigkeit des Arbeit-nehmers gekoppelt und die Grenze des Übertritts in die Altersrentewurde von 60 auf 63 Jahre erhöht. Abgeschafft wurde der Anspruchauf Berufsunfähigkeitsrente für Invalide, die jünger als 40 Jahre altsind. Mit Gesetz vom 11.5.2000 (Altersvermögensgesetz) erfolgteder zweite Schritt der Rentenreform, mit dem die Einführung einerkapitalgedeckten Zusatzrente ab dem 1.1.2002 vollzogen wird.Damit wird das System der bisher nur auf dem Sozialversicherungs-prinzip beruhenden gesetzlichen Rentenversicherung ergänzt durcheine Komponente der Privatversicherung. Der Staat fördert dabeiden Aufbau einer privaten Altersvorsorge durch Zuschüsse undSteuervorteile (so genannte „Riester-Rente“ nach dem Namen desBundessozialministers Walter Riester). Mit dem Gesetz wurde fer-ner eine am 1.1.2003 in Kraft tretende Grundsicherung für bedürf-tige Rentner eingeführt, mit der ein nach dem Versorgungsprin-zip organisiertes Element in das Rentensystem etabliert wird.Schließlich änderte das Gesetz die Rentenanpassungsformel.

Die durch die jüngste Reform eingeleiteten Maßnahmen werdeneinerseits das Rentenniveau der Rente aus der gesetzlichen Ver-sicherung prinzipiell senken, andererseits soll durch die staatlichgeförderte private Altersvorsorge dieser Verlust ausgeglichen wer-den. Letztlich soll das Gesamtrentenniveau auf Grund der zusätzli-chen Privatvorsorge sogar steigen. Ein Ziel der einschneidendenReform besteht darin, die gesetzlichen Krankenkassen zu entlastenund insbesondere den Beitragssatz zu stabilisieren (dieser soll biszum Jahr 2020 unter 20% Prozent bleiben). Den dritten Schritt derRentenreform, der ebenfalls insbesondere auf Kostendämpfung ab-hebt, stellt die Reform des Hinterbliebenenrechts durch Gesetz vom1.6.2000 dar, mit dem u.a. die Hinterbliebenenrente für Witwen undWitwer, die nach Inkrafttreten des Gesetzes am 1.1.2002 unter40 Jahre alt waren bzw. solche, die danach heirateten, gesenktwurde (von 60% auf 55% des zu Grunde gelegten Einkommens).Außerdem werden bei der Berechnung der Hinterbliebenenrente einKinderzuschlag gewährt und Einkünfte aus eigenem Kapitalver-mögen angerechnet. Schließlich führt das Gesetz das sog. Renten-

114

splitting für Ehegatten ein, mit dem diese die Möglichkeit derAufteilung von gemeinsamen Rentenansprüchen bekommen – beigleichzeitigem Verzicht auf Witwen- bzw. Witwerrenten, die durchdas Rentensplitting ersetzt werden. Das Rentensplitting begünstigtjenen Ehepartner, der aus dem eigenen Berufsleben geringere Ren-tenanrechte erworben hat – meist ist dies die Ehefrau.

Unter anderem in der Absicht, der Kostenproblematik in den Sozial-versicherungen zu begegnen, wurde mit dem Gesetz zur Neurege-lung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse vom 24.3.1999(sog. 630-Mark-Gesetz) eine Reform der geringfügigen Beschäfti-gungsverhältnisse durchgeführt. Bis 1999 waren solche Beschäfti-gungsverhältnisse von der Zahlung von Sozialversicherungsbeiträ-gen befreit. Für sie wurde vom Arbeitgeber eine pauschale Steuer(ca. 22% des Entgelts) abgeführt. Die Neuregelung ersetzte dieseBesteuerung durch eine pauschale Beitragszahlung der Arbeitgeberzur Kranken- (10%) und zur Rentenversicherung (12%) für jedengeringfügig Beschäftigten. Da diese Beitragsbelastung (anders alsdie vormalige Steuer) vom Arbeitgeber nicht auf den Beschäftig-ten „abgewälzt“ werden kann, bieten die geringfügigen Beschäfti-gungsverhältnisse hinsichtlich der Belastungen der Arbeitgeberkaum mehr Vorteile gegenüber versicherungspflichtigen Normal-arbeitsverhältnissen. Ein Effekt des Gesetzes besteht darin, dieVersicherungspflicht auszuweiten und den Kranken- und Renten-kassen mehr Beitragsgelder zuzuführen. Zugleich werden – aller-dings sehr geringe – Anrechte für die geringfügig Beschäftigten eta-bliert.

Auch im Bereich der Gesundheitspolitik galt es, die rasch anstei-genden Kosten effektiv zu dämpfen und entsprechende Reformenin der Krankenversicherung vorzunehmen. Am 21.12.1992 wurdedas Gesetz zur Strukturverbesserung der gesetzlichen Kranken-versicherung, am 1.11.1996 das Beitragsentlastungsgesetz und am23.6.1997 das Erste und Zweite Gesetz zur Neuordnung von Selbst-verwaltung und Selbstverantwortung in der gesetzlichen Kranken-versorgung verabschiedet. Das erstgenannte Gesetz führte unter

115

anderem eine Budgetierung der Ausgaben in allen Leistungsberei-chen der Krankenversicherung ein und nahm strukturelle Ände-rungen zum Abbau von Überkapazitäten in der Krankenversorgungvor. Budgetierung bedeutet dabei, dass die Gesamtausgaben derKrankenkassen für ärztliche Honorare, aber auch Arzneimittel undKrankenhauskosten festgelegt wurden. Unter anderem resultiertehieraus die generelle Festlegung der den Ärzten von den Kassenvergüteten Leistungen, was unter den Ärzten zu einer Konkurrenzum einen jeweils möglichst großen Anteil an den zur Verfügung ste-henden Mitteln führte – mit dem Effekt, dass der einzelne Arzt mög-lichst viele Leistungen verrichtete, was wiederum zu einem Verfallder Vergütung pro Leistung und zu massiver Kritik der betroffenenÄrzteschaft, die um ihre Einkünfte und wohl auch um die Qualitätder medizinischen Versorgung besorgt war, führte. Dies Beispielveranschaulicht eine generelle Problematik von sozialpolitischenReformen: Jede Reform hat auf Grund der Komplexität des sozial-politischen Systems nicht voraussehbare Folgen, die stets auchbesondere wirtschaftliche und gesellschaftliche Interessen – in die-sem Beispiel Interessen der Ärzte, der Krankenhäuser, der Patien-ten, der Krankenkassen etc. – berühren. Die betroffenen Gruppensuchen dabei, möglichst ihre Interessen zu wahren und entspre-chend auf dem Weg der demokratischen Einflussnahme geplanteoder gegenwärtige Reformen zu ihren Gunsten zu beeinflussen.Diese Umstände sind ein Faktor für die generelle Schwierigkeiteffektiver sozialpolitischer Reformen, wobei diese Problematik imBereich des Gesundheitswesens und der Krankenversicherungwegen der Vielzahl der betroffenen Gruppen, Institutionen undInteressen (Krankenkassen, Pharmaunternehmen, Ärzte, Apothekerund ihre jeweiligen Verbände, Patienten usw.) besonders ausgeprägtist.

Das Beitragsentlastungsgesetz von 1996 erhöhte u.a. die von Pa-tienten zu leistenden Zuzahlungen, strich Zuschüsse bei Brillen-gestellen und Zahnersatz bei Versicherten, die nach 1978 geborenwurden, senkte das Krankengeld und kürzte die Regeldauer vonKuren. Die Reformgesetze von 1997 suchten, die Selbstverwaltung

116

der Krankenversicherung zu stärken und damit Wirtschaftlichkeits-potenziale zu erschließen, ferner sollten die Finanzgrundlagen unddie Finanzverantwortung der Kassen gestärkt werden. Zur Errei-chung dieser Ziele wurde eine Vielzahl von Instrumenten gewählt,die die finanziellen Handlungsspielräume der Kassen vergrößer-ten.

Eine Reihe von Reformmaßnahmen, die von der 1998 gewähltenBundesregierung Gerhard Schröders eingeleitet wurden und aufeine Gesundheitsstrukturreform abzielen, dienen u.a. der Kosten-senkung und Modernisierung im Gesundheitswesen: Mit einem am1.1.1999 in Kraft getretenen Vorschaltgesetz wurden mehrereRegelungen der Gesundheitsreform der Vorgängerregierung, wieetwa die Zuzahlung für Arzneimittel, wieder zurückgenommen.Neben einer Wiedereinführung der Ausgabenbegrenzung für Ärztewurden auch einige Medikamentengruppen aus dem Leistungs-katalog der Krankenkassen gestrichen, sodass die Kassen für diebetreffenden Medikamente nicht mehr aufkommen. Mit dem am31.12.2001 in Kraft getretenen Arzneimittelbudget-Abschaffungs-gesetz wurde die Budgetierung abgeschafft. Sie wird ersetzt durchdie Regelung der ärztlichen Ausgaben durch Vereinbarungen zwi-schen den Verbänden der Krankenkassen und den KassenärztlichenVereinigungen. Die entsprechenden Vereinbarungen beinhaltenneben einem Ausgabenvolumen konkrete Richtgrößen für die Ärztesowie Umsetzungsmaßnahmen.

Im Bereich der Sozialversicherungspolitik wurde nach langer poli-tischer Diskussion der Problematik mit dem Gesetz zur sozialenAbsicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit (Pflegeversiche-rungsgesetz) vom 26.5.1994 eine fünfte Säule des Sozialversiche-rungssystems (nach Kranken-, Unfall-, Renten- und Arbeitslosen-versicherung) aufgebaut. Die Pflegeversicherung folgt in ihrerGestaltung im Wesentlichen denselben Prinzipien, die sich bei denüberkommenen Versicherungen seit ihrer Einführung bewährthaben. Sie sichert als Pflichtversicherung etwa 90% der Bevöl-kerung gegen die Risiken der Pflegebedürftigkeit, während sich die

117

verbleibenden etwa 10% (sie setzen sich aus Selbstständigen, Be-amten, Arbeitnehmern mit oberhalb der Beitragsbemessungsgrenzeliegendem Einkommen zusammen) in einer privaten Pflegever-sicherung absichern müssen. Leistungsberechtigt sind Personen, dieauf Grund einer Krankheit oder einer Behinderung auf Dauer beider Verrichtung der im täglichen Leben anfallenden Tätigkeiten aufHilfe angewiesen sind. Die Leistungen der Pflegeversicherungrichten sich nach der Art der notwendigen Pflege, wobei zwischenambulanter, teilstationärer und vollstationärer Pflege unterschiedenwird.

Die politische Notwendigkeit der Einführung einer Pflegever-sicherung ergab sich nicht zuletzt aus einer Bewertung der demo-graphischen Entwicklung und deren Folgen für das System derSozialpolitik: Infolge der steigenden Lebenserwartung und der zu-nehmenden Zahl älterer Menschen erhöht sich mit der Zahl derPflegebedürftigen auch die Zahl derjenigen unter ihnen, die für dieentstehenden Pflegekosten sei es durch Einkommen, sei es durchVermögen, nicht alleine aufkommen können. Diese Menschenwaren bisher sehr häufig auf die Sozialhilfe angewiesen, was zueiner erheblichen finanziellen Belastung nicht zuletzt der Kom-munen führte. Unter anderem diese Problematik sollte mit Einfüh-rung der Pflegeversicherung überwunden werden werden.

Schließlich wurden seit 1990 verschiedene familienpolitische Rege-lungen und Maßnahmen getroffen. Erwähnt sei hier nur die Neu-ordnung des Familienlastenausgleichs und des Kindergeldes imJahr 1995: Das Kindergeldrecht wurde mit dem Jahressteuergesetz1996 (vom 11.10.1995) dem Sozialrecht weitenteils entzogen unddem Steuerrecht (genauer: dem Einkommensteuergesetz, EStG)zugeordnet. Diese Neuregelungen waren durch ein Urteil desBundesverfassungsgerichts107 angestoßen worden. Demnach mussdas Existenzminimum von Kindern steuerlich freigestellt werden.

118

107 Siehe BVerfGE Bd. 91, 93 ff., hier 115 f.; siehe auch schon die früheren Entscheidungen BVerfGE Bd. 82, 60 ff.; Bd. 82,198 ff. und die spätere Entscheidung vom 10.11.1998 (BVerfGE Bd. 99, 246 ff.).

Um dies zu erreichen, wurden der Kinderfreibetrag und dasKindergeld vom ersten Kind an in deutlichem Ausmaß angehoben(wobei für Eltern die Wahlmöglichkeit besteht, entweder densteuerlichen Kinderfreibetrag oder aber die Auszahlung des Kinder-geldes in Anspruch zu nehmen).108 Mit dem Jahressteuersteuergesetz1996 beginnt der Begriff des Familienleistungsausgleichs denfrüheren Begriff des Familienlastenausgleichs als Begriff desSozialrechts zu verdrängen. Der neue Begriff soll u.a. zum Aus-druck bringen, dass es sozialpolitisch nicht nur darum geht, diefinanziellen Aufwendungen von Familien als Lasten bzw. Belas-tungen zu begreifen und diese zu mildern. Vielmehr meint derBegriff, dass die gesellschaftlich wünschenswerten Leistungen derFamilien (Reproduktion und Sozialisation) als solche vom Staatpositiv anerkannt und unterstützt werden sollen.

Nach dem Regierungswechsel 1998 wurde das Kindergeld für daserste und zweite Kind im Januar 1999 erhöht und es erfolgte eineneuerliche Erhöhung des Kindergeldes für das erste und zweiteKind um nochmals 30.– DM auf 300.– DM monatlich durch dasZweite Gesetz zur Familienförderung vom 7.7.2001, mit dem auchein steuerlicher Erziehungsfreibetrag („Freibetrag für Betreuungund Erziehung“) neu eingeführt wurde. Für allein erziehende Elternund solche Eltern, die beide berufstätig sind, wurde ein erwerbsbe-dingter Betreuungsfreibetrag für die Betreuung von Kindern bis 14Jahre eingeführt. Zur Finanzierung dieser neuen familienpolitischenInstrumente wurden ältere Instrumente abgeschafft (bis 2005 derHaushaltsfreibetrag für Alleinerziehende) bzw. eingeschränkt (derAusbildungsfreibetrag).

Die dritte Novelle des Erziehungsgeldgesetzes des Jahres 2001brachte nicht nur eine Umbenennung des Rechtsbegriffs Erzie-hungsurlaub in den Begriff der Elternzeit und die Ermöglichungeiner gemeinsamen Elternzeit beider Elternteile (statt wie bisher nur

119

108 Zu diesen Zusammenhängen im einzelnen siehe Wingen, Familienpolitik, 179-199, mit einem internationalen Vergleich, 199-214.

jeweils eines Teils), sondern auch verschiedene weitere Maßnah-men, die den Handlungsspielraum von Eltern für die Betreuungihrer kleinen Kinder vergrößern sollen. So wurde etwa ein Rechts-anspruch auf Teilzeitarbeit für junge Väter etabliert.

120

XII. Aktuelle Herausforderungen der deutschen Sozialpolitik

Vor allem im letzten Kapitel wurden bereits einige Problembereicheder heutigen Sozialpolitik in Deutschland angesprochen: Die Ar-beitslosigkeit, die demographische Entwicklung mit ihren sozialpo-litischen Folgen, die Kostenexpansion im Gesundheitswesen –Komplexe, die sich teilweise überlagern, weil sie vielfach miteinan-der verknüpft sind. Die in diesen Bereichen bestehenden Problem-lagen stellen für die gegenwärtige und zukünftige Sozialpolitik zen-trale Herausforderungen dar. Eigenarten dieser Herausforderungenwerden im Folgenden in der Darstellung nur eines Problem-zusammenhanges exemplarisch beleuchtet – nämlich in der Dar-stellung der demographischen Entwicklung und ihrer Folgen für dieRentenversicherung, das Gesundheitswesen und die Familien-politik.

Sodann werden einige sozialpolitische Aspekte der Globalisierungvorgestellt, und schließlich ist ein allgemein problematischerAspekt der Sozialpolitik anzusprechen, nämlich das Phänomen desMissbrauchs sozialpolitischer Leistungen.109

1. Die demographsiche Entwicklung und ihre sozialpolitischen Folgen

Die demographische Entwicklung in Deutschland (und fast allenanderen westeuropäischen Ländern) ist namentlich gekennzeichnetdurch die relative Zunahme des Anteils älterer Menschen an der

121

109 Zu den aktuellen Herausforderungen der Sozialpolitik siehe vor allem Franz-Xaver Kaufmann, Herausforderungen desSozialstaates, Frankfurt am Main 1997; ferner beispielsweise: Heinrich Fisch, Ist der Sozialstaat noch zu retten? Wenn Markt,Staat und Ethik versagen. Eine kritische Analyse gesellschaftlicher Steuerungssysteme, Freiburg 1996; Eckhard Knappe /Albrecht Winkler (Hrsg.), Sozialstaat im Umbruch. Herausforderungen an die deutsche Sozialpolitik, Frankfurt am Main,New York 1997; Lampert, Krise und Reform des Sozialstaates; Neumann / Schaper, Die Sozialordnung der BundesrepublikDeutschland, 289-312.

Gesamtbevölkerung. Dies hat verschiedene Ursachen, insbesondereden Rückgang der Geburtenrate und den Anstieg der Lebens-erwartung. Diese Entwicklungen haben einerseits zur Folge, dassder Anteil der im Erwerbsleben stehenden Personen gegenüber denaus dem Arbeitsleben ausgeschiedenen abnimmt, während zugleichder Lebensabschnitt nach Ausscheiden aus dem Erwerbsleben beiden einzelnen Menschen im Durchschnitt immer länger dauert.110

Daraus ergeben sich zahlreiche sozialpolitische Folgen. So etwa fürdas System der Rentenversicherung: Bezogen auf die Erwerbs-tätigen erlebt ein zunehmend größerer Bevölkerungsanteil ein zu-nehmend länger andauerndes Rentenleben. Hieraus resultierenwegen des Umlageverfahrens in der Rentenversicherung („Genera-tionenvertrag“) erhebliche Finanzierungsprobleme, weil die jeweilsgegenwärtig Erwerbstätigen die jeweils aktuellen Renten finanzie-ren: Während 1997 auf 48 Rentenempfänger 100 rentenversicherteBeitragszahler kamen, wird dieses Verhältnis bis zum Jahr 2030 aufetwa 91 Rentenempfänger zu 100 Beitragszahlern ansteigen. Umdie Rentenversicherungsbeiträge nicht in untragbare Höhen zu stei-gern, wurden bereits in der Vergangenheit mehrere Reformen in derFinanzierung der Rentenversicherung durchgeführt, doch scheinendie Probleme damit noch keineswegs hinreichend gelöst. Der Trendder neueren Reformen geht dahin, dass mit der aus der Sozial-versicherung ausgezahlten Rente zukünftig nurmehr ein Grundbe-darf abgedeckt wird, während der Einzelne darüberhinaus währendseines Erwerbslebens durch private Absicherung (etwa Abschlusseiner privaten Rentenversicherung, durch Kapitalanlage etc.) fürzusätzliche Einkünfte im Rentenalter selbst verantwortlich seinwird. Damit erfolgt – wie in der aktuellen Rentenreform von2000/2001 – eine Ergänzung des bisherigen Sozialversicherungssy-stems in der Rentenversicherung um Elemente der Privatversiche-rung. Hieraus entstehen tendenziell wiederum neue Probleme etwafür diejenigen, die auf Grund geringer Einkünfte oder längererArbeitslosigkeit nicht in der Lage sind, sich privat zusätzlich abzu-sichern und damit im Rentenalter einen stark abnehmenden Lebens-

122

110 Siehe dazu die Grafik in Anhang D.

standard in Kauf nehmen müssen oder gar dem Risiko der Ver-armung ausgesetzt sind. Zu diesen Problemen kommt hinzu, dassdie Belastungen der jeweils erwerbstätigen Generation im Rahmendes gegenwärtigen Rentensystems trotz der Reformmaßnahmenzunehmen werden. Hier kommt das Risiko eines „Generationen-konflikts“ zwischen den Erwerbstätigen sowie der nachwachsendenGeneration einerseits und den aus dem Erwerbsleben Ausge-schiedenen andererseits in den Blick. Dieser Konflikt könnte darausentstehen, dass die zahlenmäßig stärker werdende (und damit auchdemokratisch über großes Gewicht verfügende) ältere Generationauf Kosten der jüngeren lebt, ohne dass die jüngeren Generationendie Absicherung ihrer eigenen Zukunft hinreichend gewähren könn-ten. Ob dieser Konflikt tatsächlich aufbricht, ist indes nicht sicher.

Die demographische Entwicklung wirkt sich in mannigfaltigerWeise auch auf das Gesundheitswesen aus: Ältere Menschen sindkrankheitsanfälliger als jüngere und mit zunehmendem Alter auchzunehmend pflegebedürftig. Die Verbesserung der medizinischenMöglichkeiten einerseits und der Anstieg der Lebenserwartungandererseits haben zusammen mit der Zunahme des Bevölkerungs-anteils der Alten zur Folge, dass immer mehr ältere Menschenimmer länger medizinisch behandelt und/oder gepflegt werden, waszu einer weiteren Expansion der entsprechenden Gesundheits- undPflegekosten führt. Diese Kosten werden noch dadurch gesteigert,dass die Verbesserung medizinischer Behandlungsmöglichkeitendurch teure medizinische Apparaturen zusätzlich zu Kostensteige-rungen im Bereich des Gesundheitswesens führen. Für die gesetz-liche Krankenversicherung und die Pflegeversicherung verschärftsich hier also wie in der Rentenversicherung die Finanzierungs-problematik.

In engem Zusammenhang mit der demographischen Entwicklungstehen auch aktuelle Herausforderungen im Bereich der Familien-politik: Es wird immer wieder zutreffend festgestellt, dass dasSystem der Sozialpolitik Familien vielfach benachteiligt. Währendetwa der Unterhalt der älteren Generation (Rentner) fast vollständig

123

durch sozialpolitische Umverteilung von der Gesellschaft getragenwird, obliegt der Unterhalt der Familien – trotz aller familienpoli-tischen Leistungen – diesen (d.h. insbesondere den erwerbstätigenEltern) ganz überwiegend selbst. Zugleich profitiert die Gesell-schaft von den verschiedenen Leistungen der Familie, nämlichbereits dadurch, dass mit den Kindern die Fortexistenz der Gesell-schaft und der Sozialpolitik ermöglicht wird. Mit der Entscheidungfür Kinder nimmt eine Familie zugleich materielle Nachteile inKauf, etwa durch den Ausfall von aktuellen Einkommen, wenn einElternteil während der Zeit der Kindererziehung nicht erwerbstätigist. Dadurch vermindern sich zugleich zukünftige (Renten-)Ein-kommen durch geringere Anrechnungszeiten in der Rentenver-sicherung. Indem die Entscheidung für Kinder der Gesellschaftmateriell Vorteile bringt, sind die Familien selbst materiell geradegegenüber denen, die sich gegen Kinder entscheiden, vielfachbenachteiligt. Hier zeichnet sich die Entwicklung einer gesellschaft-lichen Polarisierung und Ungleichheit zwischen Familien einerseitsund Kinderlosen andererseits ab. Angesichts dieser Zusammen-hänge entscheiden sich unter anderem deshalb viele Menschengegen die Gründung einer Familie. So ist die strukturell für Fami-lien nachteilige Sozialpolitik selbst ein Faktor für die sozialpolitischproblematische Entwicklung der Geburtenrate. Da nun die Sozial-politik auf das Nachwachsen junger Generationen angewiesen ist,stellt sich die Frage, wie dies gesichert werden kann. Das ist nichtzuletzt eine Frage der Familienpolitik, die so auch eine bevölke-rungspolitische Dimension erhält.

124

2. Globalisierung und Sozialpolitik

Die vielfältigen Entwicklungen im Zuge der Globalisierung111

haben verschiedene Auswirkungen auf die Sozialpolitik auch inDeutschland. Hier können nur wenige Punkte angesprochen wer-den.

Die Globalisierung hat eine Verschärfung des Wettbewerbs zwi-schen Staaten untereinander um wirtschaftliche Investitionen zurFolge: Zunächst nimmt die Bedeutung nationaler Grenzen fürInvesitions- und Standortentscheidungen von Unternehmen ab.Daher wird für diese ein internationales Operieren einfacher und sieorientieren ihre Entscheidungen zunehmend stärker an den mögli-chen Kosten- und Standortvorteilen, die die einzelnen Staaten ihnenbieten. Dementsprechend konkurrieren umgekehrt die Staaten umdie Ansiedlung von Unternehmen, denn eine entsprechende Unter-nehmensentscheidung bringt Steuereinkünfte und hat die Einrich-tung von Arbeitsplätzen zur Folge. Um gegenüber anderen Staatenwettbewerbsfähig zu sein, versuchen die Staaten, die Bedingungenfür wirtschaftliche Investitionen und Standortentscheidungen mög-lichst günstig zu gestalten. So werden beispielsweise bestimmteSteuervergünstigungen oder Subventionsmöglichkeiten für Unter-nehmen eingerichtet. Einen Standortfaktor stellen aus dieser Per-spektive auch die Kosten der Sozialpolitik eines Landes dar: Sindbeispielsweise die sozialpolitisch bedingten Lohnnebenkosten fürUnternehmen (z.B. Arbeitgeberanteile für Versicherungsbeiträge) ineinem Staat besonders hoch, kann sich dies negativ auf dieEntscheidung eines Unternehmens auswirken, in diesem Land zuinvestieren. Unter anderem deshalb erzeugt die Globalisierungeinen gewissen wirtschaftlichen und politischen Druck, die Kostender Sozialpolitik zu senken. Andererseits ist ein hoher Entwick-

125

111 Unter Globalisierung wird Unterschiedliches verstanden und es gibt keine allgemeingültige Definition des Begriffs. Erbezeichnet vor allem das Phänomen, dass infolge technischer Fortschritte, internationaler Vereinbarungen und politischerLiberalisierungen seit Jahren eine deutliche Abnahme der Bedeutung räumlicher Distanzen sowie eine Zunahme grenzüber-schreitender Transaktionen vor allem in den Bereichen der Kommunikation und der Wirtschaft zu beobachten ist. Es erfolgtüber Grenzen hinweg eine zunehmende Vernetzung der früher stärker national orientierten Güter-, Dienstleistungs-, Finanz-und Arbeitsmärkte. Zwar wird der Ausdruck „Globalisierung“ erst seit Beginn der 1990er Jahre gebräuchlich, das Phänomenist aber älter.

lungsstand des sozialpolitischen Systems eines Landes auch einwirtschaftlicher Standortvorteil: Eine gut entwickelte Sozialpolitikhat beispielsweise hohe Sicherungsstandards im Bereich desUnfallschutzes, einen hohen Gesundheitsstand der Arbeitnehmer,einen hohen (Aus-) Bildungsstand usw. zur Folge – Resultate, diesich unmittelbar positiv auch auf die Produktivität und Leistungs-fähigkeit der Wirtschaft eines Landes auswirken.

Eine sozialpolitisch problematische Wirkung der Globalisierungergibt sich in diesem Kontext aus dem Umstand, dass zwarUnternehmen relativ einfach über Grenzen hinweg agieren können,Arbeitnehmer demgegenüber nach wie vor viel stärker an ihrenStaat gebunden sind. Arbeitslosigkeit verbleibt im Land, währendUnternehmen und Kapital in andere Länder abwandern können.Solche Zusammenhänge können die Finanzierungsprobleme z.B.im Bereich der sozialen Absicherung bei Arbeitslosigkeit in einemStaat verschärfen.

Die vorgenannten sozialpolitischen Aspekte der Globalisierung ver-weisen auf eine allgemeine Konsequenz, die die Globalisierung fürdie Staaten hat: Im Zuge der Globalisierungsprozesse verringernsich die Handlungs- und Steuerungsmöglichkeiten des Staates vorallem im Bereich der Wirtschaftspolitik. Dies hat unmittelbare Aus-wirkungen auf die Sozialpolitik, weil der sozialpolitische Spielraumeines Staates von seinen wirtschaftspolitischen Möglichkeiten mit-bestimmt wird. So ist heute angesichts der Globalisierung eineVollbeschäftigungspolitik mit dem Mittel der Staatsverschuldung,wie sie in der Bundesrepublik lange Zeit betrieben wurde, heutekaum mehr möglich, weil eine hohe Staatsverschuldung als Faktorwirtschaftlicher Instabilität angesehen wird und dadurch tendenziellinvestitionshemmend wirkt. In den Staaten der Europäischen Unionwird die globalisierungsbedingte Einschränkung staatlicher Hand-lungsspielräume durch die Europäisierung der Wirtschaftspolitiküberlagert und z.T. verstärkt. Wirtschaftspolitische Maßnahmenkönnen von den einzelnen Staaten innerhalb der EU in weitenBereichen nur noch sehr begrenzt selbstständig entschieden werden

126

– auch dies engt unter Umständen den sozialpolitischen Handlungs-spielraum ein.

3. Das Problem des Missbrauchs sozialpolitischer Leistungenund Einrichtungen

Eine Herausforderung der Sozialpolitik besteht in dem Missbrauchsozialpolitischer Leistungen und Einrichtungen. Es ist sehr schwer,den tatsächlichen Umfang solchen Missbrauchs sowie den darausresultierenden Schaden festzustellen. Es muss davon ausgegangenwerden, dass es Missbrauch von Sozialleistungen in einem nichtunbedeutenden Umfange tatsächlich gibt. Solcher Missbrauch kannverschiedenste Formen annehmen, und er wird oft durch die Funk-tionsweise des Systems der sozialpolitischen Einrichtungen, ins-besondere des Systems der Sozialversicherung, begünstigt. Miss-brauch kann etwa in der ungerechtfertigten Inanspruchnahme vonVersicherungsleistungen oder von Sozialwohnungen bestehen, aberman mag ihn bereits in einem allzu raschen Gang zum Arzt beigesundheitlichen Bagatellen erkennen. Missbrauch besteht auchetwa darin, dass medizinisch unnötige oder zu viele Arzneimittelverschrieben werden.

Der Missbrauch sozialpolitischer Leistungen und Einrichtungenwirkt sich negativ vor allem für die tatsächlich Bedürftigen, letztlichaber für die gesamte Gesellschaft aus. Ist nämlich der Missbrauch –welchen Umfang er konkret auch annehmen mag – ein Faktor derKostensteigerung (etwa in der Sozialversicherung), so ist er auchmitverantwortlich, wenn auf Grund dieser Kostensteigerung Kür-zungen und Einsparungen vorgenommen werden, die besonders dieam ehesten Bedürftigen, letztlich aber die Gesamtheit treffen. Diesehier nur angedeuteten Zusammenhänge verweisen darauf, dass derSozialstaat auf einen verantwortungsvollen Umgang der Bürger mitdem sozialpolitischen System, also auf entsprechende Bürgertugen-den angewiesen ist.

127

XIII. Sozialpolitik in europäischen Staaten

Im Folgenden werden einige Charakteristika der Sozialpolitikeuropäischer Staaten vorgestellt. Prinzipiell sind alle diese StaatenSozialstaaten112, jedoch bestehen bei der jeweiligen Ausgestaltungder Sozialpolitik, bezüglich ihrer leitenden Prinzipien, der Organi-sation, der Art der sozialpolitischen Instrumente und Maßnahmensowie der Höhe der Leistungen zum Teil erhebliche Unterschiede.Diese Unterschiede erklären sich aus der jeweiligen historischenEntwicklung der Sozialpolitik eines Landes im Kontext der sichgeschichtlich wandelnden politischen, wirtschaftlichen und sozia-len Situationen, in denen sich die einzelnen Staaten befanden undbefinden. Die traditionellen Eigenarten und Besonderheiten derjeweiligen Sozialpolitik erwiesen sich als von außerordentlich lang-lebiger Präge- und Bestandskraft. Doch sind die sozialpolitischenTraditionen der Staaten keineswegs starr und unflexibel. ImGegenteil hat sich gezeigt, dass diese Traditionen immer wiedereine angemessene Grundlage zur Bewältigung neuer sozialpoliti-scher Herausforderungen darstellten.

Für die folgende Darstellung musste eine Auswahl unter den euro-päischen Ländern getroffen werden. Die Darstellung beschränktsich auf EU-Mitgliedstaaten, nämlich Dänemark, Großbritannien,Frankreich und Spanien; in einem Exkurs wird ein Blick auf dieSozialpolitik der USA geworfen. Als ein Auswahlkriterium für dievorgestellten Länder wurde die Gestaltung des Systems der sozialenSicherung im engeren Sinne113 herangezogen. Während die sozialeSicherung im engeren Sinne in Dänemark in erster Linie demVersorgungsprinzip folgt, ist sie in Frankreich (wie in Deutschland)primär am Sozialversicherungsprinzip orientiert. Obgleich vielfach

128

112 Im englischen Sprachraum wird statt des Begriffs Sozialstaat meist der Begriff des Welfarestate (Wohlfahrtsstaat) benutzt,und auch im Deutschen findet diese Bezeichnung für den Sozialstaat zunehmenden Gebrauch. Der Begriff desWohlfahrtsstaates ist indes enger als der des Sozialstaates und impliziert oft eine Betonung des Versorgungs- und desFürsorgeprinzips. Daher ist der Begriff des Sozialstaates sachlich angemessener. Zu einer fundierten Kritik am Begriff desWohlfahrtsstaates siehe ausführlich Ritter, Der Sozialstaat, 4-14.

113 Zur sozialen Sicherung im engeren Sinne ausführlich Kap. IX.5.

im Sinne des Versicherungsprinzips organisiert, hat das Versor-gungsprinzip im Sinne des Gedankens einer Grundversorgung dassoziale Sicherungssystem Großbritanniens deutlich geprägt. DasVersorgungsprinzip prägt heute auch die spanische Sozialpolitik.Das öffentliche soziale Sicherungssystem in den USA hingegenfolgt primär dem Prinzip der Fürsorge.114

1. Dänemark

Der dänische Sozialstaat weist prinzipielle Gemeinsamkeiten mitanderen skandinavischen Sozialstaaten auf und wird daher demTypus des skandinavischen Sozialstaates zugerechnet. Kennzeich-nend für diesen ist vor allem die überwiegend staatliche Organisa-tion der sozialen Risikoabsicherung nach dem Versorgungsprinzip.Das heißt, das staatliche System der sozialen Sicherheit wird nichtdurch Beiträge der Versicherten und der Arbeitgeber finanziert, son-dern allgemein durch Steuern und Abgaben; es befindet sich in derTrägerschaft des Staates, nicht in derjenigen von selbstverwaltetenOrganisationen. Eine Ausnahme bildet die Arbeitslosenversiche-rung, die über Beiträge der Versicherten und der Arbeitgeber sowiedurch staatliche Zuschüsse finanziert wird. Die Höhe des staatli-chen Finanzierungsanteils ist dabei abhängig von der Höhe derArbeitslosigkeit, entsprechend der relativ geringen Arbeitslosigkeitin Dänemark ist sie seit Jahren rückläufig. Träger der Arbeits-losenversicherung sind die Gewerkschaften. Ferner besteht eineUnfallversicherung, die von den Arbeitgebern finanziert wird.

Im Folgenden wird das dänische Rentensystem – das System staat-licher Pensionen – näher vorgestellt. Das System wurde 1891 ein-

129

114 Die folgende Darstellung orientiert sich im Falle der EU-Staaten im wesentlichen an den entsprechenden Beiträgen desSammelbandes Joos P. A. van Vugt / Jan M. Peet (Hrsg.), Social Security and Solidarity in the European Union. Facts,Evaluations, and Perspectives, Heidelberg, New York 2000 und an der wegen der Präsentation zahlreicher Vergleichsdatenhilfreichen Broschüre: Euroatlas. Soziale Sicherheit im Vergleich, hrsg. vom Bundesministerium für Arbeit undSozialordnung, Bonn 1998. Ferner wurde vor allem herangezogen Ritter, Der Sozialstaat. Zur Sozialpolitik in den europäi-schen Staaten siehe die informativen Beiträge in Alessandra Bosco / Martin Hutsebaut (Hrsg.), Sozialer Schutz in Europa.Veränderungen und Herausforderungen, Marburg 1998.

geführt, 1933 ausgebaut und 1957 sowie in späteren Jahren modi-fiziert. Die Leistungen für alle Staatsbürger bestehen aus einer ver-gleichsweise niedrigen, vermögensunabhängigen Einheitspensionsowie einem von den Vermögensverhältnissen des Empfängersabhängigen Pensionszuschlag. Zusätzlich existiert eine „Arbeits-marktergänzungspension“ (Arbeijdsmarkedets Tillægspension,ATP) für Erwerbstätige, finanziert durch Beiträge von Arbeit-nehmern und Arbeitgebern. Letztere ist zwar nicht besonders hoch,führt aber insbesondere für Arbeitnehmer niedriger Einkommendazu, dass ihr verfügbares Einkommen im Pensionsalter nicht zustark sinkt und sie ihren bisherigen Lebensstandard weitgehend hal-ten können. Zur Versorgung im Alter trägt zusätzlich bei, dass vieledänische Tarifverträge Vereinbarungen über zusätzliche Zahlungenfür pensionierte Arbeitnehmer aus Pensionsfonds enthalten. Geradedies lässt für die Zukunft erwarten, dass der Lebensstandard ältererMenschen in Dänemark steigen wird. Dieser absehbare Trend führtin jüngerer Zeit angesichts der demographischen Entwicklung (d.h.der auch in Dänemark absehbaren „Überalterung“ der Gesellschaft)zu Überlegungen, ob die staatlichen Leistungen für Ältere zukünftigreduziert werden können.

Anrecht auf die staatlichen Pensionszahlungen haben – abgesehenvon einigen Ausnahmen – prinzipiell nur dänische Bürger, die das67. Lebensjahr erreichen. Um die volle Staatspension zu erhalten,muss man ferner nach dem 15. Lebensjahr wenigstens 40 Jahre inDänemark gelebt haben.

Es besteht für Mitglieder der Arbeitslosenversicherung die Mög-lichkeit, bereits ab dem 60. Lebensjahr freiwillig aus dem Erwerbs-leben auszuscheiden. In diesem Fall erhält man nach Altersgruppengestaffelt bis zum 67. Lebensjahr eine vorgezogene, aus der Arbeits-losenversicherung gezahlte Rente. Die Möglichkeit des frühzeitigenAusstiegs aus dem Erwerbsleben wird häufig in Anspruch genom-men, die Politik des Staates zielt jedoch seit einiger Zeit darauf, dieErwerbspersonen länger im Erwerbsleben zu halten. So wurde 1998ein Gesetz erlassen, nach dem seit Juli 1999 diejenigen, die bis zum

130

65. Lebensjahr arbeiten, nach Erreichung des 62. Lebensjahres be-stimmte Steuervergünstigungen eingeräumt bekommen.

Auch das dänische System der Gesundheitsversorgung ist staatlichund steuerfinanziert. Es umfasst alle Bürger. Seine Leistungen be-stehen u.a. aus einer für die Bürger kostenfreien ärztlichen Versor-gung. Bei Medikamenten gibt es eine vergleichsweise hohe finan-zielle Selbstbeteiligung der Patienten.

Die Leistungen der staatlichen Versorgungssysteme werden jährlichneu berechnet und der wirtschaftlichen Entwicklung – insbesonderederjenigen der Durchschnittseinkommen – angepasst.

Ein Trend der gegenwärtigen dänischen Sozialpolitik weist auf eineVerschärfung der Bedingungen für die Inanspruchnahme langfristi-ger sozialer Leistungen. Dies geht einher mit einem Wandel wegvon traditionell in vielen Bereichen üblichen Leistungszuteilungennach Ermessen der zuständigen Behörden innerhalb eines weitenrechtlichen Rahmens hin zu einer klaren und genaueren rechtlichenFixierung der Voraussetzungen für die Leistungsgewährungen.

2. Großbritannien

Großbritannien war das Land, von dem die industrielle Revolutionim 18. Jahrhundert ihren Ausgang nahm. Entsprechend wurden dortnicht nur die aus der Industrialisierung resultierenden Probleme –insbesondere die massenhafte Armut von Arbeitern – früh erkenn-bar, sondern auch die ersten modernen sozialpolitischen Instru-mente und Maßnahmen zur Reaktion auf die sozialen Heraus-forderungen entwickelt. Daher spielte Großbritannien in denBereichen des Arbeitsschutzes und der Koalitionsfreiheit für diemoderne Sozialpolitik eine Vorreiterrolle115: Früh wurden hier

131

115 Siehe Ritter, Der Sozialstaat, 56 ff.

Maßnahmen zum Schutz von in Fabriken und Bergwerken beschäf-tigten Frauen und Kindern eingeleitet, die sich auch weitgehend fürmännliche Arbeitnehmer durchsetzten. Ferner entstand bereits vorder Mitte des 19. Jahrhunderts in Anknüpfung an vorindustrielleHandwerksorganisationen eine Gewerkschaftsbewegung, die imLaufe der Zeit einen starken Einfluss auf das britische Wirtschafts-leben gewann. Die Gewerkschaften spielten in einzelnen Industrie-zweigen nicht nur bei der Festsetzung von Löhnen und Arbeits-zeiten eine entscheidende Rolle, sondern auch bei der Gestaltungvon Arbeitsbedingungen, Arbeitsorganisation und in der Lehrlings-ausbildung; daneben errichteten sie Hilfskassen für ihre Mitglie-der. Typisch für die sozialpolitische Lage im Großbritannien des19. Jahrhunderts waren ferner die „Friendly Societies“. Dies warenSelbsthilfeorganisationen, die freiwillige Unterstützungseinrichtun-gen – insbesondere Krankenversicherungen – für die in ihnen orga-nisierten Arbeitnehmer etablierten. Ihre Mitglieder rekrutierten sichvor allem aus dem Handwerk und der Facharbeiterschaft. Der so-ziale Schutz durch Gewerkschaften und solidarische Selbsthilfe-organisationen erwies sich jedoch in verschiedener Hinsicht alsunzureichend, weshalb man auch in Großbritannien gegen Ende des19. Jahrhunderts zunehmend nach staatlichen Lösungen suchte –nicht zuletzt angeregt durch die Sozialpolitik des DeutschenReiches.

Im Bereich der sozialen Sicherung (im engeren Sinne) war Groß-britannien verglichen mit anderen europäischen Staaten teilweiseein „Nachzügler“: Eine obligatorische Arbeiterunfallversicherungexistierte in Form einer (nicht für alle Industriezweige geltenden)Haftpflicht seit 1897, die Alterssicherung wurde 1908 etabliert, dieKrankenversicherung 1911. Ebenfalls im Jahre 1911 wurde eine(zunächst auf nur kleine Teile der Arbeiterschaft beschränkte) obli-gatorische Arbeitslosenversicherung eingeführt – hier war Groß-britannien anderen euopäischen Ländern voraus.

Das System der Altersrenten basierte auf dem Versorgungsprinzipund wurde ohne Beitragsleistungen der Versicherten ausschließlich

132

vom Staat (das heißt durch das allgemeine Steueraufkommen)finanziert. Diese Organisation der Altersversorgung als Staats-bürgerversorgung wurde nach dem Zweiten Weltkrieg reformiert.Die Sicherung bei Arbeitslosigkeit und bei Krankheit beruhte aufdem Versicherungsprinzip.

Eine umfassende Neuordnung des Systems der sozialen Sicherheiterfolgte unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg auf der Grundlagedes Beveridge-Reports (auch Beveridge-Plan genannt; Report onSocial Insurance and Allied Services) von 1942, eines sozialpoliti-schen Reformprogramms, das auf Vorstellungen des Sozialpoliti-kers William Henry Beveridge (1879-1963) zurückging. Die ent-sprechenden Reformen brachten im Wesentlichen den Übergangvon der Arbeitnehmer- zur Volksversicherung und die Errichtungeines staatlichen Gesundheitsdienstes (National Health Service),dessen Leistungen allen Bürgern unentgeltlich zur Verfügung stan-den, sowie eine bessere Absicherung von Familien durch einebesondere Familienunterstützung. Die Reformen basierten auf derengen Verknüpfung der Sozialpolitik mit einer auf Vollbeschäf-tigung abzielenden staatlichen Wirtschaftspolitik. Sie beanspruch-ten, alle Bevölkerungskreise zu erfassen und jedem Bürger einenMindest-Lebensstandard zu sichern und zielten auf Universalitätund Einheitlichkeit des sozialen Sicherungssystems ab.116 Letztereskam nicht zuletzt darin zum Ausdruck, dass ein globaler Versiche-rungsbeitrag für Arbeitnehmer und Arbeitgeber für die Versicherungder wichtigsten Risiken (Alter, Invalidität, Krankheit, Arbeits-losigkeit, Mutterschaft) eingeführt wurde, wobei eine staatlicheFinanzierung dieses Beitragsaufkommen ergänzte. Insbesonderedas Gesundheitswesen wurde im Grunde vollständig vom Staatfinanziert. Das Beveridge-System ist trotz zahlreicher Änderungenin seinen Grundzügen bis heute beibehalten worden. Dass diesesSystem der sozialen Sicherheit in Großbritannien trotz wichtigerSozialversicherungselemente im Kern am Versorgungsprinzip ori-

133

116 Siehe ausführlicher Ritter, Der Sozialstaat, 147-151. Der Beveridge-Plan fand auch außerhalb Großbritanniens starkeBeachtung. Er beeinflußte die sozialpolitische Diskussion in den westeuropäischen Ländern und gab etwa wichtige Impulsefür die schweizerische Sozialpolitik.

entiert ist, lässt sich daraus ersehen, dass seit 1992/93 die nicht bei-tragsfinanzierten Ausgaben die beitragsfinanzierten übertreffen.Hieran haben auch verschiedene Reformen zur Senkung der staat-lichen Sozialausgaben in den vergangenen Jahren wenig geändert.

Eigenarten dieses Systems seien anhand der Entwicklung derAlterssicherung demonstriert: Im Unterschied zu dem Anspruch,der mit der Realisierung des am Beveridge-Report orientierten sozi-alpolitischen Reformprogramms erhoben worden war, konnte dasbritische System eine vergleichsweise breite Armut in der Bevöl-kerung, besonders aber unter den Empfängern der Altersrente nachdem Krieg nicht verhindern. Die gezahlte einkommensunabhängigeEinheitsrente war wegen ihrer geringen Höhe in vielen Fällen nichtim Stande, den Mindestunterhalt zu sichern, sodass Rentenempfän-ger neben der Rente oft zusätzlich Fürsorgeleistungen des Staates inAnspruch nehmen mussten. (1951 und 1965 waren etwa 23% derbritischen Rentner auf Fürsorgeleistungen angewiesen. In Deutsch-land bezogen 1955, d.h. noch vor der Rentenreform von 1957,lediglich 2,9% der Rentner zusätzliche Leistungen der Sozialhilfe).Entsprechend war der Anteil der Altersrentner an den Fürsorgeemp-fängern in Großbritannien sehr hoch. Zögerlich vorgenommeneReformen seit Ende der fünfziger und vor allem in den siebzigerund in den Achtzigerjahren brachten hier einige Veränderungen undeine Ausdifferenzierung des Systems der Alterssicherung. Heutebesteht dieses System aus einem Ensemble unterschiedlicher Leis-tungen: Den Kern bildet nach wie vor die einkommensunabhängigestaatliche Einheitsrente (Basic State Pension). Daneben existierenergänzende Leistungen, die aus einer niedrigen einkommensbezo-genen staatlichen Zusatzrente (SERPS – State Earnings-RelatedPension Scheme, eingeführt 1975) sowie privaten, insbesonderebetrieblichen Leistungen (Betriebsrenten) bestehen. Schließlichbestehen daneben ergänzende freiwillige private Absicherungen.Der Anteil der Grundrente am Gesamteinkommen von Rentnerngeht seit Jahren zurück, was insbesondere darauf zurückzuführenist, dass die Anpassung der Leistungen sich seit Anfang derAchtzigerjahre nicht mehr an der Steigerung der Einkommen, son-

134

dern an jener der Preise orientiert. Während infolge dieser Ent-wicklung einerseits zahlreiche Rentner weiterhin auf ergänzendeFürsorgeleistungen angewiesen bleiben, ist andererseits das durch-schnittliche Einkommen der Rentner in den vergangenen zwanzigJahren real deutlich gestiegen. Dies ist vor allem der Bedeutungs-zunahme von Betriebsrenten zu verdanken, die für viele Rentnereine Sicherung des Lebensstandards auf hohem Niveau bedeuten.Diejenigen aber, die nur über geringe Betriebsrenten verfügen undim Wesentlichen auf die staatlichen Renten angewiesen sind, ver-bleiben demgegenüber in relativer Armut. So ist die britischeEntwicklung seit Jahren durch eine Vergrößerung der Einkommens-unterschiede von Rentnern gekennzeichnet. Die neuere Renten-politik der seit 1997 im Amt befindlichen sozialdemokratischenLabour-Regierung hebt vor allem darauf ab, den Anteil der privatenAlterssicherung etwa mittels privater Vermögensbildung zu ver-größern und den Anteil der staatlichen Rentenleistungen zu verrin-gern – nicht zuletzt, um die Staatsausgaben zu reduzieren. Zugleichwird die bleibende Verantwortung des Staates für die Armuts-bekämpfung bei Rentnern hervorgehoben. Letzterem sollte etwa dieseit April 1999 bestehende Garantie eines Mindesteinkommens fürRentner dienen.

Die jüngeren Maßnahmen in der britischen Alterssicherung stehenvor dem Hintergrund der Wandlungsprozesse auf dem Arbeitsmarktund der demographischen Entwicklung in Großbritannien. BeideFaktoren haben eine Situation hervorgerufen, die sich von derjeni-gen stark unterscheidet, von der Beveridge bei seiner Konzeptionausgehen konnte. So war es in Beveridges Zeit durchaus üblich,dass ein Rentenempfänger nur noch lediglich ein oder zwei Jahrenach Ausscheiden aus der Berufstätigkeit lebte. Das Rentensystemhatte daher in viel geringerem Umfang langfristige Rentenzah-lungen für einzelnen Rentner zu leisten. Dies ist heute völlig anders.Die unter anderem hieraus resultierenden Schwierigkeiten zeigenexemplarisch, dass die moderne Sozialpolitik in mehr oder wenigerallen europäischen Sozialstaaten vor ähnlichen Herausforderungensteht, auf die unterschiedlich und entsprechend den jeweiligen

135

Gegebenheiten in einem Land reagiert wird. Die gegenwärtigesozialpolitische Entwicklung in Großbritannien geht dahin, mög-lichst viele Menschen (durch Förderung von Schulungs- und Aus-bildungsmaßnahmen und Arbeitsplätzen etc.) in das Arbeitsleben zuintegrieren und ihnen dadurch die Möglichkeit zur sozialen Eigen-vorsorge (Vermögensbildung, private Versicherung) zu geben. DerStaat zieht sich dabei nicht (oder: nicht notwendigerweise) aus sei-ner gesellschaftlichen Verantwortung zurück, doch werden dieAnforderungen an Leistungsempfänger strengeren Maßstäben undBedürftigkeitsprüfungen unterworfen. Personen, die den entspre-chenden staatlichen Anforderungen und den daraus resultierendenPflichten nicht nachkommen, müssen in zunehmendem Maße mitLeistungseinbußen und Restriktionen rechnen. Der Staat konzen-triert sich so zunehmend auf die Förderung von Arbeit einerseits,auf eine soziale Grundversorgung andererseits, wobei (nach demFürsorgeprinzip) bedarfsabhängige Leistungen zunehmend in denVordergrund treten. Die soziale Sicherung durch öffentliche Ein-richtungen bleibt dabei absehbar auf niedrigem Niveau; und dasArmutsrisiko bleibt jedenfalls für jene, denen eine hinreichendezusätzliche private Absicherung nicht möglich ist, vergleichsweisehoch.117

3. Frankreich

Für die modernen europäischen Vorstellungen von sozialer Solida-rität und sozialen Grundrechten waren die Ideen der FranzösischenRevolution von großer Bedeutung. Die im Kontext der Revolutiongeführte Diskussion über soziale Grundrechte gab für die Entwick-lung der modernen Sozialpolitik in Europa wichtige Impulse.118

Bereits die französischen Verfassungen von 1791 und 1793 enthiel-ten einschlägige Artikel über die soziale Verantwortung des Staates

136

117 Zu diesen Einschätzungen und zu den aktuellen Entwicklungsperspektiven der britischen Sozialpolitik siehe Hannah Reed /Simon Deakin, United Kingdom, in: van Vugt / Peet (Hrsg.), Social Security and Solidarity in the European Union, 182-222,hier: 219-222.

118 Siehe dazu oben Kap. IV. sowie den Exkurs H zu den sozialen Grundrechten.

bzw. Proklamationen sozialer Grundrechte, jedoch blieben dieseBestimmungen reine Programmatik. Die tatsächliche Sozialpolitikder Revolutionsregierungen war uneffektiv und die soziale Situa-tion der Armen verschlechterte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts.Dies war auch Folge des durch die Revolution bewirkten Zu-sammenbruchs der kirchlichen Fürsorge. Die Armenfürsorge oblagin der Revolutionszeit in erster Linie privater Wohltätigkeit undkommunaler Unterstützung. Die öffentliche Fürsorge der Kommu-nen erreichte nicht das in Ländern wie Großbritannien, Preußenoder Bayern übliche Niveau. Dem Schutz von Arbeitnehmernwidmete sich eine Vielzahl von freiwilligen Selbsthilfeorganisatio-nen (die sociétés de secours mutuel und die mutualités). DieseOrganisationen erfassten indes nur einen Teil der Lohnabhängigen(meist die besser gestellten Facharbeiter und Handwerksmeister)und vermochten beispielsweise nicht, die Risiken längerer Arbeits-losigkeit, der Altersarmut oder dauernder Invalidität abzusichern.Eine starke, berufsgruppenorientierte Fragmentierung blieb bisnach dem Zweiten Weltkrieg kennzeichnend für das soziale Siche-rungssystem Frankreichs. Die Einführung einer Einheitsversiche-rung 1947 scheiterte an verschiedenen politischen und gesellschaft-lichen Widerständen, sodass autonome Sicherungssysteme fürBeamte, Arbeiter im Staatsdienst, Angestellte in Gemeinden, Berg-arbeiter und für Selbstständige unterschiedlicher Wirtschaftssek-toren das System zunächst weiterhin prägten.119 Erst seit denFünfzigerjahren setzte ein allmählicher, sich in den Siebzigerjahrenbeschleunigender Wandel ein: Immer mehr Berufsgruppen wurdennun in das staatliche Versicherungssystem einbezogen; gleichwohlwurde eine Vereinheitlichung des sozialen Sicherungssystems nichterreicht. Die wichtigste öffentliche Sicherungseinrichtung ist dasallgemeine Sozialversicherungssystem für Gehaltsempfänger, daseinen großen Teil der französischen Bevölkerung umfasst, eineweite Bandbreite an Risiken und Leistungen in der Alters-, derGesundheits-, Unfall- und Familiensicherung umfasst und durchBeitragszahlungen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber finanziert

137

119 Zum Vorstehenden siehe Ritter, Der Sozialstaat, 43-45, 49 f., 154-156.

wird. Dieses allgemeine System bildet den Kern der sozialenSicherung der französischen Bevölkerung; darüber hinaus existie-ren verschiedene ergänzende, teilweise obligatorische Einrichtun-gen insbesondere im Bereich der Krankenversicherung und derAltersvorsorge. Ergänzt wird dieses System schließlich durch einbeitragsunabhängiges soziales Fürsorgesystem. Die Zahlung vonArbeitslosengeld wird seit 1959 von den Sozialpartnern außerhalbdes allgemeinen Systems verwaltet. Das allgemeine System basiertgrundsätzlich auf der Berufstätigkeit; entsprechend ist der Anspruchauf Leistungen grundsätzlich abhängig von vorheriger Erwerbs-tätigkeit.

Infolge der Kostensteigerung im Bereich der sozialen Sicherungwurde 1991 eine neue Steuer eingeführt, die zur finanziellen Kon-solidierung beitragen soll (contribution sociale généralisée, CSG).Zusammen mit anderen staatlichen Steuereinkünften decken die ausder CSG fließenden staatlichen Gelder einen im Vergleich zu denBeitragsleistungen zunehmenden Anteil der Finanzierung des sozia-len Sicherungssystems Frankreichs. Im Folgenden ist ein Blick aufvier Bereiche des französischen Systems sozialer Sicherung zu wer-fen, auf die Kranken-, die Arbeitslosen- und die Rentenversicherungsowie auf das System der sozialen Fürsorge.

Alle Erwerbstätigen sind für den Krankheitsfall versichert, Selbst-ständige können sich privat absichern. Die Beiträge für diejenigenPersonen, die nicht im Stande sind, diese selbst zu zahlen, werdenvon der sozialen Fürsorge geleistet. Durch dieses System ist nahezudie gesamte französische Bevölkerung krankenversichert. Durchdie auch in Frankreich wirksame Kostensteigerung bei den Gesund-heitsausgaben ist jedoch die durchschnittliche Kostenerstattung inden vergangenen Jahren gesunken, sodass ein steigender Teil derKrankheitskosten von den Versicherten / den Patienten selbst aufzu-bringen ist.

Die Zahlung von Arbeitslosengeld ist gestaffelt und erfolgt für vierbis maximal 60 Monate. Die Leistungshöhe ist dabei ebenfalls ge-

138

staffelt und nimmt mit der Dauer der Arbeitslosigkeit ab. Arbeits-lose, die ihre Anrechte auf Arbeitslosengeld erschöpft haben, erhal-ten eine staatlich finanzierte Arbeitslosenhilfe durch die AllocationSpécifique Solidarité, sofern sie in den zehn Jahren vor Eintritt derArbeitslosigkeit wenigstens fünf Jahre lang beschäftigt waren. EinTeil der Arbeitslosen steht außerhalb dieser Sicherungsmöglich-keiten und erhält auf Grund der Regelung der Anrechte keineLeistungen. Insbesondere jüngere Arbeitslose sind hiervon be-troffen – Ende 1995 waren es von 850.000 jungen Arbeitslosen imAlter zwischen 18 und 25 Jahren 550.000, wobei ein Teil von diesenauch keine Leistungsrechte in der Sozialfürsorge geltend machenkann.

Die Rentenversicherung basiert auf einem System von obligatori-schen Basisversicherungen, die im Bereich der Privatwirtschaft vonErgänzungssicherungen flankiert werden, die als Pflichtversiche-rung ausgestaltet sind. Daneben existieren freiwillige Zusatzver-sicherungen, die meist berufsgruppenbezogen organisiert sind.Infolge der Notwendigkeit einer Anpassung an die demographischeEntwicklung (Anstieg des Anteils älterer Menschen an der Gesamt-bevölkerung) wurden 1994 die Berechnungsgrundlagen der Basis-renten verändert: Die Basisrente berechnet sich danach auf derGrundlage der Einkünfte der zwanzig Berufsjahre mit dem bestenEinkommen – anstatt der zehn einkommensstärksten Berufsjahre.Tendenziell verringert sich dadurch die Rentenhöhe.

1997 wurde das Rentensystem um ein neues Element ergänzt, umElemente privater Kapitalbildung in der Altersvorsorge. Zwarersetzt die privatwirtschaftliche Altersvorsorge gegenwärtig dieherkömmliche, durch die Solidargemeinschaft aufgebrachte Rentenicht. Doch wird mit dieser Innovation die Verantwortung für diematerielle Absicherung im Alter in höherem Maße dem Einzelnenselbst zugesprochen. Mit dem so eingeschlagenen Weg sucht diefranzösische Sozialpolitik auf die Altersentwicklung der Bevölke-rung, die Arbeitslosigkeit und die tendenziell sinkenden Rentenleis-tungen des überkommenen Systems zu reagieren. Kritiker sehen in

139

den Maßnahmen eine Abkehr vom Solidarprinzip in der Renten-versicherung.

Das französische System der öffentlichen sozialen Fürsorge, das inseiner heutigen Gestalt im Wesentlichen in den Siebzigerjahren aus-gestaltet wurde, kennt verschiedene Instrumente, die auf die Be-kämpfung der Armut zielen. Ein Minimaleinkommen steht jenenzur Verfügung, die anderweitig nicht über ausreichende Mittel zumLebensunterhalt verfügen. Die Leistungsansprüche richten sichprinzipiell nach der individuellen Bedürftigkeit. Neben den Leis-tungen für Menschen ab 65 (bzw. im Falle von Arbeitsunfähigkeitab 60) Jahren aus dem Fonds National de Solidarité (FNS), mitdenen im Bedarfsfalle die unter dem Niveau der Minimalrenten lie-genden Einkünfte ergänzt werden, stehen die Leistungen fürBehinderte (Allocation Adulte Handicapé, AAH), die Leistungenfür allein erziehende Eltern (Allocation Parent Isolé, API), dieLeistungen für Langzeitarbeitslose (Allocation Spécifique Soli-darité, ASS) sowie schließlich Leistungen zur Sicherung des Exis-tenzminimums für Erwachsene ab 25 (bzw. bei Eltern ab 18) Jahren,deren sonstige Einkünfte unterhalb des Existenzminimums liegen(Revenue Minimum d'Insertion, RMI). Die Leistungsgewährungder RMI ist u.a. an die Bereitschaft zur Reintegration in denArbeitsmarkt gebunden.

Die verschiedenen Fürsorgeleistungen werden gegenwärtig von ins-gesamt etwa 2,5 Millionen Menschen in Anspruch genommen,wobei typische Problemgruppen junge Menschen, Alleinerzie-hende, Arbeitslose und Witwen sind. Die sozialen Unruhen desJahres 1997 haben die Diskussion um das Fürsorgesystem ver-schärft, wobei auch prinzipielle Dilemmata deutlicher wurden. EinDilemma resultiert aus der politischen Notwendigkeit, das Systemzu verbessern und Anreize dafür zu schaffen, dass die betroffenenMenschen – soweit möglich – in den Arbeitsmarkt zurückgeführtwerden. Insgesamt wird an der Diskussion deutlich, dass trotz allerAnstrengungen das Problem der sozialen Marginalisierung sich alskaum lösbar erweist: Die sozialen Problemgruppen sind mittels

140

Sozialpolitik nur schwer aus dem Randbereich der Gesellschaftherauszuführen, wenn sie erst einmal in diesen gelangt sind.

4. Spanien

Seit der Einrichtung freiwilliger Versicherungen im Jahr 1853 gibtes eine moderne Sozialpolitik in Spanien. Bei der Fortentwicklungder spanischen Sozialpolitik war eine Orientierung an der Bis-marckschen – und damit an einer primär auf dem Versicherungs-prinzip beruhenden – Sozialpolitik leitend. 1919 wurde die erstespanische Pflichtversicherung in Form der Arbeiter-Rentenver-sicherung eingerichtet. In den folgenden Jahren entstanden weiterefreiwillige Versicherungen. 1932 folgte eine arbeitgeberfinanzierteUnfall-Pflichtversicherung und nach dem Bürgerkrieg 1938 bauteman im Spanien Francos120 neue Pflichtversicherungen auf. 1963wurde ein grundlegender Wandel des Systems der Sozialversiche-rung und damit auch eine tiefergreifende Umgestaltung der Sozial-politik eingeleitet, indem mit dem Ley de Bases de la SeguridadSocial (Grundgesetz zur sozialen Sicherung) der Versuch einerVereinheitlichung des Versicherungssystems in Angriff genommenwurde. Damit gab man die bis dahin geltende prinzipielle Orien-tierung am Versicherungsprinzip zu Gunsten des Versorgungs-prinzips auf, wobei die praktische und breit wirksame Durchsetzungdes Versorgungsprinzips erst in späteren Schritten bis zum Jahr1990 erfolgte: 1986 wurde mit der Ley General de Sanidad (Gesetzüber den allgemeinen Gesundheitsdienst) ein allgemeiner staatli-cher Gesundheitsdienst (Servicio Nacional de la Salud, SNS) einge-richtet, dessen Finanzierung in erheblichem Umfang durch denStaat aus Steuer- und Abgabeneinkünften erfolgt, wobei auf Bei-tragszahlungen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern jedoch nicht

141

120 Francisco Franco (1892-1975), von 1936 bis 1975 spanischer Diktator, ließ 1947 Spanien zur Monarchie erklären. Nach demEnde des Franco-Regimes erhielt die spanische Monarchie 1978 die heute gültige Verfassung, die Spanien als eine parla-mentarische Monarchie (Art . 1 Abs. 3) konstituiert. Die spanische Verfassung enthält ein ausführliches Kapitel über „Leit-prinzipien der Sozial- und Wirtschaftspolitik“ (Art. 39-52), in dem die staatlichen Aufgaben in diesem Bereich bestimmt wer-den. Die entsprechenden Verfassungsbestimmungen können indes noch keine zuverlässige Auskunft über die tatsächlicheGestalt des spanischen Sozialstaats geben.

gänzlich verzichtet wird. 1990 wurden mit Gesetz vom 20.12. dasSystem der sozialen Sicherung auf die gesamte Bevölkerung ausge-weitet und beitragsunabhängige Leistungen etabliert.121 Seither wur-den mehrere Reformen des Systems der sozialen Sicherheit durch-geführt, so werden etwa die Pensionen seit 1997 (Consolidación yRacionalización del Sistema de Seguridad Social – Gesetz zurKonsolidierung und Rationalisierung des Systems der sozialenSicherheit vom 15.7.1997) durch eine jährliche Neubewertung„automatisch“ der Inflationsrate angepasst.

Das Rentensystem und die Sicherung im Krankheitsfall sind alsstaatliche Versorgungssysteme ausgestaltet, die Leistungen im Falleder Mutterschaft und im Falle der Invalidität obliegen ebenfalls denstaatlichen Versorgungssystemen. Neben der öffentlichen Rentebestehen für zahlreiche Arbeitnehmer Zusatzversicherungen auf derGrundlage von Tarifvereinbarungen oder Arbeitsverträgen, worauszu folgern ist, dass die öffentlichen Rentenleistungen als nicht aus-reichend angesehen werden. Vom allgemeinen System der sozialenSicherung unabhängig organisiert ist die seit 1961 bestehende und1980 grundlegend umgestaltete, beitragsfinanzierte Arbeitslosen-versicherung.

Der Armutsbekämpfung dient ein System der sozialen Fürsorge, dasfür diejenigen Menschen Hilfen vorsieht, die unzureichende oderkeine Leistungen (mehr) aus den anderen Sicherungssystemen er-halten. Die Bedürftigkeit wird dabei nach bestimmten Kriterien be-messen, deren Erfüllung zum Leistungserhalt berechtigt. Getragenwerden die Fürsorgeleistungen von den Sozialverwaltungen der (17autonomen) spanischen Regionen.

Auch die spanische Sozialpolitik sieht sich einer enormen Kosten-steigerung der Sozialausgaben gegenüber, sodass auch hier – wieetwa in Deutschland, Frankreich und Großbritannien – Überlegun-

142

121 Seither lässt sich die spanische Sozialpolitik eher dem „Beveridge-Typ“ als dem „Bismarck-Typ“ zuordnen. Siehe dazu undgrundsätzlich zur gegenwärtigen spanischen Sozialpolitik Eugenio M. Recio / Pilar Núñez-Cortés, Spain, in: van Vugt / Peet(Hrsg.), Social Security ans Solidarity in the European Union, 163-181, hier: 163.

gen zur „Kapitalisierung“ des Sozialsystems und zu neuen Finan-zierungsmöglichkeiten eingesetzt haben. Es zeichnet sich ab, dasszukünftig die private Absicherung gegen typische soziale Risikenan Bedeutung gewinnen und sich das gesamte System der sozialenSicherheit in diesem Sinne wandeln wird: Die Möglichkeit privaterAbsicherung könnte sich in bestimmtem Umfang zu einer Alter-native gegenüber dem öffentlichen System entwickeln. Im Übrigenscheinen freie Wohlfahrts- und Wohltätigkeitseinrichtungen anGewicht zu gewinnen, welche sich sozialen Aufgaben verschreiben,die bisher von den sozialen Diensten des öffentlichen Systemsgeleistet werden. Wie diese sich abzeichnenden Trends die künftigeEntwicklung der spanischen Sozialpolitik beeinflussen werden,bleibt insgesamt jedoch abzuwarten.

Exkurs I: Sozialpolitik in den USA

Weit verbreitet ist hier zu Lande die Vorstellung, dass die USAkein Sozialstaat seien, es also dort kein staatlich organisiertesSystem sozialer Sicherheit gebe und die gesellschaftlichen Un-gleichheiten zwischen Arm und Reich besonders ausgeprägtseien. Tatsächlich stehen verschiedene Traditionen der US-ame-rikanischen Gesellschaft einer ausgeprägten Sozialstaatlichkeit,wie sie in Europa bekannt ist, entgegen. Es ist dies zum eineneine religiös-puritanische Tradition, die – sehr vereinfacht ge-sagt – ein strenges Arbeits- und Berufsethos ausgebildet hat, indessen Perspektive auch die Auffassung steht, dass Armut dasResultat einer unchristlichen Lebensführung sei. Nach dieserTradition soll einer so verstandenen Armut nicht durch staat-liche Sozialpolitik Vorschub geleistet werden. Zum anderen istdie Tradition des so genannten „self-made-man“ wirksam. Da-mit ist die Auffassung gemeint, dass jeder „seines GlückesSchmied“ sei. Gekoppelt ist diese Tradition mit dem Selbst-verständnis der USA als dem Land, in dem jeder Fleißige seineChance bekommt und zu Wohlstand gelangen kann. Diese und

143

andere Traditionen führen zu einer die US-amerikanische Ge-sellschaft prägenden Vorstellung von der Eigenverantwortungdes Individuums, wonach staatliche Sozialpolitik skeptischbetrachtet wird; zumindest dann, wenn staatliche Unterstützungohne Gegenleistung der Betroffenen erfolgt. Dementsprechendbesteht in den USA gegenüber Armut und sozialer Sicherheiteine Einstellung, die sich von den in Europa üblichen Auf-fassungen sehr stark unterscheidet. Nach dieser Einstellung istes zuallererst Aufgabe des Individuums, für seine soziale Siche-rung selbst zu sorgen.

Während vor diesem Hintergrund eine staatliche Sozialpolitikbis zum ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in den USA nichtexistierte, setzte infolge der wirtschaftlichen Rezession der spä-ten Zwanzigerjahre und deren sozialen Folgen (hohe Arbeits-losigkeit, Anstieg der Armut etc.) ein entscheidender Wandelmit Präsident F. D. Roosevelts Politik des New Deal ein.122

Seither sind auch die USA ein Sozialstaat. Entsprechend exi-stiert eine staatliche Sozialpolitik, die sich allerdings in wesent-lichen Aspekten von der in Europa bekannten deutlich unter-scheidet.123 Während die staatliche Sozialpolitik europäischerStaaten traditionell primär auf dem Sozialversicherungsprinzipoder dem Prinzip der (Staatsbürger-) Versorgung aufbaut, ist dasleitende Prinzip des US-amerikanischen Sozialstaates das derFürsorge. Organisiert wird die US-amerikanische Sozialpolitikauf den Ebenen des Gesamtstaates, der einzelnen Bundesstaatensowie auf lokaler Ebene; und sie ist gekennzeichnet durch einestarke Fragmentierung der Organisation und durch erheblicheUneinheitlichkeit.

144

122 Die Politik des New Deal („Neuer Plan“) war eine Politik der staatlichen Wirtschaftsintervention (Eingriffe in Bank- undKreditwesen, Anbauprämien, Abwertung des Dollars, intensive Außenhandelspolitik u. a.) und der Einführung staatlichersozialpolitischer Maßnahmen zur Überwindung der ökonomischen Vertrauenskrise, zur Belebung der US-amerikanischenWirtschaft und zur Dämpfung und Eindämmung der negativen sozialen Folgen der Wirtschaftsdepression, initiiert vonPräsident Franklin Delano Roosevelt (1882-1945) in den Jahren 1933 bis 1939.

123 Zur US-amerikanischen Sozialpolitik siehe grundlegend etwa Axel Murswieck, Sozialpolitik in den USA. Eine Einführung,Opladen 1988 und die aktualisierte Bestandsaufnahme vom selben Autor, Die Sozialpolitik der USA: ein Weg in die Zukunft?,in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 19/1998, 33-45. Zur Entwicklung der US-Sozialpolitik in den 90er Jahren ferner SöhnkeSchreyer, Die Sozial- und Gesundheitspolitik in den USA unter der Clinton-Administration, in: Aus Politik und Zeit-geschichte, B 44/2000, 15-22.

Den Kern der staatlichen Sozialpolitik bilden die Sozialver-sicherung und die Sozialhilfe. Zum Bereich der Sozialversiche-rung zählt seit 1935 eine Rentenversicherung, die auf der Ebenedes Bundes einheitlich organisiert ist und bei der etwa 95% derErwerbstätigen versichert sind. Finanziert wird die Rentenver-sicherung durch Beiträge der Arbeitgeber und Arbeitnehmer,staatliche Zuschüsse gibt es nicht. Zwar ist die Rente für Ein-kommensschwache existenzsichernd, doch haben viele Rentnerzusätzliche Einkommen aus privaten Pensionen und Vermögen,die den Lebensstandard im Alter verbessern. Für nahezu dieHälfte der Rentnerhaushalte ist die Rente die einzige Form vonEinkommen. National einheitlich geregelt und organisiert istferner die Krankenversicherung für ältere Personen ab 65 Jahren(Medicare). Hier sind etwa 96% der über 65-Jährigen versi-chert. Für Personen, die jünger als 65 Jahre sind, gibt es keinegesetzliche, obligatorische Krankenversicherung. Auch wennsehr viele erwachsene Amerikaner irgendeine (private) Kran-kenversicherung abgeschlosen haben, gibt es eine beträchtlicheAnzahl von Amerikanern, die ohne Krankenversicherungs-schutz sind.124 Einzelstaatlich geregelt und organisiert sind Ar-beitslosen- und Unfallversicherung, in denen rund 97 bzw. 88 %der Arbeitnehmer versichert sind.

Im Bereich der steuerfinanzierten Sozialhilfe existieren einenational einheitliche Alten-, Blinden- und Behindertenfürsorgesowie unter dem Titel des Earned Income Tax Credit (EITC;eingeführt in den Siebzigerjahren) Steuervergünstigungen undEinkommensbeihilfen für einkommensschwache Arbeitnehmer.Der EITC stellt infolge von nach 1993 durchgeführten Refor-men das umfangreichste Sozialhilfeprogramm des Bundes dar.Ferner besteht eine einzelstaatlich geregelte Familienfürsorge,die gegenwärtig infolge des State Children’s Health InsuranceProgram (S-CHIP) durch Finanzzuschüsse des Bundes eine

145

122 In den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts waren vermutlich 40 Millionen Amerikaner ohne Krankenversicherung.

Ausweitung des Versicherungsschutzes von Kindern und Ju-gendlichen aus Familien mit geringem Einkommen verfolgt.Sachleistungen für Kranke stellt die zur Sozialhilfe zu rechnen-de einzelstaatlich organisierte Krankenfürsorge Medicaid zurVerfügung; national einheitlich geregelt (mit Ausnahmen) istdie ebenfalls als Sachhilfe ausgestaltete Ernährungsfürsorge fürArme in Form von food stamps (Lebensmittelgutscheine).

Im Vergleich zu den in den EU-Staaten üblichen sozialpoliti-schen Standards stellt sich das „soziale Netz“ in den USA alserkennbar weitmaschiger dar: Die Absicherung gegen typischesoziale Risiken, namentlich gegen Krankheit, ist insbesonderefür einkommensschwächere Bevölkerungsteile – verglichen mitder Situation in den Staaten der EU – oft unzureichend. Dies istnicht zuletzt den skizzierten gesellschaftlich-kulturellen Um-ständen geschuldet, die dazu führen, dass staatliche Sozialpoli-tik in den USA politisch schwer durchsetzbar ist und weiteKreise der Bevölkerung einer staatlichen Sozialpolitik mitSkepsis begegnen. Allerdings muss hier zugleich an die großeBedeutung der nicht-staatlichen Sozialpolitik in den USA erin-nert werden:Es existiert in den USA ein sehr umfangreiches, im weitestenSinne privates (das heißt: nicht-staatliches) caritatives Engage-ment der Bürger (charity or social service activities), das für diesoziale Unterstützung Bedürftiger eine sehr viel größere Be-deutung hat, als dies in Deutschland bzw. Europa der Fall ist.Das sozialpolitische Engagement resultiert vielfach aus religiö-sen Überzeugungen, die zwar – wie erwähnt – oft auch zu einerSkepsis gegenüber staatlicher Sozialpolitik führen, die aberzugleich privates wohltätiges Engagement motivieren. Ent-sprechend existieren zahlreiche wohltätige Vereinigungen vonKirchengemeinden und religiösen Gruppierungen, ferner nicht-religiöse soziale Organisationen, die sich vor allem durch Spen-den von Privatpersonen finanzieren und das ganze Land gewis-sermaßen mit einem charity-Netz125 überziehen. Dieser Sektor

146

gemeinnütziger Organisationen scheint im Übrigen zu wachsen:1987 gab es 939.105 solcher nonprofit organizations, 1990waren es 1.024.648.126 Anders als etwa in Deutschland, wo diefreien Wohlfahrtsverbände die staatliche Sozialpolitik unterstüt-zen und ergänzen, hat die freiwillige Wohlfahrtsarbeit in denUSA aber weniger die Aufgabe, eine staatliche Sozialpolitik zuflankieren. Sie ist funktional betrachtet vielmehr oft Ersatz einersolchen Sozialpolitik. Dieser Ersatz wirkt sich für die Hilfs-bedürftigen positiv aus, aber die entsprechende Hilfe beruhtnicht auf rechtlichen Ansprüchen, sondern auf der Großzügig-keit anderer; sie belässt die Bedürftigen mithin in Abhängigkeitvon dieser Wohltätigkeit – anstatt sie mittels rechtlicher An-sprüche frei zu setzen.

Obgleich die soziale Ungleichheit und die sozialen Probleme inden USA im Vergleich zu EU-Europa deutlich ausgeprägtersind, hatte der langanhaltende Wirtschaftsaufschwung der ver-gangenen Jahre zur Folge, dass die Zahl der Sozialhilfeempfän-ger deutlich zurückging und der Wohlstand auch der ärmerenSchichten anstieg. Die positive Wirtschaftsentwicklung zeigtesich nicht zuletzt in dem so genannten amerikanischen Job-wunder, das zu einer Arbeitslosenquote von 4,2% im Jahre 1999geführt hat (zum Vergleich: Deutschland 1999 10,5%, Frank-reich 1998 11,6%, Japan 1998 4,1%).

147

125 Charity – Wohltätigkeit, Nächstenliebe.126 Diese Angaben nach Murswieck, Die Sozialpolitik der USA: ein Weg in die Zukunft?, 43.

XIV. Sozialpolitik der Europäischen Union

Der exemplarische Blick auf die Sozialpolitik der EU-StaatenDeutschland, Dänemark, Großbritannien, Frankreich und Spanienzeigt die Vielgestaltigkeit von Sozialpolitik in Europa (eineVielgestaltigkeit, die durch die so genannte Osterweiterung derUnion – das heißt die Aufnahme mittel- und osteuropäischer Staatenwie Polen, Ungarn, Tschechien in die EU127– noch zunehmen wird).Die Vielfalt ist das Ergebnis der historischen Entwicklung derSozialpolitik in den einzelnen EU-Staaten. Diese Entwicklung istjeweils tief greifend von den nationalen wirtschaftlichen Verhält-nissen und den politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedin-gungen geprägt. Es liegt auf der Hand, dass etwa die Ausprägungder Sozialpolitik im erst spät industrialisierten und noch lange starkagrarisch geprägten Spanien, das Jahrzehnte von einem nicht-demo-kratischen Regime beherrscht wurde, ganz anders verlief, als dieEntfaltung der Sozialpolitik beispielsweise in Großbritannien, demPionierland der Industrialisierung, das auf eine lange Tradition par-lamentarischer Regierungsverantwortung zurückblicken kann. Dieaugenscheinlichen Unterschiede zwischen den sozialpolitischenTraditionen und Institutionen in den einzelnen EU-Mitgliedstaatensind der entscheidende Grund dafür, dass eine supranationaleSozialpolitik der Europäischen Union erst in Ansätzen existiert unddass es auf absehbare Zeit weder eine umfassende gemeineuropä-ische Sozialpolitik der EU noch eine tief greifende Harmonisierungder nationalen Sozialpolitiken (insbesondere bei der sozialenSicherung im engeren Sinne) geben wird. Gleichwohl entwickeltsich auf der Ebene der Europäischen Union eine EU-europäischeSozialpolitik. Diese ist gerade in dem Bereich am weitesten fortge-schritten, der zugleich der älteste Bereich moderner Sozialpolitiküberhaupt ist, nämlich im Bereich des Arbeitnehmerschutzes.128 Die„soziale Dimension“ der Europäischen Union gewann erst allmäh-

148

127 Zum EU-Erweiterungsprozess etwa Christian Jetzlsperger / Mark Schattenmann, Agenda 2000: Die Erweiterung undVertiefung der Union, in: Dietmar Herz (Hrsg.), Die Europäische Union. Politik, Recht, Wirtschaft, Frankfurt am Main 1999,293-328.

lich Gestalt und war stets eng verknüpft mit der Vorstellung, dassdie besten sozialen Wirkungen von einer prosperierenden europäi-schen Wirtschaft zu erwarten seien, dass also eine wachstums- undbeschäftigungsfördernde europäische Wirtschaftspolitik die besteSozialpolitik sei. Entsprechend stand die europäische Sozialpolitikoft im Schatten wirtschaftspolitischer Bemühungen und hattezunächst vor allem den Charakter von Absichtsbekundungen, wiesie ihren Ausdruck etwa im Vertrag zur Gründung der EuropäischenGemeinschaft (EG129) vom 25.3.1957 (EGV) fanden. Die dort imKapitel über Sozialvorschriften (Art. 117 ff. EGV alter Fassung)niedergelegten Regelungen verpflichten die Mitgliedsstaaten zwarpolitisch darauf, auch in der Sozialpolitik auf europäischer Ebenezusammenzuarbeiten und halten die Kommission der EG an, „eineenge Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten in sozialenFragen zu fördern“ (Art. 118 EGV). Diese Bekundungen warenjedoch von geringer Verbindlichkeit. Anders verhielt es sich mit denRegelungen über den Europäischen Sozialfonds (Art. 123-125EGV) mit dessen Einrichtung 1960 das erste konkrete sozialpoliti-sche Instrument der EG geschaffen wurde. Die Mittel dieses Fondsdienen der Verbesserung von Beschäftigungsmöglichkeiten imgemeinsamen Markt und sollen „zur Hebung der Lebenshaltung“beitragen (Art. 123 EGV). In den Siebzigerjahren wurde der Fondsin die Regionalpolitik der Gemeinschaft eingegliedert.

Ebenfalls in den Siebzigerjahren etablierte sich auch die Praxis desRates der Europäischen Gemeinschaft, sozialpolitische Aktions-programme zu formulieren, mit welchen verschiedene sozialpoliti-sche Maßnahmen angestoßen wurden, etwa zu Gunsten von Wan-derarbeitnehmern oder von benachteiligten sozialen Gruppen (wie

149

128 Zur Sozialpolitik der EU siehe etwa den knappen Überblick von Wolfgang Däubler, Die soziale Dimension des EuropäischenBinnenmarktes, in: Werner Weidenfeld (Hrsg.), Europa-Handbuch, Gütersloh 1999, 522-535; ausführlich dazu Berndt Keller,Europäische Arbeits- und Sozialpolitik, 2., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage, München, Wien 2001 und WolfgangKowalsky, Europäische Sozialpolitik. Ausgangsbedingungen, Antriebskräfte und Entwicklungspotentiale, Opladen 1999.Hilfreich ist auch die vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung herausgegebene Broschüre Euroatlas. ZurEuropäischen Union (Geschichte, Institutionen, Gemeinschaftspolitiken etc.) allgemein etwa Herz (Hrsg.) Die EuropäischeUnion und Frank R. Pfetsch, Die Europäische Union. Eine Einführung, 2. Auflage, München 2001.

129 Ehemals Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Die EU besteht aus den drei Europäischen Gemeinschaften EG,Euratom und Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), die zusammen die erste der „drei Säulen“ der EU bil-den. Die beiden anderen Säulen sind die Gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik (GASP) und die Zusammenarbeit in denBereichen Justiz und Inneres (ZBJI). Genau genommen ist EU-Sozialpolitik stets die Sozialpolitik der EG als der hier rele-vanten „Säule“.

Behinderten). Seit den Achtzigerjahren widmete man der Sozial-politik größere Aufmerksamkeit, sodass die Bedeutung der Sozial-politik für den zusammenwachsenden europäischen Wirtschafts-raum immer klarer gesehen wurde. Jedoch konnten konkretesozialpolitische Maßnahmen nur in geringem Umfang initiiert undumgesetzt werden. Bedeutsam für eine europäische Sozialpolitikwar indes die Verabschiedung der Gemeinschaftscharta der sozia-len Grundrechte der Arbeitnehmer durch die Staats- und Regie-rungschefs von elf der damals zwölf EG-Mitgliedsstaaten imDezember 1989.130 Die Charta ist ein Dokument politischer Ab-sichtserklärungen der Mitgliedsstaaten zu bestimmten sozialpoliti-schen Bereichen, das als ein soziales Grundsatzprogramm derGemeinschaft verstanden werden kann. Um die Vorhaben derCharta zu realisieren, wurde von der Europäischen Kommission einAktionsprogramm als Arbeitsplan für konkrete und verbindlicheMaßnahmen der Gemeinschaft vereinbart. Die Verabschiedung derentsprechenden Maßnahmen, d.h. die Festsetzung sozialer Mindest-standards in verschiedenen sozialpolitischen Bereichen (wie Frei-zügigkeit von Arbeitnehmern, Schutz von alten Menschen, Kindern,Behinderten etc.), nahm zwar mehrere Jahre in Anspruch, dochgewann die Sozialpolitik allmählich auch durch weitere sozialpoli-tische Aktionsprogramme der Kommission in den Neunzigerjahrenan Gewicht in der Politik der Europäischen Gemeinschaft.

Dem Vertrag von Maastricht wurden 1992 mit dem Protokoll überSozialpolitik die Ziele der Charta beigefügt. Die Verabschiedungdes Protokolls bedeutete für die elf Unterzeichnerstaaten131 ein Ab-kommen über die gemeinsame Sozialpolitik, mit der europaweitverbindliche soziale Verbesserungen angestrebt wurden. Um diesbesser erreichen zu können, wurde die Möglichkeit zur vermehrtenEntscheidungsfindung auf der Grundlage einer qualifizierten Mehr-heit im Ministerrat (anstatt der bis dahin notwendigen Einstimmig-keit) eingerichtet. Im Vertrag von Amsterdam (1997, in Kraft getre-ten am 1.5.1999) wurde das Abkommen schließlich Bestandteil der

150

130 Großbritannien stimmte der Charta zunächst nicht zu.131 Auch hier stimmte Großbritannien nicht zu.

Gemeinschaftsverträge und damit ein Element der rechtlichenGrundlage der Europäischen Gemeinschaft, nachdem Großbritan-nien seinen Widerstand aufgegeben hatte. Auf dieser rechtlichenGrundlage wurde inzwischen die Richtlinie über den europäischenBetriebsrat verabschiedet. Zugleich wurde im Amsterdamer Vertragdie Rechtssetzungskompetenz des Europäischen Rates als des zen-tralen Entscheidungsgremiums der EG ausgeweitet. Seither kannder Rat in verschiedenen sozialpolitischen Bereichen mit qualifi-zierter Mehrheit Mindeststandards und Vorschriften verabschieden.Der Vertrag enthält ferner ein Kapitel über gemeinsame Beschäf-tigungspolitik (Art. 125-130 AmstEGV), mit dem eine europaweitabgestimmte Beschäftigungspolitik in Angriff genommen wird.Dies ist eine Reaktion auf das europaweite Problem der Arbeits-losigkeit, das für die vergangenen Jahre zu den Hauptproblemen derGemeinschaft und ihrer Mitgliedstaaten zu rechnen ist.

Neben diesen Entwicklungen ist insbesondere die Rechtsprechungdes Europäischen Gerichtshofes (EuGH) zur Problematik der recht-lichen Gleichstellung von Frauen und Männern im Arbeitsleben vonsozialpolitischer Bedeutung. Der EuGH hat sich in verschiedenenUrteilen als Schrittmacher für die Gleichberechtigung erwiesen.

So lässt der Blick auf die EU-europäische Sozialpolitik einerseitsgewisse Fortschritte insbesondere in den Bereichen des Arbeit-nehmerschutzes und der Gleichberechtigung erkennen, in denen esinzwischen tatsächlich verbindliche europäische Regelungen gibt.Andererseits bleibt die Sozialpolitik überwiegend in der Verantwor-tung der Einzelstaaten, da die Eigenart und institutionelle Gestaltder jeweiligen nationalen Sozialpolitiken eine europäische Harmo-nisierung und Vereinheitlichung gerade im Bereich der sozialenSicherung im engeren Sinne in absehbarer Zeit nicht erwarten las-sen. Indes versucht die Europäische Gemeinschaft auch hier zumin-dest politische Perspektiven zu formulieren, die auf eine langfristi-ge Annäherung auch im genannten Bereich abzielen. Zu nennensind insbesondere die zwei Empfehlungen des (Arbeits-) Minister-rates vom 24.6. und 27.7.1992. In diesen Empfehlungen geht es um

151

eine Weiterentwicklung der nationalen Systeme sozialer Sicherheitim Sinne gemeinsamer Standards und einer allmählichen wechsel-seitigen Anpassung. Diese rechtlich unverbindlichen politischenEmpfehlungen eröffnen aber auch den Blick auf grundsätzliche Pro-bleme einer Harmonisierung der sozialen Sicherungssysteme inEU-Europa. Die Frage ist, an welchen Maßstäben sich eine solcheAnpassung zu orientieren hätte. Müssen doch für eine Harmo-nisierung solche Maßstäbe gefunden werden, die etwa sowohl fürArbeitgeber und Arbeitnehmer in einem Land wie Spanien einer-seits, als auch für die Arbeitnehmer und Arbeitgeber in einem Landwie Deutschland andererseits akzeptabel und realisierbar sind. DerBlick auf die nationalen Unterschiede in den Niveaus von Leis-tungen und Risikosicherungen ebenso wie auf die Finanzierungs-strukturen der Sicherungssysteme zeigt, wie schwierig diese Auf-gabe ist.132

Ungeachtet solcher Schwierigkeiten ist nicht zu verkennen, dass dieSozialpolitik in allen europäischen Staaten mit sehr ähnlichenHerausforderungen konfrontiert ist und die Staaten zum Teil ähn-liche Antworten auf diese Herausforderungen finden. Die Heraus-forderungen bestehen etwa in der Arbeitslosigkeit, der Überalterungder Bevölkerung oder der Kostenexpansion im Gesundheitswesenetc. Die Antworten der einzelnen Länder ähneln sich bisweilen etwadarin, dass vermehrt auf das Prinzip der Privatversicherung und derEigenvorsorge der Individuen abgehoben wird oder dass Leistungengekürzt werden. In dieser Perspektive könnte die in allen EU-Staaten mehr oder minder drängende politische Notwendigkeit, densozialpolitischen Herausforderungen zu begegnen, die europaweiteHarmonisierung auch der Systeme der sozialen Sicherheit im enge-ren Sinne beschleunigen.

152

132 Die Schwierigkeiten dürften nach der Osterweiterung der EU eher noch größer werden, weil mit ihr auch die Unterschiede inder Ausgestaltung der Sozialpolitiken der Mitgliedstaaten größer werden.

XV. Ausblick: Sozialpolitik – nicht nur eine Frage des Geldes

Die gegenwärtige Diskussion um die Sozialpolitik und ihre Zukunftwird oft auf Fragen der Finanzierbarkeit des Systems der sozialenSicherung reduziert. Zweifellos ist dieser – ökonomische – Aspektder Sozialpolitik insofern von großer Bedeutung, als zu Recht vonder „ökonomischen Mitte des Sozialen“133 gesprochen wird. Damitist gemeint, dass die Sozialpolitik ihren wesentlichen Ausgangs-punkt in Folgeproblemen des marktwirtschaftlichen Prozesses hat,auf diesen Prozess zurückwirkt und vor allem: dass sie selbst Be-standteil dieses Prozesses ist. Das bedeutet, dass Sozialpolitik voneiner leistungsfähigen Wirtschaft abhängt, da die sozialpolitischenLeistungen selbst finanziert werden müssen. Zugleich wird in derRede von der „ökonomischen Mitte des Sozialen“ aber auch deut-lich, dass Sozialpolitik keineswegs nur eine Frage der Kosten ist,sondern dass sie ihrerseits für den Wirtschaftsprozess Vorteilebringt. Nicht zuletzt dies macht Sozialpolitik für eine moderneWirtschaftsordnung auch in Zeiten der Globalisierung unverzicht-bar. Die ökonomischen Vorteile der Sozialpolitik bestehen bei-spielsweise in einem hohen Gesundheitsstand der Arbeitnehmer-schaft, der sich wiederum positiv auf die Arbeitsproduktivitätauswirkt. Sozialpolitik erzeugt also nicht nur Kosten (z.B. Lohn-nebenkosten), sondern sie hat ihrerseits einen ökonomischen Wert.

Darüber hinaus aber ist die ökonomische Dimension der Sozial-politik nur ein wichtiger Aspekt, neben dem andere, nicht wenigerbedeutsame Aspekte in der heutigen öffentlichen Diskussion oftvernachlässigt werden. Dies gilt insbesondere für den hier betontenFreiheitsaspekt von Sozialpolitik.134 Der Sinn von Sozialpolitikbleibt unverständlich, wenn man sich nicht ihre Freiheitsdimensionvergegenwärtigt. Freiheit darf dabei nicht nur im Sinne einer wirt-schaftsliberalen Freiheit verstanden werden, denn das wäre eine

153

133 So Zacher, Das soziale Staatsziel, 1086-1087.134 Siehe oben Kap. IX.1.

unzulässige Verkürzung unseres Freiheitsverständnisses: Freiheitstellt sich nicht schon dann ein, wenn der Staat möglichst wenigSozialpolitik betreibt und sich aus dem Wirtschaftsleben zurück-zieht und wenn eine Politik der Deregulierung und Privatisierungbetrieben wird. Die individuelle Freiheit in einer modernen Gesell-schaft bleibt vielmehr angewiesen auf die rechtlich gesicherte Her-stellung von allgemeinen Voraussetzungen der individuellen Frei-heitsverwirklichung, d.h. von Voraussetzungen, die das einzelneIndividuum selbst gar nicht gewährleisten kann und für die einestaatliche Sozialpolitik daher unabdingbar ist. Diese staatliche So-zialpolitik ist ihrerseits Resultat eines freien politischen Prozesses.So bleibt Sozialpolitik Politik der Freiheit.

Das bedeutet nicht, dass von Sozialpolitik unter Umständen nichtauch eine Gefährdung der individuellen Freiheit ausgehen kann,etwa durch eine zu große Beschränkung und Reglementierung vonWahlfreiheiten. So dürfte etwa eine erhebliche Einschränkung derfreien Arztwahl unter Freiheitsgesichtspunkten problematisch sein.Gerade weil die Freiheit niemals ein für allemal gesichert ist undimmer wieder neu gefährdet sein kann, gerade deshalb bleibt es eineandauernde politische Aufgabe, die Sozialpolitik immer wieder zuüberdenken und ihre Mittel und Instrumente den Erfordernissen derZeit anzupassen, den ökonomischen, den politischen, den gesell-schaftlichen und den rechtlichen Erfordernissen – und den Erfor-dernissen der individuellen Freiheit. Diese Aufgabe führt angesichtsdes immer rascher werdenden gesellschaftlichen Wandels zu einerständigen Weiterentwicklung der Sozialpolitik, zu immer wiederneuen Reformen und zu andauernder sozialpolitischer und sozial-rechtlicher Veränderung.

154

Anhänge:

A. Sozialpolitik: Eine Definition

Der Begriff der Sozialpolitik ist von großer Komplexität: Die Viel-falt der Erscheinungsformen von Sozialpolitik ist ebenso unüber-sehbar, wie die Verschiedenheit der politischen, gesellschaftlichen,wirtschaftlichen und kulturellen Kontexte, in die die historischenFormen sozialer Politik eingebettet sind und die für ein angemesse-nes Verständnis von Sozialpolitik nicht ausgeblendet werden kön-nen. Daher kann es keine vollständige, abschließende und allgemeingültige Definition von Sozialpolitik geben, die alle ihre historischenund gegenwärtige Ausprägungen angemessen umfasst. Jede Defini-tion hat ihre Schwächen und Defizite. Bleibt man sich dieses Um-standes bewusst, so mag eine Definition zum Zwecke der begriff-lichen Annäherung an die Vielfalt derjenigen Phänomene, die manmit dem Begriff der Sozialpolitik in den Blick bekommt, einemVerständnis durchaus förderlich sein. Dementsprechend wird hiereine solche Definition vorgeschlagen, die auch im Hintergrund desVerständnisses von Sozialpolitik steht, wie es der vorliegendenArbeit zugrundeliegt: Sozialpolitik in einem allgemeinen Sinne um-fasst Maßnahmen, Regelungen, Institutionen und Organisationenzur Kompensation von tatsächlichen oder möglichen Nachteilen,die Personen(gruppen) als (u.U. selbst mitzuverantwortendes)Schicksal widerfahren (können) oder die der Struktur einer Gesell-schaft erwachsen. Sozialpolitik verfolgt das Ziel, den von den Nach-teilen (potenziell) betroffenen Personen die selbstverantworteteTeilnahme am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Dabei wirddavon ausgegangen, dass die betroffenen Personen die entsprechen-de Kompensation nicht aus eigener Kraft zu leisten vermögen.Träger der so verstandenen Sozialpolitik können einzelne Personen,gesellschaftliche Gruppen, Institutionen und Organisationen oderder Staat sein. Staatliche Sozialpolitik steht in der Regel im Mittel-punkt der Aufmerksamkeit.

155

B. Die Einführung der Koalitionsfreiheit in Deutschland

Zu Beginn der Industrialisierung in Deutschland war die Koali-tionsbildung135 in den deutschen Staaten gesetzlich verboten. Zumeinen sah die damals wirtschaftspolitisch maßgebliche Doktrin desindividualistischen Liberalismus136 in Koalitionen eine unzulässigeBindung der Individuen und in der Koalitionsbildung folglich einenunzulässigen Eingriff in die Freiheit des Einzelnen; zum anderenversuchten die deutschen Staaten mittels des Koalitionsverbotes zuverhindern, dass die Arbeiterschaft sich politisch organisierte – mit-hin war das Koalitionsverbot auch ein Mittel staatlicher Repression.Diese Politik – die sich de facto vielfach gegen die Interessen deseinzelnen Arbeiters auswirkte –, wurde erst allmählich und Schrittfür Schritt aufgegeben.137

Mit gewissen Einschränkungen führte als erster deutscher StaatSachsen die Koalitionsfreiheit mit dem sächsischen Gewerbegesetzvom 15.10.1861 ein. Es folgten am 20.9.1862 Baden und kurzdarauf Sachsen-Weimar und die thüringischen Staaten. Im 1867gegründeten Norddeutschen Bund wurden die Koalitionsverbotemit der Gewerbeordnung des Nordeutschen Bundes vom 21.6.1869weitgehend aufgehoben. Diese Gewerbeordnung wurde mit derGründung des Deutschen Reiches 1871 auf das gesamte Reich über-tragen; doch galten auch die nur allmählich aufgelösten Einschrän-kungen zunächst noch fort. So waren von der KoalitionsfreiheitSeeleute, Staatsangestellte, Hausgehilfen und Landarbeiter ausge-nommen. Wichtige Erweiterungen der Koalitionsfreiheit brachtedann das Hilfsdienstgesetz von 1916.138 Die letzten Beschränkungender Koalitionsfreiheit wurden unmittelbar nach dem Ende desErsten Weltkrieges am 12.11.1918 durch den Rat der Volksbeauf-tragten aufgehoben, und das Recht zur Koalitionsbildung bekamVerfassungsrang in Art.159 der Weimarer Reichsverfassung. Ab-geschafft wurde die Koalitionsfreiheit wieder im Dritten Reich, und

156

135 Siehe zum Koalitionsbegriff Fußnote 22.136 Siehe dazu oben Kap. V.1.137 Zum folgenden siehe Frerich / Frey, Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland, Bd. 1, 74-78, 141-145, 167 f., 179.138 Siehe dazu bereits oben Kap. V.8.

auch die DDR kannte de facto keine Koalitionsfreiheit. In derBundesrepublik Deutschland schließlich ist die Koalitionsfreiheit inArt. 9 Abs. 3 GG wieder verfassungsrechtlich verankert.

C. Gewerkschaften: Begriff, Geschichte und Aufgaben139

Gewerkschaften sind Vereinigungen von Arbeitnehmern zur Ver-besserung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Lage, vor allem zurErreichung besserer Arbeitsbedingungen gegenüber den Arbeit-gebern. Sie gleichen die wirtschaftliche Unterlegenheit des ein-zelnen Arbeitnehmers gegenüber dem einzelnen Arbeitgeber durchZusammenschluss der Arbeitnehmer und gemeinschaftliches Auf-treten aus. Die Gewerkschaften sind Koalitionen im Sinne desArt. 9 Abs. 3 GG.

Die Ursprünge der modernen Gewerkschaften gehen auf die An-fänge der Entwicklung der kapitalistischen Marktwirtschaft zurück.Sie konnten sich nur im steten Kampf gegen Staat und Gesellschaftdurchsetzen, die ihnen feindlich gegenüberstanden. Sie waren zu-nächst verboten, und der Beitritt war mit Strafe bedroht; erst Anfangdes 19. Jahrhunderts fiel in England das Koalitionsverbot, späterauch in Deutschland. Aber der Staat blieb weiter grundsätzlichablehnend. In den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts wurden dieersten deutschen Gewerkschaften gegründet (damals Arbeiterver-eine genannt). Sie gewannen nur langsam an Bedeutung und konn-ten gegen Ende des Jahrhunderts den Abschluss von Tarifverträgenerreichen. Als berufene Vertretungen der Arbeitnehmerschaft wur-den sie in Deutschland zum ersten Mal im Zusammenhang mit demHilfsdienstgesetz 1916 vom Staat anerkannt, von den Arbeitgebernim Zusammenhang mit der Gründung der Zentralarbeitsgemein-schaft im November 1918. Der entscheidende Schritt zu ihrer heuti-gen Stellung war die Schaffung eines besonderen Tarifrechts im

157

139 Die nachfolgenden Angaben sind zum großen Teil dem Stichwort „Gewerkschaften“ des Lexikons Bertelsmann Discovery2000 – Das große Universallexikon, CD-ROM, Gütersloh, München 1999 entnommen.

Jahr 1918 und damit die Übertragung der Ausgestaltung derArbeitsbedingungen auf die Vereinbarungen zwischen Gewerk-schaften und Arbeitgebern.

Die deutschen Gewerkschaften standen trotz ihrer organisatori-schen Unabhängigkeit politisch von Anfang an politischen Parteiennahe, so die freien (sozialistischen) Gewerkschaften der SPD. Sieschlossen sich 1919 zum Allgemeinen Deutschen Gewerkschafts-bund (ADGB) zusammen. Die Hirsch-Dunckerschen Gewerk-vereine, gleichfalls in den 1860er Jahren gegründet, standen denbürgerlich-demokratischen Parteien nahe, während die in den1890er Jahren gegründeten christlichen Gewerkschaften (DeutscherGewerkschaftsbund, Abkürzung DGB, gegründet 1919) in politi-schem Zusammenhang mit dem Zentrum standen. Weitaus derstärkste Verband war der ADGB. 1933 wurden die Gewerkschaftenaufgelöst, nach dem Zweiten Weltkrieg wieder errichtet. Es bildetensich zunächst Einheitsgewerkschaften in den einzelnen alliiertenBesatzungszonen, die sich 1949 in der Bundesrepublik Deutsch-land im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) als Gewerkschafts-dachverband zusammenschlossen. Die dem DGB angehörendenGewerkschaften sind nach dem Einheitsprinzip organisiert, d.h. sienehmen alle in den Betrieben des betreffenden WirtschaftszweigsBeschäftigten – ohne Rücksicht auf den individuellen Beruf; Arbei-ter und Angestellte – als Mitglieder auf. Die Gewerkschaften desDGB vertreten den Standpunkt politischer und religiöser Neutra-lität. 1946 wurde die Deutsche Angestellten-Gewerkschaft (DAG)als Vertretung der Angestellten ohne Rücksicht auf Beruf undBetrieb gegründet; auch sie wahrt den Standpunkt politischer undreligiöser Neutralität. Seit 1955 gibt es ebenfalls wieder selbststän-dige christliche Gewerkschaften.

In den vergangenen Jahren gerieten auch die Gewerkschaften ange-sichts der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungenunter Reformdruck, auf den etwa mit Gewerkschaftsfusionen rea-giert wird. Die Fusionen sollen unter anderem der Verbesserung derorganisatorischen Effektivität und der Vergrößerung der gewerk-

158

schaftlichen Verhandlungsmacht dienen. Die letzte Gewerkschafts-fusion in Deutschland war die Gründung der Dienstleistungsge-werkschaft ver.di (Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft) im März2001. In dieser Gewerkschaft schlossen sich die vormaligen Ge-werkschaften ÖTV (Öffentlicher Dienst, Transport und Verkehr),HBV (Handel, Banken und Versicherungen), DPG (Deutsche Post-gewerkschaft), DAG und IG [= Industriegewerkschaft] Medien zu-sammen, die sich zuvor aufgelöst hatten. Ver.di ist mit ca. 2,9 Mio.Mitgliedern die größte Einzelgewerkschaft des DGB (dessen Mit-gliedsgewerkschaften insgesamt ca. 8 Mio. Angehörige haben) –und die größte Gewerkschaft der Welt. Neben ver.di gehören heutesieben weitere Gewerkschaften zum DGB: IG Bauen-Agrar-Um-welt; IG Bergbau, Chemie, Energie; Gewerkschaft Erziehung undWissenschaft; IG Metall; Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gast-stätten; Gewerkschaft der Polizei und die Transnet GewerkschaftGdED [Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands]. Danebenbestehen einige kleinere Gewerkschaften außerhalb des DGB wiedie im Christlichen Gewerkschaftsbund Deutschlands (CGB; um-fasst 15 selbstständige Einzelgewerkschaften) und die im Deut-schen Beamtenbund (DBB; umfasst 37 Verbände) organisierten Ge-werkschaften und Interessenvertretungen.

In der DDR bestand der kommunistische Freie Deutsche Gewerk-schaftsbund (FDGB) als von der SED und damit letztlich vom Staatabhängige Einheitsgewerkschaft.

Ihre Hauptaufgabe sahen und sehen die Gewerkschaften darin, dieArbeitsbedingungen der Arbeitnehmer durch Tarifverträge mit denArbeitgebern und Arbeitgeberverbänden zu verbessern. WichtigesKampfmittel zur Durchsetzung ihrer Ziele ist der Streik. DemInteresse der Mitglieder dienen sie auch durch sonstige Einrichtun-gen, besonders durch Gewährung von Rechtsschutz, durch Unter-stützung bei Arbeitslosigkeit, bei Krankheit und bei Alter. Sie sindan der Selbstverwaltung, besonders der Sozialversicherungsträger,beteiligt, in die sie die Vertreter der Arbeitnehmerschaft zu entsen-den haben. Bei der Arbeitsgerichtsbarkeit schlagen sie die Beisitzer

159

aus den Kreisen der Arbeitnehmerschaft vor. In dem Gremium, dasder Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen zuzustim-men hat, sind sie paritätisch mit den Arbeitgebern vertreten. In denBetrieben des Bergbaus und der Eisen schaffenden Industrie ent-senden sie paritätisch mit den Anteilseignern Vertreter in denAufsichtsrat. Die Gewerkschaften haben ihre Zuständigkeit überihren ursprünglichen Aufgabenbereich ausgedehnt und wirken aufallen Gebieten der Politik, der Wirtschaft und der Kultur.

In England bildeten sich die ersten Gewerkschaften, die TradeUnions, Anfang des 19. Jahrhunderts; sie standen auf dem Stand-punkt politischer und religiöser Neutralität. In Frankreich entstan-den etwa gleichzeitig wie in Deutschland die Gewerkschaften derCGT (Confédération Générale du Travail). Von ihr spaltete sich1948, da sie stark unter kommunistischen Einfluss geraten war, dieForce Ouvrière ab, die sich auf rein gewerkschaftliche Ziele be-schränkt. Daneben gibt es die Confédération Française Démo-cratique du Travail (CFDT) und die Confédération Française desTravailleurs Chrétiens (CFTC). In den USA schlossen sich 1955 dieältere American Federation of Labor (AFL) und der jüngereCongress of Industrial Organizations (CIO) zur AFL/CIO zusam-men.

1945 wurde der (kommunistisch geprägte) Weltgewerkschaftsbund(WGB) gegründet. 1949 erfolgte die Gründung des InternationalenBundes Freier Gewerkschaften (IBFG) mit Sitz in Brüssel, der imGegensatz zum WGB steht. Der Internationale Bund ChristlicherGewerkschaften, gegründet 1908, nennt sich seit 1968 Weltverbandder Arbeitnehmer. 1973 wurde der Europäische Gewerkschaftsbund(EGB) gegründet.

160

D. Zur demographischen Entwicklung in Deutschland140

161

140 Schaubild entnommen von der CD-ROM des Fischer Weltalmanachs 2002 [= Der digitale Fischer Weltalmanach 2002], hrsg.von Mario von Baratta, Frankfurt am Main 2001.

Bevölkerungsentwicklung bis 2050(in Mio)

65 Jahre und älter

20 bis unter 65Jahre

unter 20 Jahre

100

80

60

40

20

01.1.1999 2010 2020 2030 2040 2050

Quelle: statistisches Bundesamt, Wiesbaden

E. Einpersonenhaushalte in Deutschland141

F. Das Sozialbudget der Bundesrepublik Deutschland

Um eine ungefähre Vorstellung davon zu vermitteln, wie viel sichdie deutsche Gesellschaft ihre soziale Sicherung kosten lässt, ist einBlick auf das sog. Sozialbudget geeignet. Das Sozialbudget umfasstalle in einem Jahr getätigten Sozialleistungsausgaben eines Landes.Es ist also nicht zu verwechseln mit dem Anteil der Sozialausgabenim staatlichen Haushalt. Diese staatlichen Ausgaben stellen viel-mehr lediglich einen Teil des Sozialbudgets dar. Das Sozialbudget –

162

141 Schaubild entnommen von der CD-ROM des Fischer Weltalmanachs 2002.

ausgewiesen nach Institutionen, Funktionen, Arten und Finanzie-rung der Sozialausgaben – umfasst (als direkte Leistungen) dieAusgaben aller Sozialversicherungen, Leistungssysteme des öffent-lichen Dienstes, Arbeitgeberleistungen (wie z.B. betriebliche Al-tersversorgung), Entschädigungen, soziale Hilfen und Dienste (wieetwa Jugendhilfe und Förderung von Vermögensbildung) sowie (alsindirekte Leistungen) steuerliche Maßnahmen und den Familien-leistungsausgleich. Im Jahr 1999 betrug die Höhe aller Sozialleis-tungen (das Sozialbudget) 1306,555 Milliarden DM (= 1,306555Billionen oder 1306555000000.– DM). Damit betrug die Sozialleis-tungsquote 33,7 % des Bruttoinlandsproduktes (BIP)142.

Zum Vergleich: Die Ausgaben für Verteidigung betrugen imBundeshaushalt desselben Jahres ca. 48 Milliarden DM – das ent-spricht knapp 3,7 % des Sozialbudgets.

Einen Eindruck von der Entwicklung des bundesdeutschen Sozial-budgets seit 1960 (ab 1991 Gesamtdeutschland) vermittelt folgendeTabelle:143

Jahr Sozialbudget in Anteil des Durchschnittliche Milliarden DM Sozialbudgets am Sozialleistungen pro

Bruttoinlandsprodukt Einwohner (in DM)

1960 63,7 21,1 % 11501965 103,3 22,5 % 17621970 169,2 25,1 % 27901975 324,3 31,6 % 52451980 449,8 30,6 % 73071985 546,8 30,0 % 89611991 836,5 28,5 % 104591995 1100,3 31,2 % 13474

163

142 Das Bruttoinlandprodukt umfasst die Summe aller innerhalb einer Volkswirtschaft produzierten Güter bzw. geleisteten Diens-te. Die vorstehenden Angaben nach Fischer Weltalmanach 2002, hrsg. von Mario Baratta, Frankfurt am Main 2001, Sp. 247 f.

143 Angaben nach der Broschüre Sozialbudget 2000. Tabellenauszug, hrsg. vom Bundesministerium für Arbeit und Sozial-ordnung, Online-Ausgabe unter http://www.bma.de/download/broschueren/a230.pdf (Januar 2002). Die Angaben in der drit-ten Spalte von 1991 und 1995 sind aufgrund einer gegenüber vorher anderen Berechnungsweise des BIP nur bedingt mit denAngaben der früheren Jahre vergleichbar,

G. Einige ausgewählte Internet-Adressen zur Sozialpolitik in Deutschland144

www.bundesregierung.de Homepage der Bundesregierung

www.bundestag.de Homepage des Bundestages

www.bundesrat.de Homepage des Bundesrates

www.bma.de Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung

www.bmfsfj.de Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

www.bmgesundheit.de Bundesministerium für Gesundheit

www.bzga.de Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung

www.bpb.de Bundeszentrale für politische Bildung (mit Links zu den Landeszentralen)

www.dgb.de Deutscher Gewerkschaftsbund

www.paritaet.org Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband

www.caritas.de Deutscher Caritas-Verband

www.diakonie.de Diakonisches Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland

www.awo.org Arbeiterwohlfahrt

www.sozial.de Informationsseite zur Sozialpolitik

www.soziales-netz.de Informationsseite zur Sozialpolitik

www.sozialpolitik.de Sammlung sozialpolitisch interessanter Links

www.fh-fulda.de/fb/sw/projekte/sozlinks Sammlung sozialrechtlich interessanter Links

164

144 Stand Januar 2002.