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SozW Soziale Welt Zeitschrift für sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis Herausgegeben von der Arbeitsgemeinschaft Sozialwissenschaftlicher Institute e.V., Lennéstr. 30, 53113 Bonn Geschäftsführende Herausgeber: Prof. Dr. Ulrich Beck, Prof. Norman Braun PhD, Prof. Dr. Armin Nassehi, Universität München, Institut für Soziologie Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Barbara Adam, University of Wales, Cardiff · Prof. Martin Albrow, Roehampton Institute, London · Prof. Anthony Giddens, London School of Econo- mics and Political Science (LSE), London · Prof. Uta Gerhardt, Universität Heidelberg · Prof. Heinz Hartmann, Universität Münster · Prof. Bruno Latour, CSI, Paris · Prof. Hermann Schwengel, Universität Freiburg Redaktion: Dr. Irmhild Saake, Universität München Redaktionelle Bearbeitung: Lilian Brandtstaetter 4/2006 57. Jahrgang Seite 327–422 Inhalt Editorial ............................................................................................................................... 329 Aufsätze .............................................................................................................................. 331 1. Kosmo-politische Ereignisse. Zur sozialen Topologie von SARS Von Michael Schillmeier und Wiebke Pohler................................................................ 331 2. Moderne Leistungssteuerung und Anomie. Eine konzeptionelle und indizienbasierte Analyse aktueller Entwicklungen in Organisationen Von Gabriele Faßauer und Frank Schirmer ................................................................. 351 3. Die Rationalität der Hochschulreform. Grundzüge eines postautonomen Wissensregimes Von Tilman Reitz und Susanne Draheim....................................................................... 373 4. Auswirkungen vorschulischer Kinderbetreuung auf die Bildungschancen von Migrantenkindern Von Rolf Becker und Patricia Tremel ........................................................................... 397 Abstracts ............................................................................................................................. 419 Die Gutachter des Jahrgangs 57 Regeln für die Manuskriptgestaltung

SozW Soziale Welt 4/2006 · der Soziologie ab: einerseits wieder die unmittelbare Erfahrung zu bemühen, um die Kriteri-330 en der Kritik formulieren zu können. Das kritische Soziologie-Individuum

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SozW Soziale Welt Zeitschrift für sozialwissenschaftliche Forschung und PraxisHerausgegeben von der Arbeitsgemeinschaft Sozialwissenschaftlicher Institute e.V., Lennéstr. 30, 53113 Bonn

Geschäftsführende Herausgeber: Prof. Dr. Ulrich Beck, Prof. Norman Braun PhD, Prof. Dr. Armin Nassehi, Universität München, Institut für Soziologie

Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Barbara Adam, University of Wales, Cardiff · Prof. Martin Albrow, Roehampton Institute, London · Prof. Anthony Giddens, London School of Econo-mics and Political Science (LSE), London · Prof. Uta Gerhardt, Universität Heidelberg · Prof. Heinz Hartmann, Universität Münster · Prof. Bruno Latour, CSI, Paris · Prof. Hermann Schwengel, Universität Freiburg

Redaktion: Dr. Irmhild Saake, Universität München

Redaktionelle Bearbeitung: Lilian Brandtstaetter

4/200657. Jahrgang

Seite 327–422

Inhalt

Editorial ............................................................................................................................... 329

Aufsätze .............................................................................................................................. 331

1. Kosmo-politische Ereignisse. Zur sozialen Topologie von SARSVon Michael Schillmeier und Wiebke Pohler................................................................ 331

2. Moderne Leistungssteuerung und Anomie. Eine konzeptionelle und indizienbasierte Analyse aktueller Entwicklungen in OrganisationenVon Gabriele Faßauer und Frank Schirmer ................................................................. 351

3. Die Rationalität der Hochschulreform. Grundzüge eines postautonomen WissensregimesVon Tilman Reitz und Susanne Draheim....................................................................... 373

4. Auswirkungen vorschulischer Kinderbetreuung auf die Bildungschancen vonMigrantenkindernVon Rolf Becker und Patricia Tremel ........................................................................... 397

Abstracts ............................................................................................................................. 419

Die Gutachter des Jahrgangs 57

Regeln für die Manuskriptgestaltung

ImpressumGeschäftsführende Herausgeber: Prof. Dr. Ulrich Beck, Prof. Norman Braun PhD, Prof. Dr. Armin Nassehi (V.i.S.d.P.), Universität München, Institut für SoziologieRedaktion: Dr. Irmhild Saake, Universität MünchenRedaktionelle Bearbeitung: Lilian BrandtstaetterNamentlich gezeichnete Beiträge geben nicht in jedem Fall die Meinung der Herausgeber/Redaktion oder des Verlages wieder. Alle Einsendungen erbeten an die Redaktion »SOZIALE WELT«, Institut für Soziologie, Konradstraße 6, 80801 Mün-chen, Tel. (089) 2180-2458, Fax (089) 2180-5945, [email protected]. Die Redaktion behält sicheine längere Prüfungsfrist vor. Eine Haftung bei Beschädigung oder Verlust wird nicht übernommen. Bei unverlangtzugesandten Rezensionsstücken keine Garantie für Besprechung oder Rückgabe. Alle Rechte sind vorbehalten. Foto-mechanische Vervielfältigungen der Beiträge und Auszüge sind nur im Einvernehmen mit dem Verlag möglich. Erschei-nungsweise vierteljährlich.Die Homepage der Sozialen Welt erreichen Sie unter http://www.lrz-muenchen.de/~Soziale_Welt/.Bezugsbedingungen: Bezug durch alle Buchhandlungen oder unmittelbar durch den Verlag. Preis des Einzelheftes € 23,–;Jahresbezugspreis € 82,– ; Vorzugspreis für Studierende € 42,– (Jährliche Vorlage einer Studienbescheinigung erforder-lich). Alle Preise incl. MWSt, zzgl. Porto- und Versandkosten. Kündigung vierteljährlich zum Kalenderjahresende. Diezur Abwicklung von Abonnements erforderlichen Daten werden nach den Bestimmungen des Bundesdatenschutzgeset-zes verwaltet. Bestellungen und Studienbescheinigungen bitte an: NOMOS Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Postfach100 310, D-76484 Baden-Baden, Telefon 0 72 21 / 21 04-0, Telefax 0 72 21 / 21 04 43.Druck: NOMOS Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Postfach 100 310, 76484 Baden-Baden, Telefon 0 72 21 / 21 04-0, Telefax 0 72 21 / 21 04 43.Anzeigen: sales_friendly, Bettina Roos, Maarweg 48, 53123 Bonn, Telefon 02 28 / 9 26 88 35, Fax 02 28 / 9 26 88 36, [email protected]

ISSN-Nr. 0038-6073

Soziale Welt 57 (2006), S. 329 – 330

Editorial

Ein Grundcharakteristikum der modernen Gesellschaft, so wird immer wieder in literarischerund sozialwissenschaftlicher Form betont, ist ihre Tendenz zur Beschleunigung. Vergessenwird zumeist, dass Beschleunigung auch Verspätung wahrscheinlicher macht – und so wartetdie Redakteurin unserer Zeitschrift schon lange darauf, dass ich ihr endlich dieses Editorialauf den Tisch lege. Um es nicht noch weiter zu verschieben, schreibe ich es in einem über-füllten ICE an einem Freitagnachmittag, in einem ICE, der gerade – so viel zur Beschleuni-gung – die Neubaustrecke zwischen Nürnberg und München mit 300 km/h befährt.

Ich sitze hier und komme gerade zurück vom 33. Kongress der DGS in Kassel. Wir allekennen das Gefühl der Erschöpfung nach solchen Kongressen: Man konnte es zwar ahnen,aber dass es so viel Unterschiedliches gibt, was unter dem Label unseres Faches verhandel-bar ist, ist wirklich erschöpfend, in der Doppelbedeutung des Wortes.

Dieses Mal hat mich eine wenig prominente, aber zugleich besonders innovative Veran-staltung einer Ad-Hoc-Gruppe fasziniert. Sie ging zurück auf die Initiative von Studierendender Universität Bielefeld, die sich darüber verständigen wollte, wie man als Studienanfängerund -anfängerin unser Fach erlebt. Das versprach tatsächlich Antworten, die kaum antezi-pierbar sind – und durchaus praxisrelevante Antworten. Am Montag nach diesem Freitag be-ginnt das Semester, und da ist es doch gut, etwas über die Erwartungen unserer Studierendenaus erster Hand zu erfahren.

Die kleine Veranstaltung war sehr erhellend. Die Protagonisten präsentierten sich als Per-sonen, denen das Fegefeuer einer soziologischen Sozialisation durchaus schon anzusehenwar. Was sie auch schon gelernt haben, ist unser merkwürdiges Selbstverhältnis: einerseitsfasziniert von unserem Fach zu sein und eine durchaus elitäre Selbstbeschreibung zu pfle-gen, andererseits aber doch unter Selbstzweifeln zu leiden. Wohl ist jeder gute Soziologe ir-gendwann auch ein Anti-Soziologe.

Die Kommilitonen machten nach empirischer Prüfung eine Zahl von fast 70 sogenanntenBindestrichsoziologien aus, die an deutschen Universitäten gelehrt werden. Und die Erfah-rung darüber, dass man unterschiedlichste theoretische und methodologische Ansätze neben-einander stellen könne, hatte zwar etwas fast Stolzes an sich – welches Fach hat so etwasschon vorzuweisen? Aber die Diagnose mündete dann doch in eine erhebliche Klage: Keinerkönne ihm sagen, so der Soziologie-Student Markus Römer, warum er Pragmatismus oderStrukturalismus, Systemtheorie oder etwas eher Handlungen Deutendes wähle und empfeh-le. Römer rief nach Reflexion der Axiome hinter den Axiomen: mehr philosophisch gehärte-te Gründe, noch besser aber existentielle Bekenntnisse, warum dies und nicht jenes!

Sebastian Moser und Christoph Karlheim, ebenfalls Bielefeld, forderten dann ein »Auf-brechen der Soziologie«. Sie meinten damit, man müsse endlich festlegen, was denn nunzum Kanon des Faches gehöre, möglichst mit Formulierungen, die die Zahl der in Deutsch-land gelehrten soziologischen »Fächer« oder Bindestrich-Komposita wenigstens semantischreduzieren könne. Präferiert wird gewissermaßen eine bürokratische Lösung, eine Setzkas-tenlösung, die Überblick schafft, die die Mannigfaltigkeit der Eindrücke in Bilder übersetzt –was man bekanntlich nur kann, wenn man einen Großteil des Wahrgenommenen ausblendet.So ist es sowohl wahrnehmungsphysiologisch als auch im Hinblick auf die Selektivität jegli-chen Blicks – die Ordnung ist nicht in der Welt, sondern muss in sie hinein gelesen werden.Das gilt nicht nur für die soziale Welt, sondern auch für die soziologische Welt.

So exotisch die Veranstaltung auch daher kam, so konventionell war doch ihr Ergebnis.Beide Lösungen – die authentisch-konfessionelle wie die bürokratische – bilden Trends inder Soziologie ab: einerseits wieder die unmittelbare Erfahrung zu bemühen, um die Kriteri-

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en der Kritik formulieren zu können. Das kritische Soziologie-Individuum wendet sich ge-wissermaßen gegen die Entfremdung der Theorie-Arbeit – durchs Bekenntnis für den eige-nen Blick oder seine außersoziologische, etwa philosophische Rechtfertigung! Die Arbeitdes Begriffs wird dann gewissermaßen durch Anerkennung des Anderen ersetzt, eine Art in-nerer Kosmopolitismus des Faches, der dann die theoretische Debatte entschärft, weil letzt-lich unmöglich macht. Andererseits setzt man eher auf organisatorische, auf bürokratischeLösungen: Das Fach möge doch eindeutig definieren, was Soziologie denn sei und welcheBindestrichsoziologien kanonisierbar seien, um das Dickicht der soziologischen Lebensweltein wenig zu lichten. Ein bißchen erinnert das daran, wie wir derzeit unsere Theoriedebattenführen – entlang der Kanonisierbarkeit lehrbuchstabilisierter Unterscheidungen. Vieles rich-tet sich nach den aus Lehrbüchern bekannten Unterscheidungen, nicht diese sich nach mögli-chen Debatten.

Ich gestehe, dass ich erstaunt bin darüber, wie die Studierenden ihr Fach diskutieren – ei-nerseits, andererseits scheint es sich tatsächlich so darzustellen. Merkwürdig fand ich, dasskeiner der Diskussionsbeiträge von den Ergebnissen, den Resultaten, dem soziologischen Er-trag her dachte. Dass es einen Unterschied macht, wo man das soziologische Denken be-ginnt, sollte am deutlichsten daran werden, was am Ende dabei heraus kommt. Man kanndann immer noch Bekenntnisse ablegen, aber zunächst muss der Begriff arbeiten, bis er ei-nen Ertrag bringt. Das zumindest ist das, was ich aus dieser Veranstaltung gelernt habe. DenMethoden- und Theorienpluralismus unseres Faches kann man normativ aufladen und Aner-kennung fordern – und je undeutlicher die Kriterien werden, desto authentischer wird dieAnerkennung ausfallen müssen. Aber entscheidender ist, die Funktion dieses Pluralismus inden Resultaten wieder zu finden. Denn es macht in der Tat einen Unterschied, ob wir so oderanders beginnen, ob wir diese oder jene Theorie oder Methode verfolgen, ob wir dies oderjenes fragen – dies nicht nur zu betreiben, sondern schätzen zu lernen, könnte eine der Stär-ken der akademischen Soziologie sein. Vom Ende her also ist die Theoriewahl zu beurteilen,nicht von ihrem Anfang, der ja noch nicht viel mit sich anfangen kann. Für eine Didaktik dersoziologischen Lehre ließ sich in dieser Ad-Hoc-Gruppe wirklich viel lernen. Und ich möch-te nicht versäumen, den Organisatoren Jonathan Serbser und Tobias Hauffe dafür zu danken,diese Initiative gewagt zu haben.

In der Veranstaltung waren übrigens nur wenige Lehrende. Einer von ihnen war LarsClausen, der in seiner unnachahmlichen Art pointierte und dann doch aus einer anderen Weltberichtete. Er meinte, beginnen könne man die Soziologie nur, wenn man Fragen habe – undFragen gab es damals, als er mit dem Studium begann, viele. Das freilich ist heute nicht an-ders! Aber er beschied die jungen Leute, er selbst habe erst nach acht langen Jahren seinenersten soziologischen Gedanken gehabt, sie mögen sich also gedulden – in acht Jahre passenbald fast drei Bachelor-Studiengänge! Und in eine ICE-Fahrt mit 300 km/h passt heute kaumdie Länge eines Editorials – zumindest wenn man es schreiben muss. Denn der Zug ist da,und am Montag beginnt das Semester.

München, im Oktober 2006

Armin Nassehi

Post scriptum: Im Sommer diesen Jahres hat Kathrin Keller die Redaktionsassistenz derSozialen Welt abgegeben, da sie München verlässt. Herausgeber und Redakteurin bedauerndas sehr, hat Kathrin Keller doch die Redaktion (und uns) auf einem wirklich professionellenNiveau geführt. Um so größer ist unser Dank an sie! Seit 1. August bekleidet Lilian Brandts-taetter die Redaktionsassistenz.

Soziale Welt 57 (2006), S. 331 – 349

Kosmo-politische Ereignisse. Zur sozialen Topologie von SARS

Von Michael Schillmeier und Wiebke Pohler

Zusammenfassung: Die gesellschaftliche Brisanz von SARS (Severe Acute Respiratory Synd-rom) zeigte sich zunächst an dem fehlenden Wissen über Ursache, Diagnosemöglichkeit und Evo-lution dieser hoch ansteckenden und lebensbedrohenden Erkrankung. SARS wurde als globaleGefahr wahrgenommen, da das Virus sich entlang internationaler Flugrouten auszubreiten ver-mochte und eine SARS Pandemie nicht auszuschließen war. Die grenzüberschreitende Migrationvon SARS wurde dadurch zu einem kosmo-politischen Ereignis, das individuelles Leben gefähr-dete und dem es gelang, tradierte gesellschaftliche Ordnungsmechanismen und -kalküle zu verun-sichern und zu verändern. Anknüpfend an den ›spatial turn‹ innerhalb der sozialwissenschaftli-chen Forschung versuchen wir die sozial-räumliche Bedeutung (Topologie) von SARS zurekonstruieren. Das Phänomen SARS lässt sich gesellschaftswissenschaftlich nur ungenügend fas-sen, würde man methodologisch die soziale Dimension von SARS im Unterschied zur stofflich-materialen und individuell-körperlichen Dimension konzipieren. Die Migration von SARS zeigt,so unsere These, wie der Objektbereich sozialwissenschaftlicher Methoden in Frage gestellt wird,da er in der Verknüpfung mit dem Nicht-Sozialen als erklärungsbedürftig erscheint. Unser metho-dologischer Vorschlag ist, die topologische Komplexität von SARS als Akteur-Netzwerk zu erfas-sen. Ein Akteur-Netzwerk reflektiert ein prozessuales Raumkonzept, das es erlaubt, gesellschafts-wirksame Akteure als die Verknüpfung von menschlichen und nicht-menschlichen Relationensichtbar zu machen.

1. Global Assemblages

Am Ende des Jahres 2002 traten in der südchinesischen Provinz Guangdong die ersten Fälleeiner neuartigen Atemwegserkrankung auf, die den Namen SARS (Severe Acute RespiratorySyndrom) erhalten sollte. Die Neuartigkeit von SARS machte sich an den unbekannten Ursa-chen für diese hoch ansteckende und lebensbedrohende Erkrankung fest. Ihre besondere Ge-fährlichkeit lag darin, dass sie sich entlang internationaler Flugrouten auszubreiten vermoch-te und die Möglichkeit einer SARS Pandemie nicht auszuschließen war. Am 15. März 2003landete in Frankfurt am Main ein Flugzeug aus New York. An Bord befanden sich dreiSARS-Verdachtspatienten. Es handelte sich dabei um einen Arzt aus Singapur, der in NewYork an einem Kongress teilgenommen hatte und der zusammen mit seiner Frau und seinerSchwiegermutter reiste. Der Arzt hatte zuvor in Singapur Patienten mit einer unbekanntenAtemwegserkrankung behandelt. In New York erkrankte er und suchte einen Arzt auf. Die-ser stellte die Diagnose einer Lungenentzündung und behandelte diese, doch die Therapieschlug nicht an. Daraufhin beschloss der Arzt aus Singapur die Heimreise anzutreten, umsich daheim auszukurieren. Vor seinem Abflug informierte er jedoch seine Heimatkliniküber seine Erkrankung. In der Zwischenzeit häuften sich bei den lokalen Büros der Weltge-sundheitsorganisation (WHO) die Meldungen über zahlreiche, ungewöhnlich verlaufendeAtemwegserkrankungen in chinesischen Krankenhäusern. Die WHO rief daraufhin am 13.Februar 2003 einen weltweiten Alarm aus (WHO 2003a).

Durch diesen Alarm aufmerksam geworden, informierte auch die Singapurer Klinik dieWHO über die Erkrankung eines ihrer Mitarbeiter. Die WHO gab diese Information an ihrelokalen Partner in New York weiter, die nun versuchen, den Arzt und seine Familie ausfin-dig zu machen. Die Befürchtungen gehen dahin, dass bei weiteren Infektionen durch denArzt auf dem Flug von New York die Erkrankung in die ganze Welt verschleppt werdenkönnte. Der Flughafen Frankfurt am Main ist eine Zwischenstation des Fluges von NewYork. Hier steigen die Passagiere um und reisen dann in die verschiedensten Länder weiter.

332 Michael Schillmeier und Wiebke Pohler

Nachdem die Maschine, in der sich der Arzt mit seiner Familie befand, in New York bereitsgestartet war, wurde das Stadtgesundheitsamt in Frankfurt am Main über dieses Flugzeugmit den Verdachtspatienten informiert, um beim Zwischenstopp der Maschine in Frankfurtreagieren zu können. Das Flugzeug wurde bei seiner Landung am Frankfurter Flughafen so-fort unter Quarantäne genommen. Die Verdachtspatienten wurden an der Frankfurter Uni-versitätsklinik aufgenommen und behandelt. Auch die anderen Passagiere des Fluges muss-ten sich vor ihrer Weiterreise einem Gesundheitscheck unterziehen.

Die schnelle Identifizierung von SARS-Patienten bzw. SARS-Verdachtsfällen und eineentsprechende Isolierung dieser Personen war in Bezug auf das Risiko der Ausbreitung vonSARS deshalb so entscheidend, da durch die Möglichkeit der Krankheitsübertragung auf an-dere immer ein Risiko für die welt-öffentliche Gesundheit bestand. Jeder neue Fall vonSARS erhöhte somit das Risiko einer globalen Ausbreitung. Dass es dennoch zu einer er-folgreichen Eindämmung der Migration von SARS kam, ist insbesondere auf die unter-schiedlichen, aber hochwirksamen Kontroll-, Überwachungs- und Isolationstechnologien zu-rückzuführen sowie auf die Bildung transnationaler, virtueller medizinwissenschaftlicherNetzwerke, deren Stärke insbesondere darin lag, auf aktuelle Problemlagen schnell – auf derBasis von day-to-day Entscheidungen – reagieren zu können. Zwischen dem ersten Fall vonSARS in der südchinesischen Provinz Guangdong im November 2002 und dem von derWHO ausgesprochenen weltweiten Ende des Ausbruchs im Juli 2003 kam es zu mehr als8000 registrierten Ansteckungen und ca. 800 Todesfällen. Im Vergleich dazu hatte die Grip-pewelle in Deutschland im Jahre 2004/05 ca. 15 000 Todesopfer gefordert.

Wie immer man SARS einzuschätzen vermag, die gesellschaftliche Brisanz ist in dem glo-balen Bedrohungs- und Gefährdungspotential für menschliches (Zusammen-)Leben (Baehr2005) und der dadurch ausgelösten transnationalen Konflikt- und Kommunikationsdynamikzu sehen. SARS hat nicht nur Menschenleben gekostet; der Migration von SARS ist es auchgelungen, zum einen lokale wie globale gesellschaftliche Praktiken zu verunsichern, zu ver-ändern und neu zu konstituieren, und zum anderen die tradierten Beobachtungs-, Erklärungs-und Interpretationsmuster gesellschaftlicher Zusammenhänge fragwürdig erscheinen zu las-sen.

Aiwa Ong beschreibt SARS als

»…global assemblage, or a mobilization of significant connections among diverse ele-ments that have open-ended effects on the meaning of individual and social life. (...) the fo-cus on assemblage reveals how actors – including social analysts – define and respond by as-sembling diverse resources in a contingent and provisional manner, with varying effects onemerging forms of modern ways of living.« (Ong 2004: 81).

Solche global assemblages wie SARS, deren Folgen den gesellschaftlichen Beobachtersowie den Beobachtungsgegenstand in Frage stellen, wollen wir kosmo-politische Ereignissenennen. Kosmo-politische Ereignisse, so unsere These, sind grenzüberschreitende, öffentli-che Akteure, die sowohl gesellschaftliche Ordnungsmuster als auch die Routinen ihrer Be-schreibung kontingent erscheinen lassen und reformulieren. Die Bedeutung von SARS liegtnun darin, dass SARS sich paradoxerweise der Macht sozialer Zuschreibung ›Sinn‹ zu kom-munizieren entzieht. Kosmo-politische Ereignisse agieren vielmehr als paradoxe Sinnstifter,die soziale Relevanz in dem Moment aktualisieren, in welchem sie den Kosmos der jeweili-gen Sinn- und Wissensarrangements sozialer Praxis verunsichern und gefährden. An so un-terschiedlichen Ereignissen wie z.B. Tschernobyl, AIDS oder Stammzellenforschung lässtsich dies bereits deutlich zeigen (Jasanoff/Long Martello 2004; Ong/Collier 2005; Petryna2002; Preda 2004).

Kosmo-politische Ereignisse. Zur sozialen Topologie von SARS 333

2. Topologische Komplexität

Die WHO beschreibt auf ihrer homepage die Besonderheit von SARS:

»It is clear that the responsibility for containing the emergence of any new infectious di-sease showing international spread lies with all countries. In a world where all national bor-ders are porous when confronted by a microbial threat, it is in the interest of all populationsfor countries to share the information they may have as soon as it is available. In so doing,they will allow both near and distant countries – all neighbors in our globalized world – tobenefit from the understanding they have gained.« (WHO 2003b: 9)

Wie will man nun die durch SARS initiierte Kosmo-politisierung gesellschaftlicher Wirk-lichkeit und die damit verknüpfte Infragestellung soziologischer Beobachtungsroutinen me-thodisch in den Griff bekommen? Eine attraktive Möglichkeit dies zu tun besteht darin, dieTopologie von SARS zu beschreiben. Wenn wir von Topologie sprechen, schließen wir unsdem ›spatial turn‹ innerhalb der sozialwissenschaftlichen Forschung an. Dieser versucht dieGrenzen der methodischen wie theoretischen Anstrengungen, gesellschaftliche Zusammen-hänge anhand regionaler und territorialer Metaphern und Konzepte zu beschreiben, kritischzu reflektieren (Barabasi 2002; Czarniawska/Sevón 2005; Hetherington/Lee 2000; Law2004; Law/Mol 2001; Callon/Law 2004; Moreira 2004a; 2004b; Schillmeier im Erscheinen;Thrift 1996; Urry 2000; 2005).

Interessant an einer topologischen Methodologie ist zunächst, dass diese die Herstellungvon sozialen Räumen zu erfassen versucht, ohne zu deren Beschreibung allein auf geometri-sche Metaphern und Methoden, d.h. auf Entfernungen, Maße oder Größen, angewiesen zusein. Vielmehr liegt der Fokus auf der Fabrikation einer Vielfalt von sich überlagerndenRäumen, die »nonisomorphic with standard units of analysis« (Collier/Ong 2005: 3) sind.Eine topologische Methodologie widmet sich den je spezifischen räumlichen Merkmalen,die den beobachteten Objekten ihre gesellschaftliche Präsenz sichern (Law 1999). Eukli-disch, territorial und regional bestimmte Räume benennen dabei nur spezifische topologi-sche Formen, um gesellschaftliche Zusammenhänge eingrenzbar und beschreibbar, messbarund vergleichbar zu machen. Eine Alternative dazu bietet der Begriff des Akteur-Netzwerkes(Callon 1991; Latour 1996; 2001; 2005), der versucht ein prozessuales Raumkonzept sicht-bar zu machen. Akteur-Netzwerke verweisen auf Elemente, die ihre Stabilität und ›räumli-che Integrität‹ durch ihre Position in einem Set von Verbindungen und Beziehungen gewin-nen (Law 1999: 6).1 Territorial gedachte und konzipierte soziale Räume erscheinen so als einEffekt von einer Vielzahl von miteinander verbundenen Relationen und generieren auf dieseWeise räumliche Stabilität und Integrität. Solche »layered spaces« (Moreira 2004b) machendie topologische Komplexität gesellschaftlicher Praxis aus und entziehen sich dadurch im-mer auch einer vereinheitlichenden Perspektive (Taylor 2001; Urry 2003).

Dies wollen wir kurz an dem Verhältnis von Lokalität und Globalität illustrieren. Zentralfür eine Methodologie topologischer Dynamiken ist, dass die Spielarten global gedachterRäume – sei es in der Form ›Kontext‹, ›Subjekt‹, ›Objekt‹, ›Mensch‹, ›Nation‹, ›Welt‹, ›So-zialität‹, ›Natur‹, ›Kosmos‹ – immer nur als Folge des Lokalen, d.h. als selektives Artikulie-ren lokaler Komplexität virulent werden. Topologisch gedacht kann das Globale oder Globa-lität demzufolge als standardisierte und formalisierte Übersetzung lokaler Komplexitätverstanden werden (Latour 2001). Globalisierung, also weltweites Handeln auf Distanz, isthierfür ein gutes Beispiel. Paradoxerweise zeigt sich die topologische Komplexität von Glo-balisierung gerade im Verschwinden des einen globalen Raumes. Letzterer artikuliert sich

1) Zur kritischen Diskussion des Begriffs ›Akteur-Netzwerk‹ vgl. Latour (2005), Law/Hassard (1999)und Lee/Brown (1994).

334 Michael Schillmeier und Wiebke Pohler

vielmehr als hyperkomplexe Vermittlung von weltweit lokal vernetzten Kommunikations-und Transportstrukturen, die dadurch lokal globale Mobilität und Kommunikation ermögli-chen. Man spricht in diesem Zusammenhang dann auch von ›Weltgesellschaft‹, in der es kei-ne eine Welt mehr gibt, in der es stattdessen zu einer Gleichzeitigkeit multipler ›Gegenwar-ten‹ dieser Weltgesellschaft kommt (Nassehi 2003: 188ff).

Man kann nun aus topologischer Sicht sagen: Im Zuge der Globalisierung dis/lokalisiertsich das Globale. Dis/lokalisierung meint, dass sich das Globale nicht mehr im Unterschiedzum Lokalen verorten lässt, so, als ob man zwei territorial abgeschlossene Regionen mitein-ander vergleicht. Das Globale kann überhaupt keinem ›natürlichen‹ Ort mehr zugewiesenwerden. Vielmehr lässt sich das Besondere des Globalen nur mehr als Folge von Lokalisie-rung denken. Es kommt so zu einer Überlappung und Multiplikation lokaler/globaler Ver-knüpfungen. Topologisch gesehen, kann auch ›das Lokale‹ dann nur noch als Vermittlungund Verknüpfung solcher heterogenen Dis/lokalisierungen gedacht werden. Somit lässt sichdie Differenz zwischen dem ›Globalen‹ und dem ›Lokalen‹ nicht mehr als geometrisch ge-dachte Gegenüberstellung, als Entgegensetzung oder in Opposition zueinander konzipieren.

Auf die Frage hin, was dies für die topologische Komplexität des sozialen Raumes bedeu-tet, vermuten wir, dass ›das Soziale‹ ebenfalls dem Prozess der Dis/lokalisierung des Globa-len unterworfen ist. Durch Globalisierung wird eindringlicher denn je sichtbar, dass die Glo-balität des sozialen Raumes ebenfalls in Frage steht. Wir hatten betont, dass topologischeKomplexität auf die Vermittlung und Verknüpfung von nicht-konformen Räumen verweist.Dies reflektiert das klassische Vorgehen der sozialwissenschaftlich begründeten Methoden,indem es dem sozialen Raum topologische Komplexität zuschreibt und dadurch den sozialenRaum – clare et distincte – von nicht-sozialen Dingen unterscheidet. Dem sozialen Raumwird ein eigener, abgetrennter Bereich zugestanden, der methodologisch seine räumlichenGrenzen mit dem Hinweis auf die Kontingenz der Welt sichert und sich so von Annahmeneiner außer-sozialen, also natürlichen Weltordnung schützt und abgrenzt. Dadurch ist Weltentweder sozial oder natürlich und dies immer nur innerhalb der Grenzen der global gedach-ten Erklärungsmacht der Methodologie des sozialen Raumes.

Topologische Komplexität wird somit methodologisch durch die Unterscheidung vomNicht-Sozialen gewonnen. Interessanterweise wird dadurch der sozialwissenschaftlichen Be-obachtung ein ›natürlicher‹ Objektbereich zugewiesen, der sich durch das Interesse amNicht-Natürlichen ausweist. Unser methodologischer Vorschlag ist nun, topologische Kom-plexität auf den ›natürlichen‹ Objektbereich des sozialen Raumes selbst anzuwenden. Me-thodisch bedeutet das, den Objektbereich der gesellschaftswissenschaftlichen Beobachtungnicht im Unterschied (Differenz als Opposition) zum ›Nicht-Sozialen‹, sondern in der Ver-knüpfung mit diesem zu denken und damit dessen Virulenz (van Loon 2002) sichtbar zu ma-chen. Dadurch wird methodologisch der quasi-natürliche Objektbereich des sozialen Raumesin Frage gestellt und in der Verknüpfung mit dem Nicht-Sozialen erklärungsbedürftig.

Der Ausbruch von SARS hat diesen virulenten Charakter gerade im Gesundheitswesen be-troffener Länder wie z.B. Kanada deutlich erkennen lassen. Dazu schreibt der kanadische2

›SARS Commission First Interim Report‹:

»SARS demonstrated that hospitals and other health care facilities are not isolated institu-tions operating on their own. (…) Because SARS was such a difficult disease to diagnose,because there were no reliable lab tests, and because knowledge about the disease was rapid-ly evolving on a daily basis, there were disagreements from time to time between the repor-ting institution and public health officials as to whether a particular case was a case of

2) Kanada war neben China das am stärksten betroffene Land mit über 43 Todesfällen (Preiser 2004).

Kosmo-politische Ereignisse. Zur sozialen Topologie von SARS 335

SARS.« (Campbell, 2004: 147f). »(…) Viruses do not respect boundaries between municipalhealth units. The chain of provincial protection against the spread of infectious disease isonly as strong as the weakest link in the 37 local public health units. A failure in one publichealth unit can spill into other public health units and impact the entire province and ultima-tely the entire country and the international community.« (Campbell, 2004: 201f).

Zusammenfassend kann man sagen: Topologische Räume sind ins Netzwerk gesetzte sozi-ale und nicht-soziale Ereignisse, die paradoxerweise weder allgemeinen/globalen noch indi-viduellen/lokalen Charakter besitzen. Damit wird gesellschaftliche Wirklichkeit nicht imUnterschied zur Natur, zum Psychischen oder zur sinnlichen Wahrnehmung konzeptuali-siert, wie es der klassischen methodologischen Sicht einer ›globalen Soziologie‹ entspricht(Turner 2006). Wie wir am Beispiel von SARS zeigen werden, ist die Methodologie des Ak-teur-Netzwerke(n)s eine Möglichkeit, die Quasi-Natürlichkeit des sozialen Raumes in Fragezu stellen.

Kosmo-politische Ereignisse wie SARS sind dafür symptomatisch, da sie, so unsere The-se, multiple und heterogene gesellschaftliche Ordnungstopologien entfalten, die sich nichtmehr durch einen »einfachen Ort« (Whitehead 1967)3 im Raum und in der Zeit methodischkontrollieren lassen. Das meint: SARS lässt sich gesellschaftswissenschaftlich nur ungenü-gend fassen, würde man methodologisch die soziale Dimension von SARS im Unterschiedzur stofflich-materialen Dimension oder im Unterschied zur individuell-körperlichen Dimen-sion konzipieren und die soziale Dimension einseitig, quasi-natürlich zur Erklärung der bei-den letzteren stilisieren. Dadurch wird ein weiteres Moment topologischer Komplexitätsichtbar: Die gesellschaftliche Bedeutung von SARS lässt sich auch nicht im Unterschiedzur oder in der Abstraktion von der zeitlichen Dimension denken. Kosmo-politische Ereig-nisse wie SARS stellen vielmehr das Ereignen selbst und die dadurch entstehende Multipli-kation von gesellschaftlichen Räumen und Zeiten in den Mittelpunkt der Analyse.4 Der Be-griff Akteur-Netzwerk scheint diesem eigentümlichen Ereignischarakter topologischerKomplexität zu entsprechen. Dabei ist zu beachten, dass weder der Begriff ›Akteur‹ noch derder ›Netzwerke‹ der klassischen dialektischen Unterscheidung von Handlung und Strukturoder Individuum und Gesellschaft entspricht. Dazu Bruno Latour:

»Each locus can be seen as framing and summing up. »Actor« is not here to play the roleof agency and »network« to play the role of society. Actor and network (...) designates twofaces of the same phenomenon, like waves and particles, the slow realization that the socialis a certain type of circulation that can travel endlessly without ever encountering either themicro-level – there is never an interaction that is not framed – or the macro-level – there areonly local summing up which produce either local totalities (...) or total localities (...). (...) ifthere is no zoom going from the macro structure to micro interactions, if both micro and ma-cro are local effects of hooking up to circulating entities, if contexts flow inside narrow con-duits, it means that there is plenty of ›space‹ in between the tiny trajectories of what could becalled the local productions of »phusigenics«, »sociogenics« and »psychogenics«. (Latour1999: 18-9).

3) Man benennt einen solchen ›einfachen Ort‹ immer dann, sobald »one major characteristic which re-fers equally both to space and to time, and other minor characteristics are diverse as between spaceand time« (Whitehead 1967: 49). Die Beschreibung eines einfachen Ortes verweist auf die Tückender »fallacy of misplaced concreteness« (1967: 51), wie Whitehead das nennt, sobald man das Kon-krete durch das Abstrakte zu erklären versucht. Vgl. dazu auch Serres (2005).

4) Somit wird nicht nur die konventionelle Unterscheidung ›sozial-zeitlich-sachlich‹ sozialkonstrukti-vistischer Provenienz unterlaufen, sondern damit verbindet sich auch ein gesteigertes Interesse an derAnalyse der Multiplikation und Be- und Entschleunigung von Zeit(en). Vgl. dazu die Arbeiten vonPaul Virilio aber auch die von Gleick (1999), Stengers (2004), Taylor (2001) und Urry (2002).

336 Michael Schillmeier und Wiebke Pohler

Unter dem Einfluss von Akteur-Netzwerk-Ereignissen wie SARS lässt sich ›das Soziale‹nicht mehr als abstrakter globaler Raum (= einfacher Ort) im Unterschied zum und als Erklä-rung des Nicht-Sozialen (Sach- und Zeitdimension) heranführen, sondern wird selbst durchdie Verknüpfung mit der Psycho-, Sach- und Zeitdimension erklärungsbedürftig. Gesell-schaftliche Wirklichkeit wird dadurch zu einem dis/lokalisierten und heterogenen, d.h. zu ei-nem zeit-räumlich und materialen multiplen Ereignis. Methodisch wichtig ist hierbei, dassdadurch sowohl der Beobachtungsgegenstand als auch der sozialwissenschaftliche Beobach-ter zu einem in Frage zu stellenden und in Frage gestellten gesellschaftlichen Akteur werden.Gerade Science, Technology & Society (STS) hat zu dem »ontologischen Tanz« (Cussins1998) gesellschaftlicher Wirklichkeit bereits überzeugendes empirisches Material gesammelt(Callon 1998; Law 1991; 2002a; b; Mol 2002; Berg/Mol 1998; Law/Mol 2002; Strathern1991; 1992).

Stellt man auf die Methodologie topologischer Räume um, so hat dies weitreichende Aus-wirkungen darauf, was man ›Theorie‹ im Unterschied zur ›Praxis‹ nennt. Der soziologischeDiskurs ist über weite Strecken von einem platonisch gedachten Theorieverständnis geprägt,das Theorie (theoria) als das kognitive Absehen (abstractio) und damit das Unterscheiden vonsinnlichem, physiologischem Sehen, versteht. Der kontemplative Akt des Theoretisierens desSozialen durch den soziologischen Beobachter unterscheidet soziale Praxis von sinnlicher,physiologischer Wahrnehmung und psychischen Vorgängen (Denken) als sozialen Prozessund umgrenzt und trennt dadurch – clare et distincte – den Bereich des Sozialen vom Nicht-Sozialen. Gerade in dieser Abstraktionsfähigkeit von physiologischen und psychologischenProzessen liegt der erkenntnistheoretische Gehalt, soziale ›Dinge‹ nicht nur einfach zu benen-nen, sondern sie dadurch als Unterscheidung, als Differenz, sichtbar zu machen.5

Es ist die Stärke radikalen Soziologisierens – von Durkheim bis Luhmann –, einen klar be-stimmten Begriff des Sozialen vorauszusetzen, der sich als autonome Sphäre (soziale Tatsa-che) oder aber als selbstreferentielle Kommunikation (Beobachten von Beobachtungen) vonstofflich-materialen und psychischen Einheiten unterscheidet (Durkheim 1961; Luhmann1992). Diese stabile und unverrückbare Einheit ist dabei nicht als Substanz zu denken, son-dern verweist einerseits auf eine Unterscheidung als emergenten Prozess (Durkheim) und/oder andererseits auf das operationale Unterscheiden (Form) je spezifischer Systemrationa-litäten (Luhmann). So ein epistemologisches Verständnis von Sozialität erlaubt es dann, imUnterschied zu reinem Ontologisieren, Soziales als Soziales vorauszusetzen, d.h. vom Glei-chen als Folge einer beobachtbaren und beobachteten Unterscheidung zu sprechen.

Demgegenüber konzentriert sich die hier vorgestellte topologische Methodologie auf dieZusammengehörigkeit von Theorie und Praxis als ›Vernetzwerken‹ von Sozialem und Nicht-Sozialem. Und das ist mehr, als das reine Theoretisieren und Soziologisieren sichtbar ma-chen können. Während die klassische Soziologie also den Begriff des Sozialen zukunftsre-sistent an den Anfang und das Ende ihrer Beobachtungen über Gesellschaft (im Unterschiedzur Natur) stellt, benennt unsere methodologische Argumentation das »Ende des Sozialen«(Latour 2000; 2001). Sprechen wir vom Ende des Sozialen, so wollen wir damit eine Metho-dologie benennen, der es nicht darum geht, gesellschaftliche Problemlagen in der Begren-zung, Identität oder Einheit der Differenz des Sozialen zu sehen. Vielmehr bestimmt sich ge-sellschaftliche Komplexität in der Nichtreduzierbarkeit auf rein soziale Phänomene.

Die damit verbundene topologische Komplexität wollen wir nun näher am Beispiel vonSARS erläutern und mit dem Begriff ›Akteur-Netzwerk‹ beschreiben.

5) Darüber sind sich viele spätestens seit Kant (1997) einig und verbinden damit wertvolle erkenntnis-theoretische Einsichten über Modernität. Anstatt vieler vgl. Bateson/Bateson (1993), Luhmann(1992) und Nassehi (2003).

Kosmo-politische Ereignisse. Zur sozialen Topologie von SARS 337

3. SARS-Akteur-Netzwerke

SARS ist eine neuartige Erkrankung, die durch ein Virus ausgelöst wird. Viren sind dadurchgekennzeichnet, dass sie allein nicht lebensfähig sind. Sie verfügen zwar über eine eigeneErbinformation (DNA oder RNA), benötigen aber einen anderen lebenden Organismus (Zel-len), um sich replizieren zu können und Nachkommenschaft zu bilden. Um sich also fortzu-pflanzen, bindet sich ein Virus mit Hilfe eines Rezeptors an eine Wirtszelle und nutzt dannden Zellabbau und -aufbau zur eigenen Vermehrung. Die Zelle nimmt in den Prozessen derZellregeneration die Virusbestandteile auf und aus Zell- und Virusbausteinen entsteht einneues Virus (= Virion) (Preiser/Rabenau/Doerr 2004). Um sich jedoch immer wieder mitneuen Zellen verbinden zu können, muss das Virus einen Weg der Übertragung finden. BeiSARS handelt es sich um eine Atemwegserkrankung. Das Virus wird dann in erster Linieüber Atemwegssekrete (Rachentröpfchen) übertragen (Doerr 2003). Auf diese Weise wird esdem Virus möglich, sich von Körper zu Körper und quer zu den gesellschaftlich tradiertenGrenzen auszubreiten.

Der Krankheitserreger von SARS wurde virologisch als SARS-Coronavirus charakteri-siert, und es wird vermutet, dass das Virus sein Ursprungsreservoir bei Tieren hatte. Bei La-boruntersuchungen wurden bei verschiedenen Wildtieren, u.a. auch beim Larvenroller (»Zi-betkatze«, Familie der Schleichkatzen), dem SARS-Coronavirus ähnliche Viren gefunden(Preiser 2004). In China werden eine Reihe von Wildtieren auf Märkten verkauft und geltenals Delikatesse. Epidemiologische Untersuchungen zu SARS ergaben, dass die frühen Fällevon SARS sehr häufig bei Personen auftraten, die direkten Kontakt zu wilden Tieren hatten.Dazu zählen insbesondere Tierhändler und Köche (Breiman u.a. 2003). Solange es bei denTieren verblieb, war das Virus in Bezug auf den Menschen völlig folgenlos. Als jedoch dasVirus die Artgrenze überschritt und mit dem menschlichen Organismus zusammenkam, ent-wickelte sich das Risiko der pandemischen Ausbreitung einer neuartigen und lebensbedroh-lichen Krankheit. Die Übertragung des Erregers vom Tier zum Menschen wurde durch einensehr engen Kontakt zwischen Mensch und Tier bewirkt.

Für den menschlichen Organismus stellt das Virus einen Fremdkörper dar, worauf das Im-munsystem reagiert und als Abwehrreaktion schwerwiegende Erkrankungen verursachenkann. Das würde zunächst einmal nur bedeuten, dass das Virus den Menschen mehr oder we-niger krank macht. Das Virus ist aber darauf angewiesen weitergegeben zu werden, um sichzu replizieren. Viren sind aus diesem Grund hochanpassungsfähig. Das SARS-Virus hat sichbeim Übertreten vom Tier zum Menschen so verändert, dass es unabhängig von seinem Ur-sprungsreservoir existieren kann, indem es sich durch eine Weitergabe von Mensch zuMensch repliziert. Die Gefahr einer pandemischen Ausbreitung von SARS ergab sich ausdieser Mutation des Virus und der damit verbundenen Möglichkeit der Weitergabe des Virusvon Mensch zu Mensch in einer hochmobilen und globalisierten Welt – mit und ohne dessenexplizite soziale Wahrnehmung.

Was zeichnet das Virus aus? Wir behaupten nun, dass es dessen Fähigkeit ist, Heterogeni-tät, d.h. Ungleichartigkeit zu erkennen und für das eigene Sein zu übersetzen. Die Praxis desVirus, sich zu erhalten und auszubreiten, anerkennt dabei Uneinheitlichkeit und gebrauchtdie dadurch entstehenden Veränderungen (Virion) zur Stabilisierung des eigenen Seins undTuns. Viren müssen das Andere (z.B. die Zelle) ›begehren‹, um das sein zu können, was siesind. Darin ist ihre Virulenz zu sehen. Virulenz ist somit von der Praxis der Anerkennungdes Anderen nicht zu trennen. Die prekäre Folge dieser Praxis besteht darin, dass das Virusdadurch aber immer auch den Kosmos, d.h. die Ordnung seiner selbst und die der anderenverändert. So verstanden, artikuliert sich durch die viröse Infektion menschlicher Körper dieMacht von SARS als kosmo-politisches Ereignis und dem damit verbundenen Risiko6 einer

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epidemischen oder gar pandemischen Ausbreitung mit unvorhersehbaren Folgen fürmenschliches Leben und gesellschaftliche Organisation.

Dies ist jedoch nur möglich, wenn das Virus sich in Zirkulation, in Bewegung befindetund ganz bestimmte, hoch idiosynkratische Wege der Ausbreitung nutzen kann. Es brauchtein drittes Element, um das zu tun.7 Bei SARS erfolgt sowohl das Andocken im Körperselbst, als auch von Mensch zu Mensch durch bestimmte Körperbauteile (Rezeptoren) undFlüssigkeiten (Rachentröpfchen). Die Folgen der Zirkulation von SARS übersetzen sichdann in sozialen Kommunikationen über SARS, die wiederum andere Strategien und Tech-nologien der Verbreitung von SARS (medizinisch, massenmedial, wissenschaftlich etc.) zurFolge haben. Damit können sich auch die Ziele der jeweiligen Strategien radikal ändern.War es zunächst die soziale Fähigkeit des Virus sich fortzupflanzen, ist es nun die sozio-technische Kommunikation über SARS dies zu verhindern.

Um das Virus zu identifizieren, wurden transnationale Netzwerke ins Leben gerufen, dieeine sichere website benutzten:

»…to post electron microscopic pictures of candidate viruses, sequences of genetic mate-rial for virus identification and characterization, descriptions of experiments, and results.The well-guarded secret techniques that give each laboratory its competitive edge have beenimmediately and openly shared with others. Laboratories also quickly exchange varioussamples from patients and postmortem tissues. These arrangements have allowed the analy-sis of samples from the same patient simultaneously in several laboratories specialized indifferent approaches, with the results shared in real time. This collaboration has resulted inthe identification of the suspected causative agent, and the development of three diagnostictests, which unprecedented speed.« (WHO 2003b: 8)

Die Fähigkeit, durch Zirkulation Stabilität und Wandel zu initiieren, dabei einerseits hete-rogene Elemente zu verknüpfen, sichtbar zu machen als auch neu zu begründen und anderer-seits damit ganz bestimmte gesellschaftliche (menschlich und nicht-menschliche, soziale undnicht-soziale) Zusammenhänge und Bedingungen wichtig und/oder unwichtig, präsent und/oder absent, sicher und/oder unsicher, lokal und/oder global erscheinen zu lassen, haben wirmit dem Begriff Akteur-Netzwerk beschrieben.

Verstanden als Akteur-Netzwerk ist die gesellschaftliche Bedeutsamkeit von SARS fürMenschen nicht unabhängig von der Virulenz eines nicht-menschlichen Erregers zu denken(van Loon 2002). Die Möglichkeit einer weltweiten Ausbreitung war dabei in der Praxis derVermehrung des Virus selbst, also in der Form lokaler, nicht-sozialer Infektionen angelegt.Die Zirkulation des Virus verband dann zunächst Tierkörper und menschliche Körper. Die

6) SARS war zu keiner Zeit ein kosmopolitischer Akteur im Sinne des medizinischen Diskurses. Dieswürde eine tatsächliche globale Verbreitung voraussetzen. Die Besonderheit von SARS lag in demRisiko, d.h. der Virtualität, sich global auszubreiten und hat gerade dadurch unsere gesellschaftlichenRoutinen erschüttert und verändert.

7) Das wohl bekannteste gesellschaftswirksame Beispiel eines dritten Elements – ›Geld‹ – hat GeorgSimmel bereits in seiner »Philosophie des Geldes« (Simmel 1989) entfaltet. Geld wird von Simmelals »wesenloses Wesen« (Simmel 1989: 691) bedeutsam, das als zirkulierendes Mittel die »Bedingt-heit der Dinge« (Simmel 1989: 120) ausmacht. Als ›absolute Zwischeninstanz‹, als eben ›dritte In-stanz‹ erlaubt Geld soziale Praxis, welche mehr ist »als ein privater Vorgang zwischen zweiIndividuen, der völlig in den individuellen Aktionen und Gegenreaktionen dieser beschlossen liegt«(Simmel 1989: 213). Ganz im Sinne eines Akteur-Netzwerkes lassen sich Subjekte, Objekte, Dingedann nur »in Beziehungen und Prozesse« denken, als »eine auf- oder absteigende Reihe, in der jedesGlied von einem anderen abhängt und ein drittes von sich abhängen lässt: das mag inbezug auf räum-liche Anordnung, auf kausale Energieübertragung, auf zeitliche Folge, auf logische Ableitung statt-finden« (Simmel 1989: 120, Hervorhebung im Original).

Kosmo-politische Ereignisse. Zur sozialen Topologie von SARS 339

Folge der Zoonose, also des Übergangs des Virus vom Tier zum Menschen, lag in der Evolu-tion des Virus: Es entstand ein ontologisch neues Virus, das nun sowohl Bausteine des tieri-schen als auch des menschlichen Organismus enthielt. Die Veränderung des Virus wirddurch die generell hochgradige Anpassungsfähigkeit von Viren möglich: Durch die Anpas-sung an seine Umwelt kann das Virus seine Lebensbedingungen aufrechterhalten und verän-dert damit sich und seine Umwelt.

Die soziale Relevanz für menschliche Gesellschaften erlangte SARS als zirkulierendes,heterogenes Akteur-Netzwerk von Viren und Zellen, Menschen und Tieren, Menschen undTechnologien. Das Risiko der globalen Ausbreitung von SARS lässt sich also gesellschafts-wissenschaftlich nicht allein durch Zirkulation symbolischer Medien der Kommunikationbeschreiben, wie es der soziologische mainstream haben will. Es ist nicht nur die Kommuni-kation über SARS, sondern es ist SARS als handlungsmächtiges Akteur-Netzwerk, das ge-sellschaftliche Relevanz und gesellschaftlichen Wandel generiert.8 Damit werden aus reinensozialen Tatsachen, die sich nur sozial erklären lassen, heterogene und individuelle kosmo-politische Ereignisse der Verknüpfung menschlicher und nicht-menschlicher, sozialer undnicht-sozialer Einheiten, die ›das Soziale‹ in Frage stellen und damit offen und begründungs-pflichtig erscheinen lassen. Akteure initiieren Netzwerke und Netzwerke Akteure: Akteuresind, d.h. sie ereignen sich als Akteur-Netzwerke.

Die Folgen solcher Netzwerke können hochgradig kontingent und widersprüchlich sein,wie man an der Virulenz der SARS-Netzwerke deutlich erkennen kann: So können Tier-Vi-ren, die hochanschlussfähige Übersetzungsagenten darstellen, je nach Vermittlung für denmenschlichen Organismus ungefährlich bleiben oder aber gefährliche Viren und kranke odergar lebensbedrohte Körper produzieren und damit die Routinen menschlicher Organisationradikal in Frage stellen. Gleichzeitig wird dieses ursprüngliche SARS-Netzwerk in eineVielzahl von – lokalen, regionalen, nationalen und transnationalen – sozio-technischen, bio-medizinischen, wissenschaftlichen, massenmedialen Netzwerken etc. übersetzt.

Trotz ihres ereignislogischen, operationalen Charakters unterscheiden sich Akteur-Netz-werke deutlich von rein sozialen Ereignissen der Kommunikation (Luhmann 1986). Für sozi-alkonstruktivistische Beobachtertheorien, d.h. solche Ansätze, die die Zirkularität und Refle-xivität von Beobachtungen von Beobachtungen ins Zentrum stellen, erscheint Sozialität alseine selbstreferentielle Operation in Differenz zum Nicht-Sozialen (Luhmann 1992; 1997).Hingegen rückt bei Akteur-Netzwerken Heterogenität, d.h. die Verknüpfung von Sozialemund Nicht-Sozialem ins Zentrum des Interesses. Dadurch wird gesellschaftlich wirksam, wasbeobachtungstheoretisch notwendigerweise im Dunkeln bleibt: Materialität, Natur, Menschen,Subjekte, Objekte, Körper und Sinne werden als heterogene Akteur-Netzwerke sichtbar.

Das Konzept ›Akteur-Netzwerk‹ bricht mit der Durkheimschen Tradition, Soziales durchSoziales zu erklären, dadurch, dass gesellschaftliche Komplexität als emergierendes Phäno-men zwar erhalten bleibt, die Kontingenz des Sozialen jedoch als Modus der Heterogenitätsozialer Wirklichkeit und nicht als Modus der Differenz zu den nicht-sozialen Objekten aner-kannt wird. Demnach ist ›das Soziale‹ topologisch konzipiert – egal, ob es sich in menschli-chen oder nicht-menschlichen Gesellschaften artikuliert – nicht ein »place, a thing, a domain,or a kind of stuff but a provisional movement of new associations« (Latour 2005: 238). Unsermethodisches Ziel ist dann auch nicht, sich von Subjekt und Objekt, von körperlichen Men-schen und stofflichen Dingen gleichermaßen zu emanzipieren, wie das Beobachtertheorientun. Sprechen wir von Subjekten und Objekten oder von Menschen und Dingen, dann als zeit-lich-räumlich kontingente und heterogene Akteur-Netzwerke, also von Ereignissen, die das

8) Innerhalb der STS-Forschung wurde die Komplexität solcher heterogener Zusammenhänge bereitseindringlich beforscht (Callon 1998; Latour 1990; Law 1991; Law/Hassard 1999; Law/Mol 2002).

340 Michael Schillmeier und Wiebke Pohler

Soziale in seiner Erklärungsbedürftigkeit und Fragwürdigkeit erst sichtbar machen. Als Ak-teur-Netzwerk wird SARS für menschliche Gesellschaften virulent, sobald es die Ordnungs-mechanismen menschlichen Lebens und menschlicher Sozialität in Frage stellt und auch ver-ändert. Akteur-Netzwerke erwirken die Bedingung der Möglichkeit von Kosmo-Politik.9

4. SARS als kosmo-politisches Ereignis

Die ›heiße Phase‹ der Ausbreitung von SARS ist zunächst dadurch charakterisiert, dass we-der die Erkrankung selbst noch deren Ursprung oder mögliche Evolution bekannt waren. Soschreibt die kanadische Medscape Medical News:

»At the beginning of the outbreak, our biggest problem was our inability to recognizewhen a patient had SARS and our lack of understanding as to how SARS spread. This led tothe spread of SARS throughout various hospitals. In particular, the transfer of unrecognizedSARS patients between hospitals with resulting staff exposure was a major problem. (…) Ithink the problem initially was that it wasn’t clear how far SARS had spread through thehealth care setting. (…) It was difficult to know at the time that the illness was not contained…« (Medscape Medical News, 13 April, 2003).

Dies hatte zur Folge, dass sich insbesondere Krankenhauspersonal – also Ärzte und Pfle-gekräfte – in großer Zahl infizierten und damit entscheidend an der Migration von SARS be-teiligt waren. Es war zu Beginn des Ausbruchs die Unbekanntheit einer neuartigen Krank-heit, die eine schnelle Ausbreitung von SARS entlang internationaler Flugrouten möglichmachte. Damit verband sich dann auch das Risiko der pandemischen Ausbreitung einer zu-nächst atypischen und unbekannten, schweren Atemwegserkrankung.

Es kam nun darauf an, eine direkte Verbindung lokaler (interaktiver und organisatori-scher), trans-lokaler (staatlicher) als auch transnationaler (WHO) Handlungszusammenhän-ge zu etablieren, um eine weitere Ausbreitung von SARS zu verhindern. Dies zog sehr unter-schiedliche und teils hoch ambivalente soziale Effekte nach sich. In allen (!) betroffenenLändern wurde in der Anfangsphase von SARS der desolate Zustand des öffentlichen Ge-sundheitssystems sichtbar: So gab es bspw. in nah beieinander liegenden Krankenhäuserneine Vielzahl von Infizierten, aufgrund von fehlenden Diagnoseverfahren, Erfassungssyste-men und Meldestrukturen konnten jedoch keine Zusammenhänge zwischen diesen Fällenhergestellt werden. Auf diese Weise konnte sich die Krankheit dann in den Gesundheitsein-richtungen sehr schnell und unbemerkt ausbreiten. Krankenhäuser wurden zu hoch-virulen-ten Akteur-Netzwerken und es kam zur Schließung von Krankenhäusern, da sie eben eine zugroße Gefahr für die öffentliche Gesundheit darstellten. Erst in der Zusammenarbeit mit derWHO konnten die entsprechenden Kontroll- und Meldesysteme installiert werden. Im Zugeder Bemühungen um die Eindämmung der Krankheit etablierte sich eine enge Zusammenar-beit mit den regionalen, nationalen und internationalen Gesundheitseinrichtungen. Dies er-laubte ein flächenübergreifendes Übersetzungsnetz von Informationen und so konnten sichdann auch lebenswichtige Schutzmaßnahmen (bspw. das Tragen von Mundschutz) wirksamdurchsetzen und angewendet werden.

Wie entscheidend diese netzwerkartigen Formen der Zusammenarbeit für die Eindäm-mung einer zirkulierenden und virösen Krankheit waren, zeigt die Anfangsphase der Aus-breitung von SARS in China ganz deutlich. Die anfängliche Verweigerung der chinesischenRegierung einer Kooperation mit den internationalen Gesundheitsorganisationen führte da-zu, dass lebensrettende Maßnahmen ausblieben und die Zahl der Infizierten auf drastische

9) Akteur-Netzwerke sind immer dann nicht kosmo-politisch, wann immer sie gesellschaftliche Ord-nungsmechanismen unhinterfragt lassen.

Kosmo-politische Ereignisse. Zur sozialen Topologie von SARS 341

Weise anstieg. Aufgrund fehlender Informationsstrukturen unterschätzte die chinesische Re-gierung sehr lange das Ausmaß der Ausbreitung der Krankheit. Erst der Druck der durchSARS verknüpften internationalen Solidargemeinschaft hat China zum Handeln bewegt.

Der Umgang mit dem Risiko einer globalen Ausbreitung von SARS zog dann auch sehrdrastische Maßnahmen nach sich: dazu zählt bspw. eine radikale Einschränkung von Frei-heitsrechten, indem Flugzeuge oder ganze Häuserblocks (z.B. die Wohnanlage ›Amoy-Gar-dens‹ in Hongkong) unter Quarantäne gestellt und Menschen in Turnhallen isoliert wurden.Schulen wurden geschlossen und öffentliche Plätze gesperrt. Die Verletzung solcher Anord-nungen wurde in China gar mit der Androhung der Todesstrafe durchgesetzt.

Die WHO sprach erstmals in ihrer Geschichte eine Reisewarnung aus. Dies bedeutetenicht nur hohe wirtschaftliche Verluste für Reiseunternehmen und die Tourismus-Branche.Die Möglichkeit des schnellen Ortswechsels durch Züge und Flugzeuge barg in Verbindungmit SARS immer auch die Gefahr einer Ausbreitung der Krankheit in sich – auch über Län-dergrenzen hinweg. Um die Ein- und Ausreise möglicher SARS-Infizierter kontrollieren zukönnen, kamen an Flughäfen aufwendige Screening-Verfahren zum Einsatz, um die Körper-temperatur10 der Passagiere zu registrieren. Entgegen der üblichen Routine an Flughäfen, woder Besitz der nötigen Reisepapiere die Ein- und Ausreise regelt, war es also im Falle vonSARS in erster Linie die Körpertemperatur, die darüber entschied, ob man frei-reisender citi-zen war und ein Flugzeug besteigen durfte oder nicht. Die Reisewarnung der WHO hatte zu-dem zur Folge, dass asiatische Unternehmen ihre ausländischen Mitarbeiter in ihre Heimat-länder zurückschicken mussten. Hier stand die Gesundheit der Angestellten im Zentrum desInteresses für unternehmerische Entscheidungen.

Ebenso hat sich die wissenschaftliche Praxis im Umgang mit SARS verändert. Hier stan-den nicht länger die Exklusivität und die Erstveröffentlichung von Daten im Vordergrund.Es war im Gegenteil der rege Ressourcenaustausch und die enge Zusammenarbeit einesweltweiten Labornetzwerkes, die zur schnellen Diagnose des Krankheitserregers und damitletztendlich auch zur Eindämmung der Krankheit beitrugen, indem entsprechende Verhal-tensregeln generiert wurden. Für die Medizin war für die Behandlung von Patienten die engeZusammenarbeit mit der Forschung von entscheidender Bedeutung. Aufgrund der Neuartig-keit der Krankheit war mit gewohnten Methoden eine Diagnose nicht möglich. Erst durchForschungsergebnisse, die den Krankheitserreger spezifizierten, konnten Diagnoseverfahrenmodifiziert und dann auch in eine wirksame Therapie umgesetzt werden.

Diese Beispiele im Umgang mit SARS machen deutlich, dass im Kontext der hohen, wennauch unsicheren Erwartbarkeit und Wahrscheinlichkeit pandemischer Auswirkungen die ge-sellschaftliche, funktional differenzierte Übersetzungsleistung von Folgen auf systeminterneEntscheidungsprozesse an ihre Grenzen gerät. Das meint nicht, dass Mechanismen funktio-naler Differenzierung verschwinden, sondern dass Problemdynamiken und Lösungsstrategi-en gesellschaftswirksam werden, die sich weder ohne noch allein mit Mitteln funktionalerDifferenzierung beschreiben lassen. Vielmehr macht die Ausbreitung von SARS die topolo-gische Komplexität gesellschaftlicher Problemlagen sichtbar, die zu translokalen, transregio-nalen und transnationalen Formen der wissenschaftlichen, politischen etc. Solidarität führte.Durch das Risiko einer globalen Ausbreitung von Ansteckungen und Erkrankungen mitmöglicher Todesfolge wird ein Virus zu einem hoch-virulenten Akteur-Netzwerk, dessenkonkrete Folgen die Grenzen der physiologischen und sozialen Organisation menschlicherGesellschaften fragwürdig erscheinen lassen und die Restrukturierung tradierter sozialerOrdnungszusammenhänge initiieren.

10) Plötzliches ansteigendes und hohes Fieber gehört zu signifikanten Symptomen von SARS (Rickertset al. 2003).

342 Michael Schillmeier und Wiebke Pohler

5. SARS und die Grenzen einer kosmopolitischen Soziologie

Ausgehend von unserem methodologischen Anliegen, die topologische Komplexität vonkosmo-politischen Ereignissen wie SARS zu benennen, haben wir SARS als Akteur-Netz-werk beschrieben: Netzwerke wie SARS benennen signifikante Akteure, die in der Entfal-tung ihrer topologischen Komplexität zur Kosmo-politisierung gesellschaftlicher Wirklich-keitsbezüge und Ordnungskalküle beitragen. Dies entspricht zunächst auch der Motivationneuerer, kosmopolitisch ausgerichteter, soziologischer Perspektiven, die sich methodischund theoretisch jenseits einer territorialen »Container-Perspektive« zu verorten versuchen(Beck 2003; 2004a; 2004b). Die Real-Logik dieses Ansatzes besteht nun darin, dass, im Un-terschied zu einem normativen (philosophisch ausgelegten) Kosmopolitismus, ein empi-risch-analytischer (sozialwissenschaftlich ausgelegter) kosmopolitischer Blick die real-exis-tierenden globalen Dynamiken erfassen soll. Letzterer ist Ausdruck von institutionalisierterkosmopolitischer Reflexivität, d.h. einerseits der kritische Selbstbezug moderner Prozesseund andererseits das Bewusstwerden, die Erfahrung und Wahrnehmung individueller, sozia-ler und politischer Phänomene als globale Problemlagen und Zusammenhänge.

Aus einer kosmopolitischen Perspektive wäre SARS ein kosmopolitischer Akteur, sobalddessen Folgen global reflektiert werden und sie global lokale gesellschaftliche Auswirkun-gen haben. Im Sinne Becks sind die Folgen von Ereignissen wie SARS dann kosmopolitisch,sobald sie einen »institutionalisierten Kosmopolitismus« (Beck/Sznaider 2006) anzetteln,der die Lokalität globaler gesellschaftlicher Dynamiken und Problemlagen reflektiert undjenseits des Nationalstaates institutionell bearbeitet. SARS ist symptomatisch für eine »inne-re Kosmopolitisierung« (Beck 2002). Innere Kosmopolitisierung konstituiert sich aus der so-zialen Logik der (Risiko-) Wahrnehmung der Folgen sozialer Praxis. Es ist der Umgang mit,die Wahrnehmung von und die Entscheidungen über SARS, die dessen Real-Logik bestim-men. Im Zuge innerer Kosmopolitisierung sind es also die Folgen der Wahrnehmung vonSARS, die SARS so gefährlich erscheinen lassen. Somit weicht SARS als konstitutive Ge-fahr eines ›Außen‹ der Immanenz ›innerer‹ Globalität einer weltrisikogesellschaftlichenWahrnehmungsdynamik, die kosmopolitisierte Praktiken auslöst (Beck 2002; 2005). Das ha-ben die antizipierten Folgen von SARS, wie die oben angeführten Beispiele zeigen, in derTat bewirkt: Es ist das Risiko, d.h. die Virtualität einer globalen SARS-Epidemie (und nichteine tatsächliche Pandemie!), welche Wissenschaft, Wirtschaft oder Politik in ihren lokalen,regionalen und nationalen Routinen irritiert und in Frage stellt. In Bezug auf die Gefahr einerweltweiten Ausbreitung von SARS werden die jeweiligen bestehenden Strategien in derKombination und Vernetzung vielfältiger Praktiken neu konstituiert.

Dennoch unterscheidet sich unser Verständnis von SARS als kosmo-politischem Ereignisdeutlich von den normativen Prämissen kosmopolitischer Soziologie im Sinne Becks. Letz-terer versteht Kosmopolitik als strukturellen Zwang selbsterzeugter (industriegesellschaftli-cher) Folgen, die dann eine ›cosmopolitan condition‹ (Beck/Sznaider 2006) heraufbeschwö-ren und die Bedeutung der »universellen Norm menschlicher Gleichheit« (Beck/Grande2004: 29) durchsetzen. Man ist nicht von Natur aus Kosmopolit, sondern man wird struktu-rell zum Kosmopoliten gemacht. Der Kosmopolit, so Beck, ist dann »sowohl Bürger desKosmos – Weltbürger – als auch Bürger der Polis – Stadt- und Staatsbürger« (ebd.). Der»kosmopolitische Blick« initiiert daraus »einen» Kosmos (›Welt‹), der durch den »orts-poly-gamen« Anderen (Beck 2004a) – den Welt- und Staat/Stadt-Bürger – politisiert und plurali-siert wird. Der darauf justierte kosmopolitische Blick des Sozialwissenschaftlers dient dabeials zentrales, öffentliches Sprachrohr des Kosmopolitischen.

Es ist gerade die Dialektik von Struktur und Handlung als Ausdruck von Kosmopolitisie-rung, welche methodologisch immer noch im Sinne klassischer globaler Soziologie gedachtist, indem diese

Kosmo-politische Ereignisse. Zur sozialen Topologie von SARS 343

(1) die Folgen von sozialer Praxis immer nur sozial erklären kann, und darüber hinaus

(2) die kosmopolitische Topologie einer öffentlichkeitsgenerierenden

Folgenlogik in die Anerkennung der sozial erwirkten universellen Gleichheit (der Anders-heit) des Menschen fließen lässt.

Die so heraufbeschworene Dialektik zwischen Universalismus und Partikularismus derBeckschen inneren Kosmopolitisierung unterliegt einem humanistisch geprägten Stil, der ge-rade die topologische Komplexität von Akteur-Netzwerken – als Verknüpfung von mensch-lichen und nicht-menschlichen wie auch sozialen und nicht-sozialen Einheiten – nicht in denBlick bekommt. Der kosmopolitische Andere ist der gute oder schlechte menschliche Bür-ger, der durch die globalen Folgen seines eigenen Tuns strukturell gezwungen wird, dieGrenzen seiner sozialen Handlungen neu zu überdenken und zu verändern. Dass Akteur-Netzwerke Menschen sind, ist in unserer Argumentation kosmo-politischer Ereignisse hinge-gen nur eine mögliche Artikulation topologischer Komplexität unter vielen.

SARS nun – so unsere These – stellt als kosmo-politisches Ereignis gerade die Idee voneiner ›inneren Kosmopolitisierung‹ in Frage, indem es zweierlei erkennen lässt:

(1) Die Folgen sozialer Praxis lassen sich nicht mehr allein sozial erklären, sondern stellendas ›Soziale‹ und ihre methodologische Begrenzung durch die klassische sozialwissenschaft-liche Beschreibung in Frage.

(2) Die Öffentlichkeitswirksamkeit von SARS ist nicht allein den Folgen der sozialen Risi-kowahrnehmung geschuldet, sondern verdankt sich der Handlungsmacht von Akteur-Netz-werken. Als solches wird SARS zu einem gesellschaftlich hochrelevanten Ereignis.

Strukturell erzwungener Kosmopolitismus ermöglicht das Vertrauen in die menschlicheAndersheit des Anderen als politischen Akteur. Durch Kosmopolitisierung sitzen wir alle –wie unterschiedlich wir auch sein mögen – im gleichen Boot. Mit dem Ergebnis, dass sichdie universelle Gleichheit der ›Menschen‹ nicht nur der Kosmopolitisierung auf unerklärteWeise entzieht, sondern sie auch in ihrer empirischen, politischen Rolle als ›Subjekte‹ oder›Kollektive‹ überschätzt. Demgegenüber werden nicht-menschliche Akteure, wie z.B.SARS, in ihrer politischen Handlungsmacht und Bedeutung deutlich unterschätzt. Hierscheint uns doch eher ein abstrakt bleibender, normativ-philosophischer und damit a-histori-scher, humanistischer Kosmopolitismus am Werk, als die Real-Logik einer empirisch-analy-tisch ausgelegten kosmopolitischen Sozialwissenschaft. Vielmehr komplettiert Becks Kos-mopolitismus die Normativität des Kantschen subjektiven Kosmopolitismus, indem erdiesen soziologisiert, d.h. als strukturell erzwungen beschreibt.

Das zentrale Moment der Beckschen Argumentation für die Wende hin zu einem ›metho-dologischen Kosmopolitismus› besteht darin, dass im Zuge der Folgen gesellschaftlicherModernisierung die Basis-Institutionen und Basis-Prämissen in Frage gestellt werden (Beck/Sznaider 2006). Verstehen wir Becks Anliegen richtig, dann zwingt dies methodologischzwar den Blick global, also jenseits des Containers des Nationalstaates auszurichten. Dieslässt aber das methodologische Basisprinzip klassischer Soziologie unhinterfragt, ›das Sozia-le‹ durch die Unterscheidung vom ›Nicht-Sozialen‹ zu bestimmen. Kosmopolitik beginnt inder Tat, wo die Unterscheidung zur Natur hinfällig wird (Beck 1986, 1993). Dies schließtaber die methodologisch erwirkte Natur des ›Sozialen‹ und seiner menschlichen Akteure mitein. Kosmo-politische Ereignisse stellen nicht nur die Methodologie des Sozialen klassischerSoziologie in Frage, sondern auch das Basisprinzip der Dialektik zwischen Handlung undStruktur eines ›methodologischen Kosmopolitismus‹ und dessen Universalisierung der An-dersheit menschlicher Gleichheit.

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Im Sinne Bruno Latours (1995; 2005) verweist der Becksche Kosmopolitismus auf einetypisch moderne Strategie, ›Mensch‹ wie ›Gesellschaft‹ als rein soziale Kollektive auszuwei-sen, die den Umgang mit, die Bedeutung von und den Unterschied zu nicht-menschlichenWesen und zur Natur bestimmen. Becks Dialektik spricht zwar von einer selbsthergestelltenrealen Struktur und ›objektiven Gefahrenlage‹, welche die kosmopolitische Dimension glo-bal ins Bewusstsein bringt. Aber ganz im Duktus klassischer soziologischer Methodologieist es an der Gesellschaft (im Gegensatz zur Natur) – sei es das menschliche Individuum oderKollektive (Organisationen, Institutionen) – dies zu erkennen und zu verändern. Dabei ver-gisst Beck die Übersetzungsleistungen zwischen Sozialem und Nicht-Sozialem, zwischenNatur und Kultur kosmo-politischer Ereignisse; d.h. die ständige Produktion von ›Mischwe-sen‹, ›Hybriden‹ oder eben ›Akteur-Netzwerken‹, welche die hoch-komplexen Dynamikender Vermittlung sozialer und nicht-sozialer Zusammenhänge, d.h. die Fabrikation von Natur/Kulturen, aktualisieren.

Die Wissenschaften sind für Latour das Paradebeispiel dafür, beides zu leisten: Natur undKultur zu mischen und diese daraufhin zu trennen, d.h. Natur vs. Kultur und Natur/Kultur zuproduzieren (Latour 1987; 1988; Stengers 1997). Auch im Falle der Identifizierung vonSARS waren die Praxen der Wissenschaften maßgeblich beteiligt, ›Natur‹ zirkulieren zu las-sen und damit in die Welt zu bringen, d.h. sozial anschlussfähig zu übersetzen, mit dem Ziel,die Ausbreitung des Virus einzudämmen. Als kosmo-politisches Ereignis hat SARS dazubeigetragen, wissenschaftliche Praxis und Routinen zu hinterfragen und jenseits lokaler undnationaler Grenzen in offene Vernetzungsstrategien einzubinden. Jenseits der Dialektik vonHandlung und Struktur werden dadurch Akteur-Netzwerke sichtbar, die menschliche undnicht-menschliche, soziale und nicht-soziale Einheiten verknüpfen und global zirkulierenlassen. Ein ›methodologischer Kosmopolitismus‹ trägt so eher zum Unsichtbarmachen vonsozial/nicht-sozialen Hybriden bei, gerade weil er die Normativität moderner Strategien denFolgen der Globalisierung aussetzt.

Das Charakteristikum einer modernen Perspektive besteht darin, dass man sich für dieeine (Gesellschaft) oder die andere Seite (Natur) der Trennung entscheiden kann. Sie be-nennt das soziologisch gut verstandene Grundphänomen der Kontingenz erstmoderner Zu-sammenhänge (Luhmann 1992; Nassehi 2003; Makropolus 2004). Dennoch bedeutet dieEntscheidung für die eine Seite (Gesellschaft) die Anerkennung von Modernität und die Ent-scheidung für die andere Seite (Natur) die Nicht-Anerkennung von Modernität. Das Wissendarüber, dass man sich für beide Seiten entscheiden kann, und die eine Seite dort beginnt, wosie sich von der anderen unterscheidet, wird als Basis-Prinzip der Trennung moderner vonnicht-moderner Praxis zu Grunde gelegt. Man kann gar nicht mehr anders als modern zusein, auch dann nicht, wenn der Mensch oder die Gesellschaft(en) sich gegen die Moderneentscheiden und sich und die Welt von Gott geschaffen oder von der Natur bestimmt erklä-ren, da man weiß, dass es der gesellschaftliche Mensch ist, der darüber entschieden hat. Da-mit begründet sich seit Berkeley und Kant der moderne Mensch als Beobachter seiner Naturund im soziologischen Diskurs ›das Soziale‹ als dessen gesellschaftliches Pendant. Versuchtman jedoch beide Dynamiken (Trennung, Vermittlung) als eben ein Akteur-Netzwerk zu-sammen zu denken, also Symmetrie zwischen Natur und Kultur zu gewähren, hört man auf,exklusiv modern zu sein. Man beschreibt Natur/Kulturen, führt Heterogenität ein und mar-kiert den Übergang in topologische Komplexität, die die Fabrikation von nicht-modernenMischwesen, von mediativen Akteur-Netzwerken wie SARS in gleicher Weise für die ge-sellschaftliche Praxis und ihre Beobachtungsstrategien bedenkt, wie dies die Komplexitätmoderner Kosmopolitik- und Kontingenzformeln tut.

Kosmo-politische Ereignisse. Zur sozialen Topologie von SARS 345

6. Kosmo-politische Topologie

In diesem Schlusskapitel wollen wir uns mit der topologischen Dimension des Begriffs derKosmo-Politik als Ereignis befassen. Am Beispiel der Migration von SARS haben wir ver-sucht, dessen topologische Bedeutung zu beschreiben. Der Zirkulation von SARS gelang es,eine Vielzahl von Akteur-Netzwerken sichtbar zu machen, die ›Lokalität‹ und ›Globalität‹als Folge lokaler Praxis ins Zentrum des Interesses stellen. Akteur-Netzwerke benennen ei-nen praktizierten Raum, der auf Versammlungen, auf Zusammenkünfte hinweist. Topolo-gisch gehaltvoll ist nicht der Raum, in dem etwas stattfindet, sondern umgekehrt, die Ver-sammlungen und Zusammenkünfte bestimmen die Besonderheiten, die Komplexität solcherAkteur-Netzwerke. Somit wird durch Akteur-Netzwerke sichtbar, dass das Lokale nicht lo-kal und das Globale nicht global ist. Das so verstandene Ereignen von Lokalität und Globali-tät als kontingente und heterogene Praxis benennt die Dis/Lokalisierung der Unterscheidunglokal vs. global. Damit wird sowohl der Kosmos des Lokalen als auch der des Globalen inFrage gestellt.

Hannah Arendt (1960; 1993) hat die Praxis solcher Dis/Lokalisierungen als immanent po-litischen, als öffentlichen Raum beschrieben. Dis/Lokalisierung meint bei Arendt, dass Men-schen sich versammeln und sich dadurch ihre individuelle, prä-politische Vielfalt und An-dersheit durch gemeinsame Praxis als politische Macht (Arendt 1993) aktualisiert. BeiArendt sind sowohl das Politische als auch Machtverhältnisse Errungenschaften vonmenschlicher Praxis, die den Menschen von seiner natürlichen Individualität in einen han-delnd-öffentlichen und somit politischen Raum transformiert. Damit wird der Mensch vomindividuellen prädisponierten Wesen zum Gemeinschaftswesen, das Öffentlichkeiten erzeugtund dadurch gesellschaftliche Gestaltungsspielräume und Veränderungspotentiale, also imArendtschen Sinne politische Freiräume durch Handeln aktualisiert. Der Arendtsche Politik-begriff ist bereits topologisch gedacht, da er sich nicht auf einen (euklidisch) abgegrenztenpolitischen Raum bezieht. Er umreißt vielmehr einen humanistisch konzipierten Kosmopoli-tismus, der immanent ereignislogisch angelegt ist, d.h. politischen Freiraum als menschli-ches Handeln, als Werden, als Ereignen von pluralen Öffentlichkeiten initiiert.

Damit ist bei Arendt Handeln an die »Grundbedingung der Natalität enger gebunden alsArbeiten und Herstellen.« Arbeiten und Herstellen komplettieren die vita activa der humancondition und bestimmen die »menschlichen Grundtätigkeiten« mit ihren korrespondieren-den »Grundbedingungen« und machen damit die »Bedingtheit des Menschen« aus. Währenddie Tätigkeit der Arbeit die Grundbedingungen des Lebens bestimmt, entspricht Herstellender Weltlichkeit, d.h. der »Angewiesenheit menschlicher Existenz auf Gegenständlichkeitund Objektivität« (Arendt 1960: 14). Demgegenüber meint Handeln und ihre Grundbedin-gung der Pluralität des Menschen die Tätigkeit, welche sich »ohne die Vermittlung von Ma-terie, Materialen und Dingen direkt zwischen Menschen abspielt« (ebd., Hervorhebung S/P).Bei Arendt umschreibt Handeln »die politische Tätigkeit par excellence«, so Arendt, und»bedarf einer Pluralität, in der zwar alle dasselbe sind, nämlich Menschen, aber dies auf diemerkwürdige Art und Weise, dass keiner dieser Menschen je einem anderen gleicht, der ein-mal gelebt hat oder lebt und leben wird« (ebd.: 15f).

Arendt hat deutlich erkannt, dass »(j)ede menschliche Tätigkeit (...) in einer Umgebungvon Dingen und Menschen« (Arendt 1960: 26) sich lokalisiert, sieht jedoch in der Koexis-tenz von Menschen alleine das machtvolle Ereignis des Politischen und damit die Möglich-keit, neu und anders anfangen zu können. Handeln im Arendtschen Sinne anerkennt zwar dieterra incognita unserer Tätigkeiten, d.h. das enge Verhältnis von biologischem Leben undtechnischer Konstruktion(en) mit menschlichem Handeln. Die kosmo-politische Dimensionder Arendtschen vita activa beschränkt sich aber auf das menschliche Handeln, das alleinig

346 Michael Schillmeier und Wiebke Pohler

imstande ist, bestehende Kosmologien, d.h. tradierte unhinterfragte soziale Ordnungszusam-menhänge zu politisieren und neu zu gestalten.

Interessanterweise ist der Arendtsche Handlungsbegriff normativ im Unterschied zur So-zialität konzipiert und so aus der Sicht sozialwissenschaftlicher Methodologie ganz und garnicht-modern konzipiert, da er politische Handlung außerhalb des Sozialen lokalisiert. Sozi-alität im Arendtschen Sinne meint die prä-politische Pluralität der Menschen. Sozialität er-möglicht zuallererst die Macht des politischen Diskurses, des sprachlichen Disputs, der sichaber dadurch in situ von Sozialität unterscheidet. Handeln politisiert Sozialität, es stellt Sozi-alität in Frage, anstatt in ihr aufzugehen, wie es die sozialwissenschaftliche Methodologiewill. Durch politische Praxis wird Sozialität dis/lokalisiert, es wird zum Ereignis. Das Sozia-le als politisiertes Ereignis »erleuchtet seine eigene Vergangenheit, aber es kann niemals ausihr abgeleitet werden« (Arendt in Kallscheuer 1993: 153).

In unserer bisherigen Diskussion hatten wir argumentiert, dass die methodologische Basis-unterscheidung ›sozial/nicht-sozial‹ sozialwissenschaftlicher Selbstbeschreibungen durchSARS fragwürdig wird und es sukzessive erlaubt, die topologische Komplexität in der Ver-knüpfung sozialer und nicht-sozialer Zusammenhänge zu sehen. Dadurch wird das Ende desSozialen als Einheit der Differenz sozial/nicht-sozial virulent und ermöglicht, die kontingen-ten und heterogenen Möglichkeitsräume gesellschaftlichen Wandels als multiples Akteur-Netzwerk-Ereignis zu beschreiben. Der Arendtsche kosmo-politische Handlungsbegriff kanndies ebenso leisten, erlaubt es jedoch nicht, den politischen Raum als komplexe Vermittlungvon menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren zu denken. Vielmehr wird ja gerade beiArendt ›Handeln‹ als rein menschliche (d.h. sprachliche) Tätigkeit beschrieben.

Unsere Diskussion jedoch zeigt, dass SARS die Basisunterscheidungen der Arendtschenvita activa ebenfalls korrumpiert. Im Zuge der Zirkulation von SARS politisiert sich Begriffund Praxis des Politischen selbst. Als Bedingungen des Kosmo-Politischen ist nun nichtmehr die Kantisch/Arendtsche/Becksche Pluralität des Menschen, sondern die Heterogenitätund Multiplizität menschlich/nicht-menschlicher Vermittler getreten. SARS ist hierfür nurein Beispiel, um auf die Heterogenität öffentlichkeits-generierender und öffentlichkeits-wirksamer Praxis kosmo-politischer Ereignisse zu verweisen, die jenseits der Dialektik vonHandlung und Struktur die topologische Komplexität von Natur/Kulturen entfalten.

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Michael Schillmeier, Ph.D.e-mail: [email protected]

Dipl.-Soz. Wiebke [email protected]

Ludwig-Maximilians-Universität MünchenInstitut für Soziologie

Konradstraße 680801 München

Soziale Welt 57 (2006), S. 351 – 371

Moderne Leistungssteuerung und Anomie.

Eine konzeptionelle und indizienbasierte Analyse aktueller Entwicklungen in Organisationen

Von Gabriele Faßauer und Frank Schirmer

Zusammenfassung: Im Beitrag wird eine kritische Perspektive auf moderne Leistungssteue-rungssysteme und ihre zunehmende Ergebnisorientierung entwickelt. Insbesondere wird die Be-deutung des normativen Kontextes der Leistungssteuerung in Organisationen analysiert und ge-würdigt. Anomische Tendenzen in Organisationen gehören in diesem Zusammenhang zu dennicht intendierten und bislang auch zu wenig beachteten Effekten ergebnisorientierter Leistungs-steuerung. Unter Anomie wird dabei die schwache Wirksamkeit der formal vorgegebenen bzw.implizierten, neuen Normen des Leistungsvollzuges verstanden. Unsere zentrale These ist, dassdie häufig diskrepante Gestaltung moderner Leistungssteuerung anomische Tendenzen in Organi-sationen hervorrufen kann. Im Beitrag werden verschiedene Formen dieser Diskrepanz aufgezeigtund aus anomietheoretischer Perspektive die Reaktionsweisen der Organisationsmitglieder analy-siert. Es wird festgestellt, dass die zunehmend ergebnisorientierte Leistungssteuerung die Gefahrbirgt, notwendige organisationale Voraussetzungen des Leistungsvollzuges zu untergraben undlängerfristig zu einer normativen Destabilisierung von Organisationen zu führen.

1. Problemaufriss

Gegenwärtig lassen sich in erwerbswirtschaftlichen und öffentlichen Organisationen wesent-liche Veränderungen bei der Steuerung menschlicher Leistung verzeichnen. In der soziologi-schen Fachdiskussion werden diese Veränderungen z.B. unter Stichworten wie Dezentrali-sierung (z.B. Faust 1995 et al.; Faust et al. 2000), Vermarktlichung (z.B. Voswinkel 2005),Subjektivierung (z.B. Moldaschl/Voß 2002) oder aus der Perspektive einer sich womöglichwandelnden sozialen Sinngebung von »Leistung« (z.B. Neckel/Dröge 2002; Neckel/Dröge/Somm 2004) thematisiert.

Die Steuerung der Leistung von Organisationsmitgliedern bedeutet stark vereinfacht dieAusrichtung ihrer Verhaltens- und Handlungsweisen an den Zielen der Organisation und ih-ren Teileinheiten. Aus personalwirtschaftlicher Perspektive kann dies indirekt durch die Ge-staltung von Steuerungssystemen oder direkt, durch personale Führung erreicht werden (vgl.Berthel/Becker 2003). Dabei bieten sich im Grundsatz drei verschiedene Ansatzpunkte, umdas Verhalten direkt oder indirekt zu steuern: erstens, das Anstrengungs-/Motivationsniveauder Leistungsträger; zweitens, Prozesse des Leistungsvollzuges selbst; drittens, die tatsäch-lich erbrachten Leistungsergebnisse des Leistungsvollzuges.

Steuerungswirkungen auf der Anstrengungs-/Motivationsebene von Organisationsmitglie-dern sowie Formen der Steuerung über Leistungsergebnisse werden im deutschsprachigenRaum insbesondere von der betriebswirtschaftlichen Forschung behandelt (vgl. die Über-sicht von Weibler/Wald 2004). Demgegenüber werden wir uns im vorliegenden Beitrag mitProblemen der Steuerung des Leistungsvollzuges befassen, wobei wir besonders den norma-tiven Kontext der Leistungssteuerung in Organisationen ins Blickfeld rücken wollen.

In diesem Zusammenhang ist zu beobachten, dass moderne Systeme zur Steuerung desLeistungsvollzuges typischerweise ergebnisorientierte, oft an Formalzielen ausgerichteteAnsätze sind (vgl. z.B. Picot/Böhme 1999; grundlegend Locke/Latham 1990). Häufig wer-den bewusst organisationale Vorgaben reduziert, wie die Leistung zu erbringen ist. Individu-elle Leistung wird zunehmend vom Ende der betrieblichen Wertschöpfungskette her defi-

352 Gabriele Faßauer und Frank Schirmer

niert und bewertet. Dabei zählt allein das, was zu erbringen ist (gefordertes Leistungsziel)bzw. erbracht wurde (tatsächliches Leistungsergebnis, z.B. unternehmerische Wertsteige-rungsraten, Kundenzufriedenheit). Diese Fokussierung der Leistungssteuerung auf markt-lich bestimmte Ziele und Leistungsergebnisse wird auch als »Finalisierung« bezeichnet (vgl.Bahnmüller 2001).

Die Finalisierung der Leistungssteuerung wird im Folgenden aus anomietheoretischer Per-spektive interpretiert. Unter Anomie begreifen wir die schwache Wirksamkeit der für denLeistungsvollzug neu vorgegebenen bzw. implizierten Normen. Unter Normen verstehen wirin diesem Zusammenhang explizit gemachte Verhaltensregeln und Verhaltensstandards desLeistungsvollzuges. Soziale Normen in diesem Sinne ermöglichen stabile und verlässlicheHandlungswiederholungen, sie fördern wechselseitige Handlungserwartungen und trageninsgesamt zur Stabilität und (Transaktionskosten-)Effizienz von Organisationen bei (vgl. zu-sammenfassend Stock 2004; grundlegend z.B. Parsons 1986). Die Normenschwäche durchneue Leistungssteuerung resultiert dabei aus ihrer häufig diskrepanten Gestaltung, wenigeraus dem Wegfall von Normen. Bei diesen Diskrepanzen handelt es sich z.B. um die Vorgabewidersprüchlicher oder interpretationsbedürftiger Normen des Leistungsvollzuges. Darüberhinaus können auch faktische Gründe, etwa die mangelhafte Ressourcenausstattung, der Ein-haltung einer Norm entgegenstehen.

Konzeptionell und empirisch sollen diese Tendenzen analysiert und potentielle Effekte fürden Vollzug der Leistung und die Funktionsweise von Organisation als Ganzes ausgelotetwerden. Damit lenken wir die Aufmerksamkeit auf normative Bedingungen eines effizientenLeistungsvollzuges und die entsprechende Steuerung des Leistungsprozesses. Für die Rele-vanz dieses Zugriffs lassen sich mehrere Gründe anführen:

• Die empirische Arbeits- und Organisationsforschung zeigt in einer Vielzahl von Studien,dass soziale Normen relevant sind für die Steuerung und den stabilen, verlässlichen Vollzugvon Leistung (vgl. zusammenfassend Stock 2004). Die modernisierte Steuerung von Leis-tungsprozessen hat aber nicht nur positive Folgen (vgl. z.B. Moldaschl/Voß 2002; Sauer2005). Es erscheint lohnend, die potentielle Wirksamkeitsschwäche von Normen als eineUrsache dieser ambivalenten Folgen zu untersuchen.

• Werden so elementare Normen wie die der Leistungssteuerung geschwächt, dürfte diesnicht ohne Folgen für die Funktionsweise der Organisation als Ganzes sein. Der ebenenü-bergreifende Zusammenhang zwischen individueller Leistungssteuerung, Normen-schwäche und Bedingungen der Effizienz von Organisationen als Ganzes (z.B. eine Balancevon Zielerreichung, Anpassungsfähigkeit und Erhaltung der Sozialstruktur) findet u. E. zuwenig Beachtung.

• Die Analyse moderner Leistungssteuerung aus einer organisationstheoretischen, normen-zentrierten Perspektive legt mögliche dysfunktionale Folgen dieser Leistungssteuerung of-fen, die aus Sicht von individualistischen, vor allem auch agenturtheoretischen Analysenbislang verborgen geblieben sind (vgl. kritisch auch Osterloh/Frey 2005).

Die Untersuchung der Schwächung von Normen des Leistungsprozesses und ihrer potenti-ellen Konsequenzen stützt sich im Folgenden auf anomietheoretische Überlegungen, die inder Soziologie und Organisationstheorie entwickelt worden sind. Um Missverständnissenvorzubeugen: mit der Wahl des Anomiekonzeptes wird keine Wiederbelebung soziologi-scher und organisationstheoretischer, strukturfunktionalistischer Theorietraditionen der 50erund 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts angestrebt (vgl. zusammenfassend Astley/vanden Ven 1983; Joas/Knöbl 2004). Deren einseitige Fixierung auf die (Erklärung von) Stabili-tät sozialer Ordnungsmuster und ihre ausgeprägte Akteursvergessenheit sind treffend kriti-siert worden (u.a. von Giddens 1988) und werden hier nicht wiederholt. Vielmehr wollen wir

Moderne Leistungssteuerung und Anomie 353

ein gewisses Ausmaß anomischer Tendenzen als Zeichen der Lebens- und Wandlungsfähig-keit von Organisationen interpretieren und uns damit von allzu einseitigen, stabilitätsfixier-ten Lesarten abgrenzen.

Die anomietheoretische Konzeption wird als analytisches Instrument verstanden, das eineFolie bietet, moderne Leistungssteuerung aus einer institutionellen Perspektive zu analysie-ren und auf ihre Konsequenzen hin zu überprüfen:

• Die diversen Arten des Normenwandels, der Normbrüche und –diskrepanzen können kon-zeptionell systematisiert und ihre spezifischen Wirkungen analysiert werden.

• Es ist unrealistisch anzunehmen, dass alle Akteure in gleicher Weise auf Normwandel rea-gieren. Mit dem hier vorgestellten Konzept der »Reaktionstypen« auf Normwandel nachMerton (1975) wird auch eine empirisch brauchbare Systematisierung angeboten, um un-terschiedliche Reaktionen von Akteuren und die Wirkungen ihres Handelns in Organisati-onen zu erfassen.

• Die Folgen neuer Leistungssteuerungskonzepte können für die Beschäftigten sehr ambiva-lent sein (z.B. Moldaschl/Voß 2002; Sauer 2005). »Mehr Druck durch mehr Freiheit« (Gliß-mann/Peters 2001) bringt ein wesentliches Dilemma auf den Punkt. Um ein Verständnis fürdie Ursachen zu entwickeln, hilft aus anomietheoretischer Sicht sowohl die systematischeAnalyse der Diskrepanzen in Normenstrukturen als auch die Analyse der Reaktionstypenauf Normenwandel.

In dieser Form können anomietheoretische Überlegungen eine neue Facette in der kriti-schen Betrachtung moderner Leistungssteuerung, damit zusammenhängender Dezentralisie-rung bzw. der ambivalenten Wirkung von wachsender Autonomie am Arbeitsplatz aufzei-gen.

Der Gang der Argumentation ist wie folgt aufgebaut: Zunächst werden die wesentlichen,für unsere Fragestellung relevanten Aspekte der Anomietheorie in der Tradition von EmileDurkheim und Robert K. Merton vorgestellt. Anschließend wird die aktuell zu beobachtendeFinalisierung der Leistungssteuerung in Organisationen aus einer anomietheoretischen Pers-pektive analysiert. Auf Basis empirischer Indizien hinsichtlich aktueller Trends der Leis-tungssteuerung in Organisationen sowie konzeptioneller Überlegungen werden vier ver-schiedene Formen der diskrepanten Gestaltung neuer Leistungssteuerungssysteme extrahiert.Hieran anschließend werden gemäß Mertons anomietheoretischem Ansatz Überlegungen zupotentiell auftretenden Reaktionen der betroffenen Organisationsmitglieder angestellt. Eswird versucht, diese konzeptionellen Überlegungen durch Erkenntnisse aus anderen empiri-schen Studien zu illustrieren. Dabei werden die aus je anderen Forschungskontexten stam-menden und aus anderer Deutungsperspektive interpretierten Daten soweit möglich aus ano-mietheoretischer Perspektive gelesen - gleichsam eine qualitative Metaanalyse. Es ist nichtdie Absicht, die ursprünglichen Interpretationen in Frage zu stellen. Vielmehr soll die Dis-kussion der Leistungssteuerung um eine bedeutsame Facette erweitert werden. Im Anschlusswird der Fokus auf möglicherweise dysfunktionale Effekte finalisierter Leistungssteuerunggelenkt. Abschließend wird der ebenenübergreifende Zusammenhang zwischen finalisierterLeistungssteuerung, Normenschwäche und der Funktionsweise von Organisationen als Gan-zes diskutiert.

2. Grundlagen Anomie

Der Begriff der Anomie beschreibt allgemein einen Zustand der Regel- bzw. Normlosigkeit.Die sozialwissenschaftlichen Wurzeln der Anomietheorie liegen in den Arbeiten EmileDurkheims (1893;1897) sowie Robert K. Mertons (1938). Insbesondere Mertons Beitragüber »Sozialstruktur und Anomie« inspirierte zahlreiche Erweiterungen und kritische Dis-

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kussionen in der sozialwissenschaftlichen Fachwelt (vgl. zusammenfassend Fischer 1970;Dreitzel 1972; Bohle 1975; Lamnek 2001). So wurde der ursprünglich soziologische Begriffder Anomie z.B. auch zur Bezeichnung bestimmter psychischer Zustände verwendet bzw.als Merkmal personaler Charakterstrukturen erhoben (vgl. Srole 1956; McClosky/Schaar1956).

Passas und Agnew (1997) unterscheiden analytisch zwischen den Bereichen einer Makro-und einer Mikro- Anomietheorie. Die Makro-Theorie beschäftigt sich mit anomischen Zu-ständen von Gesellschaften bzw. sozialen Institutionen und nimmt somit die sozio-struktu-relle Seite in den Fokus. Die Mikro-Theorie untersucht die Erfahrungen und Reaktionen desIndividuums unter sozio-strukturell anomischen Bedingungen und betrachtet damit stärkerdie subjektive Seite. In Anbetracht des Gedankens der wechselseitigen Konstitution vonHandeln und Struktur (z.B. Giddens 1988) wird offensichtlich, dass es sich hierbei um eineanalytische Trennung handelt, die jedoch den Zugang zum Konzept der Anomie wesentlicherleichtert.

Im vorliegenden Beitrag wollen wir uns auf die Makro-Perspektive der Anomietheoriekonzentrieren, also eine institutionelle Perspektive einnehmen. Das bedeutet, dass die desta-bilisierende Wirkung der neuen Steuerungsmodelle auf bisherige Leistungsnormen in derOrganisation aufgezeigt und Vermutungen über die Auswirkungen auf die Funktionsweiseder Organisation als Ganzes formuliert werden sollen. Eine solche Untersuchung kommt na-türlich nicht umhin, auch die Mikro-Perspektive bzw. die Subjekt- oder Akteursebene in denBlick zu nehmen. Die Analyse wird jedoch nicht auf diese Ebene beschränkt bleiben. Siesetzt vielmehr an den derzeit zu beobachtenden, geplanten Veränderungen der normativenStruktur einer Organisation an und fragt danach, wie sich über die Mikro- bzw. SubjektebeneRückwirkungen auf eben jene Struktur ergeben. Demnach kennzeichnet der Begriff der Ano-mie in unserem Beitrag einen instabilen Zustand der Organisation als sozialer Institution undwird damit in seiner ursprünglichen, soziologischen Bedeutung begriffen.

Der grundlegende Ansatz der soziologischen Anomietheorie besteht in der Annahme, dasssich in stabilen sozialen Institutionen die Überzeugungen, Verhaltensweisen und Handlun-gen der Institutionsmitglieder notwendig an den entsprechenden institutionellen, also offizi-ell legitimen Normen orientieren. Fehlen solche Normen oder werden bisherige Normen ausfaktischen Gründen unbrauchbar besteht soziale Unsicherheit über anerkannte bzw. sozialintegrativ wirkende Verhaltens- und Handlungsweisen. Eine anomische Institution hat da-mit eine geringe Orientierungs- und Ordnungsfunktion für die Institutionsmitglieder und istin der Weise selbst instabil bzw. befindet sich in einem Wandelprozess. Merton (1975) spe-zifiziert diesen Gedanken, indem er zwischen institutionell vorgegeben bzw. legitimiertenZielen einer Institution und vorgegebenen Mitteln der Zielerreichung, also der Art und Wei-se zur Verwirklichung der Ziele, unterscheidet. Nach ihm befinden sich soziale Institutionenin einem anomischen Zustand, wenn Institutionsmitglieder eine geringe bzw. unausgegliche-ne Akzeptanz dieser Ziele und Mittel aufweisen. So führt nach Merton insbesondere die star-ke Betonung und soziale Akzeptanz institutionell vorgegebener Ziele (z.B. finanzieller Er-folg) bei gleichzeitig gering akzeptierten institutionellen Vorgaben hinsichtlich der zurZielerreichung anzuwendenden Mittel (z.B. Erwerbsarbeit) dazu, dass Institutionsmitglieder»abweichende«, mitunter die Institution schädigende Mittel (z.B. kriminelle Handlungen)anwenden, um die allgemein anerkannten Ziele zu erreichen. Die institutionellen Ziele undMittel werden gemäß Merton von der so genannten »kulturellen Struktur« der Institutionvorgegeben und kennzeichnen deren normative Ebene. Die Gründe für die geringe oder un-ausgeglichende Akzeptanz der kulturellen Struktur können unterschiedlich sein. Nach Mer-ton kann der schwache Wirkungsgrad kultureller Mittel insbesondere aus dem für Instituti-onsmitglieder beschränkten faktischen Zugang zu diesen Mitteln herrühren (z.B. durchbeschränkten Zugang zu Erwerbsarbeit) und liegt damit in der »Sozialstruktur« einer Institu-

Moderne Leistungssteuerung und Anomie 355

tion begründet. Institutionelle Anomie ist demnach das Ergebnis des Auseinanderklaffensvon allgemein verbindlichen, kulturellen Zielen und der sozialstrukturell determinierten Ver-teilung der legitimen Mittel, die zur Zielerreichung dienen sollen (vgl. Lamnek 2001, S.114). Eine solche Diskrepanz übt einen anomischen Druck auf die Institutionsmitglieder zurindividuellen Lösung dieses Konfliktes aus.

Vor diesem Hintergrund entwirft Merton verschiedene Reaktionstypen, die als Lösungdes anomischen Drucks denkbar wären und verlässt damit die Makroperspektive der Ano-mietheorie (vgl. Boudon/Bourricaud 1992, S. 30; Ortmann 2000, S. 76ff.; vgl. Abbildung 1).Die Reaktionstypen unterscheiden sich nach der jeweiligen situationsspezifischen Akzeptanzund Einhaltung von institutionellen Zielen und Mitteln und werden im Beitrag noch einge-hender erläutert. Auch wenn Mertons eigene Erklärungen zum genauen Zusammenhang voninstitutioneller Anomie und spezifischen Reaktionstypen wenig ausführlich sind1 kann dasAuftreten dieser Reaktionstypen in einer Institution als Resultat (vgl. Ortmann 2000, S. 85)und Gradmesser der Anomie dieser Institution betrachtet werden.

Abbildung 1: Makro- und Mikroebene in der Anomiekonzeption nach Merton

Quelle: eigene Darstellung

3. Normenschwäche durch neue Systeme der Leistungssteuerung

Aus der Perspektive der Mertonschen Anomiekonzeption lässt sich zeigen, dass Systeme derfinalisierten Leistungssteuerung einen anomischen Druck auf die Organisationsmitgliederausüben können. Dabei lässt sich von keiner einheitlichen, alle wirtschaftlichen und öffentli-chen Bereiche gleichmäßig erfassenden Veränderung der Leistungssteuerung ausgehen.Vielmehr lassen sich Indizien finden, die auf eine zunehmende Finalisierung der Leistungs-steuerung in Organisationen hinweisen und so zur Vermutung und empirischen Spurensuchein Bezug auf anomische Tendenzen Anlass geben. In diesem Sinne wollen wir im Folgendeneinerseits konzeptionell darstellen, wie sich anomische Tendenzen aus einer finalisiertenLeistungssteuerung ergeben können und andererseits empirische Indizien einer solchen Ent-wicklung zusammentragen.

1) Hier setzen auch wesentliche Kritik und entsprechende Vorschläge zur Erweiterung der MertonschenKonzeption an. Sie beziehen sich auf den systematischeren Einbezug von Persönlichkeitsmerkmalen,Akteurskonstellationen bzw. sozialisierenden Einflüssen (z.B. Cloward/Ohlin 1960; Cohen 1965).

356 Gabriele Faßauer und Frank Schirmer

Wir vermuten, dass die diskrepante normative und faktische Gestaltung moderner Leis-tungssteuerungssysteme zu einer Schwächung der Orientierung von Organisationsmitglie-dern über ihr Leistungshandeln führen kann (vgl. auch Hales 1999). Das bedeutet, dass Or-ganisationen durch diese Systeme ihre Orientierungsfunktion für die Handlungsweisen ihrerMitglieder potentiell destabilisieren bzw. sich diese Funktion inhaltlich in einem grundle-genden Wandel befindet. Folgende Diskrepanzen können dabei zur Entwicklung von Nor-menschwäche in Organisationen führen: Die zunehmende Vorgabe von zu erreichendenLeistungszielen bei 1) gleichzeitig abnehmender bzw. 2) widersprüchlicher oder 3) interpre-tationsbedürftiger Vorgabe von Mitteln des Leistungsvollzuges. Auch können 4) faktischeGründe einer Anwendung der vorgegebenen Mittel entgegenstehen.

Zu 1. Diese Diskrepanz im normativen Gefüge der organisationalen Leistungssteuerungentsteht dadurch, dass der Fokus von Leistungsmessung und –kontrolle zunehmend auf dasErgebnis des Leistungsprozesses bzw. auf das Erreichen von Leistungszielen gerichtet wird(vgl. Franz et al. 2000; Bahnmüller 2001, S. 161ff.). Im Sinne von Merton hat man es alsomit einer stärkeren bzw. expliziten Vorgabe von Zielen des Leistungsprozesses bei gleich-zeitig abnehmender Vorgabe der zur Zielerreichung anzuwendenden Mittel, also einzelnenArbeitsschritten bzw. Prozeduren, und damit den Normen des Leistungsvollzuges zu tun(vgl. auch Voswinkel 2000). Die abnehmende Betonung und Differenzierung der Mittel lässtsich folgendermaßen begründen: Die Einführung ergebnisorientierter Leistungssteuerungs-systeme ist zumeist an Veränderungen der jeweiligen Arbeitszuschnitte bzw. der Arbeitsan-forderungen gebunden (z.B. Bender 1997; Faust et al. 1995; 2000; Bullinger et al. 2000).Wesentlich lassen sich diese Veränderungen durch die Merkmale der organisationalen De-zentralisierung bzw. Modularisierung kennzeichnen (vgl. Faust et al. 1995; Picot/Reichwald/Wigand 2001; Child/McGrath 2001; Picot /Neuburger 2004). Diese ist wesentlich durch diemehr oder weniger umfangreiche Delegation von Verantwortung und Entscheidungsbefug-nissen auf untergeordnete Ebenen, die Integration von Funktionen in ergebnisverantwortli-che Einheiten und die Anwendung marktförmiger Koordinationsformen gekennzeichnet.Empirische Belege für die Dezentralisierung in der Fertigung im deutschen Kontext liefernz.B. die Untersuchungen bei der Volkswagen AG (vgl. Schumann et al. 2004), Studien überneue Entlohnungssysteme in der deutschen Metallindustrie (vgl. Schmierl 1995), Untersu-chungen zu neuen Arbeitsformen im Maschinenbau (vgl. Moldaschl/Schultz-Wild 1994) so-wie Analysen zu veränderten Entgeltsystemen und Arbeitsformen beim Automobilproduzen-ten BMW u.a. (vgl. Bender 1997). Alle zeigen eine Entwicklung von einer arbeitsteiligenArbeitsorganisation hin zu einer Dezentralisierung in Form von mehr oder weniger autono-men Arbeitseinheiten auf. Dabei wird diesen Arbeitseinheiten bzw. -gruppen einerseits einhöheres Maß an Selbstorganisation eingeräumt, andererseits tragen sie zugleich die Verant-wortung für das Erreichen der gesetzten Produktionsziele.

Auch Führungskräfte und Hochqualifizierte sind durch die Auswirkungen formaler De-zentralisierung betroffen. Dies zeigen internationale sowie auf Deutschland konzentrierteStudien (vgl. Dopson/Stewart 1990; Newell/Dopson 1996; Kadritzke 1997; Kotthoff 1997;1998; Dopson/Neumann 1998; Thomas/Dunkerley 1999; Faust et al. 1995; 2000; Holden/Roberts 2004). So indiziert z.B. die branchenübergreifende Untersuchung von Faust et al.(2000) einen vom Leitbild des »intrapreneurs« geprägten Anforderungswandel für Füh-rungskräfte im deutschen Bereich. Dieser Wandel impliziert eine höhere Verantwortung derFührungskräfte für den eigenen Aufgabenbereich und eine stärker ergebnisorientierte Kon-trolle ihrer Leistungen (vgl. Faust et al. 2000, S. 116ff.).

Sowohl im Produktions- als auch Führungskräftebereich wird durch Dezentralisierungeine größere Selbstorganisation und Eigenverantwortung der Mitarbeiter angestrebt. Es liegtfolglich in der Logik des Dezentralisierungsgedankens, weniger explizite und differenzierteVorgaben für den Leistungsvollzug zu machen, was einer geringeren Betonung der zur Ziel-

Moderne Leistungssteuerung und Anomie 357

erreichung anzuwendenden Mittel gleichkommt. Durch Dezentralisierung werden Hand-lungsspielräume eröffnet, die von den Organisationsmitgliedern in neuer Art und Weise aus-gefüllt werden müssen.

Ohne diese Entwicklungen per se kritisieren oder negativ bewerten zu wollen, können ausanomietheoretischer Perspektive problematische Aspekte für den Leistungsprozess abgelei-tet werden. Die ungleichgewichtige Vorgabe in Bezug auf die Ziele und anzuwendendenMittel des Leistungsvollzuges erscheint z.B. dann kritisch, wenn betroffene Mitarbeiter - be-dingt durch die neuen Anforderungen der eigenen Aufgabe - nicht bzw. nur bedingt erfolg-reich auf bisher legitimierte Mittel der Zielerreichung zurückgreifen können. Das bedeutetz.B., dass die Anwendung herkömmlicher professioneller Standards der Aufgabenbewälti-gung nicht zum neu vorgegebenen Leistungsziel führt bzw. dessen Erreichen sogar entge-gensteht (z.B. Kadritzke 1997, S. 151ff.). Letzteres zeigt sich exemplarisch bei von Faust etal. (2000) befragten Beschäftigten von Personalabteilungen. Diese mussten, von den bisheri-gen professionellen Qualitätsstandards der Personalentwicklung abweichen, um die Leistungder eigenen Abteilung am unternehmensinternen Markt kostengünstig anbieten und damitauch absetzen zu können (vgl. Faust et al. 2000, S. 135 ff.). Auch Dopson und Neumann(1998, S. 59ff.) und Kadritzke (1997) weisen auf Basis ihrer empirischen Untersuchungenauf entsprechende Veränderungen in Bezug auf die geforderte Professionalisierung vonFührungskräften bzw. Hochqualifizierten hin. In Anbetracht des häufig hohen subjektivenStellenwertes der eigenen Profession (vgl. Gildemeister/Günther 1987; Baethge et al. 1995)kann angenommen werden, dass sich die Ablösung von den Standards des Arbeitsvollzugeskonflikthaft gestalten kann. In dieser Hinsicht kann mit einer Verunsicherung oder dem Wi-derstand der Beschäftigten gerechnet werden, da Leistungsnormen - womöglich gegen dieeigenen professionellen Standards und unter Sanktionsandrohung - neu definiert werdenmüssen.

Weniger kritisch sieht es bei Mitarbeitern und Führungskräften aus, die bereits alternativeVorstellungen in Bezug auf den Leistungsvollzug mitbringen. Die in der Studie von Faust etal. (2000) als »intrapreneur par excellence« bezeichneten Führungskräfte orientieren sichz.B. klar an der Rolle eines »Geschäftsführers auf unterer Ebene« oder der eines »Mittel-ständlers« (Faust et al. 2000, S. 124ff.) und verbinden mit diesen Leitbildern auch Hand-lungsorientierungen für sich.

Zu 2. Eine Diskrepanz und eine daraus resultierende Normenschwäche kann sich bei demEinsatz ergebnisorientierter Leistungssteuerung auch ergeben, wenn zwar organisationaleVorgaben in Bezug auf den Leistungsvollzug gemacht werden, diese jedoch einerseits mit-einander oder andererseits in Bezug auf das zu erzielende Leistungsergebnis im Konflikt ste-hen. Empirische Hinweise für den ersten Fall finden sich in Analysen zu neuen Arbeitsfor-men und Entgeltsystemen in der deutschen Metallindustrie (vgl. Moldaschl 1994; Schmierl1995). Sie zeigen, dass die Einführung dezentralisierter Arbeitszuschnitte im Produktionsbe-reich mit der Vorgabe widersprüchlicher Leistungsparameter in Bezug auf den Leistungspro-zess einhergehen kann. Das heißt, dass der Versuch alle gesetzten Vorgaben zu erreichen,widersprüchliche Verhaltensweisen im Leistungsvollzug impliziert. So stehen z.B. Vorgabenwie größtmögliche »Maschinenauslastung«, »Qualität« und »Gemeinkostenreduzierung«gleichberechtigt nebeneinander (vgl. Moldaschl 1994, S. 128 ff.; Schmierl 1995, S. 247ff.).Das Verfolgen einer hohen »Maschinenauslastung« innerhalb einer Arbeitsgruppe würdeetwa die flexible Übernahme indirekter Arbeitsaufgaben (z.B. Materialbeschaffung) wäh-rend eines längeren maschinellen Arbeitsganges bedeuten (Reduktion von Leerlauf). Diehiermit reduzierte Überwachung des maschinellen Arbeitsvorganges kann dabei jedoch derVorgabe einer höchstmöglichen »Qualität« zuwiderlaufen, die eine aufmerksame Überwa-chung des maschinellen Vorgangs erfordert. Auch wenn die Autoren dieser Studie die Pro-blematik eher in den Restriktionen zur Ausbalancierung dieses Normenkonfliktes sehen,

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lässt sich aus anomietheoretischer Perspektive eine mögliche Normenschwäche aus dieserDiskrepanz ableiten (Dreitzel 1972, S. 74ff.).

Die auf den Einzelhandel bezogene Studie von Voss-Dahm (2003) und Holtgrewes (2002)Ausführungen zur Dienstleistungsarbeit im Callcenter geben Hinweise für den zweiten obenangesprochenen Fall. Im Callcenter läuft der Vorgabe der »kundenorientierten«, also akti-ven, freundlichen Beratung des Kunden, als Vorgabe für den Leistungsvollzug, der Zielvor-gabe der möglichst kurzen »Gesprächsdauer« und der »Anzahl der bearbeiteten Gespräche«entgegen (vgl. Holtgrewe/Voswinkel 2000; Holtgrewe 2002). Knights/McCabe (2003) wei-sen in ihrer Studie über die Einführung von Gruppenarbeit in einem Callcenter ebenso aufdie häufig gegebene Spannung zwischen qualitativen (»wie« wird geleistet) und quantitati-ven (»was« ist das Ergebnis des Leistens) Leistungsindikatoren hin. Dieser Normenkonfliktkann zu einer Normenschwäche führen (vgl. Dreitzel 1972, S. 74ff.).

Zu 3. Einen weiteren kritischen Ansatzpunkt hinsichtlich der Gestaltung von Normen desLeistungsvollzuges sehen wir in deren zunehmender interpretativer Offenheit in Bezug aufInhalt und angemessene Leistungsniveaus. Solche Normen beziehen sich häufig auf die er-wünschte generelle Ausrichtung des Verhaltens am Arbeitsplatz und beziehen sich etwa aufdas Kommunikations- und Kooperationsverhalten, die Initiative oder Kreativität im Arbeits-prozess (vgl. Bahnmüller 2001, S. 161ff.). Empirische Beispiele hierfür sind die Vorgabe des»kundenorientierten Verhaltens« im bereits angesprochenen Callcenter (vgl. Holtgrewe2002) oder »teamfähiges bzw. kooperatives Verhalten«, »Flexibilität« sowie »Initiative« inProduktionsgruppen (vgl. Bender 1997, S. 109ff.; Schmierl 1994, S. 162). So eine Vorgabemuss sowohl vom betroffenem Mitarbeiter als auch dem Beurteiler der Leistung subjektivinterpretiert und auf das erreichte Leistungsausmaß geschätzt werden. Empirische Indizienfür die Problematik einer solchen Situation liefert z.B. die Untersuchung von Blutner, Broseund Holtgrewe (2002) zur Transformation der Deutschen Telekom. Die ständig gegebeneNicht-Objektivierbarkeit einer Norm in Bezug auf Inhalt und Niveau der Leistung kann da-bei zu einer stetigen Verunsicherung und Resignation in Bezug auf das eigene Leistungspo-tential führen (vgl. Blutner/Brose/Holtgrewe 2002, S. 109f; Knights/McCabe 2003; San-ders/van Emmerik 2004, S. 358). Erscheint die Beurteilung der Leistung anhand offenerbzw. interpretationsbedürftiger Normen wenig transparent oder wechselhaft, kann dies diesubjektiv stabile Definition von Leistungsnormen durch den Mitarbeiter erschweren.

Zu 4. Selbst wenn Vorgaben in Bezug auf die Mittel des Leistungsvollzuges existieren,diese auch in sich geschlossen sind und geringe Interpretationsleistungen erfordern, kann einanomischer Druck durch eine ergebnisorientierte Leistungssteuerung entstehen. Dies ist ge-mäß Merton dann der Fall, wenn der faktische Zugang zu den vorgegebenen Mitteln nichtgewährleistet ist. Indizien für eine solche Situation in dezentralisierten Organisationen lassensich zusammentragen. So zeigt sich z.B., dass mittleren Managern im Rahmen von Dezent-ralisierung häufig die Verantwortung für einen größeren Aufgabenbereich oder eine größereZahl unterstellter Mitarbeiter übertragen wird ohne ihnen zugleich eine größere Entschei-dungsautonomie oder mehr Ressourcen einzuräumen. Diese Befugnisse und Ressourcen wä-ren jedoch notwendig, um die Arbeitsaufgaben gemäß dem Dezentralisierungsgedanken inder geforderten Selbstorganisation zu bewältigen und die vorgegebenen Leistungsziele zu er-reichen. Empirische Hinweise auf dieses Dilemma finden sich z.B. in der deutschen Studieüber Dezentralisierung und deren Auswirkung auf Führungskräfte von Faust et al. (2000, S.156 ff.; vgl. auch Faust et al. 1998). Darüber hinaus liefern die Untersuchungen über neueArbeitsanforderungen und entsprechende Veränderungen des psychologischen Vertrages beibritischen mittleren Managern von Dopson und Neumann (1998) sowie die länderübergrei-fende Studie von Holden/Roberts (2004) zur Arbeitssituation von mittleren Managern eben-falls empirische Hinweise für diesen Sachverhalt.

Moderne Leistungssteuerung und Anomie 359

Um das bisherige Zusammenzufassen: Wir nehmen an, dass sich durch die Diskrepanzenin der normativen und faktischen Gestaltung neuer Leistungssteuerungssysteme ein anomi-scher Druck in Bezug auf den Vollzug von Leistung entwickelt. Dieser Druck ergibt sichdurch eine zunehmende Vorgabe von zu erreichenden Leistungszielen bei 1) gleichzeitig ab-nehmender bzw. 2) widersprüchlicher oder 3) interpretationsbedürftiger Vorgabe von Mit-teln des Leistungsvollzuges. Auch können im Rahmen von Dezentralisierung häufig 4) fakti-sche Gründe einer Anwendung der vorgegebenen Mittel entgegenstehen.

Vor diesem Hintergrund besteht die Annahme, dass bei den betroffenen Organisationsmit-gliedern zunächst Unsicherheit über die Standards des Leistungsvollzugs entsteht und ent-sprechende subjektive Anpassungsleistungen vorgenommen werden müssen. In diesem Sin-ne beschäftigen wir uns im Folgenden mit Mertons Vorschlägen zu Reaktionsweisen auf dieorganisationsstrukturell erzeugten Diskrepanzen der Leistungssteuerung (vgl. Abbildung 2).

Abbildung 2: Diskrepanztypen

Quelle: eigene Darstellung

4. Reaktionstypen nach Merton

Die oben angesprochenen Reaktionstypen unterscheiden sich nach der jeweiligen Akzeptanzgegenüber den vorgegebenen Zielen eines sozialen Interaktionsbereiches bzw. einer sozialenInstitution und den vorgegebenen Mitteln der Zielerreichung (vgl. Abbildung 3). So könntez.B. eine Akzeptanz von Zielen und Mitteln oder nur eine Akzeptanz von Zielen vorliegenusw. Die Typen stellen Modi überdauernder Reaktionen von Individuen oder Gruppen in be-stimmten sozialen Situationen bzw. Interaktionsbereichen, nicht aber Persönlichkeitstypendar. Das bedeutet, dass Individuen ihre Reaktionsweise in Abhängigkeit des sozialen Inter-aktionsbereiches auch wechseln können. Auch können entsprechende Erfahrungen Individu-en dazu bewegen, ihren bisherigen Reaktionsmodus in derselben sozialen Situation zu än-dern.

360 Gabriele Faßauer und Frank Schirmer

Abbildung 3: Typologie der Reaktionsstypen

Quelle: in Anlehnung an Merton 1975, S. 346 (+ Akzeptanz, - Nicht-Akzeptanz, +/- soll kennzeichnen, dass sich die Aktivität des Rebellen auf die Ver-wirklichung von Zielen und Mitteln richtet, die außerhalb der bestehenden kulturellen Struktur liegen (vgl. Merton 1975, S. 346))

Im Folgenden werden Annahmen darüber getroffen, welche Reaktionsstypen im Rahmender eintretenden Normenschwäche bei neuer Leistungssteuerung wichtig sein und welcheBedingungen zur Ausprägung bestimmter Typen beitragen könnten. Weiterhin wird ver-sucht, empirische Ergebnisse anderer Studien anomietheoretisch zu interpretieren.

Interessant erscheint insbesondere der Anpassungstyp des »Innovators«. Dieser akzeptiertdie vorgegebenen Ziele einer Institution, wendet aber von institutionellen Vorgaben »abwei-chende« bzw. »innovative« Mittel zur Zielerreichung an.2 Da im Rahmen der neuen Leis-tungssteuerung und im Zuge von Dezentralisierung mehr oder weniger deutlich auf die Vor-gabe von anzuwendenden Mitteln verzichtet wird, zugleich aber eine Betonung des Zielserfolgt, erscheint der »Innovator« der organisational intendierte Reaktionstyp zu sein. Bevorwir uns jedoch näher mit diesem Typ auseinandersetzen, möchten wir den des Konformisten,des Rebellen, des Ritualisten und den des Rückzüglers aus unserer Untersuchungsperspekti-ve beleuchten (vgl. zum Folgenden Abbildung 3).

Der Typ des »Konformisten« akzeptiert sowohl die vorgegebenen Ziele als auch die vor-gegebenen Wege der Zielerreichung und trägt damit zur Stabilität und zum Bestandserhalteines sozialen Systems bei. Dieser Typ stellt an sich kein Indiz für die Anomie einer Institu-tion dar und ist auch für unsere Untersuchungsperspektive der Normenschwäche bei neuerLeistungssteuerung von geringer Relevanz. Wir richten den Fokus auf mögliche Diskrepan-zen in den Vorgaben von Leistungszielen und Leistungsprozess und gehen somit davon aus,dass die Möglichkeit einer konfliktfreien bzw. problem- oder reibungslosen Anpassung anorganisationale Vorgaben nicht gegeben ist.

Der »Rebell« lehnt die vorgegebenen Ziele und Mittel einer sozialen Institution ab. Er ver-fügt über grundlegend alternative Vorstellungen in Bezug auf die mögliche Beschaffenheitder betreffenden sozialen Institution und versucht, diese Vorstellungen aktiv zu verwirkli-chen. Im Rahmen unserer Fragestellung könnte sich Rebellion in der radikalen Ablehnungder neuen Leistungssteuerung und Widerstand äußern. Dabei ist eine solche Reaktion ausunserer Perspektive zu erwarten, wenn die eigene Situation in der Organisation bereits vorden Veränderungen der Leistungssteuerung als problematisch empfunden wurde – dieseVeränderungen also quasi das »Fass zum überlaufen« bringen. Generell könnte Rebellionsich einerseits über die Kündigung des betreffenden Beschäftigten und dessen organisations-

2) Dies erscheint als eher eingeschränkte Sichtweise auf »innovatives« Verhalten. Dennoch wird Mer-tons Bezeichnung für diesen Anpassungstyp im Folgenden weiter verwandt.

Moderne Leistungssteuerung und Anomie 361

externe aktive Opposition gegen die in der neuen Leistungssteuerung implizierten Tenden-zen äußern. Holtgrewe (2002, S. 205ff.) berichtet z.B. über die Gründung eines Unterneh-mens durch ehemalige Mitarbeiter eines Callcenters. Nachdem das Callcenter nach einemStreik geschlossen wurde, erfolgte die Gründung des eigenen Unternehmens durch die be-troffenen Mitarbeiter. Dieses Unternehmen bietet dabei neben Callcenter-Dienstleistungenauch Beratungen für Beschäftigteninitiativen gegen Betriebsschließungen an und engagiertsich auch darüber hinaus politisch. Andererseits könnte sich rebellisches Verhalten auchdurch anhaltenden Widerstand in der Organisation zeigen. In Anbetracht der Radikalität ei-ner solchen Reaktion und dem Aspekt, dass die neue Leistungssteuerung hier eher als letzterAuslöser eines gewachsenen Konfliktes zu betrachten ist, erachten wir diesen Reaktionstypfür die vorliegende Problematik als wenig relevant.

Der »Ritualist« zeichnet sich durch die Aufgabe bzw. geringe Akzeptanz der vorgegebe-nen Ziele bei gleichzeitig hoher Akzeptanz vorgegebener Mittel aus. Da im Rahmen der neu-en Leistungsteuerung keine klaren neuen Vorgaben in Bezug auf die Mittel des Leistungs-vollzuges gemacht werden, wollen wir die Beibehaltung der bisherigen Mittel beigleichzeitiger Bereitschaft zur Verfehlung der vorgegebenen Leistungsziele als ritualisti-sches Verhalten kennzeichnen.

Gründe für ein solches Verhalten könnten z.B. in der starken Verinnerlichung langjährigangeeigneter Praktiken oder professioneller Orientierungen liegen (vgl. z.B. Türk 2000 zur»organisationalen Persönlichkeit«), die auch im Zuge der neuen Leistungsanforderungennicht aufgegeben werden wollen. So ist vorstellbar, dass sich betriebliche Experten nichtüber das Erreichen der organisational neu gesteckten Zielvorgaben identifizieren, sondernihre Arbeitsmotivation zum großen Teil aus der subjektiv professionellen Erfüllung ihrerAufgabe schöpfen. Dies bedeutet nicht, dass professionell orientierte Mitarbeiter und Füh-rungskräfte mehrheitlich negativ gegenüber Dezentralisierungsbestrebungen und veränder-ten Anforderungen eingestellt sind – eher im Gegenteil. Entsprechende Befunde liefern z.B.Kadritzke 1997; Kotthoff 1998 und Faust et al. 2000. Dieser Offenheit sind durch die profes-sionelle Orientierung aber auch Schranken gesetzt, die im Zuge der neuen Leistungsteuerungüberschritten werden können (vgl. Kadritzke 1997; Kotthoff 1998; Dröge 2003). EmpirischeHinweise für eine solche Annahme liefert die Studie von Baethge et al. (1995) über betriebli-che Experten und Hochqualifizierte. Hier wird gezeigt, dass diesen insbesondere die inhalt-lich- fachliche Anerkennung ihrer professionellen Leistung wichtig ist. Müssten solche Be-schäftigte für die Erzielung der neu vorgegebenen Leistungsergebnisse erheblich vonprofessionellen Standards abweichen, bedeutete dies zugleich die Aufgabe wesentlicheridentitätsbildender Orientierungen (vgl. Gildemeister/Günther 1987; Kadritzke 1997). Empi-rische Hinweise für die Relevanz dieser Problematik liefern z.B. die Untersuchungen vonDooling (2002) und Henkel (2001) in denen die Auswirkungen von neuer Leistungssteue-rung an einem neuseeländischen Krankenhaus bzw. britischen Universitäten auf die professi-onelle Identität der betroffenen Beschäftigten analysiert wurden. Dooling (2002) zeigt wiedie intendierte Messung des Ressourcenverbrauchs und die entsprechende Kontrolle der Be-handlungsmethoden die professionelle Identität einiger Ärzte bedroht, was zu deren Wider-standsverhalten in Bezug auf die Reform führt. Sofern das Erreichen der neu vorgegebenenZiele also eine erhebliche Einschränkung der professionellen Orientierung von den Mitarbei-tern verlangt, kann deren Ausrichtung an den organisationalen Zielvorgaben zugunsten desprofessionellen Leistungsvollzuges in den Hintergrund rücken – also ritualistisches Verhal-ten verursachen.

Ritualistisches Verhalten ist aus unserer Perspektive auch denkbar, wenn eine grundsätzli-che und andauernde Verunsicherung über neue Handlungsweisen besteht. Diese Verunsiche-rung kann sich z.B. aus der oben schon angesprochenen, wechselhaften und wenig transpa-renten Beurteilung der eigenen Leistung ergeben (vgl. Blutner et al. 2002, S. 109f; Knights/

362 Gabriele Faßauer und Frank Schirmer

McCabe 2003). Weiterhin könnte ritualistisches Verhalten eintreten, wenn das Erreichen derZielvorgaben als unrealistisch, nicht beeinflussbar bzw. unsicher betrachtet wird. Dies könn-te z.B. der Fall sein, wenn Leistungsergebnisse an marktlichen, also umweltbedingtenSchwankungen unterlegenen Größen gemessen und Belohnungen daher eher als »Lotterie«erlebt werden. Auf diesen Sachverhalt weisen z.B. die Arbeiten von Wiseman und Gomez-Mejia (1998) und Lehner (2003, S. 338f) hin, die sich mit der erfolgsorientierten Entlohnungvon Managern beschäftigen.

Der Anpassungsmodus Rückzug ist dadurch gekennzeichnet, dass sowohl die vorgegebe-nen Ziele als auch Mittel abgelehnt werden. Dabei resultiert diese Ablehnung nach Merton(1975) aus der Enttäuschung über die nicht gelungene Zielerreichung bei Anwendung legiti-mer Mittel und äußert sich in Form passiver Resignation. Solche als legitim empfundenenMittel könnten zum einen herkömmliche, bisher angewandte Normen des Leistungsvollzu-ges sein. Beispiele hierfür sind die bereits angesprochenen professionellen Orientierungenoder langjährig angewandte Praktiken. So könnte das in diesem Zusammenhang beschriebe-ne ritualistische Verhalten langfristig auch zur Reaktion des Rückzuges führen. Zum anderenkönnten Mitarbeiter auch alternative Vorstellungen in Bezug auf den »passenden«, legitimenLeistungsvollzug in dezentralisierten Arbeitzuschnitten mitbringen oder diese aktiv entwi-ckeln (»Innovator«). Faust et al. (2000) berichten in ihrer empirischen Studie z.B. von Be-schäftigten, die ihre professionellen Orientierungen dementsprechend erweitern oder die sichdas normative Leitbild des »Intrapreneurs« zu eigen gemacht haben und sich in den neuenArbeitszuschnitten und bei neuer Leistungsteuerung »entfalten« möchten. Diese Beschäftig-ten empfinden die neu vorgegebenen Leistungsziele als legitim und erstrebenswert und rich-ten ihren Leistungsvollzug subjektiv optimal an den Zielen aus (vgl. Faust et al. 2000, S.121). Auch Blutner et al. (2002) zeigen, wie Beschäftigte in der Personalabteilung neue, sub-jektiv passende Standards des Leistungsvollzuges entwickeln können. Werden die organisa-tionalen Zielvorgaben trotz der Anwendung solcher subjektiv legitimen bzw. »passenden«Mittel des Leistungsvollzuges nicht erreicht bzw. stößt ein solches Verhalten nicht auf dieerwartete Anerkennung von Seiten der Organisation, kann der Reaktionstyp Rückzug eintre-ten – sowohl organisationale Ziele als auch etwaige Mittel der Zielerreichung verlieren anAkzeptanz.

»Innovatives« Verhalten zeichnet sich nach Merton durch eine hohe Akzeptanz der vorge-gebenen Ziele aus. Dabei wendet der »Innovator« aber Mittel an, die von den institutionellvorgegebenen abweichen. In unserer Untersuchungsperspektive würde sich innovatives Ver-halten in einer hohen Akzeptanz der vorgegebenen Leistungsziele und durch die gleichzeiti-ge Bereitschaft auszeichnen, von den organisational vorgegebenen Mitteln der Zielerrei-chung »abzuweichen«. Nun ist es das wesentliche Merkmal der neuen Leistungssteuerung,das Leistungsverhalten über die Vorgabe von zu erzielenden Ergebnissen und weniger überdie Explizierung und Kontrolle von Mitteln des Leistungsprozesses zu lenken. Vor diesemHintergrund wollen wir innovatives Verhalten in unserer Untersuchungsperspektive gene-rell als Abweichung von den herkömmlichen, »alten« legitimen Mitteln des Leistungsvollzu-ges interpretieren. Dementsprechend begreifen wir auch den notwendig »kreativen« Umgangmit eventuell organisational neu vorgegeben Mitteln des Leistungsvollzuges als innovativ.Wir wollen im Folgenden zwei verschiedene Arten des innovativen Verhaltens unterschei-den. So treffen wir die Unterscheidung danach, inwieweit das innovative Verhalten von Mit-arbeitern auf Freiwilligkeit bzw. einer »inneren Bereitschaft« oder »Unfreiwilligkeit« bzw.empfundenem äußerem Zwang beruht. Dementsprechend unterteilen wir in »aktive« und»reaktive« Innovatoren.

Der aktive Innovator stützt sein Verhalten auf eine klare subjektive Orientierung darüber,wie ein »moderner«, angemessener Leistungsvollzug in heutigen Organisationen aussehensollte. Faust et al. (2000) finden einen solchen Innovator in ihrer, auf Führungskräfte orien-

Moderne Leistungssteuerung und Anomie 363

tierten Studie zum einen im Typ des »intrapreneur par excellence«. Im Rahmen von Dezent-ralisierung und neuer Leistungssteuerung erscheint dieser Typ als neues Leitbild des zukünf-tigen Managers. Unternehmerisch denkend, eher generalistisch orientiert und risikobereitsetzt er sich vom bisher im deutschen Bereich dominierenden Typ des bürokratisch- orien-tierten Professional (vgl. Faust et al. 2000, S. 116 ff.; auch Walgenbach 1994) ab. So kannsich der »intrapreneur par excellence« gemäß der Studie von Faust et al. (2000) im Rahmender Dezentralisierung voll »entfalten«. Er bekommt über die strukturellen Veränderungengroße Entscheidungsbefugnisse zugewiesen und identifiziert sich zudem voll und ganz mitdem neuen Leistungsverständnis (vgl. Faust et al. 2000, S. 122ff.). In derselben Studie findetsich neben dem Typ des »intrapreneur par excellence« noch ein zweiter, der sich als aktiverInnovator kennzeichnen lässt. Es handelt sich um Führungskräfte von Personalabteilungen,die eine aktive Interpretation der eigenen, sich verändernden Rolle und der Abteilungsleis-tung vornehmen. Interessant erscheint dies vor dem Hintergrund, dass die Personalabteilun-gen im Rahmen von Dezentralisierungsprozessen häufig unter großen Legitimationsdruckgeraten und sich unter Entzug von Ressourcen z.B. zunehmend am internen als auch exter-nen Markt finanzieren müssen. Auch die hier angesprochenen Führungskräfte befinden sichin einer solchen Situation. Dennoch nehmen sie ausgehend von ihrer bisherigen professio-nellen Orientierung eine selbstbewusste Gestaltung ihrer Rolle vor, definieren neue Leis-tungsnormen für den eigenen Bereich und vertreten Ansprüche in Bezug auf die Qualität dereigenen Leistung, um sich damit auch zu profilieren. So erfolgt eine aktive unternehmerischeFortentwicklung der professionellen Orientierungen. Trotz des Entzugs materieller Ressour-cen nutzen die Führungskräfte die offiziell neu angetragene Autonomie, um sich und die Ab-teilung aktiv zu positionieren. In dem Sinne verfügen sie über eine unternehmerische Orien-tierung, verbinden diese jedoch mit ihrer professionellen Basis. So lässt sich dieser Typ auchals »unternehmerischer Professional« kennzeichnen (vgl. Faust et al. 2000, S. 137ff.).

Der reaktive Innovator gründet sein innovatives Verhalten nicht auf eine klare, alternativeOrientierung über den Leistungsvollzug und der darauf basierenden aktiven Gestaltung derneuen Situation wie es beim aktiven Innovator der Fall ist. Diesem Typ fällt es schwer, her-kömmliche Standards des Leistungsvollzuges aufzugeben. Er empfindet eher den Sach-zwang zur Veränderung des eigenen Verhaltens. Empirische Indizien sprechen dafür, dasseine solche Reaktion mehrheitlich bei Beschäftigten auftritt, die im Rahmen von Dezentrali-sierung und neuer Leistungssteuerung einerseits eine faktische Verschlechterung der eigenenPosition erfahren haben oder sich andererseits mit einer durch Ambivalenz gekennzeichne-ten Situation auseinandersetzen müssen. Diese Ambivalenz drückt sich zumeist durch dasAnwachsen des Aufgabenspektrums und der angetragenen Verantwortung einerseits und dergleichzeitigen Verringerung oder dem Gleichbleiben der faktischen Handlungsspielräumeandererseits aus (z.B. auch Kadritzke 1997; Holden/Roberts 2004). Bei Faust et al. (2000)findet sich der Typ des reaktiven Innovators z.B. bei Linienmanagern in der Produktions-und Entwicklungsabteilung und auch bei Managern der Personalabteilung (vgl. Faust et al.2000, S. 127 ff.). Diese begrüßen mehrheitlich einen Zuwachs an Verantwortung, empfindenzugleich aber einen stärkeren Zwang in Bezug auf die unternehmerische Ausrichtung ihresLeistungsvollzuges als dies bei aktiven Innovatoren der Fall ist. Dies könnte dadurch be-gründet sein, dass sie im Vergleich zu den aktiven Innovatoren auch faktisch geringereHandlungsspielräume und Ressourcen haben, den Leistungsvollzug in eigener Regie auszu-richten.

5. Zusammenfassung der Ergebnisse und Schlussfolgerungen

Es war das Ziel dieser Untersuchung, die These zu prüfen, ob sich in Verbindung mit ergeb-nisorientierten Konzepten der Leistungssteuerung anomische Tendenzen in Organisationenerkennen lassen, die auf schwächere Wirksamkeit von Normen der Leistungsverrichtung –

364 Gabriele Faßauer und Frank Schirmer

Normen darüber, wie eine Aufgabe zu erfüllen ist – zurückgeführt werden können. Anomiewurde mit Merton als Zustand der Instabilität einer Institution charakterisiert, der durch einezu geringe Wirksamkeit verhaltensregulierender Normen in dieser Institution hervorgerufenwird. Merton nimmt an, dass die Fähigkeit der Institution ihre Funktionen zielgerecht zu er-füllen, durch anomische Tendenzen untergraben wird, weil z.B. verschiedene Formen abwei-chenden Verhaltens bis hin zu kriminellem Verhalten die Ziele und das Überleben der Insti-tution gefährden.

Als Fazit unserer Untersuchung ist festzustellen, dass ergebnisorientierte Systeme derLeistungssteuerung in dezentralisierten, stärker vermarktlichten Organisationen allen Indizi-en folgend nicht sprunghaft einen anomischen – instabilen - Zustand der gesamten Organisa-tion im Sinne von Merton bewirken. Es ist aber nicht zu übersehen, dass ein anomischerDruck in Bezug auf den Vollzug der Leistung aufgebaut wird. Anhand von Studien aus ver-schiedenen Branchen konnte gezeigt werden, dass in Fertigungsbereichen und in Bereichendes mittleren Managements dieser Druck entsteht: es werden zwar immer anspruchsvollereLeistungsziele (zu erreichende Ergebnisse) vorgegeben, aber gleichzeitig wird der Leis-tungsvollzug durch die diskrepante normative und faktische Gestaltung erschwert. So wer-den diese Vollzugsnormen widersprüchlicher und interpretationsbedürftiger. Teilweise ist indiesen Studien auch zu erkennen, dass keine ausreichenden Hilfsmittel (Zeit, Geld, Personal,Unterstützung in der Hierarchie) zur Verfügung gestellt werden, um die geforderten Leis-tungsergebnisse zu erreichen.

Die objektiv vorgegebene Arbeitssituation zeichnet sich demnach durch wachsende ano-mische Tendenzen aus, verursacht durch finalisierte Systeme der Leistungssteuerung. Ganzim Sinne der theoretischen Annahmen von Merton lassen sich zudem Indizien finden, dassdie Diskrepanzen zwischen immer anspruchsvolleren Ergebnisvorgaben einerseits undschwächeren Vollzugsnormen und fehlenden Ressourcen andererseits diesen anomischenDruck auch in der subjektiven Wahrnehmung von Betroffenen dieser Leistungssteuerungaufbauen. Indikator für diesen Druck, der in den Studien nicht gezielt untersucht wurde, sindim Sinne der Theorie spezifische Reaktionsmodi der betroffenen Organisationsmitgliederauf die veränderte Arbeitssituation. Sie reichen von ritualistischem über rückzüglerischembis zu innovatorischem Verhalten. Auch hier lassen sich entsprechende Reaktionen cum gra-no salis aus den empirischen Studien herausfiltern. Alle gerade genannten Reaktionsformentreten auf.

Wie ist abschließend der Zusammenhang zwischen Leistungssteuerung, damit verursach-ten anomischen Tendenzen und den Funktionsbedingungen von Organisationen als Ganzes(im Sinne der eingangs angesprochenen Ziel- und Ressourceneffizienz, der Anpassungsfä-higkeit und Stabilität der Sozialstruktur sensu Parsons) zu bewerten?

Anomische Tendenzen sind ein Ausdruck für institutionellen Wandel und damit auch fürdie Lebens- und Anpassungsfähigkeit von Organisationen in einer dynamischen Umwelt.Dysfunktional werden anomische Tendenzen, wenn der anomische Druck von den Organisa-tionsmitgliedern nicht adäquat verarbeitet werden kann und längerfristig bestandsgefährdendwirkt. Im Sinne der Theorie ist also zu fragen, inwieweit die individuellen, empirisch er-schließbaren Reaktionsmodi auf anomische Tendenzen finalisierter Leistungssteuerung or-ganisational nutzbringend oder organisational schädlich wirken.

Am einfachsten ist dies für den Rückzügler zu beantworten, der innerlich kündigt, seinLeistungsvermögen zurückhält und damit zumindest die Ressourceneffizienz der Organisati-on beeinträchtigt.

Wesentlich schwieriger ist eine Bewertung für die Reaktionsform des Ritualisten vorzu-nehmen, der sich den empirischen Indizien folgend vornehmlich professionellen Normen

Moderne Leistungssteuerung und Anomie 365

verpflichtet fühlt. Einerseits scheint dies die Anpassungsfähigkeit an marktliche Anforderun-gen oder die effiziente Steuerung der internen Mittelverteilung zu behindern, mithin wesent-liche Funktionsmechanismen von Organisationen zu schwächen. Andererseits kennzeichnet»Ritualismus« möglicherweise eine individuelle Reaktionsform auf moderne Systeme derLeistungssteuerung, die für die Organisation als Ganzes auch funktionsnotwendige Wirkun-gen erzeugt. Die Orientierung von Organisationsmitgliedern an professionellen Standards er-zeugt Sicherheit, Verlässlichkeit und Stabilität im Leistungsvollzug (effiziente Integrationund Kontrolle von Handlungen sensu Parsons), die ausgedünnte Normen finalisierter Leis-tungssteuerung so nicht mehr bieten. Professionelle Normen sichern Qualitätsstandards imLeistungsprozess und tragen so zur Zieleffizienz von Organisationen bei. »Ritualismus«wäre aus dieser Perspektive nur als Extremfall eines übermäßig starren, auch organisationaldysfunktionalen Festhaltens an Normen zu interpretieren. Ein im Niveau angemessener Sub-stitutionsprozess -Ersatz bürokratisch normierter Leistungssteuerung durch professionellnormierte Leistungssteuerung- wäre aus Sicht der Funktionsfähigkeit von Organisationen alsGanzes aber positiv zu bewerten. In diese Richtung hat auch Heckscher (1995) argumentiert.Demnach hat der traditionelle »organisation man« im Zeichen flacher, flexibler und ständigreorganisierender Unternehmen immer mehr ausgedient (vgl. ähnlich Sennett 1998). An dieStelle der Loyalität zu einer Organisation und der von ihr vorgegebenen Leistungsnormenkönnte vor allem für Fach- und Führungskräfte zunehmend die Loyalität gegenüber professi-onellen Normen treten. In diesem Zusammenhang gewinnt dann auch die von Mintzberg(2004) voran getriebene Debatte um die künftige Ausrichtung der Managerausbildung zu-sätzlich an Brisanz.

Ebenfalls ambivalent fällt die Bewertung des Reaktionstyps »Innovator« aus. Mit der fol-genden Unterscheidung zwischen organisational nutzbringendem und organisational schädi-gendem innovativen Verhalten, wollen wir darauf aufmerksam machen, dass innovativesVerhalten trotz seiner positiven Konnotation keineswegs immer positive Auswirkungen fürOrganisationen haben muss. Innovation im Mertonschen Sinne impliziert die Anwendung»abweichender« Mittel zur Erreichung der vorgegebenen Ziele, sagt jedoch nichts über dengenaueren Zuschnitt dieser Mittel aus.

Als organisationsnützlicher Innovator ist der »intrapreneur par excellence« zu bewerten,der sein Leistungsvermögen unter Bedingungen finalisierter Leistungssteuerung erst vollentfalten kann. Personen dieses Reaktionstyps haben die Bedingungen finalisierter Leis-tungssteuerung stark internalisiert und sind hoch motiviert. Anders als bei Rückzüglernsteigt ihr Leistungsniveau unter diesen Bedingungen (Beitrag zur Ressourceneffizienz). Al-lerdings geht aus den vorliegenden Studien nicht hervor, welche weiteren Wirkungen auf or-ganisationaler Ebene mit diesem gesteigerten Leistungsniveau zu verzeichnen sind.

Insbesondere im Führungskräftebereich ist es nicht unwahrscheinlich, dass Manager imInteresse ihrer Karriere bzw. ihrer Arbeitsplatzsicherheit und dem hiermit verbundenenDruck, die organisational vorgegebenen Ziele auch zu erreichen (Thomas/Dunkerley 1999;Tengblad 2004), Entscheidungen treffen und Handlungen vollziehen, die der Organisationlangfristig schaden (Gefährdung der Sozialstruktur sensu Parsons). Diese Problematik wirdbesonders relevant bei der Vorgabe kurzfristig zu realisierender Leistungsziele, wie etwadem Aktienwert, bzw. allgemein mit zunehmendem Shareholder Value-Druck. So bestehtdie Gefahr einer zu kurzfristigen Ausrichtung der Entscheidungen von Managern, die damitlangfristig zur Schädigung des Ressourcenpools einer Organisation beitragen könnten. Cas-cio (2002) und Kieser (2002) zeigen diese Problematik z.B. anhand der Auswirkungen vonDownsizing auf die Wettbewerbsfähigkeit und auf finanzielle Erfolgskriterien von Organisa-tionen. Die gewollte Normenschwäche – der Handlungsspielraum – im Aufgabenvollzuglädt Manager geradezu ein, subjektiv empfundene Karriererisiken zu kontrollieren, indem siesich für Projekte mit schnellen und relativ sicheren Returns engagieren, z.B. Personalabbau-

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maßnahmen. Dies stellt ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis und mehrt ihre Reputation, einwichtiges Signal auf einem immer härter umkämpften Karriere- und Arbeitsmarkt (vgl.Hirshleifer/Thakor 1992; Höpner 2004). Für die Organisation kann diese »Leistungsfähig-keit« sehr schädlich sein, wenn einseitige Kurzfristoptimierung zu Lasten langfristiger Ent-wicklungschancen der Organisation geht (vgl. Rumelt 1987; Cascio 2002).

Darüber hinaus weisen Scarbrough und Burrell (1996) als auch LaNuez und Jermier (1994)auf das möglicherweise wachsende Potential für Sabotageakte bzw. »white collar criminali-ty« im Bereich des mittleren Managements hin (potentielle Gefährdung der Sozialstruktur;zu kulturellen Unterschieden dieses Verhaltens vgl. Cullen, Parboteeah und Hoegl 2004). Siebegründen ihre Annahmen mit der im Rahmen von Dezentralisierungsprozessen zunehmendkonflikthaften Situation mittlerer Manager, die sich z.B. in der bereits angesprochenen Dis-krepanz zwischen Verantwortung und Entscheidungsbefugnis, höherer Arbeitsbelastungoder den zunehmend unsichereren Karrieremöglichkeiten ausdrückt (vgl. Newell/Dopson1996; Holden/Roberts 2004). Im Interesse der eigenen Karriere oder aufgrund einfacherFrustration tendierten mittlere Manager hiernach zu Korruption oder Sabotage. Die abneh-mende Bedeutung von Leistungsprozessvorgaben und gleichzeitige Betonung von Leis-tungsergebnissen im Rahmen der neuen Leistungssteuerung kann dabei zu einerFortentwicklung dieser Tendenzen beitragen, indem der Druck der Zielerreichung erhöhtwird und zugleich Handlungsspielräume eröffnet werden.

Es ist auffällig, dass als positiv wahrgenommene Karrierechancen – sei es innerhalb oderaußerhalb der Organisation – in mehreren Studien mit innovativen Verhaltensweisen der be-treffenden Organisationsmitglieder einhergehen. Der anomische Druck, der sich wie geschil-dert bei Einführung ergebnisorientierter Leistungssteuerung in dezentralisierten Organisatio-nen entwickelt, wird demnach bei positiv wahrgenommenen Karrierechancen leichter inkreative Energie zugunsten der Organisation umgesetzt (Reaktionstyp des aktiven Innova-tors). Der anomische Druck erscheint weniger organisationsdienliche Reaktionen hervorzu-rufen, wenn die Karrierechancen bedroht sind oder sie sich mit Einführung der neuenLeistungssteuerungssysteme definitiv verschlechtern.

Aus anomietheoretischer Sicht zeigt sich hier ein Dilemma der Einführung von neuen Sys-temen der Leistungssteuerung. Werden mit den Systemen Flexibilisierungs- und Rationali-sierungsziele angestrebt, lassen sich diese Ziele offenbar nur begrenzt gleichzeitig realisie-ren, ohne die anomischen Tendenzen zu verschärfen (vgl. auch Conrad/Manke 2002).Verbesserte externe Karrierechancen (outside option) könnten ein begrenzt wirksames Mittelsein, anomisches, organisationsschädliches Verhalten einzudämmen. Sie bergen aber die Ge-fahr, dass wettbewerbsrelevantes Wissen unerkannt abfließt und zudem das Sozial- und Or-ganisationskapital geschädigt werden (vgl. Sadowski/Ludewig 2004).

Unsere Argumentation und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen sind Einschränkun-gen unterworfen. In erster Linie entstehen sie aus der Verwendung des empirischen Sekun-därmaterials. Kritisch ist z.B. zu betrachten, dass die inhaltliche Orientierung aller verwen-deten Studien nicht mit unserer Fragestellung identisch ist. Da die Studien auf andereForschungsfragen hin durchgeführt, die Daten im Zusammenhang mit anderen Untersu-chungsschwerpunkten erhoben und aus anderen Deutungsperspektiven interpretiert wurden,war für uns nur der Versuch einer anomietheoretische Lesart und Interpretation möglich -und dies ausdrücklich ohne den Studien Abbruch tun zu wollen. Zum anderen ergeben sichEinschränkungen aus der geringen Verfügbarkeit von Studien, die für unsere Zwecke hinverwertbar gewesen waren. Insbesondere die geringe Menge von Studien zu spezifischenReaktionsweisen auf neue Leistungssteuerungssysteme stellte sich als problematisch dar. Sowar es uns zumeist nur möglich, unsere Argumentation mit Hilfe empirischer Indizien zustützen bzw. indirekte Hinweise aus anderen Untersuchungsfeldern heranzuziehen. In die-

Moderne Leistungssteuerung und Anomie 367

sem Sinne kann erst die gezielte empirische Untersuchung einen besser gesicherten Auf-schluss über den Zusammenhang von neuer Leistungssteuerung und Anomie bzw. entspre-chenden Reaktionstypen geben. Diese Datenlage führt auch dazu, dass wir keine Angaben zumöglichen Korrelationen zwischen den Typen von Normenschwäche und den Reaktionssty-pen treffen können. Dies betrifft auch Erkenntnisse darüber, in welchen Bereichen der Orga-nisation, z.B. operativer oder admistrativer Bereich, bestimmte Typen der Normenschwächeund Reaktionsweisen gehäuft auftreten.

6. Ausblick

Karriereaussichten in einer Organisation und Loyalität gegenüber ihren Normen sind Mittelder sozialen Integration, ohne die eine Organisation nicht auf Dauer funktionieren kann. DieFunktionsweise von Organisationen als kollektivem Akteur verlangt ein höheres Maß an Ko-ordination, Kooperation und sozialer Integration der Akteure als dies auf Märkten üblicher-weise erforderlich ist. Darauf beruht der »organisational advantage« (Nahapiet/Goshal1998). Eine gezielte Schwächung von Normen im Zuge neuer Systeme der Leistungs-steuerung wird nur dann auf Dauer und in größerem Umfange organisationsdienliches inno-vatives Verhalten generieren, wenn auch die Integrationsleistung von Organisationen er-bracht wird. Die negativen Effekte von zunehmenden Karriererisiken und die erkennbarenSubstitutionsprozesse zwischen Normen weisen in diese Richtung. Dies bedeutet u. E., dassDezentralisierung und die Gewährung von Autonomie im Zeichen neuer Leistungssteuerungparadoxerweise mit einer verstärkten Bindung der Organisationsmitglieder an die Ziele,Werte und Normen der Organisation und an professionelle Normen einhergehen muss, wennsie funktionieren soll. Das dürfte im Zeitalter zunehmender Flexibilisierung und »Patch-work«-Karrieren vor allem das Problem aufwerfen, wie temporäre Loyalitäten zu Organisati-onen immer wieder neu aufgebaut werden können. Und es ist zu bedenken, dass in Zeitennach ENRON ein gesellschaftlich schwindendes Vertrauen in die Legitimation der hand-lungsleitenden Normen von Managern eben diese Identifikation mit professionellen Normenerschweren könnte. In Verbindung mit der gezielten Schwächung von Normen durch finali-sierte Leistungssteuerung könnte dies in einem viel größerem Ausmaß zur normativen De-stabilisierung von Organisationen beitragen, als mit dem ersten Blick auf das Gebaren vonTop Managern ersichtlich ist.

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Dipl.-Kffr. Gabriele Faßauere-mail: [email protected]

Prof. Dr. Frank Schirmere-mail: [email protected]

TU DresdenFakultät Wirtschaftswissenschaften

Professur für BWL, insb. OrganisationHelmholtz Str. 10

01062 Dresden

Soziale Welt 57 (2006), S. 373 – 396

Die Rationalität der Hochschulreform. Grundzüge eines postautonomen Wissensregimes

Von Tilman Reitz und Susanne Draheim

Zusammenfassung: Ausgehend von der Diagnose, dass die europäische Hochschulreform in ihrerdeutschen Ausprägung erkennbar an selbstgesetzten Zielen (mehr Mobilität, weniger Bürokratie …)vorbeisteuert, fragt der Artikel nach möglichen latenten Funktionen des Prozesses. Ein erster Antwor-tansatz bündelt nicht-öffentlichkeitsfähige Ziele und absehbare, stabilisierungsfähige Struktureffekteder Reform: Orientierung durch Standardisierung, eine zumindest mittelfristige Absenkung derHochschulkosten bei gleichzeitiger Steigerung der Studierendenzahlen, eine Verschärfung sozialerSelektion. Da aber alle diese Effekte allererst prognostiziert werden können, werden in einem zweitenDurchgang die destruktiven, ein dysfunktional gewordenes Vorgängermodell auflösenden Anteileder Reform untersucht. So ergibt sich eine ergänzende, den akuten Prozessen nähere Antwort: DieHochschulreform verschiebt den Schwerpunkt akademischen Lebens von der temporär freigesetzten,tendenziell anomischen Reflexion wünschbarer Selbst- und Weltverhältnisse, wie sie seit den 1970erJahren im Massenmaßstab die Hochschulen geprägt hat, auf eine Ausbildung und Forschung, die per-manent ihre gesellschaftliche Normalität und Nützlichkeit demonstrieren muss. Die Prinzipien desneuen Wissensregimes lauten folglich: Anwendbarkeit, kommunikative Kontrolle und Marketing.

Reformprozesse bilden einen denkbar günstigen Gegenstand für funktionale Analysen. Siedemonstrieren, wie wenig von Plänen und Absichten bleibt, sobald sie in das Gefüge sozialerWechselwirkungen eintreten – und führen zugleich die unintendierten Effekte vor Augen,die stattdessen die Umgestaltung erfolgreich machen. Es liegt nahe, die europäische Hoch-schulreform in diesen Kontext zu stellen. Denn je weiter sie fortschreitet, desto mehr ver-wundert, weshalb man so fieberhaft (besonders gründlich in Deutschland)1 ein Projekt vor-antreibt, das absehbar an seinen erklärten Zielen vorbeisteuert. Ob es um internationaleMobilität, flexibleres Studieren oder die Entbürokratisierung von Entscheidungsstrukturengeht – fast alles, was offiziell angestrebt ist, wird von der Praxis der Reform eher behindertals befördert. Wenn es sich aber so verhält, fragt sich, was sonst die Reformer antreibt, wasdie habituellen Widerstände bricht und die Umgestaltungsmaschine am Laufen hält.

Einige latente Ziele wie das Interesse daran, den finanziellen Aufwand pro Studienplatz zuverringern, liegen nur knapp unter der Oberfläche des Geschehens; einige in gewisser Hin-sicht nützliche, aber nicht kollektiv beabsichtigte Tendenzen wie diejenige, bei aller Öffnungim Bildungssystem wieder stärker für Führungspositionen und untergeordnete Stellungenvorzusortieren, lassen sich rekonstruieren. Neben strukturellen Umschichtungen dieser Artist jedoch auch ein Aspekt der Reform untersuchungsbedürftig, über den durchaus gespro-chen wird: die Verschiebung dessen, was in den Hochschulen als wissenswert und rationalgilt.

1. Bologna und die unternehmerische Hochschule: die offiziellen Reformziele

Dass die deutsche Hochschulreform unter europäischer Führung verläuft, ist ein Novum. Nochin den späten 1990er Jahren war sie kaum mehr als ein Bündel strukturverwandter Vorstöße des

1) Ein neuer, ausführlicher Vergleich der Studiengangsreformen in vier europäischen Staaten bescheinigt demdeutschen System für die Jahre 1998-2004 in fast allen Bereichen einen »high degree of policy change«;weder Frankreich und die Niederlande noch England können hier mithalten. Die einzige starke Relativie-rung besteht darin, dass bei der »policy implementation« nur ein mittlerer bis niedriger Änderungsgrad er-reicht wird, weil die anderen Hochschulsysteme schneller umgestellt wurden (Witte 2006, S. 457).

374 Tilman Reitz und Susanne Draheim

Bundes, der Länder sowie ehrgeiziger Standorte und Stiftungen; bis etwa 2002/03 diskutierteman als Reformthemen primär Juniorprofessuren und Studiengebühren. Seit die Hochschulenjedoch auf breiter Front begonnen haben, die ab 1999 getroffenen Beschlüsse zu europaweitvereinheitlichten Studienstrukturen umzusetzen, hat sich die Lage schlagartig geändert. Der›Bolognaprozess‹ dominiert das Geschehen, und alle national spezifischen Innovationen laufenunter diesem Titel mit. Das heißt nicht, dass die europäische Harmonisierung nun den schlecht-hin bestimmenden Reforminhalt bildete. Vielmehr sind inzwischen zwei Umgestaltungsprozes-se im Gang: die strukturelle Angleichung der Studiensysteme und ein Aufbruch in Richtung»moderne Dienstleistungshochschule«.2 Eine Einheit bilden sie nur insofern, als sie einanderdurchdringen und verstärken. Auf der einen Seite konnte sich der Bolognaprozess auch »ohneklare politische Zuständigkeit der EU« »zu einer umfassenden Reformbewegung« entwickeln(Schnitzer 2004, S. 1), weil er bereits länger angestaute Modernisierungsimpulse aufnimmt; dieverbindende Evidenz dürfte hier die Absicht gestiftet haben, Europa zur »most competitive anddynamic knowledge-based economy in the world« zu machen (Berlin-Communiqué 2003, S.2). Zum anderen konnten die lose verknüpften Zielsetzungen deutscher Reformer erst in Kopp-lung mit den europäischen, auf allen regionaleren Ebenen als unverfügbar geltenden VorgabenVerbindlichkeit erlangen.3 Fraglich bleibt nur, was mit den erfolgreich installierten Maßnah-men erreicht wird. An drei Zielen, die im Gefüge europäischer und landesspezifischer Reform-bemühungen jeweils unterschiedliche Stellen einnehmen, wird deutlich, wie weit Anspruch undabsehbare Realität auseinander klaffen: an der Mobilisierung von Studierenden, Lehr- und For-schungspersonal, der Flexibilisierung der Studienverläufe und dem Abbau von Bürokratien.

Das Ziel, »Mobilität« zu fördern, ist offenkundig vital für den europäischen Hochschul-raum. Seit der Lissabon-Konvention von 1997, die der Arbeit an ihm vorausging, hat die För-derung akademischen Austauschs Priorität, zumindest im Fall der Naturwissenschaftenverbindet sie sich mit Motiven transatlantischer Konkurrenz,4 und tatsächlich haben inner-halb der letzten Jahre die Studienaufenthalte im jeweiligen Ausland zugenommen.5 Dennoch

2) So haben Torsten Bultmann und Oliver Schöller (2003), kurz bevor der europäische Angleichungs-prozess ins Zentrum des Interesses rückte, die dominanten Reformziele zusammengefasst – eine hö-here Bildung, die auf lebenslange Weiterqualifikation umgestellt und »durch private Eigenbeteili-gung marktförmig erschlossen« wird (S. 330), sowie Hochschulen, die sich rhetorisch undorganisatorisch Unternehmen annähern. Als treibende Kraft sehen die Autoren »transnationale Dis-kursgemeinschaften« (ebd.), die sich in Institutionen wie OECD, Weltbank und IWF sowie in Unter-nehmensstiftungen formiert haben – in Deutschland namentlich vertreten durch das Centrum fürHochschulentwicklung (CHE) der Bertelsmann-Stiftung. Einen Hintergrund dieses Prozesses bildetdie Anerkennung höherer Bildung als Dienstleistung im GATS (vgl. Hahn 2003, Hartmann 2004).

3) Ähnliches lässt sich für alle beteiligten Länder sagen: »By bringing existing developments, or thosemoving towards the implementation stage at the national level, under the shadow of Bologna's wing,it is possible to impart an unprecedented sense of achievement, apparent consensus and agreement,all in a miraculously short space of time. « (Neave 2002, S. 186; vgl. Witte 2006, S. 3)

4) Denn erst mit der Konzentration europäischer Ressourcen kann man hier hoffen, auf das Leistungs-niveau US-amerikanischer Einrichtungen zu kommen. So will etwa die Europäische Kommission alsGegenstück zum Massachusetts Institute of Technology (MIT) ein European Institute of Technology,kurz EIT schaffen (FAZ, 15.03.05) – ein »Symbol für verstärkte Bemühungen für die Schaffung einerwettbewerbsfähigen, wissensbasierten Gesellschaft« (EK 2006, S. 12).

5) Der Anteil der deutschen Studierenden, die einen Teil ihres Studiums im Ausland verbringen, steigtkontinuierlich an – zwischen 1994 und 2003 von 4,7% auf 7,0% aller Studierenden (HIS 2006, S. 8;vgl. zu den Schwierigkeiten einer europaweit einheitlichen Datenerhebung Lanzendorf 2003). Die ra-pide Zunahme des umgekehrten Zuzugs (vgl. Statistisches Bundesamt 2006, S. 33) wurde gegenEnde der Amtszeit Bulmahn als Beweis dafür präsentiert, dass Deutschlands Hochschulen internati-onal wieder attraktiv sind – nach den englischen und amerikanischen belegen sie im internationalenVergleich die dritte Stelle (vgl. die Daten in OECD 2005, S. 7f). Freilich kommt ein großer Anteil derausländischen Studierenden nunmehr aus Asien, und über die Hälfte nennt die (bislang) fehlendenStudiengebühren als ein Hauptmotiv für ihre Wahl (FAZ, 02.06.05).

Die Rationalität der Hochschulreform 375

führt die jüngste Gemeinschaftserklärung der europäischen Bildungsminister, die ansonstenfast nur erreichte Erfolge betont, Mobilitätssteigerung noch als »challenge« an (Berlin-Com-muniqué 2003, S. 4). Ein sachlicher Grund könnte darin liegen, dass gerade die Maßnahmenzur europäischen Angleichung das aufbauen, was man in Reformerkreisen »Mobilitätshür-den« nennt. Eigentlich war es an allen Fronten um den erleichterten Ortswechsel gegangen:Die »Module«, in die man die Fächer aufgliedern will, sollen nicht nur variabel zu-sammensetzbar, sondern europaweit transferierbar sein; die Leistungspunkte, mit denen mandas studentische Arbeitsvolumen festhält, werden prinzipiell überall im neuen Hoch-schulraum anerkannt; die Bachelor- und Master-Grade schließlich, die an die Stelle landes-spezifischer Abschlüsse wie Magister oder Diplom treten, sind darüber hinaus aufKompatibilität mit dem angloamerikanischen System angelegt. Doch dicht unter der Oberflä-che der vereinheitlichten Bezeichnungen6 verschafft sich eine Vielfalt regionaler Traditionenihr Recht, die jede Vergleichbarkeit unterminiert. Während Deutschland flächendeckend uminnovative Bachelor- und Master-Profile ringt, wurden in den Niederlanden teilweise einfachvorhandene Abschlüsse umdeklariert,7 in Frankreich hat sich das große Segment der Gran-des écoles von der Reform abgekoppelt, und England bleibt ohnehin beim Eigenen (etwadem nur an landeseigenen Universitäten zu erwerbenden ›Bachelor of Honours‹, der andersals der kontinentale Bachelor automatisch zum Masterstudium qualifiziert).8 Kein Wunder,dass außerhalb, namentlich in den USA, die im neuen System Graduierten nur zögerlich alssolche anerkannt werden.9 Schwieriger noch ist der Transfer einzelner Studienteile. Dennbislang sind die Module und ihre Belegung mit Leistungspunkten relativ frei variierbar – inDeutschland hat nicht nur jedes Bundesland und jede Universität, sondern nahezu jede Fakul-tät und nicht selten jedes Institut ein eigenes System auf den Weg gebracht. Im harmlosestenFall werden so Erfolgsmodelle kopiert und schleichend zum Standard erhoben; im – beson-ders in den Geisteswissenschaften üblichen – Gegenextrem können die Institute vor lauter Ei-gensinn gar kein Modul und keine andernorts absolvierte Veranstaltung mehr ohne weiteresanerkennen.10 Der europäische Bildungsraum erweist sich hier als ubiquitäre Provinz.

Natürlich nur für eine Übergangszeit; durch Anerkennungsabkommen, Joint- und Double-Degrees sowie die fächendeckende Akkreditierung werden sich neue Standards ergeben.Doch wo sie greifen, steht das nächste, nachhaltigere Problem an: Da mit der Strukturreformzugleich eine Verkürzung des Studiums angestrebt ist, wird zusehends einfach die Zeit fürden Ortswechsel – zumal für den selbst organisierten – fehlen. Auf welche Erfahrungen dannnoch Lehrende und Forschende ihre Mobilität gründen sollen, ist fraglich.

Fest steht hingegen bereits, dass ein weiteres Ziel verfehlt wird: die Absicht, das Studiumindividueller, eigenverantwortlicher und flexibler anzulegen. Diese Absicht entspricht nichtnur der lerntheoretischen Umstellung von Lehrenden- auf Lernendensicht (vgl. exemplarischMandl 1995, Greif/ Kurtz (Hrsg.) 1996), sondern ist bis in die Erlasse der Kultusministerkon-ferenz vorgedrungen: »Die Einführung von Modulen und Leistungspunkten [...] ermöglichtdie individuelle Gestaltung des Studiums bei gleichbleibender Inanspruchnahme der Kapazi-

6) Auch diese Vereinheitlichung ist noch nicht ganz geglückt: Für die Leistungspunkte des European CreditTransfer System (ECTS) z.B. kursieren in den Hochschulen verschiedenste Neologismen und Abkür-zungen, von »Modulpunkte« über »Modulcredits« und »Credits« bis zu »KP«, »MP«, »LP« und »MC«.

7) Sowohl die berufsqualifizierenden hogeschool-Abschlüsse als auch das weiterhin nicht berufsquali-fizierende Grundstudium an Universitäten, die nun beide in den Bachelor überführt wurden, habensich in ihrer internen Struktur kaum geändert (Witte 2006, S. 237-251).

8) Vgl. für die aufgeladene Diskussion um die schwierige Anerkennungslage Witte 2006, S. 184.9) Hinzu kommt, dass viele US-Hochschulen anscheinend den eigenen, vierjährigen Bachelor gegen die

neue europäische Konkurrenz verteidigen wollen (Forschung und Lehre 1/2005, S. 3).10) Vgl. die Einschätzung des Wissenschaftsrats (2006, S. 58f).

376 Tilman Reitz und Susanne Draheim

täten.« (KMK 2000, S. 1) Dringlicher formuliert das Anliegen eine u.a. mit Wirtschaftsvertre-tern besetzte Arbeitsgemeinschaft des Centrums für Hochschulentwicklung, die in der »Öff-nung der Studienstrukturen durch das konsekutive Modell […] Möglichkeiten einer sehr vielgrößeren Flexibilisierung und Anpassungsfähigkeit individueller Bildungs-, Berufs- und Fa-milienbiographien« sieht – wobei natürlich auch »größere Flexibilität […] in der Gestaltungdes Studiums« eine Rolle spielt (Bensel u. a. 2003, S. 60f). Das betrifft nicht allein die gestuf-ten Abschlüsse und eine größere Durchlässigkeit zwischen akademischer und beruflicher Bil-dung.11 Die angestrebte Kombinierbarkeit der Module lässt darüber hinaus sowohl eine steteVermehrung der Studiengänge – von »Anglistik und Medienmanagement«12 bis zum »Kultur-wirt«13 – als auch größere Wahlanteile in den herkömmlichen Disziplinen zu.14 Ein wachsen-des Angebot von Teilzeit- und Ergänzungsstudiengängen ist explizit mitgemeint15 – und hatumso bessere Aussichten, als für die letzteren Gebühren anstehen oder erwogen werden. Esgeht also in der Tat um diversifizierte Offerten und Bedarfslagen, mit der Perspektive auf »in-dividualisierte Vertragsbeziehungen« zwischen Studierenden und Hochschulen (Bultmann/Schöller 2003, S. 348). Die Aussichten für das von (Zusatz-)Gebühren ausgenommene »Erst-studium« freilich sind enger. Denn Modularisierung bedeutet allerorts eine stärkere Verrege-lung der Studienstrukturen und eine Erhöhung der Prüfungsdichte; besonders die für die breiteMasse vorgesehenen Bachelor-Studiengänge werden zu großen Teilen verschult sein. Restan-dardisierung bildet hier nicht allein, wie das Ulrich Beck angenommen hat (1986, S. 210), dieKehrseite, sondern geradezu den Kern dessen, was zunächst als Individualisierung auftritt.

Die organisatorische Seite der Verregelung besteht in verdichteter Bürokratie. Statt einigerZwischen- und Abschlussprüfungen gilt es nun (informationstechnisch unterstützt) einenganzen Studienverlauf zu kontrollieren, der Kampf um den Zuschnitt von Studiengängen,Modulen und Punktesystemen beschäftigt unzählige Planungsstäbe – und die Akkreditie-rungs- oder Qualitätssicherungsagenturen, die deren Maßnahmen zusammenhalten sollen, si-gnalisieren schon mit ihrem Namen Verwaltungslogik. Auch in diesem Punkt hatten die Pro-gramme anderes versprochen. Der wirtschaftsliberale Teil der Reformbewegung –inzwischen auch bei SPD und Grünen tonangebend – prangert seit langem die bürokratischeVerkrustung und Ineffizienz der Universitäten an.16 Die Gegenvorschläge, die zusehendsGesetzesform annehmen, lauten im Kern: Souveräne Leitungs- und Managementstrukturen –die Hochschule wird »Unternehmen« oder zumindest »Organisation«17 – sowie Wettbe-

11) Der parallel zum Bologna-Prozess angestoßene »Kopenhagen-Prozess« soll u.a. durch einen »euro-päischen Qualifikationsrahmen […] die verschiedenen Bildungsbereiche verbinden« und auch für dieberufliche Bildung ein Punktesystem etablieren (BMBF 2005a, S. 18f).

12) Ein im Jahre 2002 akkreditierter Studiengang an der Universität Koblenz-Landau.13) Ein im Jahre 2003 akkreditierter Studiengang an der Universität Duisburg-Essen.14) Das impliziert nicht allein (mögliche) Chancen für die Studierenden, sondern auch Zwänge für die

»traditionell berufsferneren Fächer[]«, die sich nun damit auseinandersetzen müssen, wie ein »berufs-qualifizierendes Profil für die Bachelor-Studiengänge hergestellt werden kann« (BMBF 2005, S. 52).

15) Vgl. KMK 2000, S. 1, sowie Wissenschaftsrat 2000, S. 31.16) Zwei Buchtitel umschreiben prägnant den Diskurs: Was derzeit noch herrscht, ist Die blockierte Univer-

sität (Daxner 1999), was kommen muss, Die entfesselte Hochschule (Müller-Böling 2000). Die interna-tionale Literatur zur »Entrepreneurial University« ist inzwischen kaum noch zu überschauen, legt abergemeinhin gleichfalls auf Entbürokratisierung Wert (vgl. etwa, signifikant und einflussreich, Clark 2004).

17) Die in den letzten Jahren verabschiedeten Hochschulgesetze und -gesetzesänderungen der Bundesländersehen sämtlich unternehmensförmige Strukturen vor: finanziell verselbständigte Stiftungsuniversitäten,ein gestärktes Präsidium, seine Ergänzung durch ›Hochschulräte‹, die Aufsichtsräten nachempfundensind und z.T. auch so heißen sollen. In Bayern, Berlin, Hamburg und im Saarland, wo die Kompetenzendieser Räte am weitesten reichen, entscheiden sie etwa »über grundsätzliche Fragen der Haushalts- undWirtschaftspläne, die Gliederung der Hochschule in Fakultäten und zentrale Einrichtungen, Studiengängeund« – noch ein Wirtschaftsinstrument – »den Abschluss von Zielvereinbarungen« (Kupfer 2004, S. 209).

Die Rationalität der Hochschulreform 377

werb, wo es nur geht – man konkurriert um »Exzellenz«, »Kunden« und Forschungsgelder.Beides bedeutet fraglos einen Abbau demokratischer Mitbestimmung – sofern »Vorstand«und »Aufsichtsrat«18 alte Gremien der Selbstverwaltung ersetzen – sowie akademischerFreiräume – weil Forscherinnen und Lehrende nun regelmäßig messbare Erfolge nachweisenmüssen. Bürokratie dagegen wird nur abgebaut, um andernorts nachzuwachsen. »Die neueAutonomie der Hochschulen bedeutet […] nicht nur eine Erweiterung der Aufgaben des in-stitutionellen Managements, sondern es zeichnet sich zugleich ein deutlicher Trend zur Ent-stehung einer Vielfalt von Pufferorganisationen und Vermittlungsinstanzen ab: Evaluations-agenturen, Hochschulräte, Landeshochschulräte, Kuratorien, Strukturkommissionen,nationaler Akkreditierungsrat u.ä.« (Kehm/ Pasternack 2001, S. 67) Ein größerer Teil dieserInstanzen dient ironischerweise dazu, in bislang davon ausgenommenen Bereichen einenfreien Markt zu simulieren.19 Von den Hochschulrankings und Zitationsindizes über denKampf um Drittmittel und Anteile am Globalhaushalt bis zum Wettbewerb um das lukrativeEtikett »Elite« – überall werden Apparaturen der Erfassung, Einordnung und Zuweisung be-nötigt, weil eben kein echtes Spiel von Angebot und Nachfrage stattfindet. Parallel zum Be-fund bei der individuellen Studiengestaltung kann man also zusammenfassen: Was als Dere-gulierung auftritt, erweist sich als »Re-Regulierung« (Krücken 2004).

Man könnte die Liste fortsetzen: Wo Berufsorientierung angestrebt wird, kollidiert dies re-gelmäßig mit fachlichen Standards, geht aber oft auch an den wechselnden Anforderungendes Arbeitsmarktes vorbei – und führt nicht selten zur Konstruktion von »Berufsattrappen«als Pseudoziel neuer Studiengänge (Kaube 2004); wo Universitäten sich stärker selbst finan-zieren sollen, sichert dann doch der Staat das Budget und verfügt umgekehrt über die wach-senden Studiengebühren; wo internationale Attraktivität angestrebt ist, demontiert man inter-national anerkannte Abschlüsse. Dabei hätten vergleichbare Erfahrungen andernorts Anlassgeben können, aus gemachten Fehlern zu lernen. In Großbritannien wurde z.B. schon unterThatcher spürbar, dass die ›liberale‹ Reform Regierungsinterventionen weniger abbaut alsausweitet – der Wechsel »from advance regulation to performance control« bringt nahezuautomatisch eine verfeinerte Überwachung und Regulierung mit sich (Bleiklie 2000).20

Wichtiger als die Verfolgung der erklärten Reformziele scheint den Beteiligten mithin zusein, den Reformprozess mit aller Kraft voranzutreiben. Im Zweifelsfall ersetzt zuverlässigder Hinweis auf den permanenten Ausnahmezustand des globalen Kapitalismus die Debatteüber Alternativen. Nur stellt sich damit tatsächlich die Frage: Warum?

2. Akademische und soziale Eliten: latente Funktionen der Hochschulreform

Als Robert K. Merton die Unterscheidung zwischen manifesten und latenten Funktionen indie Soziologie einführte, versprach er sich davon als erste Nutzanwendung: »Clarifies theanalysis of seemingly irrational social patterns. In the first place, the distinction aids the so-ciological interpretation of many social practices which persist even though their manifestpurpose is clearly not achieved.« (1948, S. 118) Will man hiervon ausgehend das irrationaleErscheinungsbild der Hochschulreform begreifen, ist zu beachten, dass sie (trotz aller Aus-sicht auf Unabschließbarkeit) selbst keine verstetigte Praxis darstellt, sondern allenfalls eine

18) Vgl. für diese Terminologie das Zweite Gesetz zur Änderung hochschulrechtlicher Vorschriften Ba-den-Württembergs, §15 (Gesetzesblatt für Baden-Württemberg, 5.1.05).

19) Aldo Geuna hat in Großbritannien bereits 1997 solche »simulated markets« der Mittelvergabe analysiertund auf unerwünschte Konsequenzen wie eine Zentralisierung.der Forschungslandschaft hingewiesen.

20) Darüber hinaus kommt das Medium des veranstalteten Wettbewerbs verlässlich dem Reformziel In-novation in die Quere; der Zwang, ständig neue Mittel einzuwerben, ruft nahezu automatisch Kon-formismus hervor – »ritualistic and short-term research, simply to bring in grants and improveratings« (Parker/ Jary 1995, zit. n. Schimank 2002, S. 11)

378 Tilman Reitz und Susanne Draheim

solche herstellt und andere Strukturen abschafft. ›Funktional‹ kann sie damit in mindestenszweierlei Hinsicht sein: Als Einrichtung einer Ordnung, die sich bereits in veränderte Kon-texte einpasst, aber auch als Adaptionsprozess, der nutzlos gewordene Reste frühererWirkungszusammenhänge tilgt oder neutralisiert.

Zumindest im ersten Fall stellt sich zudem die Folgefrage, wie die latenten Funktionen derneuen Praxis stabilisiert werden. Merton nimmt schlicht eine Rückwirkung der positivbetroffenen Bereiche an. Sobald der Regentanz den Zusammenhalt der Stammesgemein-schaft oder die Autorität ihrer Anführer stärkt, wird sie oder werden diese ihn nicht mehraufgeben.21 Das ist als globale Rahmenannahme plausibel, muss jedoch durch Zwischenstu-fen ergänzt werden, wo die Wechselabhängigkeiten noch im Werden sind. Als teilnehmen-der Beobachter im Hochschulbereich kann man etwa feststellen, wie Akzeptanzhaltungen alsNebenfolge entstehen. Die dezentrale, experimentelle Umsetzung der Reformvorgaben solltehier wohl zunächst nur eine Vielfalt praktikabler Lösungen anregen, erhöht inzwischen aberaufgrund der resultierenden Unordnung die Zustimmung zu jedem Standard, der überhauptin Sicht kommt. Die verbreitete Unsicherheit – über »die Erwartungen von Akkreditierungs-agenturen, die Akzeptanz der Studiengänge bei den Studierenden, die komplizierte Abstim-mung eines ineinander greifenden Systems von Modulen« – könnte somit die »Re-Regulie-rung und Homogenisierung als unbeabsichtigte Folge der Reform« unterstützen (Bellmann2005, S. 26). Nicht-intendierte Strukturen und bewusste Motivlagen wirken dabei zusam-men: Module, Punkte und ihre Begründungen mögen vielen Beteiligten gleichgültig sein, siekommen jedoch dem Bedürfnis entgegen, dem Studium eine strikte, verbindliche Struktur zugeben.22 In dem Maß, in dem man über den engen Bereich unmittelbar Beteiligter hinaus-geht, wird die Bestimmung solcher Funktionen selbstverständlich schwieriger und willkür-anfälliger. Das Beispiel macht aber immerhin deutlich, dass das im Bezug auf erklärte Zwe-cke Latente nicht schlechthin unsichtbar sein kann: Um zunächst unbeabsichtigte Vorteileausfindig zu machen, muss man sich zumindest an Untertönen und Nebenbotschaften dessenorientieren, was im Umfeld eines Veränderungsprozesses geäußert wird. Der Begriff der la-tenten Funktionen wird hier mithin so offen wie möglich gebraucht: Als funktional könnensich auch Zerstörungsakte erweisen, und als latent gilt ein Funktionszusammenhang bereitsdann, wenn er nicht in den erklärten Absichten bestimmender Akteure vorgesehen ist.

Eine weitere, besonders von Luhmann hervorgehobene Bedeutung von Latenz am Randedes Funktionalen sei vorbereitend zumindest erwähnt: Jeder Umgestaltungsprozess setzt ei-nen Überschuss nicht aktuell, aber potenziell anschlussfähiger Strategien frei, die sich je ein-zeln als absurd erweisen mögen, jedoch in ihrer Gesamtheit als unverzichtbares Reservoirfür die weitere Entwicklung dienen.23

21) Dabei muss es, wie Merton betont, nicht immer gleich um vitale Bedürfnisse des gesamten Sozial-systems gehen: »Far more useful as a directive for research would seem the provisional assumptionthat persisting cultural forms have a net balance of functional consequences either for the society con-sidered as a unit or for subgroups sufficiently powerful to retain these forms intact, by means of directcoercion or indirect persuasion.« (1948, S. 86)

22) Auch die gestuften Abschlüsse erscheinen in diesem Blickwinkel eher als Beiwerk. In einer vergleichendenStudie, die untersucht, ob sie die angestrebte Verkürzung der Studienzeiten befördern, lautet das Resultat:»Vor allem der Umfang, in dem verbindliche Vorgaben für einen Studiengang gemacht werden und in demder Studiengang fest vorstrukturiert ist, nimmt großen Einfluss auf die Studiendauer, während die bloßeUnterteilung in ein oder mehrere konsekutive Stufen keinen Effekt hat.« (Schwarzenberg 2005, S. 34)

23) Luhmann erklärt den Sachverhalt sehr allgemein: »Kapazitätsschranken zwingen [...] Systeme jederArt zur Reduktion von Komplexität, [...] zur nur selektiven Realisierung ihrer Möglichkeiten. Alles,was dadurch ausgeblendet wird, bleibt rein faktisch latent und ist insofern nur eine Restgröße ohneFunktion. Viele der ausgeblendeten Möglichkeiten könnten aufgegriffen werden, wenn Kapazität ge-rade frei und Zeit und Gelegenheit günstig sind.« (1987, S. 460)

Die Rationalität der Hochschulreform 379

Die wohl einfachste Form nicht-manifester Funktionen sind Zwecke, die zwar vorgesehensind, aber nur um den Preis von Akzeptanzverlust öffentlich erklärt werden könnten – bereitsKant hat sie als nicht publizitätsfähige (und daher unmoralische) Politik thematisiert. Dassman zwar in Statistiken mehr Studierende und akademisch Ausgebildete führen, zugleichaber weniger Geld für Lehrpersonal und gute Studienbedingungen ausgeben will (Kaube2005), ist kein Zweck, der sich offiziell mit dem neuen Bachelor-Studium verbinden lässt –so dass man in Regierungsprogrammen eher lesen wird, es bereite zügig und zuverlässig aufden Erfolg im Beruf vor. Ergänzend können Landesregierungen dann den Master finanziellzur Privatsache erklären oder zumindest kostensparende Übergangsquoten festlegen. Ein et-was anders gelagerter Fall ergibt sich, wenn verschiedene relevante Gruppen inkompatibleInteressen verfolgen; der zähe Widerstand der Professorenschaft gegen Kontrollen lässt sicham besten dadurch brechen, dass man als Ziel »Exzellenz« ausgibt und so die Befreiung vomstudentischen und bürokratischen Mittelmaß mitverspricht. Verschiebungsmöglichkeitendieser Art bestehen genug, da die Reform in mehreren Anläufen auf den Weg gebracht wur-de und sich entsprechend viele Zielerklärungen angelagert haben.24 Diejenigen, die sich alshinreichend inhaltsleer erwiesen haben, können von den ebenfalls zahlreichen beteiligtenInteressengruppen eingesetzt werden (vgl. Kehm/ Pasternack 2004, 234), wenn diese eigenePrivilegien verteidigen und fremde angreifen, partikulare Überzeugungslagen verbreitenoder allgemeine Evidenzen kippen wollen. Neben der Exzellenz zählen Effizienz, Flexibili-tät, Vielfalt, Qualität und Kompetenz zu diesen Leerformeln, deren Aufstieg primär signali-siert, dass man sich nicht einig ist, wohin es gehen soll. Nimmt man sie alle zusammen,könnte man in Anlehnung an einen Gedanken Jon Elsters mutmaßen, dass einzig die Kritikerder Reform an diese glauben25 – kaum jemand anders nimmt ernsthaft an, dass sich dieHochschulen in profitable Unternehmen verwandeln oder ihr gesamtes Lehrprogramm in eu-ropäisch frei transferierbare Stücke aufgliedern werden.

Man kann auf diese Weise versuchen, die gesamte Reform als Zusammenspiel mehr oderminder verdeckter, immer begründbarer, wenn auch oft kurzsichtiger Strategien zu analysie-ren. Doch damit fiele von vorneherein die Frage fort, ob nicht auch funktional sein kann, waszunächst kein bestimmender Akteur so gewollt hat.

Diese Frage liegt besonders dort nahe, wo die Reform sozialstrukturelle Effekte erwartenlässt. Die angebahnte Aufteilung der Hochschullandschaft in international bekannte, mitSondermitteln geförderte Spitzenstandorte, national anerkannte Ausbildungsstätten und Ein-richtungen von nur noch regionaler Bedeutung26 wird nicht allein die fachliche, sondern

24) Vgl. für die verschiedenen Anläufe und z. T. widersprüchlichen Ziele im europäischen RahmenWächter 2004, für den der marktoffene Geist von Bologna seit 2003 einer »anti-liberal« bzw. »anti-globalist attitude« gewichen ist (S. 272f). Umgekehrt erkennt Paul Kellermann in der Vorgeschichtedes Prozesses, zwischen der Sorbonne- und der Bologna-Erklärung, einen »Umstieg von humanisti-schen Bildungszielen auf utilitaristische Instrumentalität« bzw. einseitig »wirtschaftliche Zwecke«(2006, S. 57).

25) Der Gedanke ist an ein Beispiel aus der alten Geschichte geknüpft, aber auf Übertragung angelegt:»Paul Veyne suggests that the cult of the Roman Emperor did not rest on a substantial belief in hisdivinity. […] But even though the cult of the Emperor had no believers, it had some fanatical non-believers – the Christians. The Emperor’s divinity was taken seriously only by those who denied it.«(Elster 1983, S. 49)

26) Enthusiastischer hat diese Einteilung 2002 der britische Staatssekretär Clarke formuliert: »We needto identify more clearly the great research universities, the outstanding teaching universities and thosethat make a dynamic, dramatic contribution to their regional and local economies. The funding sys-tem flows from the conclusions« (zit. n. Hazelkorn 2005, S. 21). In Deutschland entspricht diesemTrend prominent die Einrichtung von Exzellenz-Clustern, aber auch die gewachsene Bedeutungstaatlich geförderter Drittmittelprojekte insgesamt.

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auch die soziale Selektion befördern. Das ist nach PISA zwar kaum vertretbar, liegt aber aufder Hand. Wer es sich leisten kann, wird nun schon die Schulausbildung seiner Kinder dar-auf ausrichten, dass sie einmal eine hochrangige Universität besuchen können, und in denSonderfällen, in denen ohne solche Vorkehrungen der Aufstieg gelingt, führt dies den ver-engten Führungskreisen das nötige frische Blut zu. Denn umgekehrt werden sich z.B. privateund öffentliche Arbeitgeber die Vorselektion zunutze machen. Und schließlich sind aus tra-ditionell hierarchisierten Systemen die Beziehungsnetzwerke bekannt, die innerhalb ausge-wiesener Institutionen gepflegt werden.27 Zielten Öffnung und Ausbau der Hochschulen inden 1970er Jahren auf soziale Egalisierung, so wird ihre gegenwärtig (oft von den gleichenParteien) geplante Hierarchisierung zu erneuerten Klassenstrukturen28 und sozialstrukturel-len Schließungen beitragen29.

Weshalb eine interne wie externe Re-Hierarchisierung unter gegenwärtigen Bedingungenfunktional sein könnte, wird klarer absehbar, wenn man sich eine komplementäre Tendenzder Reform vor Augen führt: die Anlage eines Reservoirs kompetenter, aber relativ an-spruchsloser und anpassungsfähiger Wissensarbeiter. Dass die Ausweitung der höheren Bil-dung auf immer breitere Schichten ein Erfordernis der wissensbasierten Ökonomie ist, zähltzu den Gemeinplätzen der Hochschulforschung und -politik. Tatsächlich hat sich in den1990er Jahren, zeitgleich mit dem Wachstum des tertiären Sektors und der informationstech-nischen Revolution, der Anteil der Hochschulabsolventen unter den Arbeitnehmern erheb-lich gesteigert.30 Eine qualitative Beziehung zwischen veränderter Arbeitswelt und refor-mierter Hochschullandschaft kommt allerdings erst in den Blick, wenn man berücksichtigt,dass der heterogene Bereich der ›Wissensarbeit‹ sich wiederum in gewöhnliche und außerge-wöhnliche Anforderungen, Führungs- und Ausführungspositionen aufgliedert: »sophistica-ted labour market requirements for enhanced qualifications have steadily transformed elitehigher education into mass universal and compulsory undergraduate education, while specia-lisation and professionalisation are increasingly elements of postgraduate programs« (Hazel-

27) Michael Hartmann (2005) hat, veranlasst durch die deutsche Exzellenzinitiative, jüngst noch einmalbelegt, dass stark hierarchisierte Systeme höherer Bildung – in Frankreich, Japan, England (wo esfreilich eher auf die Schule ankommt) und den USA – immer auch dazu dienen, soziale Führungspo-sitionen weiterzureichen. Für den deutschen Trend hierzu macht er anders als wir vorrangig starkeGruppeninteressen verantwortlich: das Interesse der »Wirtschaft« an besserer Spitzenausbildungohne Steuererhöhungen (S. 15), die Hoffnung »akademisch ausgebildeter Berufsgruppen«, »sozialenStatus [...] vererben zu können« (S. 16f), schließlich einen allgemeinen Behauptungswillen bei den»maßgeblichen Eliten dieses Landes. Aus ihrer Sicht passt die Forderung nach Elitebildung [...] ge-nau in eine Zeit, in der die wachsende Spaltung der Gesellschaft nach politischer Legitimierung ver-langt« (S. 17). Wer freilich diese Eliten sind, erfährt man nicht genauer.

28) Wir folgen hier Bourdieus Begriff der sozialen Klasse, die für ihn weder durch ein Merkmal nochdurch eine Summe oder eine Kette von Merkmalen bestimmt wird: »Eine soziale Klasse ist vielmehrdefiniert durch die Struktur der Beziehungen zwischen allen relevanten Merkmalen, die jeder dersel-ben wie den Wirkungen, welche sie auf die Praxisformen ausübt, ihren spezifischen Wert verleiht.«(Bourdieu 1979, S. 182). Gemeint ist z.B., dass die Korrelation der Merkmale »weiblich« und »Pfle-geberuf« nicht zufällig ist – im obigen Kontext wäre an Merkmale aus den Bereichen »Herkunft«,»Reputation der Bildungsstätten« und »berufliche Position« zu denken.

29) Der Trend dazu besteht bereits. Sabine Kiel (2004) legt anhand der 16. Sozialerhebung des DeutschenStudentenwerks dar, dass sich Bildung und Herkunft bereits seit einiger Zeit wieder stärker verbin-den, während das massenhafte Studieren die beruflichen Zugangsschwellen einstweilen nur ver-schiebt.

30) Nach Daten der Bundesanstalt für Arbeit stieg zwischen 1990 und 1997 die Anzahl der Arbeitnehmermit Universitätsabschluss um 640.000 und derer mit Fachhochschulabschluss um 552.000, währenddie Zahl der nicht höher qualifizierten Beschäftigten insgesamt um 2.301.000 zurückging. Die Quoteder Hochschulabsolventen unter den Beschäftigten erhöhte sich im gleichen Zeitraum von 11 % auf16 % (Schomburg 2000, S. 193).

Die Rationalität der Hochschulreform 381

korn 2005, S. 19). Berücksichtigt man zudem die häufig prekäre Realität dessen, was als Fle-xibilisierung von Arbeitsmärkten und Berufsbiographien beschrieben wird,31 ergibt sich einhinreichend deutliches allgemeines Anforderungsprofil: Wenn geistige Arbeit, von symbola-nalytischen über kommunikative bis zu organisatorischen Tätigkeiten, zur durchschnittlichenErwerbsarbeit zu werden beginnt, kann ihre bisherige Kopplung an leitende und privilegiertePositionen nicht aufrecht erhalten werden, und wenn umgekehrt die durchschnittliche quali-fizierte Erwerbsarbeit radikal entstetigt wird, bereitet eine kohärente Fachausbildung nichtangemessen auf sie vor.32 Vielmehr muss, wer sie ausübt, bereit sein, auf eine führendeFunktion zu verzichten – und sich auch dann fit zu halten, wenn er gerade nicht gebrauchtwird. Vonnöten ist mithin eine intellektuelle Reservearmee, die sich von der klassischen in-dustriellen dadurch unterscheidet, dass sie mit formal hoher Qualifikation antritt und diesezwischen den Jobs beständig ergänzt. Man kann sogar erwägen, ob diese Reservearmee nichtwie die von Marx analysierte die Funktion erfüllt, das allgemeine Lohnniveau niedrig zu hal-ten: »it is hard to deny that the current educational policies of supranational bodies like theWorld Bank and the European Union […] have, if not as an explicit aim, at least the effect ofcreating a global reserve army of ›knowledge workers‹. In the process, any market advan-tages held by those who previously had more or less exclusive access to this knowledge aredestroyed« (Huws 2006, S. 30). Wie immer sich dieser Funktionsnexus genau entwickelnwird: Die Hochschulen stellen den flexiblen Standard-Wissensarbeitern Module fürs lebens-lange learning on demand zur Verfügung, disziplinieren sie von Beginn an durch eine ver-wertungsorientierte Ausbildung und machen ihnen mittels verschärfter Selektion klar, dassihre Wissensformen wenig mit denen der Führungseliten verbindet. Gerade im akademi-schen Milieu hat sich auch schon eine Art Avantgarde der neuen Klasse gebildet: Die engli-schen und amerikanischen Lecturers, die semesterweise für periodisch erneuerte Stu-dienprogramme eingestellt werden, fungieren bereits als intellektuelle Lohnarbeiter – undgelten folgerichtig in der deutschen Hochschulpolitik vermehrt als Zukunftsmodell.

Die Frage nach sozialstrukturellen Funktionen der Reform hat freilich das grundlegendeProblem, dass sie vorgreifend operieren muss. Konkrete Rückkopplungen, die die entstehen-den Strukturen samt Nebeneffekten stabilisieren, lassen sich mithin noch kaum beobachten.Wohl aber ist ein umgekehrtes, negatives Verfahren gangbar: Man kann fragen, welche (of-fenen oder verdeckten) Funktionen der Hochschulen unvermerkt weggebrochen sind. Undman kann darüber hinaus extrapolieren, auf welche veränderten Zuständigkeiten sie sich inReaktion darauf vorgreifend ausrichten. Alles dies muss freilich auf einer abstrakteren Ebenegeschehen als bisher; es geht um Funktionen, die Hochschulen insgesamt in einer Ge-sellschaft ausfüllen.

3. Legitimation durch Verfahren: das neue Wissensregime

Nicht erst seit Humboldt und nicht nur in Deutschland, definitiv aber seit dem Erfolg desBerliner Modells im 19. Jahrhundert sind Hochschulen sowohl für Forschung als auch fürLehre zuständig: in ihnen überlagern sich, mit Luhmann gesprochen, das Wissenschafts- unddas Erziehungssystem der Gesellschaft. Sie bilden aus (und dokumentieren das durch Zertifi-

31) Die Abhängigkeitsstrukturen, die mit dieser Arbeitsform aufkommen, hat besonders Sennett betont,für den der »diskontinuierliche[] Umbau von Institutionen« und die »flexible[] Spezialisierung derProduktion« zugleich eine »Konzentration von Macht ohne Zentralisierung« bedeuten (1998, S. 59).

32) Die Absicht, eine solche Ausbildung durch stärker strukturierte Studiengänge zu befördern, zählt, wieder Streit ums Diplom nahelegt, zu den wenig aussichtsreichen offiziellen Reformzielen. Ihr stehtauch die Auffassung von Wirtschaftsvertretern entgegen, dass die Inhalte des Bachelor-Studiums re-lativ gleichgültig sind – weil es hier primär um den »Erwerb und die Einübung flexibler Lernfähig-keiten« geht (Bensel u. a. 2003, S. 38).

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kate), regulieren und erweitern aber zugleich, was als Wissen gilt. Struktur und Verhältnisdieser Bereiche verschieben sich mit den Einsatzbedingungen von Kompetenzen und Wissen– je nachdem, ob man z.B. Theologen oder Informatiker braucht –, greifen jedoch zugleichmit einem dritten Funktionsbereich zusammen, der chronisch umstritten ist: Bildung. DasArrangement, das sich mit dem überkommenen deutschen Begriff wohl immer noch am voll-ständigsten ansprechen lässt, organisiert die Deutungsmuster und -aktivitäten, mittels derersich Individuen ihre soziale Umwelt und die eigene Position darin aneignen. Es prägt ihregeistige bzw. ideologische (Selbst-)Vergesellschaftung. So verstanden ist Bildung nicht ein-fach ein kostbares (oder nutzloses) Erbe der deutschen Klassik, das in der Moderne verlorenzu gehen droht, sondern ein dauerhaftes funktionales Erfordernis individualistischer Gesell-schaften. Zur Zeit werden entsprechende Aufgaben in den Programmen von Selbst- und So-zialkompetenz, Schlüsselqualifikationen und soft skills reartikuliert; zuvor war der geläufigeTitel ›Kritik‹. Die so oder so benannte deutungsvermittelte Sozialisierung bildet gleichsamdie sensibelste Schnittstelle zwischen akademischem Leben und sozialem Wandel. Ob sichalternative Lebensmodelle verbreiten, historische Brüche zu verarbeiten oder politischeKämpfe auszutragen sind, die Hochschulen dienen (wie Berkeley, Berlin und Paris 1968) alsKatalysator. Ihre wissenschaftlichen wie ihre Ausbildungsfunktionen bleiben davon nichtfrei – ohne Neuhumanismus keine »Geisteswissenschaft«, ohne Sozialpolitik keine Soziolo-gie; umgekehrt bestimmt die gegebene Struktur von Ausbildung und Wissenschaft mit, wasan Bildung vertretbar ist – mal soll sie die Individuen als Beamte, mal als Ingenieure undmal als Betriebswirtschaftler formen. Entsprechend ist schließlich auch variabel, welcherFunktionsbereich der Hochschule in den Vordergrund tritt. Wir werden das Ensemble ihrerWissenschafts-, Ausbildungs- und Bildungsfunktionen im Folgenden auf die momentan eherunterbelichtete dritte, symbolisch sozialisierende hin befragen und es zusammenfassend alsRationalitäts- oder Wissensregime bezeichnen.

In der deutschen Hochschulgeschichte haben zwei solcher Regimes tiefe Spuren hinterlas-sen: Die noch relativ geschlossene Bildungsanstalt des 19. Jahrhunderts und die politisch-so-ziale Öffnung, die um 1968 die Universitäten ergriffen hat. Ein Verständnis der ersteren kannsich an das Paradox halten, dass die Universität »in streng wissenschaftliches Denken einübteund zugleich Staatsbeamte produzierte« (vom Bruch 2001, S. 65), allgemeiner die Führungs-schicht der »Akademiker« ausbildete.33 Als Schnittstelle zwischen beiden Funktionen hatman häufig Persönlichkeitsbildung identifiziert. Damit die Wissenschaft jedoch tatsächlich»den innersten Kern des menschlichen Handelns« (Schelsky 1970, S. 214) oder zumindestwichtige Verhaltensmuster formen konnte, war nicht allein eine Beschränkung des Hoch-schulzugangs auf enge, nur langsam erweiterte Kreise vonnöten,34 sondern auch eine spezifi-sche Limitierung der Bildungsgüter. Wenngleich sich ab 1810 nicht unmittelbar eine neuhu-manistische ›Idee der Universität‹ realisiert und verbreitet hat,35 fügte sich die (u.a. durch dieEntscheidung gegen neue Hochschultypen bedingte) Konzentration auf alte Sprachen, klassi-

33) Für Fritz Ringer war die deutsche »Bildungsaristokratie« mit ihren Privilegien, ihrem hohen Staats-rang, Einkommen und Ansehen vor 1890 sogar zur »funktional herrschenden Klasse der Nation ge-worden« (1969, S. 44).

34) Zurecht wurde festgestellt, dass die deutschen Universitäten im 19. Jahrhundert auch ein Vehikel sozi-alen Aufstiegs waren (Lübbe 1993, S. 97) – aber eben nur für wenige und in eine sich zusehends selbstergänzende staatliche bzw. staatsnahe Elite (vgl. die auch von Lübbe genutzten Daten in Turner 1987).

35) Der Mythos um die Berliner Universität, die u.a. auf die Ideen Humboldts, Fichtes und Schleierma-chers zurückgeführt (Anrich (Hrsg.) 1956) und als Vorbild für ganz Deutschland sowie die USA ge-handelt wird (vgl. den Überblick bei Turner 2001), ist von der Forschung inzwischen gut widerlegt –Sylvia Paletschek (2001) zeigt, dass im 19. Jh. weder das Berliner Arrangement besonders innovativoder vorbildhaft noch Humboldts Konzeption als solche geläufig war – bekanntlich wurde seine zen-trale Denkschrift ja auch erst um 1900 publiziert.

Die Rationalität der Hochschulreform 383

sche Autoren und vorbildliche geschichtliche Vorgänge gut ins rekonfigurierte Verhältnisvon Wissenschaft und Staat ein. Während die neoabsolutistischen Regierungen zugleich diekorporative Verkrustung und die tradierte Selbständigkeit der Universitäten aufbrachen,36

pflegten die zusehends professionalisierten Wissenschaften geistesaristokratische Ideale undein Bewusstsein nationaler Besonderheit,37 und die Gymnasiallehrerausbildung, die zu einerakademischen Kernaufgabe wurde,38 trug diese Orientierungen in breitere gebildete Schich-ten. Kanonisierte Weltdeutung konnte derart die unmittelbar autoritäre Vergesellschaftungbeerben – wo diese nicht direkt im Meister-Schüler-Verhältnis fortgeführt wurde. Voll entfal-tet hat sich dieses Regime erst mit der Herausbildung und vielfachen Bearbeitung des MythosHumboldt im 20. Jahrhundert; die Spätfolgen finden sich, sentimentalisch gebrochen, noch inden Theorien der Geisteswissenschaft, die Ritter, Schelsky, Tenbruck und ihre Schüler seitden 1960er Jahren hervorgebracht haben. Zur gleichen Zeit hatte sich jedoch bereits das Ge-genmodell formiert: Indem man die Wissensordnung und die Hierarchien im Innern derHochschule erschütterte, wollte man zugleich die Sozialordnung außen umwälzen. Wie auchimmer es mit den Erfolgen dieser Strategie steht, sie verlieh der akademischen Forschung,Lehre und Sozialisierung für etwa zwei Jahrzehnte ihren funktionalen Akzent. Sie wurdenzum Austragungsmedium politischer Konflikte – und zum Labor neuer Lebensformen.

Für ein Verständnis dessen, was heute geschieht, ist vor allem ein genauerer Blick auf denzweiten Aspekt hilfreich. Allgemein werden Genese und Folgen von 1968 mit der Entwick-lung verknüpft, dass sich die Hochschulen einem neuen Massenpublikum öffneten39 – vomrasanten Anstieg der Studierendenzahlen in der Nachkriegszeit über die rund 50 Hoch-schulgründungen der 1970er Jahre, die auf eine bislang nicht akademisch sozialisierte Klien-tel zielten, bis zur 1977 beschlossenen Parallelaktion weiterer Öffnung und stagnierenderHaushalte (vgl. Teichler 2005, S. 30ff). Die »Massenuniversität«, die sich in diesem Prozessherausbildete, gilt seit den einflussreichen Studien Martin Trows (1974; 1979) als natürli-ches Nachfolgemodell der »elite higher education«. Diese Beschreibung verbindet sich frei-lich mit dem Imperativ einer »diversification«, die Sonderbereiche für die letztere etab-liert.40 Wo sie (noch) fehlen, wird die Realität der Massenuniversität überwiegend negativeingeschätzt. Sie anonymisiert die Lehrbeziehungen, reduziert die Studierenden auf Verwal-tungsobjekte, entwertet die Abschlüsse, erstickt innovative Impulse im Mittelmaß – kurz: siezerstört alles, was höhere Bildung zum Versprechen gemacht hat. Im Hintergrund solcherEinschätzungen lauert, mehr oder weniger explizit, die Furcht vor anomischen Zuständen.41

Für den Hochschulhistoriker Thomas Ellwein etwa »verwies« die Studentenrevolte »auf spe-zifische Probleme einer ›Massenuniversität‹, in der es an jenem persönlichen Umgang fehlt,der Konflikte in einer Form auszutragen erlaubt, welche das jeweilige Ganze nicht gefährdet,sondern weiterbringt« (1992, S. 254). 1968 wird also zugleich aus dem Unbehagen in der

36) Etwa: Berufungsrecht, ökonomische Selbständigkeit, akademische Gerichtsbarkeit (Paletschek 2001,S. 85f).

37) Besonders natürlich die zunächst die Philosophische Fakultät dominierenden Geisteswissenschaften(vgl. Iggers 1968, Ringer 1969).

38) In den Jahren 1840-1860 strebten 40-55% der deutschen Studenten das Gymnasiallehrereramt an(Turner 1987, S. 231).

39) Vgl. z.B. Jarausch 1999, Lundgreen 1997 und Ellwein 1992.40) Diese Entwicklung wird in der Hochschulforschung je nach Anlass prognostiziert oder gefordert –

wobei Europa gegenüber den USA gewöhnlich als Anomalie erscheint (vgl. Trow 1976, Clark 1987,Teichler 2005, S. 100ff).

41) Nämlich Zuständen »der gestörten Ordnung«, in denen man mangels fester Macht- und Chancenver-teilung »nicht mehr [weiß], was möglich ist und was nicht, was noch und was nicht mehr angemessenerscheint, welche Ansprüche und Erwartungen erlaubt sind und welche über das Maß hinaus gehen«(Durkheim 1897, S. 288f).

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Massenuniversität hergeleitet und als Manifestation ihrer Defekte gedeutet – man hat ebendie Fähigkeit verloren, Konflikte formvollendet auszutragen.

Die Perspektive der Anomie kann jedoch dazu Anlass geben, die Massenuniversität in einanderes Licht zu rücken: Vielleicht hat sie die alten Bildungsversprechen gar nicht erledigt,sondern ein erstes Mal die Chance eröffnet, mit ihnen Ernst zu machen. Denn wie, wennnicht unter entregelten Bedingungen sollte eine Begegnung von Wissenschaft und Persön-lichkeit zustande kommen, das tatsächlich unbestimmt lässt, wie man sich am Ende gesell-schaftlich positioniert? Erst der anonymisierte Massenverkehr hat Alternativen zu den – zu-mal in den Geisteswissenschaften – typischen Lehrer-Schüler-Symbiosen eröffnet, erst dasAufbrechen unversöhnlicher Konflikte hat es möglich gemacht, Wissensordnungen undLehrformen auf breiter Front umzuwälzen, und erst die anhaltende soziale Öffnung dieses inBewegung geratenen Feldes machte es möglich, während des Studiums antibürgerliche Le-bensformen zu suchen. Von den Wohn-, Theorie- und Agitationsgemeinschaften der 1970erJahre bis zu den exzentrischen Identitäten der Postmoderne42 haben die Hochschulen eineerstaunliche Breite existenzieller Experimente hervorgebracht – samt der Sackgassen, demMisslingen und der zerstörten Biographien, die mit solchen Versuchen einhergehen.

Inzwischen ist die geschilderte Entwicklung weit über individuelles Scheitern hinaus anGrenzen gestoßen. Für die Ausbildung hat sie sich als nur begrenzt funktional erwiesen, weileben massenhaft nicht auf den Beruf hin studiert wurde. Die berüchtigten langen Studienzei-ten,43 die wachsenden Einschreibquoten in Fächern mit hoher Abbrecherquote44 sowie dieSchwierigkeit, qualifikationsadäquate Arbeit zu finden,45 hätten ohne den Umbau der ost-deutschen Hochschulen ab 1989 vermutlich schon früher politische Eingriffe provoziert,46

und anderthalb Jahrzehnte danach löst die bloße Vorstellung, dass junge Menschen zu spätund zu selten ans Geldverdienen denken könnten, Panik aus. Die oben umrissene Auswei-tung von Wissensarbeit zur Durchschnittsarbeit, die dabei im Hintergrund steht, betrifft auchdie hochschulische Bildungsfunktion: zieloffene Selbstentfaltung wird nicht zuletzt insofernobsolet, als sie einen Restbestand älterer Elitevorrechte darstellt. In der akademischen For-schung hat sich zudem die Furcht verbreitet, dass die biographisch-soziale Experimentier-freude fachliche Standards zersetzt.47 Schließlich ist die Kommunikation des hochschuli-schen Lebensraums mit seiner Umwelt gestört – von den Bürgerbewegungen bis zum

42) Als eine späte Dokumentation kann etwa die Festschrift zu Dietmar Kampers 65. Geburtstag (Neid-höfer/ Ternes 2000) gelten.

43) In den 1980er Jahren stieg die durchschnittliche Studiendauer an deutschen Universitäten auf 7 Jahre,die heute mit 6,8 Jahren nur unwesentlich unterboten werden – England liegt demgegenüber bei 3,4Jahren (Teichler 2005, S. 33; HIS 2005, S. 48).

44) So wuchs beispielsweise in Westdeutschland zwischen 1985 und 1991 die Zahl der Soziologie-Erst-semester um mehr als ein Drittel, von 7.569 auf 12.902; die Zahl der Absolventen betrug dagegen nurjeweils 1.643 und 2.244 (Burkhardt u. a. 2000, S. 64).

45) Auch Akademikerarbeitslosigkeit wurde um die Mitte der 1980er Jahre (u.a. aufgrund einer sprung-haften Zunahme der absoluten Zahlen von Studierenden und arbeitslosen Absolventen) als Problementdeckt (vgl. Keller/Linke 1986, bes. S. 66f); seither sind die Beschäftigungschancen für Akademi-ker jedoch stabil und im allgemeinen Durchschnitt vorteilhaft geblieben – auch für Geistes- und So-zialwissenschaftler (vgl. Burkhardt/ Schomburg/ Teichler 2000).

46) Die Reformvorstöße der späten 1970er und 1980er Jahre (Teichler 2005, S. 110-113) lassen bereitsKernpunkte des gegenwärtigen Prozesses erkennen: Verkürzung der Studienzeit und gestufte Studi-engänge, mehr Wettbewerb sowie größere Rangunterschiede in und zwischen den Hochschulen.

47) Hierhin gehören die Streitigkeiten um poststrukturalistische bzw. ›postmoderne‹ Theorie, wie sie(unter Abblendung der sozialen Aspekte) in der Attacke des Physikers Alan Sokal auf den »fashio-nable nonsense« der Lacan-, Deleuze- und Derrida-Nachfolge kulminieren (vgl. dazu und zum Spek-trum verwandter Debatten Bammé 2004, S. 125-151).

Die Rationalität der Hochschulreform 385

erweiterten Wohlfahrtsstaat sind Strukturen und Gruppen weggebrochen, die das anomischeMoratorium unterstützt und seine Effekte in Anspruch genommen hatten. Damit ist klar, wo-hin der Trend geht: zur Normalisierung der Massenuniversität. Nach einer langen Schonzeitwird gegenwärtig ihr Sonderstatus als politisches und lebensweltliches Experimentierfeldzurückgenommen. Im selben Zug ist die tradierte Autonomie der Institution, die zuvor nurumfunktioniert worden war, erneut zur Disposition gestellt.48 Zu untersuchen ist mithin, ge-gen die implizite Geschichtslogik der Systemtheorie, ein Prozess funktionaler Entdifferen-zierung.49 Ausdifferenzieren (bzw., technisch gesprochen: ausgründen) werden sich höchs-tens bisherige Teile der Massenuniversität selbst, die in andere Funktionszusammenhänge,etwa produktorientierte Forschung oder die Nachwuchsförderung von Konzernen überge-hen.50

Wie aber könnte die komplementäre Entdifferenzierung, der Abbau akademischer Auto-nomie aussehen? Es liegt nahe, dass auch hierfür Logik, Sprache und Disziplinierungsmusterder Marktökonomie eine entscheidende Rolle spielen. Wenngleich die Hochschulen nichtumgehend rentabel werden, die Forschung nur in wenigen Feldern zahlkräftige Privatkundenhat, die für den Beruf qualifizierten Absolventen trotzdem keine Beschäftigung finden – dasskünftig stärker auf Arbeitsmarkt und Verwertung vorbereitet, in Wettbewerb und vertrags-förmige Beziehungen eingeübt werden soll, ist unverkennbar.51 Doch so beliebt das ModellÖkonomie im Reformdiskurs ist, als Vermittlungsmuster hat es gewaltige Nachteile: Es pola-risiert (der Vorwurf »Ausverkauf« ist beinahe schon mit eingebaut), seine Übertragung bleibtoft äußerst metaphorisch (Studierende, die Kunden und Arbeitnehmer zugleich sein sollen,geraten in Rollenkonflikte) und es vermittelt Versprechen, deren Nichteinlösung Unfriedenstiftet (die Rechtsansprüche einer gebührenpflichtigen Klientel fallen drängender aus). Daherwird sich die ›ökonomische‹ Logik mit anderen, akzeptanzfähigeren verbinden müssen.

Tatsächlich steht zumindest eine solche Ergänzungslogik bereit: Der Abbau akademischer Au-tonomie selbst lässt sich in Kontrollverfahren positivieren, die den Hochschulen eine neue öf-fentliche Legitimität verleihen. In Forschung und Lehre soll nichts mehr stattfinden, dessen Nut-zen für ›die Gesellschaft‹ nicht unmittelbar an diese kommuniziert werden kann. Stellvertretendfür sie agieren die Evaluationsorgane, Qualitätssicherungsagenturen, Hochschulräte, Bewilli-gungskommissionen usw., und auch diesseits der Überprüfung stellen sich die Beteiligten vor-greifend auf Legitimation ein. Das Rationalitätsregime, das sich so bildet, hat drei Komponenten:a) Die (potentielle) Nützlichkeit selbst, die angestrebt werden muss – durch instrumentelle, aufNaturbeherrschung oder Wertschöpfung orientierte Vernunft; b) die Verständigung als solche,die sicherstellt, dass sich niemand der Perspektive der anderen entzieht – Habermas‹ kommuni-kative Vernunft erhält hier eine unerwartete Aufgabe; c) schließlich die Erzeugung von Auf-merksamkeit für die je eigene Leistung, die noch vor aller Kontrolle eine zustimmende Öffent-

48) Die gegenwärtige Reform ist mithin wesentlich gefährlicher für das Modell Humboldt als diejenige der1970er Jahre. »Inklusion und Demokratisierung stehen weniger in Opposition zu grundlegenden Leitideender deutschen Universität als der gegenwärtige Ruf nach einem arbeitsmarktnahen Studium und einem di-rekten Beitrag der Universitätsforschung zur wirtschaftlichen Entwicklung.« (Krücken 2004, S. 338)

49) Luhmann kann sich eine Krise bzw. Transformation der Universität nur so vorstellen, dass endlichauch hier eine »Differenzierung von Erziehung und wissenschaftlicher Forschung« eintritt – indemdie letztere wenigen Fachleuten überlassen bleibt und die Hochschulen »zu Schulen werden« (1990,S. 679). Rudolf Stichweh, der gleichfalls fragt, ob die Universität ihren Status »als zentraler Ort dersozialstrukturellen Institutionalisierung von Wissenschaft zu verlieren« droht (1996, S. 20), motiviertdas abweichend damit, dass sie organisatorisch vielleicht nicht mehr mit der ständigen Neuformie-rung der szientifischen Disziplinen Schritt halten kann.

50) Entsprechend pflegt die Hochschulforschung einen Differenzierungsbegriff, der allein interne Plura-lität meint (Clark 1993).

51) Vgl. dazu ausführlicher Bellmann 2005 sowie Draheim/Reitz 2005.

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lichkeit mobilisieren soll. In allen drei Gebieten stößt die Analyse auf das Problem, dassAußendarstellung, Legitimationen und Absichtserklärungen nicht erkennen lassen, was in For-schung und Lehre jenseits der Fassade geschieht. Daher wird immer zu fragen sein, wie sich dieneue Rhetorik über akademische Praxis in veränderten Forschungszielen, Lehrformen und Ent-scheidungsprozessen ausprägt oder niederschlägt. Zugleich gilt es aber auch an signifikantenBeispielen zu zeigen, dass die Aussagen selbst eine Ordnung bilden, die von den Sprechern sonicht beabsichtigt ist.

a) Dass instrumentelle Vernunft gegenwärtig Konjunktur hat, lässt sich unmittelbar am for-schungspolitischen Vorrang der traditionell kostenintensiven Bereiche Naturwissenschaft undTechnologieentwicklung ablesen – in den Etats der Hochschulen, im Drittmittelsektor, in denDebatten und Programmen zu Brain-Drain und High-Tech-Europa. Dagegen sehen sich Geis-tes- und Sozialwissenschaften seit Jahren zunehmend stiefkindlich behandelt. Einige Indizienstützen diese Befindlichkeit: Regelmäßig werden Lehrstühle eingespart und wiederholt ganzeInstitute still- oder zusammengelegt, die forcierte Drittmittelförderung geht an den Bedürfnis-sen klassischer Textwissenschaften vorbei52 und kommt hauptsächlich anderen Disziplinen zu-gute,53 schließlich wird mit der Modularisierung traditioneller Magister-Nebenfächer derenVerwandlung in bloße Hilfswissenschaften möglich. Ebenso bemerkenswert ist jedoch, dasssich die beweglicheren der betroffenen Disziplinen selbst Anteile am ökonomischen und sym-bolischen Kapital der Sciences zu sichern versuchen: Philosophinnen, Kunsthistoriker, Soziolo-gen und Lerntheoretikerinnen entdecken vermehrt inhärente Beziehungen ihrer Fächer zu Phy-sik, Evolutionstheorie, Neurobiologie und Informatik.54 Die Auseinandersetzung kann dabei –namentlich in der Kulturwissenschaft – durchaus Kritik an sozialen, politischen oder semioti-schen Blindstellen der als hart geltenden Wissenschaften beinhalten. Oft werden aber auch ein-fach ihre Ergebnisse und Methoden übernommen, etwa in den formalisierten Versionen sozia-ler Wirklichkeit, die mathematische Modellbildung und Statistik liefern. ÖkonomischePrognosen mögen irrig sein, Statistiken zur Herkunftsgebundenheit von Bildungschancen igno-riert werden – in jedem Fall beanspruchen sie Neutralität und geben sich als hilfreiche Mittel zuverschiedensten Zwecken. So erklärt sich das zunehmende Gewicht quantifizierender Metho-den in der Soziologie, aber auch die stetige Mathematisierung der Ökonomie, die »vermutlichdas kulturfernste aller sozialwissenschaftlichen Fächer« darstellt (Lepenies 1997, S. 75).

Die Struktur der Sciences selbst richtet sich darauf ein, dass das meiste, was nützlich ist,für den Markt hergestellt oder geleistet wird.55 Schon lange teilt sich hier die hochschulische

52) Besonders problematisch ist sie, wenn zugleich die finanzielle Grundversorgung zurückbleibt (so mitBelegen der Wissenschaftsrat 2006, S. 85).

53) Zwei Trendbelege mögen genügen: Im 6. Forschungsrahmenprogramm der EU entfielen von insge-samt 17.5 Mrd. 1 Fördermitteln gerade einmal 247 Mio. auf die Sozial- und Geisteswissenschaften –auf den Schwerpunkt »Bürger und modernes Regieren in der europäischen Wissensgesellschaft«(EU-Nachrichten 14/2005, S. 10f) –, und von den Anträgen, die sich in der ersten Auswahlrunde derExzellenz-Initiative qualifiziert hatten, stammten etwa 10% aus diesem Bereich, während er im För-dervolumen der DFG (1999-2001) immerhin einen Anteil von 15,9% ausmacht.

54) Aktuelle Beispiele aus unseren eigenen Disziplinen sind die umfangreiche Förderung von Anthropologie-Projekten durch das BMBF, in denen sich die Philosophie als Korrektiv der Soziobiologie und Hirnfor-schung behauptet, und die Ausrichtung des Deutschen Soziologentags 2006 – Die Natur der Gesellschaft.

55) Es sind allerdings auch Gegentrends zu verzeichnen: Besonders im Bereich der Informationstechnikhaben sich Interaktionsnetze herausgebildet, die technisches Wissen unabhängig von oder oppositio-nell zu Profitwirtschaft kultivieren – am bekanntesten ist die Copy-Left- und Free-Software-Bewegunggeworden. Hier erhält, wie etwa im Umkreis von Negri gesehen wurde, Marx’ Begriff des ›GeneralIntellect‹, der gesamtgesellschaftlich zirkulierenden Kenntnisse, neue Bedeutung (vgl. Haug 2000).Als bevorzugte Nutzer solcher Kenntnisse bieten sich öffentliche Verwaltungen an – die man dann frei-lich wieder als Voraussetzung funktionierender Märkte analysieren kann (vgl. Engemann 2004).

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Forschung das Feld mit nichtuniversitären Instituten und den erheblich finanzkräftigerenF&E-Abteilungen der Unternehmen;56 jüngere Entwicklungen drängen sie jedoch verstärktzu Anwendung und Verwertung: Im Umfeld wächst durch profitorientierte Grundlagenfor-schung der Druck, selbst marktfähig zu werden (Gläser 2003, S. 56-59), und in der Wissen-schaftspolitik hat sich, unterstützt durch das 1980 neu auf Hochschulen zugeschnittene Pa-tentrecht der USA (Krücken u.a. 2004, S. 13f), die Strategie etabliert, die Grenzen zwischenakademischer und wirtschaftlicher Forschungstätigkeit zu verwischen.57 Donald Stokes hatden Trend dahingehend zugespitzt, dass man die (partiell immer fiktive, aber zur Zeit desKalten Krieges und der Keynesianischen Nationalwirtschaft institutionell erfolgreiche) Tren-nung von Grundlagen- und anwendungsorientierter Forschung zugunsten einer »use-inspiredbasic science« aufgeben sollte (1997, S. 113 u.ö.). Die neueren europäischen Vertreter desNutzensprinzips schränken es zusätzlich auf ökonomischen Gewinn ein. Bereits 1994 mo-nierte die Europäische Kommission eine »limited capacity to convert scientific breakth-roughs and technological achievements into industrial and commercial successes, that is: thefailure to create value from research« (zit. n. EK 2004, S. 9). Und 2002 stellte das Bundes-Forschungsministerium fest, dass »Forschung […] kein Selbstzweck« ist, sondern »auf langeSicht […] zu ökonomischem Wachstum« führen sollte (BMBF 2002, S. 35).

Damit ist das Spektrum der Nutzenserwartungen, die das neue Wissensregime prägen,komplett. Die Argumente zur Forschung kehren in den Debatten zur Lehre wieder. Sofernsie bilden und ausbilden, werden die Hochschulen als Standortfaktor, als Produktionsstättenfür Humankapital, als Dienstleistungsbetriebe oder »regionale Kompetenzzentren« mit ar-beitsmarktbezogener Entwicklungsfunktion bestimmt. Die politische Tiefenstruktur diesesDiskurses tritt zutage, wo seine privatwirtschaftlichen Voraussetzungen mit dem öffentli-chen Bildungsauftrag zusammenstoßen. Dann nämlich gilt es zu rechtfertigen, weshalb dieSteuergelder aller den ökonomischen Interessen einiger dienen sollen. Eine exemplarischeAntwort bietet der Philosoph Walther Zimmerli, früher Präsident der privaten UniversitätWitten-Herdecke und seit 2002 Präsident der Volkswagen-AutoUni. Zimmerli hält die Hum-boldtsche Hochschule für ein »deutsche[s] Vorurteil« (2002, S. 45), das ökonomisch über-holt und zudem ungerecht sei, da die Kosten für die zukünftige Akademiker-Generation im-mer von allen Steuerzahlenden getragen werden müssen – also auch von denjenigen, derenNachwuchs gar keine Hochschule besucht. Höhere Bildung ist vielleicht ein Massenbetrieb,aber kein Allgemeingut, sondern eine individuelle Investition und daher nicht länger alsstaatliche Subvention zu gewähren. Zugleich räumt Zimmerli jedoch ein, dass »das Gemein-wesen gemäß der klassischen Theorie der Marktwirtschaft davon ebenfalls profitiert und da-her auch für einen Teil der als Investition zu verstehenden Aufwendungen aufkommenmuss« (S. 47). Entsprechend sieht er Fördermaßnahmen für Studierende vor, die allerdingsnicht aus Anerkennung grundsätzlicher Bedürftigkeit – also mit Blick auf Chancengleichheit– gewährt, sondern leistungsabhängig zuerkannt werden sollen. Die Logik der öffentlichenVerpflichtung dreht sich mithin um: Während bislang der Staat seinen Bürgern zu ermögli-chen hatte, in den Genuss akademischer Bildung zu kommen, müssen jetzt diejenigen, diedas wollen, unter Beweis stellen, dass sie »intellektuelle Leistungen« (ebd.) für die Allge-meinheit erbringen.

56) Die industriellen Ausgaben für Forschung und Entwicklung waren 1999 über viermal so hoch wie dieentsprechenden universitären Etats, der Anteil wirtschaftlicher Mittel an den gesamten Forschungs-aufwendungen der deutschen Hochschulen ist zwischen 1980 und 2000 von 2% auf 11% gestiegen(Schmoch 2003, 198; 206).

57) Krücken u.a. (2004) unterscheiden typisierend drei Modelle: Information der Wirtschaft über Ergeb-nisse wissenschaftlicher Forschung, Kooperation zwischen beiden Seiten und – aktuell – ein »Blur-ring of Boundaries«, das sich in der unternehmerisch Patente produzierenden Universität wie auch inakademisch-ökonomischen Netzwerken ausprägen kann.

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Schwerfallen wird dies Wissenschaftlern, die in kritischer Absicht geschichtliche Verläu-fe, soziale Mechanismen und kulturelle Strukturen analysieren, ohne unmittelbar mit einer›besseren‹ Lösung aufzuwarten. Zimmerli bietet auch hier eine Lösung an. Am Schluss sei-nes Textes greift er eine Forderung auf, die Jacques Derrida in seiner Vision der Humanitiesentfaltet hatte: »dass die moderne Universität eine unbedingte, dass sie bedingungslos, vonjeder einschränkenden Bedingung frei sein sollte« (Derrida 2001, S. 9f). Zimmerli reformu-liert dies – stark verkürzend58 – für seine eigenen Zwecke: »Universitäten […] müssen auchimmer Platz für ›als-ob‹ und die Entwicklung möglicher Alternativen bieten. [...] Anders je-denfalls könnten sie ihrer Rolle als Zukunftswerkstatt und Innovationslabor nicht gerechtwerden.« Freilich geht es nur um langfristig profitable Alternativen. »Mit anderen Worten:Die Innovationsfähigkeit unserer Gesellschaft hängt zwar davon ab, dass neue Gedanken mitgutem wirtschaftlichem Erfolg implementiert werden. Das aber ist nur möglich, wenn zu-nächst einmal Neues gedacht werden darf.« (S. 52f)

b) Doch nicht überall, wo Kritik funktionalisiert wird, bedeutet das die schlichte Ver-schiebung eines eindimensionalen Verwertungskalküls. Zur Seite treten ihr Arrangements, indenen tatsächlich über die Strukturen gemeinsamer Praxis verhandelt wird – in begrenztemRahmen. Die wichtigsten dürften Evaluationen und gelenkte Ad-hoc-Partizipation sein. Imeinen Fall, der zugleich ein wichtiges Beispiel angewandter Sozialforschung bietet, sollen re-präsentative Aussagen dazu, wie eine Praxis von Beteiligten, Betroffenen oder kompetentenBeobachtern eingeschätzt wird, ihre Verbesserung anleiten; im anderen, terminologisch nochnicht fixierten Modell werden aus einzelnen Vertretern dieser Gruppen jeweils akut und pro-blembezogen Mitwirkungsgremien zusammengestellt, von denen man Vorschläge zu an-stehenden Änderungen erwartet. In beide Zusammenhänge gehen Momente von Kritik undMitgestaltung ein – beide Male wird jedoch der Gesamtprozess von anderen Faktoren be-stimmt, von unverfügbaren Qualitätskriterien oder der Entscheidung zentraler Instanzen.

Für die Evaluation lässt sich diese Einbindung bereits im geschichtlichen Überblick erken-nen. Am Beginn stand ein radikaldemokratischer Anspruch. »Mitte bis Ende der Sechziger-jahre machten studentische Vorlesungsrezensionen und -kritiken von sich reden. Im Mittel-punkt [...] stand die Analyse der Lehrinhalte, ihre gesellschaftliche Relevanz und ihr Bezugauf die Lebens- und Lernsituation der Studentinnen und Studenten.« (Bülow-Schramm 2004,S. 111) In den 1970er Jahren sorgte dann die Bemühung der Hochschuldidaktik, die»Studienreform zu institutionalisieren«, dafür, dass »das ›Wie‹, nicht mehr das ›Was‹ [...] imMittelpunkt« der Urteilsbildung stand; schließlich wird zu Beginn der 90er die Evaluationselbst »in eigenen Agenturen institutionalisiert« und inhaltlich »in den Dienst von Qualitäts-sicherung gestellt« (ebd., S. 112). Das zentrale Bezugsproblem besteht nunmehr in der effi-zienten Verwendung knapper werdender Mittel. So bleibt von der Kritik das »Krisenma-nagement« (ebd.).

Der Trend zur Ad-hoc-Partizipation zieht diesen geschichtlichen Verlauf gleichsam zu ei-ner institutionellen Idee zusammen. Die Hochschule wimmelt von Kompetenzen, Interessenund kritischen Potenzialen – weshalb sollte man sie nicht einbinden, wo immer es sichanbietet? Detlef Müller-Böling hält die verbreitete Ansicht fest, dass die herkömmlichenGremien der Selbstverwaltung dabei nur stören. An ihre Stelle sollen freie Gruppierungenderer treten, die im jeweiligen Kontext, etwa in einem zu reformierenden Bereich der Lehrebeteiligt sind. Wer sie zusammenruft und ihre Ergebnisse einbindet, wird nicht ausgeführt,

58) Derrida reflektiert nämlich auch die kritische Rückwirkung von Wissenschaft auf Gesellschaft: »Mandenkt in den Humanities die Irreduzibilität ihres Draußen und ihrer Zukunft. […] Genau dort ist dieUniversität in der Welt, die sie zu denken versucht. An dieser Grenze muss sie verhandeln und ihrenWiderstand organisieren [...], indem sie sich mit außerakademischen Kräften verbündet« (Derrida2001, S. 76f).

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aber angedeutet: »Demokratie ist allenfalls ein abgeleitetes Ziel, das [...] höchste Qualitätnicht konterkarieren darf.« (Ebd., S. 61) In den Ad-hoc-Gremien der Studienreform ist dasbereits erfahrbare Realität: Permanent wird in wechselnden Konstellationen diskutiert, kriti-siert, überlegt, entworfen, verworfen und neu geplant, bis am Ende doch der Rektor entschei-det oder neue Weisungen aus dem Ministerium erhalten hat. Zukünftig wird die letztge-nannte Rolle wohl zu Teilen der Hochschul- bzw. Aufsichtsrat übernehmen.

Die Möglichkeiten von Kritik insgesamt durchlaufen damit einen Wandel, der in etwadem Übergang von der klassischen zur späteren Kritischen Theorie entspricht. Im Gegenzugzur totalisierten, im Praxisverzicht mündenden Opposition Adornos hatte Habermas be-kanntlich vorgeschlagen, die instrumentelle Rationalität nicht mehr einfach zu verweigern,sondern durch kommunikative zu vervollständigen: durch die »öffentliche, uneingeschränkteund herrschaftsfreie Diskussion über die Angemessenheit und Wünschbarkeit vonhandlungsorientierenden Grundsätzen und Normen [...] auf allen Ebenen der politischen undwieder politisch gewordenen Willensbildungsprozesse« (1969, S. 98). Um hierin eine Blau-pause für die Hochschule – und nicht allein die Hochschule – der Gegenwart zu entdecken,muss man nur das Beiwort ›uneingeschränkt‹ streichen. Denn konstruktive, konkrete Lösun-gen verspricht die allseitige Verständigung erst dann, wenn sie die jeweils gegebenen Rah-menbedingungen nicht antastet. So erklärte der Präsident der Universität Hamburg, währenddiese sich mit umstrittenen Strukturmaßnahmen und starken Sparforderungen konfrontiertsah:59 »Es darf nicht nur darum gehen, ständig Neues Top down einzuführen. Stattdessen istes für die Schaffung einer umfassenden Qualitätskultur in einer Institution nötig, alle Akteu-re zu gewinnen und zu Trägern der Qualitätsidee zu machen.« (Lüthje 2004, S. 6)

Die Bedeutung der kommunikativen Einbindung dürfte sich jedoch nicht im iterativen Ab-tragen von Opposition erschöpfen. Sie etabliert zugleich ein vielfältig nutzbares Systemwechselseitiger Beobachtung. Lehrende, Studierende, Forscher, assoziierte Experten undWirtschaftsvertreter geben nun stetig Auskunft über die jeweils anderen und ggf. sich selbst;Die unmittelbaren Zwecke erstrecken sich von Verfahrenseffizienz bis zur Steuerung derMittelvergabe. Darüber hinaus lässt sich aber auch nach übergreifenden Effekten der erwei-terten Rechenschaftsablegung fragen. Die einfachste Antwort besteht darin, dass man sichselbst kontrolliert, um seine Tätigkeit gegenüber der restlichen Gesellschaft zu legitimieren.»German academics«, meint Uwe Schimank, »should seek to restore public trust« – zumin-dest im Modus der »critical self-evaluation« (2005, S. 375). Wie dieses Ziel mit den weiter-hin bestehenden Verteilungskämpfen, institutionellen Solidaritäten und Loyalitäten zu ver-einbaren wäre, bleibt allerdings offen. Daher ist auch hier nach nicht intendiertenStabilisierungseffekten zu fragen. Laut Michael Power geht es in der »audit society« zentraldarum, die Verantwortung für riskante Entscheidungen zu fragmentieren (1997, S. 20), in-dem man bei unzureichender Informationslage möglichst viele Meinungen einholt; fürChristine Schwarz sorgen Evaluationen dafür, dass in »demokratischen Gesellschaften […]situativ die Legitimität bürokratischer Herrschaft hergestellt […] werden« kann (2004, S.11); Ulrich Bröckling schließlich sieht im »demokratischen Panoptismus [...], bei dem jederzugleich Beobachter aller anderen und der von allen Beobachtete ist« (2000, S. 152) ein be-sonders dichtes »Kontrollregime« (2004, S. 80). Wie die anderen Theoretiker bemerkt frei-lich auch er, dass man rasch lernt, »das Evaluationsspiel zu spielen, ohne sich davon im ge-wohnten Gang der Geschäfte sonderlich aufhalten zu lassen« (ebd., S. 76). Damit bleibt als

59) Den Beginn der Debatten markierten die Empfehlungen der Dohnanyi-Kommission zu einer Hoch-schul-Strukturreform in Hamburg (http://www1.uni-hamburg.de/TVPR/extdoc/kommissionsbe-richt.pdf, 10.8.06), die Wissenschaftssenator Dräger in Auftrag gegeben hatte. Im Sommer 2004 kamein Gutachten des HIS hinzu, das u.a. die Professuren im Bereich Sozial- und Geisteswissenschaftenzu halbieren vorschlug (vgl. Dorothea Frede, FAZ vom 18.8.04).

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Bereich, in dem riskante Entscheidungen tatsächlich restringiert werden, bürokratische Ein-griffe als legitim erscheinen und Verhaltenskontrolle greift, der des Ungewöhnlichen – dernonkonformen, anachronistischen oder sozial nicht tragbaren Forschungsansätze und Bil-dungsexperimente, die sich zuvor in den Nischen des akademischen Betriebs eingenistet hat-ten. Auch wenn sich nicht jeder in jedem Augenblick seines Tuns überwacht fühlt, sorgt dieallseitige Kommunikation über Verbesserung dafür, dass sich Lehre und Forschung weiternormalisieren. Sie ratifiziert das Übliche und deckt auf, wo ihm (noch) nicht entsprochenwird.

c) Kontrollziele prägen auch die Kommunikation zwischen Hochschulen und Gesellschaft.Besonders in Bezug auf Naturwissenschaft und Technik gab und gibt es einigen Grund, Ver-ständigung zu verlangen – Transparenz und Partizipation in Bereichen, deren Resultate allezu spüren bekommen. Habermas’ Technokratiekritik hatte eben hier ihre Einsatzstelle. In-zwischen gehört der Anspruch, virtuell alle über den Gang der Forschung zu informieren undihnen Mitsprachechancen einzuräumen, zum wissenschaftspolitischen Alltag; Regierungsini-tiativen wie PUSH,60 PUS,61 PEST,62 STAGE63 und ›Futur‹64 inszenieren die »Wissen-schaft im Dialog« (WiD)65. Die Ziele werden sehr demokratisch präsentiert: »Was in Hoch-schulen und Forschungseinrichtungen [...] erforscht und erfunden, gedacht und gemachtwird, geht uns alle an. [...] Deshalb wollen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mitmöglichst vielen Menschen und gesellschaftlichen Gruppen einen ständigen Dialog führen.«Das Gespräch findet allerdings unter eindeutigen Vorgaben statt. Wer sich über die Dialog-freude der Wissenschaftler wunderte, erfährt gleich im folgenden Satz den Grund: »Sie wol-len zum Staunen bringen und Neugier wecken auf Wissenschaft und Technik – und auf unseraller Zukunft.«66 Es geht mithin weniger um Auseinandersetzung als um die Organisationvon Zustimmung. Was Kommunikation genannt wird, ist Marketing. Das Handbuch Grund-begriffe des Hochschulmanagements verzichtet folgerichtig oft ganz darauf, beides zu unter-scheiden. So etwa beim Eintrag zu »Kommunikationspolitik«, die als »Element des Hoch-schulmarketing« vorgestellt wird: »Sie umgreift [...] Kommunikationsplanung [...] ebensowie [...] Kommunikationsorganisation, die Durchführung von Kommunikationsmaßnahmenmittels hochschulangemessener Kommunikationselemente wie Werbung, Pressearbeit, Pu-blic Relations etc. sowie Sponsoring und Fundraising. [...] Entscheidend ist, dass die einzel-nen Hochschulen strategisch-planvoll, glaubwürdig, wahrhaftig, dialogorientiert und unterBeteiligung aller unmittelbar Betroffenen kommunizieren.« (Hamann 2004, S. 241) Geradeder etwas unmotivierte Einsatz Habermasscher Begriffe macht deutlich, dass sich Kommuni-kation hier auf ein perlokutionäres Minimum reduziert.

Der »gestiegene[] Bedarf der Hochschulen an professioneller öffentlicher Kommunikati-on« (ebd.) wird von betroffenen und wissenssoziologisch interessierten Wissenschaftlern ge-wöhnlich nicht ernst genommen. Die Arbeit an der Außendarstellung hat aber in einem er-heblichen Ausmaß forschungsstrategische und organisatorische Entscheidungen erfasst.Schematisch lassen sich vier Bereiche unterscheiden, in denen sie greift: Auf der Ebene dernationalen und internationalen Politik blühen die Förderinitiativen mit sprechenden Akrony-

60) Public Understanding of Science and Humanities, eine seit 1999 laufende Initiative des BMBF.61) Public Understanding of Science, die seit 1985 bestehende Vorbildinitiative in Großbritannien.62) Public Engagement in Science and Technology, die Nachfolgeorganisation von PUS in England und

den USA.63) Science, Technology and Governance in Europe, die EU-Version.64) Eine neue Initiative der Bundesregierung.65) Die deutsche Nachfolgeinitiative zu PUSH.66) Vgl. dazu die Selbstdarstellung von WiD (http://www.wissenschaft-im-dialog.de, 11.05.2006).

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men wie ASSIST e.V.67, GATE-Germany68 oder PROFIS69; zusätzlich sind auchausbuchstabierte Erfolgsformeln wie »Brain-Regain«70 zugelassen. Auf der Ebene derHochschulen werden verstärkt Corporate Identity und das entsprechende Corporate Designgefördert;71 im Kontext von Profilbildung betrifft das die Anlage der Institute und Fachbe-reiche ebenso wie die Einrichtung von Forschungsschwerpunkten.72 Zudem erwägt man dieEinführung von »Kommunikationsleitlinien«, die »sichtbar« machen sollen »auf welche zen-tralen Werte sich die Hochschule selbst verpflichtet« (Hamann 2004, S. 242). Innerhalb derScientific community, der man sich etwa mit Publikationen und Forschungsanträgen vorteil-haft präsentieren muss, ist der Nachweis des Anschlusses an Forschungsstand, Zeitgeist undpolitisch angesagte Begrifflichkeiten geboten – unter Bedingungen künstlich verschärftenWettbewerbs mehr denn je. Und schließlich gilt es in der Außendarstellung der Studienange-bote möglichst anschaulich die beruflichen Aussichten auszumalen, welche die fraglicheAusbildung eröffnet.

Die erwartbaren Effekte gehen weit über die Ausschüttung von Worthülsen und Aufmerk-samkeitsankern hinaus. Zum einen wächst der Druck, Professionalität zu beweisen, indemman sich kontinuierlich mit dem jeweils neuesten technischen Vokabular selbst darstellt.Vor allem aber minimiert die Pflege der Außendarstellung die Möglichkeiten, akademischeInhalte, die dazu tatsächlich geeignet wären, einer öffentlichen Debatte auszusetzen. Wederkann man die adressierte Öffentlichkeit in grundsätzlicher Weise herausfordern – denn daswürde potentielle Kunden vor den Kopf stoßen –, noch wird das nach Außen Getrageneüberhaupt ernst genug genommen, um darüber zu debattieren. Über PROFIS, GATE, PUSHund Brain-Regain lässt sich nicht mit Gründen streiten; vielleicht aber bald auch nicht mehrüber effektvolle Entwürfe einer Bildanthropologie, einer Medienpragmatik oder einer perfor-mativen Ästhetik. Für die Verhältnisse hinter der Fassade wird das vermutlich bewirken, wasman am meisten vermeiden will: die Verfestigung von Fachtraditionen und lebensweltlichenVorurteilen. Denn während zum einen die wissenschaftliche Arbeit von der öffentlichenAuseinandersetzung abgespalten wird, thematisiert das neue Rationalitätsregime zum ande-ren die Selbstverhältnisse der akademisch Sozialisierten vornehmlich in der Gestalt vonWerbekonzepten.

Allgemein macht der Gang durch die Abteilungen des entstehenden akademischenWissensregimes deutlich, dass die Nebeneffekte, die vom Reformprozess zu erwarten sind,nur in ihrer Summe und nur in bestimmter Hinsicht funktional sein können – wesentlich inBezug auf Ordnungsprobleme. Die re-regulierten Studienstrukturen und der ökonomischeLeitdiskurs sind geeignet, studentische Erwartungshaltungen zu begrenzen und zu stabilisie-

67) Arbeits- und Servicestelle für internationale Studienbewerbungen, gegründet im November 2003, fi-nanziert vom BMBF.

68) Ein 2001 von DAAD, HRK, BMBF, Wissenschaftsorganisationen und Wirtschaftspartnern gegrün-detes Konsortium für internationales Hochschulmarketing – sozusagen eine Dachorganisation für dieanderen Aktivitäten im Ausland.

69) Programm zur Förderung der Internationalisierungsstrukturen an den deutschen Hochschulen ab2006.

70) Eine Initiative des DAAD zur Wiedergewinnung deutscher Forscher im Ausland.71) Die Checkliste der Akkreditierungsagentur ACQUIN zur Selbstdokumentation neuer Studiengänge

regt an, die hierfür ergriffenen Maßnahmen darzustellen – Akkreditierungsvoraussetzung scheint dasaber noch nicht zu sein. (URL: http://www.acquin.org/acquincms/index/cms-filesystem-action?file=/Leitfaden100304.pdf, 12.8.06)

72) Eine St. Gallener Dissertation schlägt vor, u. a. die »Neustrukturierung von Studiengängen«, die Ein-richtung von »Drittmittelprojekten« und den Umgang mit »Mittelknappheit« durch Aufbau einer»Universitätsmarke« zu integrieren (Gerhard 2004, S. 251) – Beispiele sind die Marken St. Gallen,Harvard und Humboldt-Universität.

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ren, eine hierarchisierte Hochschullandschaft kann die Macht- und Prekaritätsverhältnisseder Wissensgesellschaft akzeptabler machen, die sozialen Folgelasten, die die anomischeMassenuniversität hinterlassen hatte, werden vermutlich spürbar zurückgehen. Im Einzelnenjedoch wird das, was niemand gewollt hat, wohl auch so beschaffen sein, dass es sich kaumjemand hätte wünschen können. Das gilt besonders für den Versuch, die innovativen Mo-mente, die im anomischen Vorgängermodell nur als latente Funktionen präsent waren, plan-voll abzuschöpfen. Er läuft auf das genaue Gegenteil latenter Funktionalität hinaus: »willingwhat cannot be willed« (Elster). Weil immer schon klar sein muss, was erreicht werden soll,fallen die Restriktionen fürs erwünschte Experimentieren einfach zu eng aus. Die diskurspo-litische Angleichung der Hochschule an Systeme, in denen man Erneuerungspotenziale ver-mutet, bedroht mithin ihre Fähigkeit, aus sich heraus die Selbstverständigung und Umgestal-tung der Gesellschaft voranzutreiben. Für die Institution, in der es Gestalt annimmt, wird dasneue Wissensregime kaum ungeplante Vorteile erbringen.

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Dr. Tilman ReitzFriedrich-Schiller-Universität Jena

Institut für PhilosophieZwätzengasse 9

07743 Jenae-mail: [email protected]

Dipl.-Sozpäd. Susanne DraheimFachhochschule Brandenburg

Fachbereich Informatik und MedienMagdeburger Straße 50

14770 Brandenburg a. d. Havele-mail: [email protected]

Soziale Welt 57 (2006), S. 397 – 418

Auswirkungen vorschulischer Kinderbetreuung auf die Bildungschancen von Migrantenkindern1

Von Rolf Becker und Patricia Tremel

Zusammenfassung: Vor dem Hintergrund der Nachteile von Migranten im deutschen Bildungs-system stellt sich die Frage nach geeigneten Maßnahmen, Chancengerechtigkeit beim Bildungszu-gang und Bildungserwerb herzustellen. In der empirischen Studie wird mit Daten des Sozio-öko-nomischen Panels im Längsschnitt untersucht, ob die nachteilige Situation von Migranten imSchulsystem durch vorschulische Betreuung, Erziehung und Bildung reduziert werden kann. DieBefunde zu den Bildungseffekten vorschulischer Betreuung sind für den Zeitraum von 1984 bis2003 ambivalent. Zwar verbessern sich die Bildungschancen von Migrantenkindern infolge vor-schulischer Kinderbetreuung, aber selbst dann ziehen sie bei den Bildungschancen nur mit deneinheimischen Kindern gleich, die nicht an vorschulischer Betreuung partizipiert haben. Insge-samt weisen sie dann die gleichen Bildungschancen wie deutsche Arbeiterkinder auf.

1. Einleitung

In der Bildungsforschung werden ethnische Differenzierung im Bildungssystem und Anbin-dung von Bildungschancen an den Migrationsstatus oder an die Staatsangehörigkeit als zu-nehmend wichtige Ungleichheitsdimensionen angesehen (Alba et al. 1994; Nauck et al.1998; Esser 2001; Kristen 2002; Diefenbach 2004). Defizitäre Bildungschancen von Mig-ranten sowie Chancenungerechtigkeit, wonach neben einheimischen Schulkindern aus unte-ren Sozialschichten auch den meisten Migrantengruppen faire Bildungschancen vorenthaltenwerden, stellen in Deutschland kein randständiges Phänomen dar (Nauck 1994; Steinbachund Nauck 2004). Trotz vielfältiger bildungs- und sozialpolitischer Bemühungen bestehenbei gestiegener Bildungsbeteiligung unter den Migranten und einiger Bildungserfolge in derGenerationenabfolge immer noch deutliche Bildungsungleichheiten fort (Nauck und Diefen-bach 1997; Gang und Zimmermann 2000; Diefenbach 2004; Becker und Lauterbach 2004).Beispielsweise werden Kommunikationsschwierigkeiten bei Migrantenkindern oder ihremangelnde Sprachkenntnisse vielfach als Lernbehinderung interpretiert, so dass sie überpro-portional häufig in Sonderschulen für Lernbehinderte vertreten sind (Powell und Wagner2001). Des Weiteren wechseln Migrantenkinder deutlich häufiger als einheimische Kindervon der Grundschule in die unteren Schullaufbahnen in der Sekundarstufe I und sind seltenerin Gymnasien vertreten, dafür aber in der Hauptschule überrepräsentiert. Ebenso erhaltenMigrantenkinder häufiger als einheimische Kinder eine Bildungsempfehlung für Haupt- oderSonderschulen und überaus seltener eine Bildungsempfehlung für höhere Schullaufbahnenin der Sekundarstufe I, was zum großen Teil, aber nicht vollständig oder in jedem Fall, ihrenNoten in Deutsch und Mathematik entspricht (Diefenbach 2004). Nicht zuletzt haben Ergeb-nisse von PISA 2000 für Deutschland ein hinlänglich bekanntes Faktum in der Öffentlichkeitwieder in Erinnerung gerufen: Sowohl Kinder und Jugendliche aus jüngst zugewandertenMigrantengruppen als auch Kinder von Migranten aus der zweiten und dritten Generationweisen in der Regel nicht nur schlechtere Lesekompetenzen als einheimische Jugendlicheauf, sondern sind auch – mit großen Variationen zwischen den Nationalitäten und verglichenmit den Einheimischen – im bundesdeutschen Bildungssystem im Nachteil und beim Bil-dungserwerb möglicherweise benachteiligt (Baumert et al. 2001).

1) Für wertvolle Hinweise danken wir Anna Hecken, Andreas Hadjar, Wolfgang Lauterbach und denanonymen Gutachtern.

398 Rolf Becker und Patricia Tremel

In der Bildungspolitik wird daher, um mehr Chancengerechtigkeit bei der Einschulungherzustellen, frühe vorschulische Förderung der Kinder von Migranten – die Zielgruppe vor-schulischer Sprachförderung – in Kindertageseinrichtungen gefordert (z.B. Arbeitsstab »Fo-rum Bildung« 2001). Ob Kindergärten und Vorschulen in Deutschland derzeit zu diesemZiel beitragen, kann nur anhand empirischer Überprüfungen von Bildungseffekten vorschuli-scher Kinderbetreuung beurteilt werden (vgl. Büchel et al. 1997; Becker und Lauterbach2004). Daher wird im vorliegenden Beitrag folgende Fragestellung untersucht: In welchemAusmaß fördern vorschulische Bildungsmaßnahmen die Bildungschancen von Migrantenkin-dern unterschiedlicher Nationalitäten im deutschen Schulsystem? Inwieweit können die Mig-rantenkinder dann bei den Bildungschancen zu den einheimischen Schulkindern aufschlie-ßen?

Im zweiten Abschnitt des Beitrags wird der Forschungsstand diskutiert, danach werden re-levante Gründe angeführt, warum positive Bildungseffekte vorschulischer Betreuung zu er-warten sind und schließlich theoriegeleitet Hypothesen abgeleitet. Für empirische Analysenwerden Längsschnittdaten des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) herangezogen, die ge-meinsam mit den abhängigen und erklärenden Variablen im dritten Abschnitt dargestelltwerden. Die Darstellung zentraler empirischer Befunde erfolgt im vierten Abschnitt, und imfünften Abschnitt werden die Ergebnisse diskutiert und Schlussfolgerungen gezogen.

2. Forschungsstand und theoretischer Hintergrund

Kurzer Überblick über den Forschungsstand

Es gibt in der Zwischenzeit einige empirische Belege für positive Bildungseffekte vorschuli-scher Betreuung in Kindergarten und Vorschule (Becker und Lauterbach 2004; Spieß undTietze 2002; Kreyenfeld et al. 2002; Büchel et al. 1997).2 Unter Verwendung von Längs-schnittdaten des Sozio-ökonomischen Panels können Büchel, Spieß und Wagner (1997) fürden Zeitraum von 1992 bis 1994 empirisch nachweisen, dass der Besuch vorschulischer Kin-derbetreuungseinrichtungen (Kindergarten, Vorschulen etc.) einen förderlichen Einfluss aufden Bildungserfolg dieser Schulkinder hat. So haben Schulkinder mit Migrationshintergrund,die keine der vorschulischen Bildungseinrichtungen besucht haben, ein signifikant höheresRisiko, im Alter von 14 Jahren die Hauptschule zu besuchen, als die Migrantenkinder mitKindergartenbesuch (Büchel et al. 1997, S. 536-537). Frühe Investitionen in die Ausbildungder Migranten führen nicht nur zu erwünschten Bildungserfolgen, sondern scheinen ein wirk-sames Instrumentarium zu sein, ihre Sozialintegration zu fördern sowie über kompensatori-sche Erziehung und Bildung deren herkunftsbedingten Nachteile bei den Bildungschancenauszugleichen (Büchel et al. 1997, S. 537-538). In einer weiterführenden Analyse mit dengleichen Daten können Becker und Lauterbach (2004) die Befunde von Büchel, Spieß undWagner (1997) weitgehend replizieren. Auch bei Kontrolle sozialer Selektivität bei der Parti-zipation vorschulischer Kinderbetreuung können für einen längeren Zeitraum von 1992 bis2000 positive Bildungseffekte vorschulischer Kinderbetreuung nachgewiesen werden.

In vielen Fällen kann davon ausgegangen werden, dass aufgrund ungünstiger Sozialisati-onsbedingungen im Elternhaus, die bei Migranten durch die Umstände und den Zeitpunkt derMigration verschärft werden können, Migrantenkinder sowohl bei den Startchancen als auchbei der Entwicklung schulischer Leistungen im Nachteil sind. Sie werden daher nur er-

2) So stellen beispielsweise Bos et al. (2003, S. 129) bei den ersten Auswertungen der PIRLS 2001-Stu-die – einem internationalen Vergleich von Schülerleistungen am Ende der vierten Jahrgangsstufe, derin Deutschland unter der Bezeichnung IGLU für Internationale Grundschulleseuntersuchung bekanntist – fest, dass gerade Kinder aus Arbeiterschichten bessere Lesekompetenzen aufweisen, wenn siemehr als ein Jahr den Kindergarten besucht haben.

Auswirkungen vorschulischer Kinderbetreuung 399

schwert die Schulnoten erwerben, die zum Übergang in die weiterführenden Schullaufbahnenin der Sekundarstufe I berechtigen. Weil Schulleistungen an soziale und nationale Herkunftgekoppelt sind, wird eine Form der intergenerationalen Bildungsvererbung in Gang gesetzt,die das Prinzip der Chancengleichheit aushebelt, wobei neben Kindern aus unteren Sozial-schichten vor allem Migrantenkinder die »Hauptopfer« von Selektionsmechanismen im Bil-dungssystem sind. Des Weiteren bringt die Migration eine zusätzliche Schlechterstellung zu-gewanderter Kinder mit sich, wenn sie die Sprache des Aufnahmelandes kaum oder nichtbeherrschen, in Zusammenhang mit einem höheren Einreisealter quer in die Schule des Auf-nahmelandes einsteigen oder die vorschulischen Betreuungs- und Fördereinrichtungen desAufnahmelandes nicht besucht haben. Disparitäten der Lernvoraussetzungen und Startchan-cen zwischen Migrantenkindern und einheimischen Kindern können eine Folge dessen sein.

Theoretisch erwartete Bildungseffekte vorschulischer Erziehung, Betreuung und Bil-dung

Vorschulische Erziehung impliziert grundsätzlich einen positiven Effekt auf die Kompetenz-entwicklung und den weiteren Bildungsverlauf von Kindern. Bis zum Eintritt in die formalenBildungsinstitutionen ist es vor allem die Familie, die das Lernverhalten des Kindes prägt.Vorschulische Erziehung von Seiten einer Institution verspricht zum einen eine zusätzlicheFörderung des Kindes und zum anderen möglicherweise einen ungünstige sozialisatorischeEinflüsse ausgleichenden Effekt auf die Lernfortschritte (Schütz und Wössmann 2005, S.19). Im Sinne der Chancengleichheit wird erhofft, dass vorschulische Betreuung, Erziehungund Bildung mögliche Defizite der Herkunftsfamilie ausgleichen und dass das frühe Lernendie Effektivität des späten Lernens erleichtert (Schütz und Wössman 2005, S. 21). So konsta-tiert Heckhausen (1969), dass in den drei Jahren vor der Einschulung die entscheidendeGrundlage für die intellektuelle Leistungsfähigkeit der Schüler gebildet wird. Demnach wür-de eine vorschulische Betreuung die kognitive Entwicklung des Kindes maßgeblich beein-flussen. Durch Kindergarten und Vorschule kann die Entwicklung des Kindes gezielt beein-flusst werden, indem das Anregungspotenzial der Elternhäuser in wichtigen Punkten ergänztwird. Insbesondere untere Sozialschichten und jene Sozialgruppen, deren soziokulturellesMilieu »die Entfaltung der kindlichen Potenzialitäten schon in den ersten Jahren vermindert«,könnten die Defizite durch den Besuch vorschulischer Institutionen ausgleichen (vgl. Heck-hausen 1969, S. 207). Vorschulische Betreuung kann bei einer gezielten pädagogischen För-derung sozial benachteiligter Kinder durchaus geeignet sein, den vergleichsweise ungünsti-gen sozialisatorischen Einfluss von Elternhäusern in den unteren Sozialschichten oder mitMigrationshintergrund auf den Bildungserfolg abzuschwächen, der zu ungleichen Startchan-cen beim Bildungserwerb und damit langfristig zu Bildungsungleichheiten führt. Sinnvoll istdaher, eine relative Chancengleichheit bereits bei der Einschulung herzustellen, bevor derWettbewerb im Bildungssystem beginnt. Insbesondere für Kinder aus Elternhäusern, die ent-weder über wenig Einkommen und Humankapital verfügen oder in geringem Maße mit denBildungsmöglichkeiten vertraut sind, könnten frühe Erfahrungen mit schulischen Einrichtun-gen und Abläufen sowie mit dem Alltag in solchen Institutionen und den signifikant Anderenwie etwa Lehrpersonal eine unterstützende Funktion bei der kritischen Phase des Schulein-tritts haben. Für den weiteren Bildungsverlauf kann die frühe Bildungsentscheidung der El-tern, ihr Kind vorschulisch betreuen zu lassen, langfristige Konsequenzen haben. Doch nichtzuletzt ist diese Entscheidung auch mit ökonomischen Aspekten verbunden. Migranten ver-fügen in der Regel über geringeres Finanz- und Humankapital, das sie für Investitionen in dieBildung ihrer Kinder mobilisieren können (Nauck et al. 1998; Diefenbach und Nauck 1997).So entscheiden sie sich im weiteren Bildungsverlauf – bei Berücksichtigung der schulischenLeistungen ihrer Kinder und den daraus resultierenden Erwartungen über den realisierbarenBildungserfolg – eher als Einheimische für die kürzeren und weniger kostenintensiven Bil-

400 Rolf Becker und Patricia Tremel

dungsgänge.3 Demnach bedeutet schon eine derartige vorschulische Investition in Bildungfür Migranten in vielen Fällen mehr Aufwand als für einheimische Eltern. Doch gerade beiKindern aus nachteiligen sozioökonomischen Verhältnissen sollen mit Hilfe vorschulischerBetreuung die unter Umständen vergleichsweise mangelhaften kognitiven Fähigkeiten unddefizitäre Sprachfähigkeiten ausgeglichen werden. Demnach müssten Bildungseffekte vor-schulischer Bildung und Betreuung in systematischer Weise die ungünstigen Auswirkungender nationalen und sozialen Herkunft auf die schulischen Leistungen und elterlichen Bil-dungsentscheidungen kompensieren, damit die Bildungschancen nicht mehr vom Migrations-status abhängen (vgl. Kristen 2002). Somit wäre es zu erwarten, dass die vorschulische Be-treuung gerade für Migranten eine positive Wirkung haben könnte und entsprechend dieBildungschancen der Migrantenkinder deutlich erhöhen würde.

Abbildung 1: Heuristisches Modell zur Erklärung von Bildungsungleichheiten

3) Die Wahl der Schullaufbahn am Ende der Grundschulzeit wird von den Eltern als eine nachwirkendeWeichenstellung für den Lebensverlauf von Kindern angesehen. Die erwarteten Lebenschancen werdenan dieser Sichtweise ausgerichtet. Ziel dieser Lebensplanung ist vor allem bei der autochthonen Bevölke-rung die Erhaltung des sozialen Status in der Generationenfolge, während bei der Migrationsbevölkerungvielfach eher die vorteilhafte, auf Einkommenserzielung abstellende Platzierung der Kinder in die Ar-beitsmärkte im Vordergrund steht (Nauck 1994). Demnach gilt ein Streben nach maximaler Schulbildungals Grundlage elterlicher Bildungsaspirationen. Allerdings können diese nur dann realisiert werden, wenndie Eltern über entsprechende Ressourcen verfügen, um längere Ausbildungen finanzieren zu können.

Auswirkungen vorschulischer Kinderbetreuung 401

Kurz- und langfristige Effekte auf schulische Leistungen und Kompetenzentwicklungkönnen sowohl die elterliche Bildungsaspirationen und -entscheidungen als auch die gezielteFörderung und Leistungsbewertung durch Lehrer in positiver Weise zu Gunsten sozial be-nachteiligter Kinder beeinflussen (siehe Abbildung 1). So liegen empirische Befunde ausUS-amerikanischen Studien dafür vor, dass der Besuch vorschulischer Einrichtungen – indi-rekt über günstige schulische Performanz und Schulleistungen sowie direkt über Attributionvon Bildungsmotivation und Leistungswille – die Beurteilung durch Lehrpersonen beein-flussen kann. Im Falle positiver sozialisatorischer und kognitiver Effekte werden positive Er-wartungen bei Eltern und Lehrern erweckt, so dass sie die Kinder fördern und zur höherenBildung ermutigen (Entwisle 1995, S. 135). Dadurch gesteigertes Vertrauen in die Leis-tungsfähigkeit der Kinder erhöht wiederum deren schulische Performanz (Entwisle 1995, S.139). Für Deutschland wären kompensatorische Auswirkungen auf Leistungsbewertungenund somit eine Reduktion der sozialen Selektivität von Bildungsempfehlung der abgebendenGrundschule zu erwarten.

Welche Wirkung hat nun die vorschulische Betreuung von Kindern allgemein und vonMigrantenkindern im Speziellen? Die bisherigen Ausführungen haben darauf verwiesen,dass vorschulische Betreuung soziale Ungleichheiten von Bildungschancen ausgleichen sollund in Hinblick auf die bevorstehende Schulzeit eine Verbesserung der kognitiven Fähigkei-ten der Individuen mit sich bringen könnte. Es wird angenommen, dass soziale Ungleichhei-ten von Bildungschancen ein aggregiertes Ergebnis des Zusammenwirkens primärer und se-kundärer Herkunftseffekte ist (siehe Abbildung 1).4 Die Entscheidung der Eltern zu einemKindergarten- oder Vorschulbesuch des Kindes steht zum einen in Abhängigkeit von den je-weiligen Herkunftseffekten und zum anderen beeinflusst diese Entscheidung vermutlichauch den weiteren Bildungswerdegang des Kindes. Entsprechend lassen sich Bildungsun-gleichheiten durch derartiges Entscheidungsverhalten erklären.

Aus diesen theoretischen Überlegungen ergeben sich folgende Hypothesen: Generell wer-den für Jugendliche mit Migrationsstatus positive Bildungseffekte vorschulischer Bildungund Betreuung erwartet. (1) Aufgrund von vorschulischer Bildung in Kindergärten und Vor-schulen haben die Migrantenkinder günstigere Chancen, auf die höheren Schullaufbahnen inder Sekundarstufe I zu wechseln, als diejenigen unter ihnen ohne jegliche vorschulische Bil-dung. (2) Ferner ist zu erwarten, dass sie dadurch ihre im Vergleich zu einheimischen Schul-kindern deutlichen Bildungsabstände erheblich verringern können.

3. Datenbasis und Variablen

Datenbasis

Um Bildungseffekte vorschulischer Kinderbetreuung und Bildung aufdecken zu können, be-nötigt man Längsschnittdaten. Daher greifen wir auf das Sozio-ökonomische Panel zurück(SOEP Group 2001). Im Rahmen dieses Panels werden seit 1984 jährlich die gleichen priva-

4) Primären Herkunftseffekte sind die kognitiven Vor- und Nachteile eines Individuums, die in Abhän-gigkeit von der Zugehörigkeit einer Sozialschicht unterschiedlich stark ausgeprägt sein können. Sotragen diese primären Herkunftseffekte als eine weitere Ursache für sozial selektive Bildungschancenlangfristig zur Festschreibung dauerhafter Bildungsungleichheiten über Selektion und Sortierung aufdie einzelnen Bildungslaufbahnen entsprechend der Schulleistungen bei. Sekundäre Herkunftseffektesind die elterlichen Bildungsentscheidungen, welche in Abhängigkeit von vorhandenen ökonomi-schen Ressourcen der Herkunftsfamilie getroffen werden. Diese sekundären Effekte der sozialen undauch nationalen Herkunft, die auf rationalen, sich an ihren Möglichkeiten orientierenden Entschei-dungen der Eltern beruhen, sind eine zentrale Ursache für sozial selektive Bildungschancen (Becker2000; Esser 1999; Breen und Goldthorpe 1997; Boudon 1974).

402 Rolf Becker und Patricia Tremel

ten Haushalte und ihre Mitglieder in der Bundesrepublik Deutschland wiederholt befragt. Inden privaten Haushalten werden alle Personen interviewt, die älter als 16 Jahre sind. Infor-mationen über Kinder unter 16 Jahren werden über den Haushaltsvorstand festgehalten. ImJahre 1990 wurde die bislang auf die Bundesrepublik beschränkte Erhebung von Quer- undLängsschnittinformationen auf das Gebiet der ehemaligen DDR ausgeweitet. Zusätzlich zuden Ost- und Westdeutschen enthält das SOEP auch Informationen über Migranten unter-schiedlicher Nationalitäten, so dass Bildungschancen von Migrantenkindern im bundesdeut-schen Bildungssystem im Vergleich zu einheimischen Schulkindern untersucht werden kön-nen. Wegen unterschiedlicher Voraussetzungen – für die Migranten liegt beispielsweise einover-sampling vor – und Beobachtungszeitfenster – etwa die Zeit vor und nach der deut-schen Einheit – werden die Analysen für die drei Bevölkerungsgruppen – Westdeutsche,Ostdeutsche und Migranten – separat vorgenommen. Bei den Migranten werden aufgrundder Sonderbedingungen der gesellschaftlichen Transformation in Ostdeutschland und ihresgeringen Anteils in der ostdeutschen Bevölkerung nur diejenigen im Westen Deutschlandsberücksichtigt.

Für den Zugang zur vorschulischen Kinderbetreuung untersuchen wir für den Zeitraumvon 1984 bis 2003 die Kinder im Alter von drei bis sieben Jahren, bevor sie eingeschult wer-den. Aus logischen Gründen betrachten wir für die Auswirkung vorschulischer Kinderbe-treuung auf die Verteilung auf die Schullaufbahnen in der Sekundarstufe I im Alter von 14Jahren die soziale Selektivität vorschulischer Betreuung im Zeitraum von 1984 bis 1995 undden Übergang am Ende der Grundschulzeit – jeweils rund acht Jahre später – im Zeitraumvon 1992 bis 2003. Im Unterschied zu einer vorhergehenden Untersuchung wird bei den Be-treuungseffekten auf die Bildungschancen nicht nur der Besuch bzw. Nichtbesuch vorschuli-scher Kinderbetreuung im letzten Jahr, sondern jegliche Nutzung vorschulischer Betreuungs-einrichtungen vor der Einschulung berücksichtigt (Becker und Lauterbach 2004). Schließlichwerden die 14-jährigen Schulkinder ausgeschlossen, die andere Schulen (Integrierte Gesamt-schulen, Schularten mit mehreren Bildungsgängen, Freie Waldorfschulen, Sonderschulen)als das Gymnasium oder die Haupt- und Realschule besuchen. Durchschnittlich bleibt da-durch rund ein Fünftel eines Jahrgangs unberücksichtigt.

Abhängige und unabhängige Variablen

Die erste abhängige Variable ist die Nutzung vorschulischer Kinderbetreuung in Kinderkrip-pen, Kindergärten, Kindertagesstätten und Vorschulen von drei- bis siebenjährigen Kindern.Abgesehen davon, dass bei den jeweiligen Befragungszeitpunkten die Form und Dauer derBetreuung in jeweils unterschiedlicher Weise erhoben wurde, wurde bis zur Panel-Welle imJahre 1999 auch die Betreuung durch eine Tagesmutter einbezogen. Auf diese Schwierigkeitweisen Büchel, Spieß und Wagner (1997, S. 532) hin, da bei solch einer Betreuung im Unter-schied zu den anderen Betreuungsmöglichkeiten der Bildungsaspekt eher sekundär sei. DaKindergärten oder Vorklassen nicht durchgängig separat erfasst werden, gehen wir davonaus, dass die erste abhängige Variable auch alle kindergarten- und vorschulähnliche Einrich-tungen mit einschließt. Eine detailliertere und über die einzelnen Zeitpunkte hinweg einheitli-che Operationalisierung der vorschulischen Kinderbetreuung wäre wünschenswert gewesen,um differenzierte Aussagen über ihre Bildungseffekte treffen zu können. So wird im Folgen-den recht grob danach unterschieden, ob ein Kind eine vorschulische Einrichtung besucht hatoder nicht. Aufgrund dessen gehen wir davon aus, dass damit diverse Formen vorschulischerBetreuung, Erziehung und Bildung erfasst werden und daher verwenden wir auch diesen Be-griff, um Bildungseffekte von institutioneller Betreuung vor der Einschulung abzubilden.

Die zweite abhängige Variable ist für die 14-jährigen Schulkinder der Besuch des Gymna-siums, der Realschule oder der Hauptschule. Die Referenzkategorie ist der Übergang auf die

Auswirkungen vorschulischer Kinderbetreuung 403

Hauptschule. Alle anderen Schullaufbahnen wurden deswegen von der Analyse ausgeschlos-sen, weil der avisierte Abschluss eines Bildungszertifikats nicht eindeutig ist (z.B. Gesamt-oder Waldorfschule) oder der Anteil der Bildungsgruppen für aussagekräftige Analysen zuklein ist (z.B. Sonder- oder Spezialschule).

Als erklärende Variablen für den sozial selektiven Besuch vorschulischer Einrichtungenwird neben dem Alter der Kinder auch die die historische Zeit (Periode) kontrolliert. Nebendem sozialen Wandel sollen dadurch auch Effekte eines gepoolten Datensatzes berücksich-tigt werden. Des Weiteren wird das Bildungsniveau der Elternteile kontrolliert. Es wird alsKombination schulischer und beruflicher Abschlüsse operationalisiert und mit der durch-schnittlichen Dauer bis zum Erwerb dieser Zertifikate gemessen. Zwar geht dadurch der or-dinale Charakter erworbener Bildungszertifikate verloren, aber der Vorteil dieser Operatio-nalisierung liegt in unserem Fall darin, dass bei multivariaten Analysen angesichts kleinerFallzahlen nur eine geringere Zahl von Parametern geschätzt werden muss. Als außerordent-lich ungünstig für unsere Fragestellung erweist es sich, dass mit den Daten des SOEP derEinfluss schulischer Leistungen sowie der Bildungsempfehlungen auf den Übergang in dieSekundarstufe I und damit eine wichtige Komponente der primären Herkunftseffekte unddes Bildungserfolgs nicht kontrolliert werden kann (vgl. Becker 2003).

Als zusätzliche Messung der sozialen Herkunft des Kindes werden sowohl das Klassen-strukturschema von Erikson und Goldthorpe (1992) als auch der sozioökonomische Statusdes Haushaltsvorstandes, gemessen anhand des sozialen Prestiges nach Wegener (1988), he-rangezogen. Ebenso wird die Erwerbstätigkeit der Mutter als bedeutsam für die Nutzung au-ßerhäuslicher Kinderbetreuung angesehen. Weitere sozialstrukturelle und sozioökonomi-sche Strukturen des Haushaltes werden über die Anzahl der im Haushalt lebenden Personen(Haushaltsgröße) und mit dem verfügbaren Haushaltsnettoeinkommen gemessen.

Während die Erwerbstätigkeit der Mutter und der sozioökonomische Status des Elternhau-ses auch die berufliche Integration ausdrückt, wird die Qualität der deutschen Sprache derElternteile (Selbsteinschätzung von »1« für »sehr gut« bis »5« für »kein Deutsch«) als Indi-kator für kulturelle Integration berücksichtigt. Für den Besuch einer der weiterführendenSchullaufbahnen nach der Grundschule wird zudem das Geschlecht des Kindes (Referenz:Mädchen) und der Besuch einer vorschulischen Einrichtung als erklärende Variable heran-gezogen. Die Nationalität des Haushaltsvorstandes bemisst trotz aller Schwierigkeiten beider Abgrenzung des Migrationsstatus sowohl den Migrationshintergrund der Kinder als auchdie nationale Heterogenität unter den Migranten. Entsprechend der Anlage des SOEP wer-den vornehmlich die türkische, (ex-)jugoslawische, griechische, italienische, spanische unddeutsche Nationalität berücksichtigt (Referenz: andere Nationalitäten).

Methodische Konsequenzen bei der Messung von Bildungseffekten

Die empirische Überprüfung der Wirksamkeit von vorschulischer Bildung für spätere Bil-dungs- und Lebenschancen kann man durchaus als ein sozial- und bildungspolitisches Expe-riment ansehen. Liegen Umfragedaten vor, wird dieser Test statt in einem experimentelleneben in einem quasi-experimentellen Design vorgenommen (Cook und Campbell 1979).Dann treten bei der Beurteilung der Effektivität vorschulischer Kinderbetreuung methodi-sche und statistische Schwierigkeiten auf, da keine zufällige Aufteilung von Untersuchungs-und Kontrollgruppen erfolgt, wie dies für reine Experimente zwingend notwendig ist. Wennaber die soziale Selektivität beim Zugang zur vorschulischen Bildung, also die systematischeAufteilung in die Untersuchungs- und Kontrollgruppen nach bestimmten Individualmerkma-len, nicht explizit kontrolliert wird, dann führen multivariate Analysen wegen eines »selecti-vity bias« zu verzerrten und daher wenig aussagekräftigen Ergebnissen. Deswegen verbietetes sich, in multiplen Regressionen die Nichtteilnehmer ohne jegliche Kontrolle ihrer sozialen

404 Rolf Becker und Patricia Tremel

Selektivität in der vorschulischen Kinderbetreuung als Kontrollgruppe heranzuziehen.5 Fürmultivariate Schätzungen von Bildungseffekten ist die Einbeziehung einer Dummy-Variab-len, die indiziert, ob ein Kind an vorschulischer Bildung teilgenommen hat oder nicht, daherausgeschlossen (Maddala 1978, S. 426). Dieses Evaluationsproblem kann allerdings durchdie Kontrolle sozialer Selektivität bei der Nutzung vorschulischer Kinderbetreuung und Bil-dung vor der Einschulung zumindest teilweise gelöst werden (Lechner 1998).

Aus pragmatischen Gründen verwenden wir für die Kontrolle des Selektivitätsproblems dasvon Heckman (1979) vorgeschlagene Verfahren, das sich bereits in mehreren bildungssozio-logischen Studien bewährt hat (vgl. Becker 2000, 2003).6 Bei der Ermittlung des Nutzens vor-schulischer Kinderbetreuung für den weiteren Bildungsweg wird im ersten Schritt der Selekti-onsprozess beim Zugang zu vorschulischen Einrichtungen geschätzt. Die Schätzergebnissefür die sozial selektive Nutzung vorschulischer Kinderbetreuung, die so genannten inversenMill’s ratios (IMR), gehen im zweiten Schritt als instrumentelle Variable λ (vorschulischeBildung) in die Schätzung der Nutzenfunktionen ein – eben in das Modell für den Übergangvon der Primarstufe auf die weiterführenden Schullaufbahnen in der Sekundarstufe I. Die in-versen Mill’s Ratios (IMR) basieren auf Regressionsschätzungen für den Besuch vorschuli-scher Betreuungs- und Bildungseinrichtungen (Long 1997). So muss man bei der Verwen-dung des zweistufigen Verfahrens von Heckman (1979) wegen Multikollinearität daraufachten, dass nicht die gleichen erklärenden Variablen im Selektions- und im Effektmodellverwendet werden. In unserem Fall interpretieren wir die IMR als bedingte Wahrscheinlich-keit für die Nutzung vorschulischer Betreuungsangebote (Becker 2000). Damit ist es möglich,den kausalen Effekt vorschulischer Kinderbetreuung auf die Bildungschancen zu beurteilen.

4. Empirische Befunde

Besuch von Betreuungseinrichtungen

In Abbildung 2 wird für die drei- bis siebenjährigen Kinder die periodenspezifische, auf dashistorische Kalenderjahr bezogene Quote des Besuchs von Betreuungseinrichtungen vor ih-rer Einschulung dargestellt. Wie bereits oftmals mit aggregierten Zeitreihen dokumentiert,ist für jedes Jahr im Zeitraum von 1984 bis 2003 die Nutzungsquote bei den Ostdeutschenam höchsten, gefolgt von den Westdeutschen, und die niedrigsten Nutzungsquoten weisenKinder von Migranten auf (vgl. Kreyenfeld 2004).

5) So ist anzunehmen, dass höher gebildete Eltern oder erwerbstätige Mütter oder Haushalte mit höhe-rem Einkommen ihre Kinder eher in die Einrichtungen vorschulischer Kinderbetreuung schicken alsbeispielsweise Eltern aus unteren Sozialschichten, die über geringeres Finanz- und Humankapitalverfügen. Gerade höher gebildete Eltern kennen die Möglichkeiten und Auswirkungen der frühenvorschulischen Bildung besser als die weniger gebildeten Eltern. Erwerbstätige Mütter sind in der Re-gel höher gebildet und nutzen eher die Optionen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, diedurch die vorschulische Kinderbetreuung gegeben ist. Diese Eltern haben nicht nur die Ressourcenfür die Nutzung von Angeboten der vorschulischer Bildung und Kinderbetreuung, sondern sie verfü-gen bereits über die Ressourcen, die zu privilegierten Bildungschancen ihrer Kinder führen – undzwar unabhängig davon, ob die Eltern ihre Kinder in die Kindergärten oder auf Vorschulen schickenoder nicht. So bleibt zunächst unklar, ob die besseren Bildungschancen ihrer Kinder kausal auf ihrevorschulische Bildung zurückgeführt werden können oder schlichtweg auf der begünstigenden Sozi-alisation im Elternhaus beruhen.

6) Das Matching-Verfahren ist angesichts des geringen Stichprobenumfangs für die Schulkinder kaumpraktikabel. Wenn zwischen zwei Drittel und drei Viertel der Kinder im Vorschulalter die Kinderbe-treuungseinrichtungen besuchen, dann wird es schwierig, für die abstinenten Kinder in ausreichenderZahl einen »Zwilling« zu finden. Diese technische Schwierigkeit wächst mit der Zahl der Variablen,die man für die Paarzusammenstellung verwenden möchte, so dass dann die Analysestichprobe im-mer geringer ausfällt.

Auswirkungen vorschulischer Kinderbetreuung 405

Abbildung 2: Besuch von vorschulischen Betreuungs- und Bildungseinrichtungen der 3-bis 7-jährigen Kinder vor der Einschulung (Deutschland, 1984-2003)

Quelle: SOEP 1984-2003 (ungewichtete Ergebnisse) – eigene Berechnung

So liegen deren Quoten in den einzelnen Jahren zwischen 49 und 67 Prozent. Allenfallszwei Drittel der Migrantenkinder im Alter zwischen drei und sieben Jahren besuchen dievorschulischen Einrichtungen, insbesondere den Kindergarten, während fast drei Viertel derwestdeutschen Kinder und mehr als 80 Prozent der ostdeutschen Kinder in diesem Lebensal-ter in vorschulischen Einrichtungen betreut werden. Gemessen an der Partizipation ist beiden Deutschen – im Unterschied zu den Kindern mit Migrationsstatus – der Kindergarten zur»Regel-Einrichtung« geworden (vgl. Kreyenfeld et al. 2002).

Der Besuch vorschulischer Bildungseinrichtungen differiert nach dem Alter der Kinder:Mit zunehmendem Alter und dem Näherrücken der Einschulung wird der Besuch von Kin-dergarten und Vorschule immer wahrscheinlicher (Tabelle 1). Diese Entwicklungen sind fürdie einzelnen Subpopulationen unterschiedlich. Die meisten Kinder in allen drei Subpopula-tionen besuchen im Alter von sechs Jahren vorschulische Betreuungseinrichtungen.

Tabelle 1: Besuch einer vorschulischen Betreuungs- und Bildungseinrichtung nach Alter(Abstromprozente)

Quelle: SOEP1984-2003 (ungewichtete Ergebnisse) – eigene Berechnung

Alter Westdeutsche Ausländer Ostdeutsche

3 15,9 9,2 65,7

4 57,4 44,7 85,5

5 87,9 67,2 90,5

6 93,2 73,7 92,1

7 87,6 72,9 91,5

Insgesamt 65,7 50,9 84,9

0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

100

1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003

Ostdeutsche

Westdeutsche

Migranten

406 Rolf Becker und Patricia Tremel

Während in Ostdeutschland die meisten Kinder bereits im Alter von drei Jahren in diesenEinrichtungen sind, setzt in Westdeutschland der Besuch erst im vierten oder fünften Le-bensjahr ein. Folgende Gründe dürften plausibel sein. In Ostdeutschland führt neben derfortgesetzten Tradition aus DDR-Zeiten das strukturelle Angebot an vorschulischer Kinder-betreuung auch zur entsprechenden Nutzung, die durch die starke Erwerbsorientierung ost-deutscher Mütter gefördert wird. Die soziokulturelle Distanz zu Bildungsinstitutionen inDeutschland ist möglicherweise neben gegebenen Alternativen zur institutionellen Kinderbe-treuung im Familienverband der entscheidende Grund für die vergleichsweise niedrigen Be-suchsquoten bei den Migranten.

Soziale Selektivität bei der Nutzung von vorschulischen Einrichtungen

Möchte man die Bildungseffekte vorschulischer Bildung und Betreuung als Kausalität beur-teilen, ist es wie bereits ausgeführt notwendig – abgesehen vom strukturellen Angebot anvorschulischer Bildung –, die Sozialstruktur bei der Nutzung von Kindergärten und Vor-schulen zu berücksichtigen. Daher schätzen wir mittels logistischer Regression (Long 1997)den Übergang in vorschulische Einrichtungen in Abhängigkeit von sozioökonomischen Res-sourcen und Gelegenheiten des Elternhauses. Die empirischen Befunde zeigen zunächst füralle Sozialgruppen, dass in der Abfolge von Kohorten oder im historischen Ablauf die Chan-cen gestiegen sind, vorschulische Bildungseinrichtungen zu besuchen (Tabelle 2).7 Zumin-dest für ältere Kinder ist es wahrscheinlich, vor ihrer Einschulung den Kindergarten oder dieVorschule besucht zu haben.

7) Der Einfluss erklärender Variablen auf die Wahrscheinlichkeit, vorschulische Einrichtungen im Alterzwischen 3 und 7 Jahren genutzt zu haben, wird mittels logistischer Regression geschätzt (Long1997). Die Schätzergebnisse werden als so genannte odds ratio dokumentiert (Mare 1980, 1981). Siebemessen die relative Chance, in Abhängigkeit der erklärenden Variable Kindergarten oder Vorschu-le zu besuchen. Ein odds-ratio-Wert von größer als 1 weist auf einen positiven Einfluss und ein Wertkleiner als 1 auf einen negativen Einfluss hin. Ist der Wert gleich 1, so gibt es keinen Zusammenhangoder Unterschied nach Merkmalsausprägungen. Der Wert 3,67 im ersten Modell für die Westdeut-schen besagt, dass die relative Chance für vorschulische Betreuung mit jedem zusätzlichem Lebens-alter um das 3,67-fache ansteigt. Der Wert 3,05 für die Erwerbstätigkeit der Mutter beim Modell fürdie ostdeutschen Kinder heißt: Kinder erwerbstätiger Mütter haben eine mehr als drei Mal so großeChance für vorschulische Betreuung als diejenigen, deren Mutter nicht erwerbstätig ist.

Auswirkungen vorschulischer Kinderbetreuung 407

Tabelle 2: Determinanten des Besuchs einer vorschulischen Betreuungs- und Bildungsein-richtung – Drei- bis siebenjährige Kinder in der Zeit von 1984 bzw. 1992 bis 2003 (odds ra-tios – geschätzt mit logistischer Regression)

Quelle: SOEP (ungewichtete Ergebnisse) – eigene Berechnung

Verfügen Haushalte über höhere Einkommen, dann besuchen Kinder vorschulische Ein-richtungen eher als Kinder einkommensschwächerer Eltern: Die soziale Selektivität der Nut-zung vorschulischer Kinderbetreuung ergibt sich der Humankapitaltheorie zufolge aus derRelation verfügbarer Ressourcen und erwarteter Nutzen (G.S. Becker 1975). Haushalte mithöheren Einkommen investieren nicht nur eher in die allgemeine Ausbildung ihrer Kinder,sondern auch eher in die gebührenpflichtige vorschulische Kinderbetreuung, weil anfallendeInvestitions- und Opportunitätskosten geringer sind als der erwartete Nutzen.

Je größer der Haushalt ist, desto seltener besuchen Kinder vorschulische Einrichtungen. Jegrößer ein Haushalt ist, umso eher sind jedoch Alternativen für eine Betreuung jüngerer Kinderinnerhalb des Haushaltes vorhanden oder desto größer sind auch bei einer höheren Kinderzahl

West-deutsche(Modell 1)

West-deutsche(Modell 2)

Migranten

(Modell 1)

Migranten

(Modell 2)

Migranten

(Modell 3)

Ost-deutsche

Zeitdimensionen

Alter 3,67*** 3,61*** 2,61*** 2,69*** 2,49*** 1,74***

Periode 1,03*** 1,03*** 1,04*** 1,03*** 1,03*** 0,97

Ressourcen des Haushalts

Haushaltsgröße 0,89*** 0,93* 0,80*** 0,85*** 0,87*** 0,62***

Haushaltseinkommen 1,06*** 1,02 1,11*** 1,06* 1,07† 1,15†

Bildungsniveau der Mutter

1,02 1,01 1,10*** 1,06* 1,06† 1,06

Bildungsniveau des Vaters

1,05*** 1,04*** 1,04* 1,04† 1,05

Berufliche Integration

Erwerbstätigkeit der Mutter

1,39*** 1,78*** 1,88*** 3,05***

Ref.: Keine Erwerbs-tätigkeit

1 1 1 1

SozioökonomischerStatus

1,01*** 1,01*** 1,02*** 1,01*

Kulturelle Integration

Mutter 1,44***

Vater 0,90

Pseudo-R2 (Cox-Snell)Pseudo-R2

(Nagelkerke)Besuch in %N (Insgesamt)

0,330,46

62,57.927

0,330,46

63,17.387

0,260,35

53,74.132

0,280,38

54,83.632

0,270,36

52,82.391

0,140,24

85,82.164

* p = 0.05; ** p = 0.01; *** p = 0.01; † p = 0.1

408 Rolf Becker und Patricia Tremel

die anfallenden Kosten für eine außerhäusliche Kinderbetreuung. Von der alternativen Mög-lichkeit für eine kostengünstige Kinderbetreuung machen vor allem Migranten Gebrauch. Indiesem Fall ist es wahrscheinlich, dass Investitionen in die vorschulische Bildung ausbleiben.

Je höher das Bildungsniveau der Eltern ist, desto eher besuchen Kinder vorschulische Bil-dungseinrichtungen; dies ist vor allem wiederum bei den Migranten der Fall, während beiden Ostdeutschen keine Bildungsselektivitäten vorliegen. Eltern mit höherem Bildungsni-veau sind nicht nur eher mit dem Bildungssystem und dem Wert von frühen und stetigen Hu-mankapitalinvestitionen vertraut, sondern auch eher in der Lage, Bildungsrenditen langfris-tig zu diskontieren (Hillmert und Jacob 2003). Dies gilt insbesondere für erwerbstätigeMütter, die in der Regel ein höheres Bildungsniveau aufzeigen, und für beruflich erfolgrei-che Haushalte, die den höheren Sozialschichten angehören und am Bildungserfolg ihrer Kin-der besonders interessiert sind. Diese Familien sind daher eher bereit, in die vorschulischeBildung ihrer Kinder zu investieren.

Je höher der sozioökonomische Status des Elternhauses ist, desto eher erfolgt eine außer-häusliche Kinderbetreuung in vorschulischen Einrichtungen. Da bei Kontrolle des sozioöko-nomischen Status der Einfluss des Haushaltseinkommens auf die Nutzung vorschulischerEinrichtungen nur noch auf dem 10-Prozent-Niveau signifikant ist, kann davon ausgegangenwerden, dass damit hauptsächlich die Verfügbarkeit über Finanzmittel indiziert wird, die fürfrühe Bildungsinvestitionen mobilisiert werden können.

Je besser die soziale Integration des Elternhauses durch die Erwerbstätigkeit der Muttergelingt, desto eher partizipieren Kinder auch an vorschulischer Betreuung. Gerade die vor-schulische Bildung der Kinder bietet den erwerbstätigen Müttern die Möglichkeit, auf einemkostengünstigen Wege die Renditen ihrer eigenen Humankapitalinvestitionen langfristig zusichern (Kreyenfeld et al. 2002, S. 205-206; Roßbach 2000, S. 27). Voraussetzung dafür istdie erfolgreiche Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die durch entsprechende Angebote anaußerfamiliärer institutioneller Kinderbetreuung vereinfacht wird und den erfreulichen Ne-beneffekt hat, dass Opportunitätskosten wegen Reduzierung oder Aufgabe einer Erwerbstä-tigkeit vermieden werden können (Spieß und Tietze 2002, S. 143-144). Des Weiteren ist vor-schulische Bildung eine rationale Strategie, negative Konsequenzen eines misslungenenintergenerationalen Transfers von Humankapital wegen geringer Humankapitalinvestitionenvon Migranten zu kompensieren: Je höher die Nachfrage nach dem Humankapital und -ver-mögen des Kindes und je höher die Investitionskosten für die Kinder sind, desto notwendigerund wertvoller ist die Erwerbstätigkeit der Mutter, damit die Eltern zusätzliche Einkommenfür die Bildung und Ausbildung der Kinder erwirtschaften. Wenn Mütter aufgrund des insti-tutionellen Angebots an Kinderbetreuung auch Familie und Beruf miteinander vereinbarenkönnen, dann sinken die relativen Investitionskosten für die Ausbildung der Kinder (Chis-wick 1988), während gleichzeitig die Eltern-Kind-Beziehung an Qualität gewinnt, die Sozi-alintegration des Elternhauses über den Arbeitsmarkt und die sozialen Beziehungen im Er-werbsleben zunehmen (Roßbach 2000). Die strukturelle Notwendigkeit der externenKinderbetreuung, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu sichern, verliert an Trivia-lität, wenn berücksichtigt wird, dass dieser Zusammenhang vor allem bei Migranten auftritt,die die besten Alternativen zur institutionellen außerhäuslichen Betreuung aufweisen.

Schließlich ist bei Migranten der Besuch vorschulischer Bildung am wahrscheinlichsten,wenn die Mutter über gute (selbst eingeschätzte) Fähigkeiten verfügt, Deutsch zu sprechen.Neben Unkenntnis von Struktur und institutionellen Regelungen des deutschen Bildungssys-tems sind sprachliche Probleme entscheidende Hindernisse für die Übergabe der Kinder indie vorschulischen Einrichtungen. Somit wäre zu erwarten, dass höher gebildete ausländi-sche Eltern, die in der Regel auch eher der deutschen Sprache mächtig sind, die Möglichkei-ten der vorschulischen Kinderbetreuung nutzen. Aus deren Sicht wären frühe Investitionenin das Humankapital ihrer Kinder eine Strategie für soziale Integration und gesellschaftliche

Auswirkungen vorschulischer Kinderbetreuung 409

Teilhabe im Ankunftsland (Nauck et al. 1998; Diefenbach und Nauck 1997). Diese Annah-men werden durch unsere Daten unterstützt.

Insgesamt belegen unsere Befunde, dass berufliche Integration, kulturelle Assimilationund verfügbares Human- und Kulturkapital die wichtigsten Mechanismen darstellen, dassKinder mit Migrationshintergrund in Deutschland vorschulische Betreuungseinrichtungenbesuchen. Für einheimische Kinder hängen Partizipationschancen vornehmlich von vorteil-haften sozioökonomischen Ressourcen im Elternhaus ab.

Bei den Migranten könnte man noch zusätzlich argumentieren, dass nicht alleine der Mig-rantenstatus, sondern die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nationalität ausschlaggebend da-für ist, ob die Kinder vorschulische Betreuungseinrichtungen besuchen oder nicht. Oder an-ders ausgedrückt: Es könnte auch Unterschiede zwischen den einzelnen Nationalitäten gebenund dass es daher die im vorschulischen und schulischen Bildungssystem benachteiligten Kin-der von Migranten nicht gibt. Daher wird für die Bestimmungsgründe des Besuchs vorschuli-scher Betreuungs- und Bildungseinrichtungen auch die Nationalität der Kinder berücksichtigt.

Tabelle 3: Determinanten des Besuchs einer vorschulischen Bildungseinrichtung – nur drei-bis siebenjährige Kinder von Migranten (odds ratio – geschätzt mit logistischer Regression)

Quelle: SOEP (ungewichtete Ergebnisse) – eigene Berechnung

Modell 1 Modell 2 Modell 3

Sozialer Hintergrund

Alter 2,55*** 2,70*** 2,52***

Periode 1,06*** 1,04*** 1,02***

Haushaltsgröße 0,87*** 0,89***

Haushaltseinkommen 1,06* 1,07*

Bildungsniveau der Mutter 1,06* 1,06†

Bildungsniveau des Vaters 1,05* 1,06†

Erwerbstätigkeit der Mutter 1,79*** 1,93***

Ref.: Keine Erwerbstätigkeit der Mutter 1 1

Sozioökonomischer Status 1,01*** 1,01*

Deutsch sprechen (Mutter) 1,46***

Deutsch sprechen (Vater) 0,97

Nationalität des Haushaltsvorstandes

türkisch 0,54* 0,67 0,94

(ex-)jugoslawisch 0,68 0,65 0,59

griechisch 0,75 0,65 0,85

italienisch 0,80 0,88 1,17

deutsch 0,87 0,63 1,33

Ref.: Andere Nationalitäten 1 1 1

Pseudo-R2 (Cox-Snell)Pseudo-R2 (Nagelkerke)Besuch in %N (Insgesamt)

0,250,3453,84.868

0,280,3854,83.632

0,270,3752,82.391

* p = 0.05; ** p = 0.01; *** p = 0.01; † p = 0.1

410 Rolf Becker und Patricia Tremel

Im ersten sehr einfachen Schätzmodell deutet es sich an, dass gerade türkische Kinder imVergleich zu anderen Nationalitäten die vergleichsweise geringsten Chancen haben, an dervorschulischen Bildung zu partizipieren (Tabelle 3). Allerdings verschwinden die nationa-len Unterschiede gänzlich, wenn Ressourcen des Elternhauses kontrolliert werden. Es isteben nicht die nationale Herkunft oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nationalität, diedie frühen Bildungschancen determinieren, sondern offenkundig - wie von der Humankapi-taltheorie prognostiziert - Ressourcen, die für die Ausbildung der Kinder mobilisiert werdenkönnen.

Bildungseffekte vorschulischer Betreuung

Die ungleiche Partizipation an früher Elementarbildung findet ihre Fortsetzung in den wei-terführenden Schulen in der Sekundarstufe I. Mehr als 10 Prozent der ostdeutschen und rundein Viertel der westdeutschen Jugendlichen, für die zuvor die Beteiligung an vorschulischerBetreuung betrachtet wurde, besuchen – betrachtet für den Zeitraum von 1992 bis 2003 – imAlter von 14 Jahren die Hauptschule. Hingegen wechselt zwischen einem und zwei Drittelder Migranten auf die Hauptschule, wobei Abwanderungen aus Deutschland unberücksich-tigt bleiben. Insofern haben sich relative Bildungserfolge für diese Jugendlichen ergeben, diezu einem wachsenden Anteil auf die Real- oder Gesamtschulen sowie auf das Gymnasiumgewechselt sind. Allerdings haben im Jahre 2003 Migranten immerhin noch ein 3,6 Mal hö-heres Risiko als Ostdeutsche und ein 1,7 Mal höheres Risiko als Westdeutsche, nach derGrundschule auf die Hauptschule zu wechseln.

Tabelle 4: Bildungsbeteiligung von 14-jährigen nach Besuch vorschulischer Bildungsein-richtungen (Abstromprozente für 1992-2003)

Quelle: SOEP (ungewichtete Ergebnisse) – eigene Berechnung

Ungeachtet der sozialen Selektivität bei der Nutzung vorschulischer Einrichtungen, kön-nen wir anhand einfacher Deskriptionen den Einfluss von vorschulischer Bildung auf diespäteren Bildungschancen - gemessen anhand der Verteilung auf die stratifiziertenSchullaufbahnen in der Sekundarstufe I - abschätzen (Tabelle 4). Zunächst werden sowohlbei den Einheimischen als auch bei den Migranten die Bildungschancen gefördert, wenn sievor der Einschulung Kindergarten oder Vorschule besuchen. Während rund 27 Prozent derwestdeutschen Schulkinder, die eine vorschulische Einrichtung besucht haben, am Ende ih-rer Grundschulzeit auf die unterste Schullaufbahn, die Hauptschule, rund 31 Prozent in dieRealschule, die mittlere Schullaufbahn, und schließlich 42 Prozent auf das Gymnasium, derhöchsten Schullaufbahn, wechseln, wechselt hingegen die Hälfte der westdeutschen Schul-kinder ohne Erfahrung mit vorschulischer Bildung in die Hauptschule über und rund ein

Besuch vorschulischerBildungseinrichtung Westdeutsche Migranten Ostdeutsche

HS RS GYM HS RS GYM HS RS GYM

Ja 27,0 31,0 42,0 49,0 29,4 21,6 11,9 46,4 41,8

Nein 50,8 23,7 25,4 58,9 33,7 7,4 5,9 70,6 23,5

Insgesamt 28,6 30,5 41,0 51,7 30,6 17,7 11,4 48,3 40,3

Cramér’s V 0,13 0,17 0,13

Auswirkungen vorschulischer Kinderbetreuung 411

Viertel auf das Gymnasium. Ähnliche Verteilungen ergeben sich für die ostdeutschen Schul-kinder. Bei den Migrantenkindern besucht nach dem Bildungsübergang mehr als die Hälfteder 14-Jährigen die Hauptschule, ein Drittel die Realschule und weniger als ein Zehntel dasGymnasium, wenn sie keine vorschulischen Einrichtungen besucht haben. Hingegen wech-selt fast ein Viertel der Migrantenkinder auf das Gymnasium und weniger als die Hälfte aufdie Hauptschule, wenn sie Erfahrungen mit Kindergarten und Vorschule haben.

Trotz alledem sollten für die Kinder von Migranten die Bildungseffekte vorschulischerBildung nicht überschätzt werden, wie folgender Vergleich mit den relativen Bildungschan-cen für einheimische Jugendliche zeigt: Westdeutsche Schulkinder mit Kindergarten- undVorschulbesuch haben eine doppelt so große Chance, auf das Gymnasium zu wechseln, alsdiejenigen ohne jegliche vorschulische Bildung. Ähnliche Chancenstrukturen bestehen beiostdeutschen Schulkindern, wobei diejenigen ohne vorschulische Bildung bessere Chancenhaben, mindestens auf die Realschule zu wechseln, als dies bei den Westdeutschen der Fallist. Ohne Kindergarten- und Vorschulbesuch haben westdeutsche Schulkinder ein 2,7-Malgrößeres Risiko, in die Hauptschule zu gelangen, als Westdeutsche mit Kindergarten- undVorschulbesuch.

Hingegen haben Kinder von Migranten - unabhängig davon, ob sie Kindergärten bzw.Vorschulen besucht haben oder nicht - deutlich ungünstigere Bildungschancen als Einheimi-sche. So haben Autochthone rund 3-Mal bessere Chancen, auf das Gymnasium zu wechseln,während Migrantenkinder ein fast 9-Mal höheres Risiko haben, in die Hauptschule zu wech-seln. Besuchen sie vorschulische Einrichtungen, dann haben sie zwar 3,4-Mal bessere Chan-cen, auf das Gymnasium zu wechseln, als ihre Landsleute ohne jegliche Erfahrung mit Kin-dergarten und Vorschule. Verglichen mit einheimischen Schulkindern, die ebenfallsvorschulische Betreuungseinrichtungen besucht haben, sind die Migranten trotz dieser Start-vorteile immer noch deutlich im Nachteil beim Übergang in die Sekundarstufe I: Einheimi-sche mit vorschulischer Bildung haben immer noch 2,5-Mal bessere Chancen auf das Gym-nasium zu wechseln, während Migrantenkinder mit vorschulischer Bildung die gleichenBildungschancen haben wie Einheimische ohne vorschulische Bildung.

Sicherlich gibt es keine homogenen Bildungschancen für die betrachteten Populationen,wenn zusätzlich weitere Ressourcen des Elternhauses in Betracht gezogen werden. Offen-sichtlich bestimmen sozioökonomische Ressourcen des Elternhauses und das kulturelle Ka-pital der Eltern die Bildungschancen von Kindern. Werden diese Ressourcen berücksichtigt,dann gibt es nur noch für die Migranten einen signifikanten Bildungseffekt vorschulischerBetreuung (Tabelle 5).

412 Rolf Becker und Patricia Tremel

Tabelle 5: Einfluss des Besuchs vorschulischer Kinderbetreuungseinrichtungen auf die Bil-dungsbeteiligung von 14-jährigen Schulkindern, 1992-2003 (odds ratios – geschätzt mitmultinomialer bzw. binärer Logit-Regression bei Kontrolle sozialer Selektivität des Besuchsvorschulischer Bildungseinrichtungen; in eckigen Klammern: Kehrwert des odds ratio)

Quelle: SOEP (ungewichtete Ergebnisse) – eigene Berechnung

Bei diesem Bildungseffekt ist die soziale Selektivität bei der Partizipation an vorschuli-scher Betreuung und Bildung in Form von bedingten Wahrscheinlichkeiten, diese Einrich-tungen besucht zu haben, berücksichtigt. Die Kontrolle der sozialen Selektivität bei der Nut-zung vorschulischer Kinderbetreuung basiert auf den in Tabelle 2 dokumentiertenSchätzungen. So haben Migranten, die vor ihrer Einschulung Kindergarten und Vorschulebesucht haben, signifikant bessere Chancen, auf das Gymnasium zu wechseln, als ihreLandsleute ohne vorschulische Bildung. So gesehen, rentieren sich für Migranten entspre-chende Investitionen in vorschulische Bildung, auch wenn dadurch ihre relativen Nachteilebeim Bildungserwerb gegenüber den einheimischen Schulkindern nicht wettgemacht werdenkönnen. Hiermit bestätigen wir die Befunde von Büchel et al. (1997).8

Westdeutsche Migranten Ostdeutsche

Real-schule

Gymna-sium

Real-schule

Gymna-sium

Gymna-sium

λ(vorschulische Bildung) 1,33 1,18 0,95 1,82* 0,80

Junge 0,77 0,65*[1/1,54]

0,71 1,09 0,52*[1/1,91]

Mädchen 1 1 1 1 1

Bildungsniveau der Mutter

1,19** 1,50*** 1,08* 1,21** 1,15*

Sozioökonomischer Status 1,03*** 1,06*** 1,01 1,03* 1,05*

Periode 1,02 0,98 1,72* 1,66 1,25

Pseudo-R2

N0,131799

0,052350

0,133188

* p = 0.05; ** p = 0.01; *** p = 0.01; † p = 0.1

8) Die Abweichung von früheren Ergebnissen mit den gleichen Daten hat zwei Gründe: Erstens werdenim Unterschied zu einer früheren Analyse nicht nur die letzte, sondern nunmehr alle Partizipationenvor der Einschulung berücksichtigt (vgl. Becker und Lauterbach 2004). Dadurch wird bei den Ein-heimischen die Kontrollgruppe der Nichtteilnehmer sehr klein und daher sind Bildungseffekte kaumnoch zu identifizieren. Zweitens vermuten wir, dass die Ergebnisse zu den Bildungseffekten perio-denspezifisch sind. Da nunmehr ein längerer Zeitraum beobachtet wird, kann es zu Schwankungen inden Signifikanzen kommen.

Auswirkungen vorschulischer Kinderbetreuung 413

Tabelle 6: Bildungsbeteiligung von 14-jährigen Schulkindern mit Migrationshintergrund,1992-2003 (odds ratio – geschätzt mit multinomialer Logit-Regression; in eckigen Klam-mern: Kehrwert des odds ratio)

Quelle: SOEP (ungewichtete Ergebnisse) – eigene Berechnung

In Bezug auf die Ungleichheit von Bildungschancen bei den Migranten gibt es eine Bin-nendifferenzierung zwischen den Nationalitäten (Alba et al. 1994; Esser 2001). In Deutsch-land haben Griechen deutlich günstigere Bildungschancen als die größte Ausländergruppe inDeutschland, die Türken. Die Italiener, die am längsten in Deutschland leben, weisen nochschlechtere Bildungserfolge als die Türken auf. Dies spricht gegen die These eines kulturel-len Defizits an in der Schule nachgefragten Kenntnissen und Verhaltensweisen bei den Mig-ranten. Diese vorliegenden Befunde, die unter anderem mit demselben Datensatz generiertwurden, können wir auch dann bestätigen, wenn die Partizipation an vorschulischen Bil-dungseinrichtungen kontrolliert wird (Tabelle 6). So haben Griechen die günstigsten Bil-dungschancen unter den Migranten, während die Italiener die ungünstigsten Bildungschan-cen aufweisen. Die relativen Nachteile von türkischen Schulkindern beim Übergang in dasGymnasium erweist sich als zufällig, wenn der Besuch vorschulischer Einrichtungen inRechnung gestellt wird.

Die Binnendifferenzierung von Bildungschancen bei den Migranten ist auch dann nochfestzustellen, wenn man die sozioökonomischen Ressourcen und das Bildungskapital der El-

Modell 1 Modell 2 Modell 3

Real-schule

Gymna-sium

Real-schule

Gymna-sium

Real-schule

Gymna-sium

λ(vorschulische Bildung) 1,02 1,90** 0,97 1,99**

Junge 0,67 1,04

Mädchen 1 1

Periode 1,74* 1,72

Soziale Herkunft

Bildungsniveau derMutter

0,94†[1/1,07]

1,23**

SozioökonomischerStatus

0,99 1,03*

Nationale Herkunft

Türkei 0,73 0,63†[1/1,59]

0,73 0,67 1,38 0,82

Jugoslawien 0,75 0,70 0,75 0,72 0,84 0,85

Griechenland 2,18* 3,47** 2,17* 3,81** 2,37* 3,95**

Italien 0,58*[1/1,72]

0,48*[1/2,07]

0,48*[1/2,09]

0,45*[1/2,22]

0,58*[1/1,72]

0,43*[1/2,32]

Spanien 1,52 1,25 1,53 1,11 1,18 0,50

Andere Nationalität 1 1 1 1 1 1

Pseudo-R2

N0,026350

0,039350

0,081350

* p = 0.05; ** p = 0.01; *** p = 0.01; † p = 0.1

414 Rolf Becker und Patricia Tremel

tern berücksichtigt. Offensichtlich spielen auch soziale Bedingungen innerhalb der Gruppevon Migranten eine gewichtige Rolle, die mit dem Migrationsstatus verbunden sind. Als aus-sagekräftig haben sich in vorliegenden Studien Faktoren wie das Alter der Kinder bei Ein-wanderung, Dauer des Verbleibs im Ankunftsland, Transferierbarkeit elterlicher Ressourcenfür den deutschen Arbeitsmarkt, etc. erwiesen (Steinbach und Nauck 2004).

5. Schluss

Das Bildungssystem hat durch die Vermittlung von Wissen und die Vergabe von Zertifika-ten einen entscheidenden Einfluss auf die soziale Platzierung seiner Absolventen und darangeknüpfte Lebenschancen: Je höher der erreichte Abschluss, desto größer die Chancen aufden gewünschten Ausbildungs- oder Studienplatz und damit im Allgemeinen auch auf diespätere berufliche Position. Mit der Wahl von Schul- und Ausbildungswegen sind klare Un-terschiede im Hinblick auf Einkommenschancen, Aufstiegsmöglichkeiten und Beschäfti-gungssicherheit im weiteren Berufsleben verbunden. Diese Chancen werden den Migrantenim deutschen Bildungssystem in einem geringeren Maße gewährt als den Einheimischen(Diefenbach 2004). Diese Tatsache wiegt aus bildungs- und gesellschaftspolitischer Sichtvor allem deswegen schwer, weil Bildung eine wichtige Voraussetzung für die soziale Inte-gration von Migranten auf annähernd allen relevanten Dimensionen des Lebens in Deutsch-land darstellt. Nicht zuletzt ist Bildung eine relevante Ressource, bei der ein kleiner Niveau-unterschied am Anfang des Bildungsverlaufs zu kumulativen Nachteilen im weiterenLebensverlauf und im Aggregat zu dauerhaften Ungleichheiten führt. Daher war es Ziel dervorliegenden Untersuchung, die Frage zu klären, ob sich die vorschulische Betreuung, Erzie-hung und Bildung in Krippenplätzen, Kindergärten, Kindertagesstätten und Vorschulen för-derlich auf die Bildungschancen von Jugendlichen auswirken und damit ein sinnvolles In-strumentarium ist, die Nachteile von Migranten im deutschen Bildungssystem zu reduzieren.

Die an die Untersuchungen von Büchel et al. (1997) sowie von Becker und Lauterbach(2004) anknüpfenden empirischen Auswertungen mit den SOEP-Daten belegen positive Bil-dungseffekte für Migrantenkinder. Die Detailergebnisse sind allerdings ernüchternd. Eineoptimistische Sichtweise würde hervorheben, dass gerade die im deutschen Bildungssystembesonders im Nachteil befindlichen Migrantenkinder durch vorschulische Bildung ihre Bil-dungsaussichten deutlich verbessern können und gegenüber den Migrantenkindern ohne vor-schulische Bildung im Vorteil sind. Multivariate Analysen haben bei besonderer Kontrolledes sozial selektiven Besuchs von Kindergarten oder Vorschule sowie der sozialen Herkunftund Nationalität für den Zeitraum von 1992 bis 2003 ergeben, dass Migranten mit Erfahrun-gen in vorschulischer Bildung eine rund 2 Mal höhere Chance haben, auf das Gymnasium zuwechseln als die altersgleichen Migranten ohne vorschulische Betreuung.

Eine pessimistische Sichtweise ergibt sich dadurch, dass trotz alledem die Bildungsdefizi-te gegenüber den Einheimischen nur in beschränktem Maße kompensiert werden. So reali-sieren Migrantenkinder mit vorschulischer Bildung solche Bildungschancen wie deutscheSchulkinder ohne Besuch vorschulischer Kinderbetreuung oder wie deutsche Arbeiterkinder.Durch vorschulische Bildung und Betreuung können die Migrantenkinder zwar ihre Bil-dungsrückstände gegenüber einheimischen Schulkindern verringern, aber in ihren Bil-dungschancen nicht zu den Einheimischen aufschließen.

Bei den Einheimischen insgesamt verschiebt sich durch vorschulische Bildung die Trenn-linie beim Übergang in die weiterführenden Schullaufbahnen in Richtung Gymnasium vs.den Rest und bei den Migrantenkindern in Richtung Hauptschule vs. den Rest. Optimistischstimmt wiederum, dass den Migranten dadurch Schlechterstellungen, die mit dem Besuch ei-ner Hauptschule einhergehen, erheblich reduziert werden können, während die Einheimi-schen ihre ohnehin vergleichsweise günstigeren Bildungschancen noch weiter verbessern

Auswirkungen vorschulischer Kinderbetreuung 415

können. Andererseits haben wir damit einen weiteren Grund für die Kumulation sozial be-nachteiligter Schulkinder in der Hauptschule aufgedeckt (Solga und Wagner 2001). Es sindneben den Kindern aus unteren Sozialschichten diejenigen mit Migrationshintergrund, dienicht die vorschulischen Kinderbetreuungseinrichtungen besuchen (konnten), die dann dieungünstigen Konsequenzen des Hauptschulbesuches tragen müssen. Allerdings ist zu be-rücksichtigen, dass mit den herangezogenen Daten die Wirkungen vorschulischer Bildungauf die Chancen bei der Einschulung und auf die schulischen Leistungen in der Grundschul-zeit nicht untersucht werden können, so dass relevante Selektionsmechanismen im Bildungs-system unberücksichtigt bleiben.

In theoretischer Hinsicht haben die von uns vorgelegten Ergebnisse eine weitere Bestär-kung für die strukturell-individualistische Erklärung der Bildungsnachteile von Migrantenim deutschen Bildungssystem geliefert. Zum einen liefern unsere Befunde empirisch abgesi-cherte Argumente gegen Erklärungsmuster, die ausschließlich auf kulturelle Defizite vonMigranten abstellen. Eher ist davon auszugehen, dass Unterschiede in elterlichen Bildungs-vorstellungen und -entscheidungen, die durchaus mit Motiven und Konditionen der Einwan-derung zusammenhängen, sowie in den sozioökonomisch gegebenen Möglichkeiten, lang-fristig in die Bildung von Kindern zu investieren, mit Nachteilen von Migranten imdeutschen Bildungssystem einhergehen. Deutlicher als der Bildungsverlauf in der Sekundar-stufe ist die Partizipation an vorschulischer Betreuung, Erziehung und Bildung dadurch ge-kennzeichnet. Denn bei Kontrolle der sozioökonomischen Ressourcen des Elternhauses las-sen sich keine signifikanten Unterschiede mehr zwischen den Nationalitäten finden. Dassaber die Ressourcenausstattung des Elternhauses die Bildungsmöglichkeiten mitbestimmt,konnte daran abgelesen werden, dass bei Kontrolle des Besuchs vorschulischer Einrichtun-gen die sozioökonomischen Ressourcen des Elternhauses bedeutsam für die Bildungschan-cen in der Sekundarstufe sind. Worauf diese letztlich zurückzuführen sind – Mechanismenhierfür wären etwa Lebensplanung der Eltern und darauf aufbauende elterliche Bildungsent-scheidungen –, konnte mit den von uns herangezogenen Daten des SOEP nicht untersuchtwurden.

Trotz alledem sind die von uns vorgelegten Befunde mit gewissen Einschränkungen zu in-terpretieren, die sich aus Messungenauigkeiten und fehlenden Informationen ergeben: Ers-tens führt möglicherweise die durch das SOEP vorgegebene unzureichende Abgrenzung derunterschiedlichen Formen der vorschulischen Kinderbetreuung zu diesem unerwarteten Er-gebnis. So ist eine präzise Extraktion von Tagesmüttern aus der heterogenen Kategorie vor-schulischer Betreuung erst seit der Befragungswelle im Jahre 2000 möglich.

Zweitens könnten wir es mit einem statistischen Artefakt zu tun haben, weil mangels ver-fügbarer Informationen im SOEP nicht nur die schulische Leistung der Kinder, sondern auchdie Qualität der vor der Einschulung besuchten Betreuungseinrichtungen nicht berücksich-tigt werden konnte. Daher müssten in Zukunft der Bildungsverlauf der Kinder und die Aus-wirkungen der Qualität von Kindergärten auf die schulische Leistung systematisch unter-sucht werden (vgl. Weißhuhn 2001, S. 11).

Drittens sollte angesichts vorgelegter Befunde der positive Einfluss von Kindergärten oderVorschule auf Bildungschancen von Migranten nicht überschätzt werden, weil die Bildungs-effekte sich auf die Bildungschancen unter den Migranten selbst beschränken und die Bil-dungsungleichheiten innerhalb dieser Population modifizieren. Im Vergleich zu den Einhei-mischen erfolgt zwar eine relative Verbesserung, aber keine Aufhebung eklatanterBildungsdisparitäten, da die Teilnehmer unter den Migrantenkindern allenfalls auf das Ni-veau der einheimischen Schulkinder angehoben werden, die keine vorschulische Einrichtun-gen besuchen und daher im Vergleich zu den einheimischen Teilnehmern geringere Bil-dungschancen haben.

416 Rolf Becker und Patricia Tremel

Viertens gilt es im Hinblick auf eine kausale Interpretation der Bildungseffekte zu berück-sichtigen, dass wir keine Informationen über die Bildungsprozesse im Elternhaus und in derSchule während der Grundschulzeit verfügen. So ist es nicht ausgeschlossen, dass wir dervorschulischen Betreuung, Erziehung und Bildung signifikante Bildungseffekte zuschreiben,die sich aus ganz anderen, aber mit den SOEP-Daten nicht beobachteten Quellen ergeben ha-ben.

Und schließlich müssen wir uns fünftens vor Augen halten, dass wir es mit einer hochgra-dig selektiven Stichprobe zu tun haben, die vor allem die positiven Bildungseffekte bei denMigranten betrifft. Die Evaluation wurde für die Kinder und ihre Eltern vorgenommen, diemindestens acht Jahre am Sozioökonomischen Panel teilgenommen haben. Panelmortalitäthaben wir nicht berücksichtigt. Ebenso wenig berücksichtigt haben wir, ob die Migranten-kinder in ihrem Heimatland entsprechende Erfahrungen mit vorschulischer und schulischerBildung gesammelt haben.

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Prof. Dr. Rolf Beckere-mail: [email protected]

Patricia Tremel, M. A.e-mail: [email protected]

Universität BernInstitut für Erziehungswissenschaft

Abteilung BildungssoziologieMuesmattstrasse 27

CH-3012 Bern

Soziale Welt 57 (2006), S. 419 – 420

Abstracts

Michael Schillmeier und Wiebke Pohler

Cosmo-political Events. Towards the Topology of SARS

During its outbreak, the highly contagious and life-threatening viral disease SARS (SevereAcute Respiratory Syndrome) gained acute social relevance. Part of its disturbing effects inthe initial phase were due to the fact that its causative agent, its possibilities of diagnosis aswell as its future evolution remained utterly unknown. Moreover, SARS was considered aglobal threat, since it happened to migrate along international air traffic, and the risk washigh that the trans-regionally spread disease turned into a pandemic. In effect, the boundary-transgressing migration of SARS can be considered a cosmo-political event, threatening hu-man life as well as questioning and altering societal orderings. Drawing on the ›spatial turn‹within social sciences, the paper reconstructs the topology – i.e. the socio-spatial re-configu-rations – of the migration of SARS. The papers argues that the phenomenon ›SARS‹ is ina-dequately understood if approached with social methodologies that gain explanatory powerby distinguishing the realm of ›the social‹ from the non-human and non-social. Rather, as thepaper stresses, with the movement of SARS ›the social‹ is constantly contested and changedby the enactment of material connectivity between the non-human and the non-social. Ourmethodological proposal treats the topology of social complexity of SARS as an ›actor-net-work‹. The concept of ›actor-network‹ outlines a multiple and processual understanding ofspace, which allows to conceive of socially relevant agency as the outcome of human andnon-human relations.

Gabriele Faßauer und Frank Schirmer

New Performance Management and Anomie – A conceptual Analysis of pre-sent Developments in Organizations

The article aims to develop a critical perspective on modern systems of performance ma-nagement in organizations. It emphazises and analyses the normative context of performancemanagement. It is argued that modern performance management potentially causes anomicphenomenons in organizations. Here, anomie gets defined as weakness of the newly givennorms of performing. This weakness results from discrepancies in the normative and factualdesign of the performance managegement systems. Referring to this, the article differentiatesbetween four types of discrepancies and discusses relating reactions by organizational mem-bers. In general, it is supposed that new systems of performance management bear the dan-ger to destabilize organizational premises of efficient performing and threaten the normativestability of organizations in the long run.

Tilman Reitz und Susanne Draheim

The Rationality of Higher Education Reform. Perspectives on a Post-Autono-mous Knowledge Regime

Based on the diagnosis that the German version of the current higher education reform in Eu-rope is about to fail its own goals (more mobility, less bureaucracy …), the article asks whatmay be latent functions of the reform process. A first account is summing up political objec-tives which are not suited for public representation and unintended structural effects whichmay stabilise: orientation by standardisation, a mid-term reduction of higher education costs

420 Abstracts

combined with increased student numbers, a tightened social selection. But since all of theseeffects are only issues of prognosis at the moment, a second account is asking about reformtendencies which prove destructive of an older, now increasingly dysfunctional model ofhigher education. Accordingly, the second answer is that the current reform breaks with anacademic life form characterised by the virtually anomic reflection of possible world viewsand subjectivities (as it has been installed in mass scale during the 1970s), turning towardsthe imperative that education and research permanently have to prove their normality and ne-cessity. Thus the principles of the new knowledge regime are: applicability, control throughcommunication, and marketing.

Rolf Becker und Patricia Tremel

Consequences of preschool education on educational opportunities of mig-rants’ children

With respect to significant disadvantages of migrants‹ children in the German educationalsystem, the question arises which arrangements are appropriate to guarantee equity of educa-tional attainment. In our empirical study we utilize longitudinal data of the German Socioe-conomic Panel in order to get an answer whether preschool education and training could helpto improve the unfavorable educational chances of migrants. The results about the effects ofpreschool and kindergarten are ambivalent for the period between 1984 and 2003. Generally,the education chances of migrants’ children will be improved by early childhood education.However, their educational chances become similar to the native children‹s one without anypreschool experience.

Soziale Welt 57 (2006), S. 421 – 422

Die Gutachter zum 57. Jahrgang (2006)

Die Herausgeber der Sozialen Welt bedanken sich bei folgenden Kolleginnen und Kollegen für ihre gutachterliche Unterstützung:

Theodor M. Bardmann, Mönchengladbach

Marielouise A. Ch. Baur-Gehauf, München

Helmuth Berking, Darmstadt

Wolfgang Bonß, Neubiberg

Mathias Bös, Marburg

Nina Degele, Freiburg

Jan Delhey, Berlin

Heike Diefenbach, München

Jürgen Friedrichs, Köln

Rolf Heinze, Bochum

Stefan Hirschauer, Mainz

Dorothea Jansen, Speyer

Monika Jungbauer-Gans, Kiel

Nick Kratzer, München

Christoph Lau, Augsburg

Thomas Lemke, Wuppertal

Joost Van Loon, Nottingham

Manfred F. Moldaschl, Chemnitz

Walter Müller, Mannheim

Sieghard Neckel, Giessen

Shalini Randeria, Zürich

Nicole Saam, Erfurt

Uwe Schimank, Hagen

Markus Schroer, Darmstadt

Martin Schulze Wessel, München

Urs Stäheli, Bern

Rudolf Stichweh, Luzern

Trutz von Trotha, Siegen

Werner Vogd, Berlin