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Nomos Herausgeber Ulrich Beck Norman Braun Armin Nassehi In Verbindung mit der Arbeitsgemeinschaft Sozialwissenschaftlicher Institute e. V. 2008 59. Jahrgang Seite 103–200 ISSN 0038-6073 E 45959 2 Soziale Welt Zeitschrift für sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis SozW Aus dem Inhalt Marlen Schulz und Michael Ruddat Unvereinbare Gegensätze? Eine Diskussion zur Integration quantitativ-qualitativer Ergebnisse Jo Reichertz Kommentar: Cuvée oder Cafeteria-Menü? Über eine Verbindung qualitativer und quantitativer Methoden in der Sozialforschung Monika Jungbauer-Gans Kommentar: Eine Diskussion zur Integration quantitativ-qualitativer Ergebnisse Boris Holzer Das Leiden der Anderen: Episodische Solidarität in der Weltgesellschaft Ursula Dallinger Rationale Kooperation oder Moral? Der Wohlfahrtsstaat aus der Sicht der ökonomischen Institutionentheorie Kuei-Tien Chou Glocalized Dioxin – Regulatory Science and Public Trust in a Double Risk Society

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Nomos

HerausgeberUlrich BeckNorman BraunArmin Nassehi

In Verbindung mit der ArbeitsgemeinschaftSozialwissenschaftlicherInstitute e. V.

200859. JahrgangSeite 103–200ISSN 0038-6073E 45959

2

Soziale WeltZeitschrift für

sozialwissenschaftlicheForschung und Praxis

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Aus dem Inhalt

Marlen Schulz und Michael RuddatUnvereinbare Gegensätze? Eine Diskussionzur Integration quantitativ-qualitativerErgebnisse

Jo ReichertzKommentar: Cuvée oder Cafeteria-Menü?Über eine Verbindung qualitativer undquantitativer Methoden in derSozialforschung

Monika Jungbauer-GansKommentar: Eine Diskussion zur Integrationquantitativ-qualitativer Ergebnisse

Boris HolzerDas Leiden der Anderen: EpisodischeSolidarität in der Weltgesellschaft

Ursula DallingerRationale Kooperation oder Moral? DerWohlfahrtsstaat aus der Sicht derökonomischen Institutionentheorie

Kuei-Tien ChouGlocalized Dioxin – Regulatory Science andPublic Trust in a Double Risk Society

ZCOV_Soziale_Welt_2_2008_4.1 28.08.2008 8:39 Uhr Seite 1

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SozW Soziale Welt Zeitschrift für sozialwissenschaftliche Forschung und PraxisHerausgegeben von der Arbeitsgemeinschaft Sozialwissenschaftlicher Institute e.V., Lennéstr. 30, 53113 Bonn

Geschäftsführende Herausgeber: Prof. Dr. Ulrich Beck, Prof. Norman Braun PhD, Prof. Dr. Armin Nassehi, Universität München, Institut für Soziologie

Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Barbara Adam, University of Wales, Cardiff · Prof. Martin Albrow, Roehampton Institute, London · Prof. Anthony Giddens, London School of Econo-mics and Political Science (LSE), London · Prof. Uta Gerhardt, Universität Heidelberg · Prof. Heinz Hartmann, Universität Münster · Prof. Bruno Latour, Sciences Po, Paris · Prof. Hermann Schwengel, Universität Freiburg

Redaktion: Dr. Irmhild Saake, Universität München

Redaktionelle Bearbeitung: Julian Müller

2/200859. Jahrgang

Seite 103–200

Inhalt

Editorial ............................................................................................................................... 105

Aufsätze .............................................................................................................................. 107

1. Unvereinbare Gegensätze? Eine Diskussion zur Integration quantitativ-qualitativer ErgebnisseVon Marlen Schulz und Michael Ruddat....................................................................... 107

2. Kommentar: Cuvée oder Cafeteria-Menü? Über eine Verbindung qualitativer und quantitativer Methoden in der SozialforschungVon Jo Reichertz............................................................................................................ 123

3. Kommentar: Eine Diskussion zur Integration quantitativ-qualitativer ErgebnisseVon Monika Jungbauer-Gans........................................................................................ 137

4. Das Leiden der Anderen: Episodische Solidarität in der WeltgesellschaftVon Boris Holzer ........................................................................................................... 141

5. Rationale Kooperation oder Moral? Der Wohlfahrtsstaat aus der Sicht der ökonomischen InstitutionentheorieVon Ursula Dallinger .................................................................................................... 157

6. Glocalized Dioxin – Regulatory Science and Public Trust in a Double Risk SocietyVon Kuei-Tien Chou ...................................................................................................... 181

Abstracts ............................................................................................................................. 199

Regeln für die Manuskriptgestaltung

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ImpressumGeschäftsführende Herausgeber: Prof. Dr. Ulrich Beck, Prof. Norman Braun PhD, Prof. Dr. Armin Nassehi (V.i.S.d.P.), Universität München, Institut für SoziologieRedaktion: Dr. Irmhild Saake, Universität MünchenRedaktionelle Bearbeitung: Julian MüllerNamentlich gezeichnete Beiträge geben nicht in jedem Fall die Meinung der Herausgeber/Redaktion oder des Verlages wieder. Alle Einsendungen erbeten an die Redaktion »SOZIALE WELT«, Institut für Soziologie, Konradstraße 6, 80801 Mün-chen, Tel. (089) 2180-2458, Fax (089) 2180-5945, [email protected]. Die Redaktion behält sicheine längere Prüfungsfrist vor. Eine Haftung bei Beschädigung oder Verlust wird nicht übernommen. Bei unverlangtzugesandten Rezensionsstücken keine Garantie für Besprechung oder Rückgabe. Alle Rechte sind vorbehalten. Foto-mechanische Vervielfältigungen der Beiträge und Auszüge sind nur im Einvernehmen mit dem Verlag möglich. Erschei-nungsweise vierteljährlich.Die Homepage der Sozialen Welt erreichen Sie unter http://www.lrz-muenchen.de/~Soziale_Welt/.Bezugsbedingungen: Bezug durch alle Buchhandlungen oder unmittelbar durch den Verlag. Preis des Einzelheftes € 25,–;Jahresbezugspreis € 88,–; Vorzugspreis für Studierende € 44,– (Jährliche Vorlage einer Studienbescheinigung erforder-lich). Die Preise verstehen sich incl. MwSt. zzgl. Versandkosten. Kündigung drei Monate vor Kalenderjahresende. Diezur Abwicklung von Abonnements erforderlichen Daten werden nach den Bestimmungen des Bundesdatenschutzgeset-zes verwaltet. Bestellungen und Studienbescheinigungen bitte an: NOMOS Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Postfach100 310, D-76484 Baden-Baden, Telefon 0 72 21 / 21 04-0, Telefax 0 72 21 / 21 04 43.Druck: NOMOS Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Postfach 100 310, 76484 Baden-Baden, Telefon 0 72 21 / 21 04-0, Telefax 0 72 21 / 21 04 43.Anzeigen: sales_friendly, Bettina Roos, Siegburger Straße 123, 53229 Bonn, Telefon 02 28 / 9 78 98-0, Fax 02 28 / 9 78 98-20, [email protected]

ISSN-Nr. 0038-6073

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Soziale Welt 59 (2008), S. 105 – 105

EditorialIntegration wird stets dort angemahnt, wo sie sich nicht von selbst einstellt – das gilt für gan-ze Gesellschaften ebenso wie für kleinere Zusammenhänge. Es gilt offensichtlich auch fürdie soziologische Methodologie, die ihre Differenzierung in quantitative und qualitative Me-thoden mit einem parallelen Integrationsdiskurs flankiert. Dass auch institutionelle Trennungeine Form der Integration ist, lässt sich etwa daran beobachten, wie sich in der DGS wieselbstverständlich (und wie selbstverständlich kritisiert) zwei methodologische Sektionenetablieren, die sich irgendwie auch gegenseitig in der Form ermöglichen, wie sie sich dar-stellen. Marlen Schulz und Michael Ruddat stellen in ihrem Beitrag erneut die Frage, ob essich bei den beiden Kulturen unseres Faches wirklich um „unvereinbare Gegensätze“ han-delt. Wir haben Jo Reichertz und Monika Jungbauer-Gans, beide bereits engagiert in derIntegration der beiden Kulturen, um Stellungnahmen gebeten, die den Beitrag selbst erwei-tern und ergänzen. Nach meinem Eindruck kommt am Ende heraus, dass es letztlich stets diesoziologisch spannende und gehaltvolle Frage- und Problemstellung ist, der die metho-dologische Ausrichtung zu subordinieren ist – und die dann auch, ob in Metaanalysen oderinnerhalb eines Forschungsprozesses, zu integrativen Ergebnissen führt. Freilich ist das in ei-nem Editorial leicht gesagt. Lernen lässt sich aus den drei Beiträgen jedenfalls: Man muss estun!

Das zweite Heft enthält weiters Beiträge über die operative Herstellung der Weltgesell-schaft, über die Erklärbarkeit von Wohlfahrtsstaaten sowie über den politischen Umgang mitRisiken. Boris Holzer nimmt die Tsunami-Katatstrophe 2004 zum Anlass, darüber nachzu-denken, wie sich transnationale Solidarität gewissermaßen episodisch ereignet und von kon-kreten Anlässen abhängig ist. Ursula Dallinger nimmt die moralische Selbstbeschreibungdes westlichen Wohlfahrtsstaatsmodells mit den Mitten der ökonomischen Institutionentheo-rie aufs Korn, und Kuei-Tien Chou analysiert den Taiwanesischen Umgang mit Dioxin inLebensmitteln im Verhältnis von wissenschaftlichen und öffentlich-politischen Akteuren. Erkommt dabei zur Diagnose einer „Double Risk Society“.

München, im August 2008Armin Nassehi

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Soziale Welt 59 (2008), S. 107 – 122

Unvereinbare Gegensätze?

Eine Diskussion zur Integration quantitativ-qualitativer Ergebnisse

Von Marlen Schulz und Michael Ruddat

Zusammenfassung: Bereits Max Weber hat die fruchtbare Kombination von quantitativen undqualitativen Methoden in der Soziologie erkannt. Dennoch wird man auch 100 Jahre nach den Ar-beiten des deutschen „Großmeisters“ das Gefühl nicht los, dass eine Verbindung beider Paradig-men sowohl im Sinne der gegenseitigen Validierung als auch zur Erkenntniserweiterung noch inden Kinderschuhen steckt. Deshalb werden zunächst auf einer methodologischen Ebene die spezi-fischen Stärken und Schwächen der Methoden diskutiert, um einen Erkenntnisgewinn über traditi-onelle Grenzen hinaus zu ermöglichen. Dabei werden aufbauend auf den Erfahrungen aus eigenenForschungsprojekten einige Thesen aufgestellt, was genau zum Zwecke einer gelingenden Inte-gration quantitativer und qualitativer Forschungsergebnisse hilfreich sein kann. Berücksichtigtwird dabei auch eine in der deutschsprachigen Soziologie bisher wenig beachtete Methode der in-tegrativen Auswertung verschiedener Studienergebnisse: die Metaanalyse.

1. Einleitung

Eine der wohl bekanntesten Definitionen von Soziologie stammt von Max Weber:

„Soziologie […] soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und da-durch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will“ (Weber 1980: 1).

Aus methodologischer Perspektive ist diese Begriffsklärung deshalb von Bedeutung, damit dem Dualismus von „Verstehen“ und „Erklären“ nicht nur geklärt wird, was Soziologieals Wissenschaft ausmacht, sondern auch wie Forscher dabei methodisch vorgehen (sollen).Mit welchen Methoden kann nun „deutend verstanden“ und „ursächlich erklärt“ werden?Auf diese Frage gibt Weber selbst Antworten. In seiner Analyse der Entstehung des Geistesdes Kapitalismus westlicher Prägung deutet er mittels des von ihm eingeführten Idealtypusden subjektiv gemeinten Sinn des typischen Protestanten im Hinblick auf religiös motivier-tes, ökonomisches Handeln. Mit dieser Deutung versucht er zu erklären, wieso sich unter denKapitalbesitzern und Unternehmern in auffallender Häufigkeit Protestanten befinden oderwarum ein Großteil der Katholiken keine Schulbildung mit dem Ziel der bürgerlichen Er-werbsarbeit anstrebt, sondern ein Gymnasium besucht (Weber 2000: 29 ff). In der Religiondes Protestantismus findet er das Motiv für ökonomisch motiviertes Handeln, welches er-klärt, warum die Idee des westlichen Kapitalismus mit seiner idealtypischen, zweckrationa-len Handlungsweise entstand. Weber selbst spricht in den „Soziologischen Grundbegriffen“vom „erklärenden Verstehen“, welches soziales Handeln durch das Deuten des subjektiv ge-meinten Sinns und äußerer Bedingungen erklärbar macht. Damit muss eine richtige kausaleDeutung einerseits „sinnadäquat“ (Erfassung des Sinnzusammenhangs) und andererseits„kausal adäquat“ (Regelmäßigkeit des Handelns) sein (Weber 1980: 5; 1988: 432 ff). Damitverbindet Weber zwei Methoden, die heute unter den Bezeichnungen „qualitativ“ (sinnadä-quat) und „quantitativ“ (kausal adäquat) subsumiert werden.

Angesichts der Tatsache, dass die Werke Webers teilweise vor über 100 Jahren erstmalspubliziert wurden, mag es verwundern, dass bis in die jüngste Gegenwart hinein die Symbio-se aus qualitativen und quantitativen Methoden nicht als selbstverständlich angesehen wird.Da ist die Rede von einem „Spannungsverhältnis“, dass sich zwischen den beiden Lagernentwickelt habe (Gadenne 2001: 11), von einem „Freund-Feind-Denken“ (Hoock 2001: 38),der „Aufteilung der Sozialwissenschaften“ (King / Keohane / Verba 1994: 4) oder von „Ver-

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108 Marlen Schulz und Michael Ruddat

teufelungen“ (Lamnek 1995a: 5). Des Öfteren wird eines der beiden Forschungsprogrammeals überlegen oder übergreifend präsentiert (Esser 1987; Girtler 1992). Selbst in einschlägi-gen Lehrbüchern mit Titeln wie „Methoden der empirischen Sozialforschung“ (Schnell / Hill/ Esser 1999) oder „Empirische Sozialforschung“ (Diekmann 2002; Kromrey 2002) richtetsich der inhaltliche Fokus eindeutig auf die quantitativen Methoden.

Nicht nur angesichts der grundlegenden und einflussreichen Arbeiten Webers ist dies un-verständlich. Historisch gesehen waren viele klassische sozialwissenschaftliche Arbeiten zu-mindest teilweise qualitativer Art. Als Beispiel sei hier die Studie von Marie Jahoda, Paul F.Lazersfeld und Hans Zeisel (1975) über „Die Arbeitslosen von Marienthal“ genannt.

Doch mit dem Aufkommen EDV-gestützter Datenverarbeitung begann der „Siegeszug“der quantitativen Sozialforschung mit ihren komplexen statistischen Analyseverfahren (vgl.Diekmann 2002: 371 ff; Gadenne 2001: 18; Hoock 2001: 64). Standardisierte Massenbefra-gungen verbunden mit multivariaten Auswertungen (z.B. Faktorenanalysen, Pfadmodelle)waren vorher kaum zu realisieren. Dennoch wird das Potential qualitativer Sozialforschungerkannt und ein gewisser Verbreitungsgrad attestiert (Hoock 2001: 37; Flick 1995: 9; Lam-nek 1995a: 1; Gadenne 2001: 11). In Grundlagenbüchern wie Lamnek (1995a; 1995b), Brü-semeister (2000) und Flick et al. (2000) werden Spezifika der qualitativen Analysen syste-matisch und verständlich präsentiert und damit der Verbreitungs- und Akzeptanzgradpotentiell erweitert. Außerdem ermöglichen elektronische Auswertungsprogramme wieATLAS.ti oder MAX QDA große qualitative Datenmengen valide und reliabel auszuwerten,qualitative Analysen zur Vernetzung und zum Kontext der Aussagen durchzuführen und teil-weise mit quantitativen Verfahren (u.a. Valenz- oder Frequenzanalysen) zu bearbeiten.

In der Soziologie hat allerdings die Kombination aus qualitativen und quantitativen Befun-den auf der Ebene der methodischen Grundlagendiskussion unseres Erachtens zu wenig Be-achtung gefunden. Uns ist kein Grundlagenbuch bekannt, das Möglichkeiten und Grenzeneiner integrativen Analyse und Interpretation beider Paradigmen behandelt. Dabei erscheintgerade die Diskussion um den von Denzin (1977) eingeführten Begriff der Triangulationhier fruchtbar. Methodentriangulation im Sinne eines Mixed Methodology Design, sprich dieVerbindung qualitativer und quantitativer Erhebungsverfahren, wird in der empirischen For-schung angewendet, doch bei der Kombination der jeweiligen Untersuchungsergebnisse, obnun zum Zweck der Erhöhung der Validität oder einer umfassenderen Beschreibung des un-tersuchten Sachverhalts, fehlen bisher Qualitätsstandards der Auswertung sowie paradig-menübergreifende, aussagekräftige Gütekriterien. Die jeweiligen Auswertungsstrategien er-scheinen zu sehr auf den eigenen Forschungslogiken der jeweils herangezogenenParadigmen zu beruhen. Statistische Befunde quantitativer Forschung und inhaltliche Befun-de qualitativer Forschung vergleichbar zu machen erscheint aufgrund der divergierenden Da-tengrundlage schwierig – aber keinesfalls unmöglich.

Wir möchten deshalb in diesem Artikel folgende Fragestellung bearbeiten: Welche praxis-tauglichen Hinweise können im Hinblick auf eine gemeinsame Auswertung qualitativen undquantitativen Materials gegeben werden? Um diese Frage zu beantworten, werden wir imersten Teil des Aufsatzes die Möglichkeiten und Grenzen der Metaanalyse als klassischesVerfahren der Integration vorstellen und erläutern. Anschließend werden die spezifischenStärken und Schwächen qualitativer und quantitativer Sozialforschung herausgearbeitet. Imletzten Teil werden wir einige praxisnahe Thesen zur integrativen Betrachtung verschiedenerUntersuchungsergebnisse entwickeln und diskutieren.

2. Metaanalyse

Ein methodisches Verfahren, welches die Integration verschiedener Befunde gemeinsamerbzw. ähnlicher Thematiken zum Ziel hat, wurde von Glass 1976 unter dem Begriff „Meta-

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Unvereinbare Gegensätze 109

analyse“ eingeführt. Ziel der Metaanalyse ist die statistische Integration quantitativer Unter-suchungsergebnisse (Bortz / Döring 2006: 672). Aufgrund der zunehmenden Kritik an denbis dato üblichen narrativen Reviews wurde das Verfahren der Metaanalyse beständig wei-terentwickelt. Bis heute kann nicht von DER METHODE DER METAANALYSE gespro-chen werden, sondern vielmehr von einem Konglomerat verschiedener Verfahren, die jenach Fragestellung eingesetzt und beständig weiterentwickelt werden. Das Verfahren derMetaanalyse wurde bisher zumeist in der klinischen Psychologie, Medizin und Epidemiolo-gie, aber weniger in der Soziologie eingesetzt (Beispiele für Studien in Wagner / Weiß2006a). In der Psychologie und vor allem in der Biometrie und Medizin basieren Metaanaly-sen auf relativ gleichen, häufig standardisierten Messvoraussetzungen und Methodendesigns,wie die vergleichende Betrachtung von Effekt- und Kontrollgruppen. Die Effekte gelten des-halb als relativ unabhängig von externen Faktoren, die im experimentellen Design konstantgehalten werden. Damit werden externe Effekte und interne Effekte eindeutig voneinandergetrennt.

In der Soziologie verhält es sich in der Regel anders: Die Untersuchungen basieren eherselten auf so genannten ABA-Designs bzw. Interventionsstudien, sondern sind meist quasi-experimentell (ohne Kontrollgruppe) auf der Basis von Beobachtungen und Befragungen an-gelegt. Viele Designs beinhalten latente Konstrukte, die sich einer direkten Messung entzie-hen. Dies erschwert die Effektkontrolle. Viele latente Konstrukte sind innerhalb des soziolo-gischen Metiers bereits theoretisch umstritten oder werden darüber hinaus auch nochunterschiedlich operationalisiert. Zudem werden vielfältige Auswertungsverfahren einge-setzt, die unterschiedliche Aussagekraft haben und die Daten nach verschiedenen Aspektenauswerten. Das gilt insbesondere für multivariate Erklärungsmodelle. All dies erschwert dieVergleichbarkeit der Studien bzw. die gemeinsame Analyse von Untersuchungsergebnissenund ist sicherlich ein Grund für die bisherige Zurückhaltung von Soziologen bei der Durch-führung einer Metaanalyse.

Grundlegendes Kennzeichen jeglicher Thematisierung oder Anwendung der Metaanalyseist die Fokussierung auf quantitative Befunde. „Die Metaanalyse läuft auf eine statistischeEffektgrößenschätzung hinaus“ (Bortz / Döring 2006: 672). Dies ist nicht gleichzusetzen miteinem grundsätzlichen Ausschluss qualitativer Verfahren. Im Gegenteil: Aktuelle Publikati-onen wie die von Bortz / Döring (2006) oder Wagner / Weiß (2006) betonen die Relevanzqualitativer bzw. narrativer Elemente, da „beide Verfahren, wenn sie sorgfältig durchgeführtwerden, wichtige Beiträge zur Weiterentwicklung eines Forschungsfeldes liefern“ (Bortz /Döring 2006: 673). Doch bedeutet die ausdrückliche Betonung narrativer Elemente nicht au-tomatisch eine integrative Analyse qualitativer Primärstudienergebnisse. Im Gegenteil: dieIntegration qualitativer Studien wird bisweilen kritisch gesehen (Eisend 2004: 5). Gerade an-gesichts der zunehmenden Aufwertung qualitativer Forschung ist diese Kritik nicht ganznachvollziehbar. Deshalb ist es das Anliegen dieses Artikels aufzuzeigen, dass sowohl aufder Sekundärebene als auch auf der Ebene einer Metaanalyse eine integrative Auswertungim Sinne der Methodentriangulation möglich ist.

3. Möglichkeiten und Grenzen quantitativer Sozialforschung

Das Ziel quantitativer Sozialforschung ist in der Regel die Überprüfung der Erklärungskrafttheoretischer Modelle über die soziale Realität. Es können fünf zentrale Merkmale quantita-tiver Forschung unterschieden werden: Vorstrukturierung, Standardisierung, Quantifizie-rung, Subjekt- / Objekttrennung und Reproduzierbarkeit (King / Keohane / Verba 1994: 3;Kromrey 2002: 32; Schnell / Hill / Esser 1999: 7; Wegener 1986: 32). Durch die Bildungvon Hypothesen wird der Untersuchungsgegenstand vorstrukturiert. Um die Hypothesen zutesten, wird vom Forscher ein standardisiertes Messinstrument entwickelt, dass eine inter-

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subjektive Nachvollziehbarkeit ermöglicht (Reproduzierbarkeit). Die Untersuchungssituati-on selber ist so angelegt, dass ein Einfluss des Forschers (Subjekt) auf den Beforschten (Ob-jekt) weitestgehend kontrolliert wird (Subjekt- / Objekttrennung). Anschließend werden dieErgebnisse statistisch ausgewertet (Quantifizierung).

Gleich mehrere, in der Literatur ausführlich diskutierte Probleme tauchen in der Phase derKonzeptspezifikation und Operationalisierung auf (z.B. Korrespondenzproblem, Basissatz-problem, Reifizierungsproblem). Letztlich liegen bei der Angabe von Messanweisungen(Operationalisierung) einige gefährliche Fallen im Forscheralltag. Je nachdem, wie detail-liert der betreffende Untersuchungsbereich erforscht ist, können (qualitative) Vorarbeiten zurangemessenen Gestaltung der Messinstrumente (z.B. in Form eines Pretests) notwendig sein.In einem gut erforschten Feld der sozialen Realität können diese Vorarbeiten entbehrlichsein und es kann auf bewährte Skalen z.B. aus dem ZUMA Handbuch zurückgegriffen wer-den, da für viele Bereiche erprobte Instrumente existieren, die den klassischen Gütekriteriender Validität, Reliabilität und Objektivität im Rahmen des forschungspraktisch Machbarengenügen (Wegener 1986). In solchen Fällen spielen die standardisierten Methoden alle ihreTrümpfe aus: Repräsentative Stichproben ermöglichen die Anwendung der Inferenzstatistikmit ihren komplexen statistischen Modellen, welche auf der Basis mathematischer Annah-men genau angebbare Anteile der Varianz sozialer Realität erklären. Weniger eindeutig ge-staltet sich die Interpretation der Ergebnisse. Denn zunächst stehen da nur blanke Zahlen,z.B. Signifikanzniveaus und Korrelationskoeffizienten. Diese inhaltlich zu interpretieren undin einen größeren Zusammenhang zu stellen erfordert statistische Fachkenntnisse einerseitsund fachliches wie theoretisches Hintergrundwissen über den Sachverhalt andererseits.

4. Möglichkeiten und Grenzen qualitativer Sozialforschung

Die Essenz qualitativer Sozialforschung fasst Lamnek treffend zusammen:

„Qualitative Sozialforschung interessiert sich primär für Deutungs- und Handlungsmuster, die eine ge-wisse kollektive Verbindlichkeit besitzen [...] die Muster existieren nicht per se, sondern nur durch ihreAnwendung. Sie werden von den sozialen Akteuren konstituiert […] Diesen Konstitutionsprozeß vonWirklichkeit zu dokumentieren, analytisch zu rekonstruieren und schließlich durch das verstehendeNachvollziehen zu erklären, ist das zentrale Anliegen einer qualitativen Sozialforschung“ (1995a: 24 f).

In der qualitativen Sozialforschung werden in der Regel keine Gesetze, Theorien oder Hy-pothesen getestet, sondern subjektiv konstruierte Regelmäßigkeiten der Befragten oder Beo-bachteten erforscht. Es geht weniger um das „Warum?“ als vielmehr um das „Wie?“ sozialerTatbestände. Hypothesen werden häufig induktiv generiert, nicht deduktiv überprüft. Grund-lage dieser Sichtweise ist das Thomas-Theorem des Symbolischen Interaktionismus, nachdem alle soziale Wirklichkeit interaktiv konstruiert ist (Berger / Luckmann 1995; Thomas /Thomas 1928). Nur wenn sich der Forscher für die flexiblen, kontingenten Konstitutionspro-zesse von sozialer Wirklichkeit offen zeigt, erfasst er die sozialen Tatbestände annähernd so,wie sie sich den untersuchten Einheiten präsentieren. Validere Ergebnisse mit höherer Pra-xisrelevanz können die Folge sein (Lamnek 1995a: 16).

Entsprechend hat der qualitative Ansatz andere zentrale Merkmale als sein quantitativesPendant. Namentlich sind dies Offenheit, Flexibilität, Kommunikativität, Naturaliszität undExplikation. Das Prinzip der Offenheit besagt, dass der Forscher so unvoreingenommen wiemöglich an den Untersuchungsgegenstand herangehen soll und sich in der Wahl der verwen-deten Methoden nicht einschränkt (Gadenne 2001: 13 ff; Kleining 2001: 28). Die methodi-sche Offenheit zeigt sich nicht zuletzt an der großen Fülle qualitativer Methoden (z.B. fokus-siertes Interview, Gruppendiskussion, Lamnek 1995b). Im angesprochenen variablenUmgang mit den gewählten Erhebungsmethoden erhält das Prinzip der Flexibilität seine Be-deutung. Stellt sich eine selektierte Methode als nicht adäquat heraus, soll sie im For-

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Unvereinbare Gegensätze 111

schungsprozess flexibel modifiziert werden. Kommunikativität und Naturaliszität zielen aufdie Forderung ab, eine möglichst natürliche, alltagsnahe Untersuchungssituation zu schaffen,in der Forscher und Beforschter ungezwungen miteinander kommunizieren (Lamnek 1995b:55). Um die Intersubjektivität der qualitativen Forschung zu gewährleisten, müssen das Vor-gehen und die Auswertungsregeln der Analyse offen gelegt werden. Dies ist mit dem Begriffder „Explikation“ gemeint.

Qualitative Verfahren versetzen den Forscher damit in die Lage, das Typische und Gene-relle in sozialen Konstitutionsprozessen von Wirklichkeit zu erkennen und in allgemeineAussagen zu transformieren. Er befindet sich sehr nah am Forschungsgegenstand, kann dieIntentionen und Motive der untersuchten Personen sinn-verstehend rekonstruieren und nach-vollziehen. Bei der Datenerhebung ermöglicht das Verfahren des theoretical sampling (Gla-ser / Strauss 1998: 53 ff), auch mit geringen Fallzahlen eine Sättigung der inhaltlichen Pers-pektiven oder subjektiven Deutungsmuster der Befragten zu erreichen. Eine höhereErhebungsvalidität (im Sinne von theoretischer Validität) kann mit dem theoretischen Samp-ling erreicht werden (Lamnek 1995a: 163). Dafür bedingen Reichhaltigkeit und Kontextab-hängigkeit des Materials Probleme in der Reproduzierbarkeit (Reliabilität) und es können imBereich der Durchführungs- und Auswertungsobjektivität Probleme auftauchen. Deshalb istdas Vorgehen genau zu dokumentieren und die Auswertungsregeln zu explizieren, um demKriterium der intersubjektiven Nachprüfbarkeit nachkommen zu können (Mayring 2002;2003).

Damit zeigen sich die Stärken und Schwächen der beiden Methoden in unterschiedlichenBereichen des Forschungsprozesses. Sie sind aber gerade dadurch geeignet, sich gegenseitigzu ergänzen und ein umfassenderes, abgesichertes Bild der sozialen Realität zu zeigen.Zweifellos haben beide Verfahrensklassen ihre inhärenten, unvermeidbaren und invariantenBeschränkungen und ihre spezifischen Grenzen müssen erkannt und berücksichtigt werden.Qualitative Daten können keinen allgemeinen Anspruch für größere Grundgesamtheiten er-heben. Quantitative Daten erlauben keine detaillierten Aussagen über Denk- und Handlungs-weisen von Individuen. Allerdings sind die jeweiligen Schwächen gleichzeitig die Stärkendes jeweils anderen Ansatzes und gerade deshalb können beide Paradigmen zur gegenseiti-gen Ergänzung herangezogen werden.

5. Diskussion zur Integration von quantitativen und qualitativen Ergebnissen

Folgt man dieser Argumentation, stellt sich die Frage nach der effizienten Kombination vonBefunden divergierender Paradigmen. Wie können qualitative und quantitative Untersu-chungsergebnisse integriert werden? Wie können dabei die spezifischen methodologischenVor- und Nachteile berücksichtigt werden? Im Folgenden werden einige Thesen aufgestellt,die sich auf die Abstimmung der Ergebnisse qualitativer und quantitativer Auswertungsme-thoden (zum gleichen Thema) beziehen. Unser Augenmerk liegt dabei auf Erkenntnissen, beidenen die auswertenden Forscher keinen Einfluss auf die Erhebung haben, also auf Sekun-där- und Metaanalysen. Gestützt werden diese Thesen auf die obigen Ausführungen sowieErfahrungen aus eigenen „multi-methodischen“ Forschungsprojekten der sozialwissen-schaftlichen Risikowahrnehmungs- und Risikokommunikationsforschung sowie insbesonde-re auf die methodischen Erkenntnisse einer Metaanalyse zum Thema Gentechnik, die unterdem Titel Metagena an der Universität Stuttgart durchgeführt wurde.

These 1: Um die Ergebnisse der zwei Methodenarten in Verbindung zueinander set-zen zu können, ist eine Art „Anker“ hilfreich, der in beiden Auswertungen vorkommt.

Grundsätzlich ist nicht auszuschließen, dass quantitative und qualitative Ergebnisse diver-gent sind, obwohl sie sich auf denselben Untersuchungsgegenstand beziehen (Kelle 2004:40). Dies ist in der jeweiligen Methodologie begründet. Will man quantifizieren, müssen feste

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112 Marlen Schulz und Michael Ruddat

Skalen verwendet werden, die in der Regel vom Forscher selektiert werden und deren Mess-niveau entsprechend den geplanten statistischen Auswertungen festgelegt wird. Das bedeutetfür die Befragten, dass sie ihr Antwortverhalten der vorliegenden Skala anpassen müssen oderdie Antwort verweigern können. Dabei ist erkennbar die Gefahr gegeben, Forschungsartefak-te zu produzieren. Selbstverständlich kann diese Klippe durch einen sorgfältigen Pretest oderdie Verwendung bewährter Skalen umgangen werden. Dennoch ist die Sichtweise eher for-scher- denn befragtenzentriert, d.h. die wichtigsten Werteausprägungen werden auf den ent-sprechend theoretisch zugeordneten Stimulus den inhaltlich relevanten Konstrukten zugeord-net und nicht dem Antwortverhalten des Befragten überlassen (Wegener 1986: 32). Dagegengewinnt der qualitativ arbeitende Forscher in seinen offenen und flexiblen Erhebungen häufigeinen detaillierten und ausführlicheren Einblick in die Deutungs- und Repräsentationsmusterder Befragten. Diese Fülle an Material kann durch eine regelgeleitete Kategorien- oder Ty-penbildung systematisiert und ausgewertet werden. Nun müssen die verwendeten Skalen derstandardisierten Untersuchung selbstverständlich nicht zwingend mit den konstruierten Kate-gorien der un- bzw. teilstandardisierten Befragung übereinstimmen. Allerdings erscheint füreine systematische Auswertung über beide Paradigmen hinweg eine gemeinsame Schnittstellenotwendig, die als Dreh- und Angelpunkt der Auswertung dienen kann.

Als Beispiel sei auf die Ergebnisse eines Forschungsprojektes zur Risikowahrnehmungder Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg verwiesen. Im Jahr2001 wurden in Baden-Württemberg repräsentativ 1.508 Personen mittels eines standardi-sierten Fragebogens zu Wahrnehmung und Bewertung verschiedener Risiken wie z.B.Atomkraft, Genfood oder Mobilfunk interviewt. Anhand dieser Daten wurde eine Korres-pondenzanalyse über die quantitativen Risikoprofile für den Mobilfunk und die Atomkraftdurchgeführt. Diese Profile beruhten auf dem Antwortverhalten der Befragten zu verschiede-nen, in Skalen präsentierten Merkmalen der beiden Risiken (z.B. Kontrollierbarkeit, Risiko-akzeptanz).

Parallel zu dieser Erhebung wurden durch die TeilnehmerInnen eines Projektseminars amLehrstuhl für Technik- und Umweltsoziologie der Universität Stuttgart insgesamt 62 Perso-nen mittels Leitfadeninterviews zu Risiken der genannten Techniken befragt (Risikoprojekt2001, Zwick / Renn 2002; Zwick / Ruddat 2002). Die mit der Korrespondenzanalyse ermit-telten Risikoprofile wurden mit den offen assoziierten Risikosemantiken aus den Leitfaden-interviews verglichen. Durch die Gegenüberstellung sollte analysiert werden, inwieweit dieforscherzentrierten Profile der standardisierten Erhebung mit den befragtenzentrierten Se-mantiken der teilstandardisierten Befragung übereinstimmen.

Es zeigte sich, dass der Mobilfunk sowohl im Risikoprofil als auch in der Risikosemantikals Produkttechnik gekennzeichnet werden kann. Das Risiko wird als beeinflussbar und un-ter der individuellen Kontrolle des Einzelnen wahrgenommen. Hinzu kommt als weitere Ge-meinsamkeit ein geäußerter niedriger Wissensstand in Bezug auf das gesundheitliche Risikodes Mobilfunks (Profil) bzw. die beschriebene Unsicherheit über das Risikopotential (Se-mantik). Daneben zeigen sich bei beiden Auswertungsmethoden einige Unterschiede. Bei-spielsweise wird der Mobilfunk nur im qualitativen Material als nützlich eingestuft. Nur imSurvey werden Risiko und Nutzen der Kommunikationstechnologie als gerecht verteilt er-lebt. Ein Widerspruch zeigte sich beim Gesundheitsrisiko. Dieses wird in den Leitfadeninter-views von den Befragten genannt, ist jedoch nicht Bestandteil des quantitativen Profils. DerWiderspruch kann auf die inhärente Logik der Korrespondenzanalyse zurückgeführt werden,nach der ein Merkmal immer nur einem Risiko zugeschrieben werden kann. Genau genom-men müsste demnach gesagt werden, dass der Mobilfunk im Vergleich zur Atomkraft keinGesundheitsrisiko aufweist.

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Auch bei der Atomkraft stimmen Semantik und Profil in der zentralen Charakterisierungüberein. Atomkraft wird sowohl im qualitativen als auch im quantitativen Material als exter-ne Technik wahrgenommen, die ein hohes Katastrophenpotential in sich birgt, unbeeinfluss-bar ist, aber dennoch einen gewissen Nutzen aufweist. Die Unterschiede sind zwar deutlichzahlreicher als die Gemeinsamkeiten, jedoch tauchen keine eklatanten Widersprüche auf.Beispielsweise ist der hohe selbst berichtete Wissensstand nur Teil des quantitativen Profils,wohingegen einzig in der qualitativen Semantik die Atommüllproblematik, der Atomaus-stieg oder auch die alternativen Energiequellen auftauchen.

Somit zeigt sich insgesamt betrachtet bei beiden Technologien eine methodisch zweifachvalidierte zentrale Charakterisierung als Produkttechnik (Mobilfunk) bzw. externe Technik(Atomkraft), welche durch methodenspezifische Elemente (Unterschiede) erweitert werdenkann.

Im Vergleich von Risikoprofilen und Risikosemantiken war der Output der Auswertungenähnlich angelegt. Ziel war die Illustration eines „Bildes“ des Risikos in der Öffentlichkeit.Schwieriger wäre es gewesen, die kausale Erklärungskraft der einzelnen Merkmale für z.B.die Risikoakzeptanz als abhängige Variable zu untersuchen. Dann hätte man wohl eher dieArgumentationsweisen der Befragten unter die Lupe nehmen müssen, um zu überprüfen, obdiese sich mit der kausalen Erklärungsstruktur einigermaßen decken.

These 2: Die Ergebnisse der Gegenüberstellung qualitativer und quantitativer Be-funde müssen unter Berücksichtigung der Eigenarten der gewählten Auswertungsme-thode auf Verzerrungen hin geprüft werden.

Aus methodologischer Sicht spricht vieles dafür, qualitativen Befunden aufgrund der hö-heren Validität, die vor allem aus dem nicht-restringierten Zugang zu den Befragten resul-tiert, den Vorzug zu geben. Außerdem können in quantitativen Auswertungsstrategien we-gen hoher Fallzahlen und der inhärenten Logik eines Signifikanzniveaus einzelne Aussagenoder extreme Befunde im „statistischen Rauschen“ untergehen. Dennoch sollten gerade imHinblick auf eine kumulative Validierung der Befunde quantitative Untersuchungsergebnis-se nicht vernachlässigt werden.

Hierzu noch einmal das Beispiel über den Vergleich von Risikoprofilen und Risikoseman-tiken. Einige Übereinstimmungen konnten in der allgemeinen Wahrnehmung des Mobil-funks als Produkttechnik oder der Atomkraft als externe, nicht persönlich beeinflussbareTechnik ermittelt werden (zu Produkttechnik und externer Technik Renn / Zwick 1997). Inden beiden Datenquellen finden sich aber wie gesagt auch Aspekte, die zusammen genom-men das Gesamtbild der Wahrnehmung von Risiken erweitern und präzisieren. So wird demMobilfunk beispielsweise nur in den Leitfadeninterviews ein Nutzen attestiert oder die Risi-ken der Atomkraft nur im Survey als bekannt erlebt. Inhaltlich widersprüchlich war die Tat-sache, dass die Befragten der quantitativen Umfrage beim Mobilfunk so gut wie keine ge-sundheitlichen Bedenken geäußert hatten, während in den Leitfadeninterviews von einigenPersonen durchaus ein Gesundheitsrisiko gesehen wurde.

Der Widerspruch ist zum Teil wie schon erwähnt auf die gewählte Auswertungsmethodezurückzuführen. In der Korrespondenzanalyse werden relative Profile gebildet, d.h. die Zu-ordnung eines Merkmals zu einem Risiko erfolgt in Beziehung zu einem anderen Risiko. ImVergleich zur Atomkraft ist der Mobilfunk für das Gros der Befragten nicht gesundheitlichgefährlich. Für einen kleinen Teil der Bevölkerung weist er jedoch ein gewisses Risiko auf.Dies zeigt sich deutlich in den Semantiken der Leitfadeninterviews, in denen alle subjektivwahrgenommenen Merkmale von Risiken auftauchen können. Gemäß der eingangs genann-ten These wäre das Gesundheitsrisiko demnach ein valider Bestandteil der Risikowahrneh-mung, der jedoch nur für einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung gilt. Damit wird deutlich,

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dass qualitative und quantitative Untersuchungsergebnisse zum Erkenntnisfortschritt und zueiner umfassenderen Beschreibung der Realität führen und dass scheinbare widersprüchlicheBefunde ein Resultat der inhärenten Logik der jeweiligen Auswertungsstrategie sein können.Deshalb schließt sich die Frage an, ob eine gemeinsame Auswertungsstrategie für qualitativeund quantitative Daten möglich ist. Mit dieser Frage beschäftigen wir uns im Folgenden.

These 3: Auf aggregiertem Niveau können qualitative und quantitative Untersu-chungsergebnisse nach zwei divergenten methodologischen Prinzipien ausgewertetwerden: numerisch oder interpretativ.

In der Regel werden quantitative Daten deduktiv ätiologisch und qualitative Daten induk-tiv interpretativ ausgewertet (Lamnek 1995a: 230). Beide Positionen logisch und nachvoll-ziehbar zu vergleichen und dabei beide Verfahren integrativ in ein Analyseschema zubringen erscheint unseres Erachtens nur möglich, wenn eines der beiden Lager den methodo-logischen Vorrang erhält. Qualitative und quantitative Auswertungen verbleiben dabei als ei-genständige Erhebungsverfahren, da sie nur auf aggregierter Ebene als vergleichbareBefunde interpretiert werden.

Da qualitative Befunde nach wie vor nicht an zentraler Stelle gesammelt und dokumentiertwerden, ist ein Zugriff auf Originaldaten derzeit nur durch Entgegenkommen der beteiligtenForscher möglich. Für die Integration qualitativer und quantitativer Befunde bedeutet dies,dass zumindest auf qualitativer Seite mit Ergebnispräsentationen aus Publikationen gearbei-tet werden muss und diese Daten mit den quantitativen Befunden, entweder mit den Origi-naldaten oder mit publizierten Daten, kompatibel gemacht werden müssen. Das Verfahrender Metaanalyse beruht häufig auf der Auswertung von Publikationen. Problem bei dieserArt der Analyse ist der so genannte publication bias, d.h. das Schreiben zu Gunsten signifi-kanter und theoriekonformer Befunde (Rustenbach 2003: 38f). Gleichzeitig können aber aufdiese Weise Interpretationsleistungen und Schlussfolgerungen der Forscher als zentrale Be-standteile wissenschaftlicher Erkenntnis integriert werden.

Unter diesen Vorbedingungen sehen wir zwei grundsätzliche Möglichkeiten der integrati-ven Auswertung. Die erste bezieht sich auf einen numerisch-statistischen Vergleich und diezweite Möglichkeit beinhaltet eine stärker interpretativ ausgerichtete Form der Inhaltsanaly-se.

Für die numerische Auswertung auf Basis von Publikationen sind verschiedene Technikender Inhaltsanalyse denkbar. Allerdings vernachlässigen Verfahren der klassischen Inhalts-analyse wie die Frequenzanalyse häufig latente Sinnstrukturen und können damit den Deu-tungsleistungen der Autoren nur bedingt gerecht werden (Berelson 1954: 488). Eine qualita-tiv ausgerichtete Inhaltsanalyse wie die skalierende Strukturierung von Mayring (2002;2003) dagegen integriert manifeste und latente Strukturen und wird deshalb hier vorgeschla-gen. „Ziel der skalierenden Strukturierung ist es, das Material bzw. bestimmte Materialteileauf einer Skala (in der Regel Ordinalskala) einzuschätzen“ (Mayring 2003: 92). Die qualita-tive Sozialforschung kann dementsprechend mit Zahlen operieren, die der Veranschauli-chung und dem Beleg eines Befundes dienen.

Im Projekt Metagena haben wir uns zur Erfassung einstellungsrelevanter Determinantender Gentechnik für eine fünfstufige Skalierung entschieden, wobei eins das Wertelabel„niedrig“ und fünf das Wertelabel „hoch“ bezeichnet. Anhand dieser Skalierung wurden Di-mensionen wie Akzeptanz, Risikobewertung oder Vertrauen in institutionelle Akteure analy-siert. Ein Beispiel sei hier aufgegriffen: Zwick schreibt in seiner Auswertung qualitativer In-terviews über die Einstellung zur Gentechnik: „Für das überwiegend skeptische bisablehnende Bild, das die Laienöffentlichkeit von der Gentechnik zeichnet“ (Zwick 1999:120), oder an anderer Stelle „Insgesamt dominiert keine feindliche, aber eine deutlich ambi-

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valente bis skeptische Haltung gegenüber der Gentechnik.“ (ebd.: 129) Diese Aussagen ent-sprechen einer eher niedrigen Akzeptanz der Gentechnik, sie wurden in die zweite Kategorie„eher niedrige Akzeptanz“ eingeordnet. Parallel dazu ist die Untersuchungseinheit zu kodie-ren, auf die sich die Aussage bezieht: In diesem Fall zeigt die Laienöffentlichkeit eine ehergeringe Akzeptanz der Gentechnik. Liegen zu einer Studie mehrere Publikationen vor, soll-ten die Untersuchungsergebnisse auf Konsistenz geprüft werden. Sind die Veröffentlichun-gen inkonsistent, können sie aus der weiteren Analyse ausgeschlossen werden. Um Verzer-rungen in der Auswertung zu vermeiden, sollte bei der Kodierung auf die Unabhängigkeitder Befunde geachtet werden, d.h. wenn mehrere Veröffentlichungen zu einer Studie vorlie-gen, sollten sie nur einmal in die Analyse aufgenommen werden. Andernfalls verzerrt dieHäufigkeit der Veröffentlichung das Endergebnis der Analyse.

Leider ist die Einordnung in eine der fünf Ausprägungen nicht immer so eindeutig. ImFalle nicht eindeutiger Zuordnungen wurde eine Fluchtkategorie gewählt, um die grundsätz-liche Information, die Behandlung des Themas, nicht zu verlieren. Solche Kodierungen sindvor allem bei Primärstudien anzuwenden, die auf divergierenden theoretischen Prämissenaufbauen oder dessen Untersuchungseinheiten keine Individuen, sondern Dokumente sind.So thematisieren Medienanalysen wie die von Kohring / Görke (2000) zwar die Häufigkeitund die affektive Ladung der Berichterstattung über Gentechnik, aber eben nicht im Hinblickauf den im Projekt Metagena gewählten theoretischen Hintergrund der Einstellungsmessung.Der Vorteil dieser Fluchtkategorie liegt in der Offenlegung relevanter Inhalte in der For-schungslandschaft.

Am Ende der Erfassung der skalierenden Strukturierung steht eine numerische Erfassungder interessierenden Hauptkategorie in Form einer Ordinalskala. Das heißt, zu jeder Studieliegt für die jeweilige Untersuchungseinheit ein entsprechender Wert vor. Über alle unter-suchten Studien hinweg entsteht so die Ordinalskala, welche die Berechnung deskriptiver,univariater Häufigkeitsauszählungen ermöglicht. Damit können beispielsweise Gegenüber-stellungen zwischen dem Akzeptanzgrad und dem Wissenstand gleicher Untersuchungsein-heiten vorgenommen werden. Die Häufigkeit der einzelnen Werteausprägungen verdeutlichtzum einen die Quintessenz innerhalb der Studien, zum anderen die Varianz zwischen denBefunden der Studien. Wenn allerdings alle Studien bei gleicher Untersuchungseinheit zuähnlichen Befunden kommen, kann es sein, dass nicht alle Items besetzt sind. So zeigte sichim Projekt Metagena, dass die Randkategorien „geringe bzw. hohe Akzeptanz der Gentech-nik in der Öffentlichkeit“ nicht besetzt sind. Unter Berücksichtigung der Argumentation undDeutungsmuster der Befragten konnten extreme Positionen nicht ausfindig gemacht werden.

Für den numerischen Vergleich zu den statistischen Ergebnissen der quantitativen Studi-en, entweder den Publikationen oder den Originaldaten entnommen, können die Ergebnisseeinzelner Studien oder die mittlere Häufigkeit über mehrere Studien hinweg hinzugezogenwerden. So zeigt die Analyse einer fünfstufigen Variable zur Akzeptanz der Gentechnik,dass zwar ambivalente Urteile im Mittel mit ca. 34 % überwiegen, aber auch die Randkate-gorien „positive“ bzw. „negative“ Bewertung mit jeweils ca. 10 % im Mittel besetzt sind.Dieses Ergebnis steht im Widerspruch zu den Befunden der qualitativen Analyse, die keineBesetzung der Randkategorien aufweisen. Vielleicht ein Resultat, was auf die inhärente Lo-gik der eingesetzten Methoden zurückzuführen ist: Bei Berücksichtigung der Deutungsmus-ter werden extreme Positionen nicht genannt, wenn keine Begründungen angebbar sind, wer-den extreme Positionen gewählt.

Die Technik der skalierenden Strukturierung bietet somit sechs grundsätzliche Vorteile füreine integrative Analyse: 1) sie ermöglicht eine separate Analyse unabhängig von quantitati-ven Daten, 2) sichert Reduktion von Komplexität, 3) gibt einen Überblick über die Varianzder Befunde zwischen den Studien, 4) integriert manifeste und latente Inhalte, 5) ermöglicht

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eine numerische Vergleichbarkeit zu quantitativen Befunden und 6) gewährleistet die Über-tragbarkeit auf alle gängigen qualitativen Methoden. Demgegenüber steht der immer mit ei-ner Quantifizierung einhergehende Informationsverlust. Im Falle einer starken Variation vonErgebnissen innerhalb der jeweiligen Erhebungsverfahren gibt es keine plausible Integrationvon Befunden. Außerdem müssen hier eine Vielzahl von Studien integriert werden, damiteine Aussage auf ordinalem Niveau sinnvoll erscheint. So wurden im Projekt Metagena über40 qualitative Studien recherchiert und dazugehörige Literatur aufgenommen.

Die zweite Möglichkeit der integrativen Auswertung stützt sich stärker auf die methodolo-gischen Prinzipien der qualitativen Forschung. Die hierfür geeignete Technik ist die Metho-de der inhaltlichen Zusammenfassung, im Speziellen die Methode der inhaltlichen Struktu-rierung nach Mayring (2003). Ziel ist es hier, themenrelevante Bestandteile aus demMaterial zu extrahieren und systematisch zusammenzufassen (Mayring 2003: 85). Damitkönnen Publikationen qualitativer und quantitativer Studien mit dem gleichen Kodierschemaerfasst und analysiert werden. Damit geht ein Verlust der konkreten statistischen Befundeeinher, können inhaltliche Zusammenhänge aufgezeigt werden, indem Informationen überDeutungsmuster der Befragten bzw. Interpretationsleistungen der Forscher in einem Kodier-schema verknüpft werden.

Im Vergleich zur skalierenden Methode ist hier die Einbindung theoretischer Konzepteaufgrund der differenzierteren Erfassung eher zu gewährleisten, allerdings ist wegen der Ma-terialfülle der Gültigkeitsanspruch schwerer zu erreichen. So wurden im Projekt MetagenaKategorien und Subkategorien gebildet, die relevante Aspekte von Einstellungsmodellen be-inhalten. Gentechnik wurde zum Beispiel über die Kategorien allgemeine Akzeptanz, nut-zenbezogene Beliefs, normbezogene Aussagen, motivationale und kognitive Faktoren sowieüber gentechnikexterne Einstellungsmuster erfasst. Dadurch können Strukturmodelle derEinstellungsforschung, wie die theory of planned behavior (Ajzen 1985) oder Aussagen überProzessmodelle wie MODE (Fazio 1986) gemacht werden (Slaby / Urban 2002). MöglicherKritikpunkt an der inhaltlichen Strukturierung ist die methodologische Nähe zum klassi-schen Review, doch geht die qualitative Metaanalyse vor allem wegen der systematischenund regelgeleiteten Vorgehensweise, der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit und der theo-retischen Einbindung darüber hinaus.

These 4: Ein Vergleich qualitativer und quantitativer Befunde muss wie bei jeglicherSekundär- oder Metaanalyse zeitliche Aspekte berücksichtigen.

In der Soziologie und insbesondere in der Einstellungsforschung ist bekannt, dass sichMeinungen und Urteile von Befragten über die Zeit verändern und wandeln können. Damitkann und muss der Zeitfaktor als unabhängige Erklärungsvariable bei divergierenden Befun-den innerhalb der oder zwischen den Paradigmen herangezogen werden. Integrative Analy-sen und im Besonderen soziologische Metaanalysen stellen eine Form der Längsschnittun-tersuchung dar, da sich die Erhebungszeiten der Studien oftmals über mehrere Jahre hinwegverteilen. Damit wird aber auch die Vergleichbarkeit durch Ereignisse, die in dem Zeitraumaufgetreten sind, mit beeinflusst.

In dem von den Studien abgedeckten zeitlichen Rahmen muss man mit externen Vor-kommnissen rechnen, die einstellungsverändernd wirken und deshalb zu „Befundausreißern“führen können. Derartige Ereignisse können zum Teil anhand von Trendanalysen in die Ana-lyse einbezogen und als Korrektur von automatischen Aussortierungsverfahren von Studiengenutzt werden. Doch eine statistische Absicherung von Zeiteffekten im Rahmen einer inte-grativen Analyse wie in einer Metaanalyse ist noch nicht hinreichend entwickelt. Eine mög-liche Lösung ist die separate Durchführung einer Ereignis- und Medienanalyse, die alsIndikator für öffentlich bekannte einstellungsverändernde Geschehnisse dient und Abwei-chungen von Mittelwerten der Vorgängerstudien erklärt. Ein solches Ereignis in der Risiko-

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forschung zur Atomkraft ist die Katastrophe von Tschernobyl (Gamson / Modigliani 1989).Aufgrund des Wissens um dieses punktuelle Ereignis können kurzfristige Veränderungen indie Auswertungen einbezogen, logische Ableitungen für Interpretationen gewonnen oder eskönnen die relevanten Zeitabschnitte als Subgruppen einer unabhängigen Analyse unterzo-gen werden.

These 5: Eine Erhöhung der Validität beim Vergleich qualitativer und quantitativerBefunde mehrerer unabhängiger Studien ist nur eingeschränkt möglich.

Im Zuge der Diskussion um Möglichkeiten und Grenzen der Triangulation wurde immerwieder der mögliche Validitätsanspruch thematisiert. Ursprünglich angewendet zur Analysedes Grades der Übereinstimmung von Befunden über so genannte „Multitrait-Multimethod-Matrizen“ bei der Anwendung unabhängiger, methodendivergenter Messungen in einem Un-tersuchungsdesign (Campbell / Fiske 1959) wurde im Weiteren immer wieder die Möglich-keit zur Erhöhung der Validität der Befunde mit metaanalytischen Verfahren herausgestellt.Mit den Arbeiten von Denzin (1977) und dem verstärkten Aufkommen qualitativer For-schung wurde die Idee der gegenseitigen Validierung divergierender Methoden kritisch wei-tergeführt und eine zweite Position entwickelt. Verschiedene Autoren sind der Ansicht,„dass verschiedene Methoden empirischer Sozialforschung auf verschiedenen erkenntnisthe-oretischen Modellen aufbauen […] und sich deshalb auch auf verschiedene Phänomene be-ziehen“ (Kelle / Erzberger 2001: 94). Insofern könne die Kombination verschiedener Metho-den zwar die Tiefe und Breite der Befunde erhöhen, aber eine Validitätserhöhung sei nichtzu erwarten (Fielding / Fielding 1986). Zu einem anderen Schluss kommen Kelle / Erzberger(1999): Unter der Annahme, dass in modernisierten, individualisierten Handlungsfeldern dasHandeln der Akteure nicht ausschließlich von Strukturen determiniert wird, sondern durchvielfältige Möglichkeiten individueller Entscheidungsfindung motiviert ist, betonen sie dieChance wechselseitiger Validierung qualitativer und quantitativer Befunde durch Prüfungsozialstruktureller Kontextfaktoren und subjektiver Deutungsmuster der Befragten. DieseBetrachtungsweise trifft für Primärforscher unseres Erachtens zu. Denn hier ist davon auszu-gehen, dass sich die einzelnen Untersuchungsschritte auf denselben Gegenstand beziehen,ein einheitliches theoretisches Konzept zugrunde liegt und vergleichbare Operationalisierun-gen und Semantisierungen verwendet werden.

Doch können Vergleiche qualitativer und quantitativer Befunde auf Sekundär- oder Terti-ärebene zur gegenseitigen Validierung herangezogen werden? Unsere Antwort lautet: Wenneine Vielzahl empirischer Studien integrativ betrachtet wird, muss zunächst über Analysender theoretischen Zugänge und eventueller Methodeneffekte, wie Semantisierungs- oder Er-hebungseffekte, sichergestellt werden, dass sich die Untersuchungsergebnisse tatsächlich aufdenselben Gegenstand beziehen. Ist dies der Fall, besteht die Möglichkeit der gegenseitigenValidierung. Doch selbst scheinbar thematisch ähnliche Studien können sich im Detail aufunterschiedliche Sachverhalte beziehen, so dass divergierende Ergebnisse nicht Mangel anValidität bedeuten, sondern Variabilität in der Fragestellung. Ein einfaches Beispiel: In derdurchgeführten Metaanalyse über Gentechnik konnte bestätigt werden, dass in der allgemei-nen Akzeptanz der Gentechnik und der Biotechnologie signifikante Unterschiede zu ver-zeichnen sind. Der Grund dafür liegt nach Befunden qualitativer Analysen in den unter-schiedlichen Assoziationen der Befragten mit beiden Begriffen. Das heißt, die Befunde vonStudien über Gentechnik können zwar mit Befunden über Biotechnologie in Bezug gesetztwerden, aber nicht zur gegenseitigen Validierung herangezogen werden. Diese Darstellungverdeutlicht auch die inhaltliche Relevanz der integrativen Betrachtung qualitativer undquantitativer Befunde und die Möglichkeit der Verbesserung und Vertiefung der Erklärungs-kraft.

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6. Zusammenfassung

Wie kann nun die in der Einleitung formulierte Fragestellung des Artikels beantwortet wer-den? Bei der vergleichenden Betrachtung qualitativer und quantitativer Untersuchungsergeb-nisse sind zunächst einmal nur solche Studien heranzuziehen, die sich auf eine ähnliche The-matik beziehen. Nur so kann ein gemeinsamer Nenner für die Auswertung gefunden werden.Grundsätzlich gibt es drei Möglichkeiten der Auswertungsstrategien: 1) Getrennte Analysenqualitativer und quantitativer Befunde und anschließende gemeinsame Interpretation, 2) Her-stellung einer gemeinsamen Befundbasis unter quantitativer Logik und 3) Herstellung einergemeinsamen Befundbasis unter qualitativer Logik. Je nach Datengrundlage, Anzahl zu inte-grierender Studien und theoretischer Fragestellung sollte die jeweils passende Strategie ge-wählt werden.

Unser Vorschlag lautet zunächst die Anzahl der zu integrierenden Studien zu betrachtenund anschließend die Komplexität der Fragestellung. Beruhend auf den eigenen Forschungs-arbeiten schlagen wir folgenden Entscheidungsbaum vor:

Abbildung 1: Entscheidungsbaum für die Auswertungsstrategie

Bei vielen Studien, von denen die Mehrzahl quantitativer Art ist, und bei einer geschlosse-nen Fragestellung eignet sich generell die gemeinsame Analyse unter quantitativer Logik(2). Deskriptive Verfahren ermöglichen dabei statistische Vergleiche zwischen qualitativenund quantitativen Daten. Da aber komplexe theoretische Modellierungen mit deskriptivenVerfahren schwer zu bilden sind, eignet sich diese Auswertung vor allem bei geschlossenenZusammenhangs- bzw. Unterschiedshypothesen.

Bei wenigen Studien, von denen die Mehrzahl qualitativer Art ist, und bei einer offenenFragestellung eignet sich generell die gemeinsame Analyse unter qualitativer Logik (3). Hier

Gesamtanzahl der zu integrierenden Studien

Geringe Anzahl (bis 20) Große Anzahl (ab 20)

Datengrundlage (Publikationen)

Anzahl qualitativer (nl) und Anzahl quantitativer Studien (nn)

nl = nn nl < nn nl > nn nl = nn nl < nn nl > nn

Art der Fragestellung:

Zweidimensionale, kausal ausgerichtete, geschlossene Fragestellung (Fg) oder

mehrdimensionale, komplexe, offene Fragestellung (Fo)

Fg Fo Fg Fo Fg Fo Fg Fo Fg Fo Fg Fo

Vorschlag: Auswertungsstrategie:

1. Getrennte Analyse

2. gemeinsame Analyse unter quantitativer Logik

3. gemeinsame Analyse unter qualitativer Logik

1 oder 2

1 oder 3

3 oder 2

32 oder

3 3

1 oder 2

1 oder 3

22 oder

32

3 oder 2

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liegt der Vorteil darin, dass Interpretationsleistungen von Forschern über die Veröffentli-chungen der qualitativen oder quantitativen Studien in ein gemeinsames Kodierschema inte-griert werden können.

Wenn quantitative und qualitative Studien in gleicher Zahl vorliegen, ist eine separateAuswertung angemessen (1). Diese Analyse ermöglicht alle gängigen und paradigmenspezi-fischen Verfahren zur Überprüfung von Validität und Reliabilität einzusetzen. So könnenbeispielsweise im quantitativen Bereich multivariate Analysen für komplexe Zusammenhän-ge durchgeführt werden. Als problematisch kann sich dabei die gemeinsame Interpretationherausstellen. Es ist sicherzustellen, dass die Interpretation der Befunde die Logiken (und dieje spezifischen Möglichkeiten und Grenzen) der eingesetzten Auswertungsverfahren berück-sichtigt.

Der Entscheidungsbaum macht auch deutlich, dass bei Mischformen der einzelnen Di-mensionen Wahlmöglichkeiten in der Analyse bestehen. Nach individuellen Interessen bzw.Präferenzen können verschiedene Auswertungsstrategien zum Einsatz kommen.

Offensichtlich lässt sich kein einheitliches Konzept der Integration qualitativer und quanti-tativer Befunde aufstellen. Es war uns jedoch möglich, Anregungen und Vorschläge für pra-xistaugliche und nachvollziehbare Wege aufzuzeigen und damit eine Hilfestellung fürForscher zu geben, die eine gemeinsame Auswertung qualitativer und quantitativer Untersu-chungsergebnisse anstreben. Die Integration ist eine sehr anspruchsvolle und aufwendigeAufgabe. Bedenkt man jedoch die weit reichenden Möglichkeiten der multi-methodischenUntersuchung sozialer Tatbestände, erscheint die Bewältigung dieser Herausforderunggleichsam als sehr lohnend.

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M.A. Marlen SchulzInstitut für Sozialwissenschaften

Universität StuttgartSeidenstraße 3670174 Stuttgart

[email protected]

M.A. Michael RuddatDialogik – gemeinnützige Gesellschaft für Kommunikations- und Kooperationsforschung

Lerchenstraße 2270176 Stuttgart

[email protected]

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Soziale Welt 59 (2008), S. 123 – 135

Kommentar:Cuvée oder Cafeteria-Menü? Über eine Verbindung qualitativer und quantita-tiver Methoden in der Sozialforschung1

Von Jo Reichertz

1. Neue Grenzgespräche

Ohne Zweifel sind die Forscher und Forscherinnen, die bei ihrer Arbeit qualitative Methodenverwenden, zur Zeit in Deutschland recht erfolgreich. Allerdings gilt dieser Befund nicht fürjedes Fach in gleichem Maße: Für die Soziologie und die Pädagogik gilt er mehr, für diePsychologie, die Politikwissenschaft, die Kommunikationswissenschaft, die Medien-wissenschaft und die Textwissenschaften (Germanistik, Anglistik, Romanistik, Philosophie,Theologie) gilt er teils erheblich weniger.

Dennoch: Auch wenn in der Mehrzahl der kulturwissenschaftlichen Fächer die qualitativeForschung immer noch mehr als Aschenputtel und weniger als Prinzessin behandelt wird, istsie in Deutschland normal geworden. Sie hat sich sogar recht stark institutionalisiert, be-denkt man, dass die deutsche qualitative Sozialforschung sich vor etwa 40 Jahren erstmalswieder (als Reimport aus den USA) bemerkbar machte.

Den auch kommerziellen Erfolg der Qualitativen erkennt man daran, dass sich Bücher zuqualitativen Methoden sehr gut verkaufen. Einführungen in die qualitative Sozialforschunggehen wie warme Semmeln über die Theke – sie dürfen sogar etwas teurer sein. Gleiches giltfür Einführungen in bestimmte Verfahren – allerdings müssen diese deutlich preisgünstigersein. Zu dem publizistischen Erfolg der Qualitativen gehört auch der Erfolg der Buchreihen‚Biographie und Gesellschaft‘, ‚Interaktion und Lebenslauf‘ und ‚Qualitative Sozialfor-schung‘. Zudem gehört zu dieser Art Erfolg auch die Gründung einer Reihe von Fachzeit-schriften wie BIOS, Sozialer Sinn, Zeitschrift für hermeneutische Sozialforschung, Zeit-schrift für Qualitative Forschung und Zeitschrift für Qualitative Bildungs-, Beratungs- undSozialforschung (ZBBS). Auch virtuell sind die Qualitativen auf dem Markt der Fachjourna-le erfolgreich. Beispielhaft hierfür ist die Erfolgsgeschichte vom Forum Qualitative Sozial-forschung (FQS). Im Jahr 2000 auf Initiative von Katja Mruck weltweit online an den Startgegangen, stellte sich für dieses fachübergreifende und schulenunabhängige, in Englisch,Spanisch und Deutsch erscheinende Publikationsmedium (mit Peer Review) schnell einebreite Akzeptanz und Nachfrage ein. Heute ist FQS die deutsche Online Zeitschrift mit demgrößten Ansehen, die auch weltweit zur Kenntnis genommen wird.

Ein weiteres Indiz für den Erfolg der Qualitativen ist, dass immer mehr gesellschaftlicheGruppen die Qualitativen ernst(er) nehmen und bereit sind, dafür auch zu zahlen. Denn aufdem Markt sozialwissenschaftlicher Analyse werden verstärkt qualitative Studien nachge-fragt. Was bemerkenswert ist: Nicht nur Behörden, die chronisch unter Geldmangel leidenund deshalb wenig zahlen wollen und können, treten als Interessenten auf, sondern es sindzunehmend auch private Unternehmen und Marktforschungsinstitute, die immer öfter auchqualitative Studien nachfragen.

1) Ganz herzlich danken möchte ich Hanns-Georg Brose für unser sehr langes, intensives und konstruk-tives Gespräch über die Möglichkeit, qualitative und quantitative Methoden jenseits der üblichen Ein-teilungsversuche, die entweder über die Reihenfolge (Vorphase und Hauptphase) oder denGegenstandbereich (Mikro vs. Makro) erfolgen, fruchtbar miteinander zu verbinden. Vieles vondem, was wir erörterten, taucht (ohne dass extra darauf hingewiesen wird) in meiner hier vorgelegtenArgumentation auf. Ausdrücklich danke ich jedoch für die Metapher mit dem Cafeteria-Menü.

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Der institutionelle, publizistische und auch kommerzielle Erfolg der Qualitativen hat eineeigene und teils widersprüchliche Entwicklung in Gang gebracht: nämlich die verstärkte Ka-nonisierung der Methoden bei gleichzeitiger Zersplitterung und Beliebigkeit. Zum einen ver-suchen vor allem die Protagonisten der etablierten qualitativen Verfahren eine verbindlicheVorgabe über die theoretischen Prämissen und die Interpretationspraktiken vorzugeben, zumanderen ‚stricken‘ sich immer mehr Forscher und Forscherinnen in Anlehnung und in Aus-beutung bereits eingeführter Methoden ihre eigenen Rechtfertigungen und Deutungspraktiken.

Kein Zweifel: Die qualitative Sozialforschung hat sich in den deutschen Landen etabliert.Die kämpferischen Tage der Pionierzeit, als es noch galt, unter dem Banner der Aufrechtendie – damals etablierten – Quantitativen aus dem Felde zu schlagen, sind (insbesondere inder Soziologie und der Pädagogik) vorbei und fast schon vergessen – die Zeit der metatheo-retischen und paradigmatischen Abgrenzungsbemühungen gegenüber quantifizierenden, no-mologisch-deduktiv verfahrenden Ansätzen scheint vorerst vorüber. Die „lange erstarrtenFronten [sind] – unverkennbar – in Bewegung geraten“ (Esser 2007: 351).

Selbst Vertreter der quantitativen Forschung scheinen auf einen Konsenskurs einge-schwenkt zu sein. Oft spricht man neuerdings (in beiden Gruppen) von zwei Forschungsstra-tegien, die beide ihre Berechtigung hätten; es käme halt auf die jeweilige Frage und das je-weilige Ziel der Forschung an, ob man die eine oder die andere Strategie einzusetzen habe.Zudem solle eine Streitkultur erblühen, die über die Stärken und Schwächen der Methodenin Konkurrenz tritt und so den Besten bzw. die beste Methode überleben lässt (Schreier2005). Andere propagieren bereits die ‚Mixed Methods‘ (z.B. Erzberger 1998, Kelle / Erz-berger 2000) – im Übrigen mit beachtlichem Erfolg.

Für den Beobachter dieser ‚neuen Verträglichkeit‘ taucht dabei schnell die nicht unspan-nende Frage auf, weshalb man sich jetzt, nach gut vier Jahrzehnten, auf einmal einig ist.Weshalb auf einmal diese Harmonie? Sind die Methoden und hier insbesondere die qualitati-ve Methode etwa langsam erwachsen geworden? Anfangs musste jede Methodik noch ihrenKern finden, ihre Grenzen abstecken und mittels Grenzarbeit sich finden und den Anderenals abweichend kennzeichnen. Doch jetzt scheinen beide erwachsen zu sein. Und selbstbe-wusst. Man erkennt, was einen vom Anderen trennt, aber auch, was einen mit ihm verbindet.Und kann damit leben.

Oder sind alle Beteiligten des Kampfes und des Aufwandes müde? Man hat sich lange ge-müht, dabei seinen claim abgesteckt, aus dem man hinreichend Gewinne abschöpfen kann –natürlich nur, wenn der Andere einen in Ruhe weiterarbeiten lässt. Sitzen jetzt etwa alle aufihren Besitztümern, in ihren Kleingärten, und lassen einander der Arbeit nachgehen, weilStreit das Geschäft stört?

Aber es gibt auch Unruhestifter, die zu Gesprächen über die Grenzen und Gartenzäunehinweg animieren wollen. Zu diesen Unruhestiftern muss seit neustem auch die ZeitschriftSoziale Welt gezählt werden. Mit dem dritten Heft des Jahres 2007 hat sie eine Diskussionüber ungewohnte Verbindungen (Systemtheorie und qualitativ operierende Forschung) undauch über eine mögliche ‚Verbindung‘ qualitativer und quantitativer Methoden begonnen.

In dem hier vorliegenden Heft wird diese Debatte mit einem Aufsatz von Marlen Schulzund Michael Ruddat weitergeführt. Sie plädieren engagiert für eine Integration der qualitati-ven und quantitativen Methoden. Das ist ohne Zweifel verdienstvoll. Leider ist der Text vonSchulz und Ruddat aus meiner Sicht für ein fruchtbares Gespräch nicht so recht geeignet,weil er zum einen von einem unzureichenden Verständnis qualitativer Methoden ausgehtund weil er zum anderen das Problem der Vereinbarkeit vordergründig auf die praktischeKombinierbarkeit qualitativer und quantitativer Verfahren verengt und es unterlässt, das je-weilige Erkenntnisinteresse der einzelnen Forschungskulturen mit zu bedenken.

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Kommentar zu „Unvereinbare Gegensätze?“ 125

2. Unzulässige Einvernahme

„Weber selbst spricht in den ‚Soziologischen Grundbegriffen‘ vom ‚erklärenden Verstehen‘,welches soziales Handeln durch das Deuten des subjektiv gemeinten Sinns und äußerer Be-dingungen erklärbar macht. Damit muss eine richtige kausale Deutung einerseits ‚sinnadä-quat‘ (Erfassung des Sinnzusammenhangs) und andererseits ‚kausal adäquat‘ (Regelmäßig-keit des Handelns) sein (Weber 1980: 5; 1988: 432ff). Damit verbindet Weber zweiMethoden, die heute unter den Bezeichnungen ‚qualitativ‘ (sinnadäquat) und ‚quantitativ‘(kausal adäquat) subsumiert werden.“ (107) Mit dieser These beginnt die Arbeit von Schulzund Ruddat und sie ist so nicht zutreffend: weder sind die qualitativen Methoden allein fürdie Sinnadäquanz zuständig noch die quantitativen für die Kausaladäquanz.2

Da jedoch, so die Argumentation von Schulz und Ruddat weiter, trotz der Vorarbeiten vonWeber in der Soziologie die „Kombination qualitativer und quantitativer Befunde auf derEbene der methodischen Grundlagendiskussion unseres Erachtens zu wenig Beachtung ge-funden“ (108) hat (was die Autoren verwunderte), wollen sie helfen, diesen Missstand zu be-seitigen. „Wir möchten deshalb in diesem Artikel folgende Fragestellung bearbeiten: Welchepraxistauglichen Hinweise können im Hinblick auf eine gemeinsame Auswertung qualitati-ven und quantitativen Materials gegeben werden?“ (108)

Ihr Vorschlag: Mit Hilfe der von Gene V. Glass 1976 eingeführten, quantitativ angelegtenMetaanalyse (die im Übrigen eine Vielzahl von Varianten aufweist) soll aufgezeigt werden,„dass sowohl auf der Sekundärebene als auch auf der Ebene einer Metaanalyse eine integra-tive Auswertung im Sinne der Methodentriangulation möglich ist“ (109). Zu diesem Zweckwollen „sie eine gemeinsame Auswertungsstrategie für qualitative und quantitative Daten“(114) erproben. Als qualitatives Verfahren wählen sie eine besondere Art der Inhaltsanalyse,nämlich die skalierende Strukturierung von Mayring, da sie, so Schulz und Ruddat, „mani-feste und latente Strukturen“ (114) integriere.

Um dies auch methodologisch zu untermauern, stellen sie im Anschluss an Lamnek diefünf Merkmale qualitativer Sozialforschung vor. Dies seien: „Offenheit, Flexibilität, Kom-munikativität, Naturaliszität und Explikation“ (110). Demgegenüber seien die fünf Merkmaleder quantitativen Forschung folgende: „Vorstrukturierung, Standardisierung, Quantifizierung,Subjekt- / Objekttrennung und Reproduzierbarkeit“ (109). Neben diesen jeweils fünf Merk-malen gebe es, so Schulz und Ruddat, einen weiteren zentralen Unterschied: „In der qualitati-ven Sozialforschung werden in der Regel keine Gesetze, Theorien oder Hypothesen getestet,sondern subjektiv konstruierte Regelmäßigkeiten der Befragten oder Beobachteten erforscht.Es geht weniger um das ‚Warum?‘ als vielmehr um das ‚Wie?‘ sozialer Tatbestände“ (110).

Eine solche Sicht der qualitativen Sozialforschung, nämlich dass sie sich vor allem um einVerstehen bemühe, während die quantitative Forschung vor allem auf Erklärung angelegtsei, ist gewiss unterkomplex3. Angebrachter ist die Sicht, dass es das Ziel jeder Wissenschaft

2) Im Übrigen ist es mit der Adäquanz nicht so einfach. Schon viele nachdenkliche KollegInnen haben inden seit mehreren Jahrzehnten geführten Diskussionen gezeigt, (z.B. Eberle 1999 und Nollmann 2006),dass weder die Sinn- noch die Kausaladäquanz von Konstruktionen so leicht zu erhalten ist – vor allemdeshalb, weil man nicht angeben kann, wie man das Vorhandensein von Adäquanz feststellen könnte.

3) Diese These ist auch innerhalb der Argumentation von Schulz und Ruddat nicht nachvollziehbar, zi-tieren sie doch Lamnek selbst kurz zuvor mit einer Aussage, die ihrer Deutung massiv widerspricht.Das von ihnen vorgestellte Lamnek-Zitat lautet so: „‚Qualitative Sozialforschung interessiert sichprimär für Deutungs- und Handlungsmuster, die eine gewisse kollektive Verbindlichkeit besitzen[...]. die Muster existieren nicht per se, sondern nur durch ihre Anwendung. Sie werden von den so-zialen Akteuren konstituiert. […] Diesen Konstitutionsprozeß von Wirklichkeit zu dokumentieren,analytisch zu rekonstruieren und schließlich durch das verstehende Nachvollziehen zu erklären, istdas zentrale Anliegen einer qualitativen Sozialforschung‘ (Lamnek 1995a: 24f)“.

→ Fußnote geht weiter

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ist zu allgemeinen Aussagen zu kommen. Wissenschaft kann nämlich (will sie ernst genom-men werden) nicht im Besonderen verbleiben, sondern Wissenschaft muss auch das Allge-meine wollen. Und wenn ich das richtig sehe, beschränken sich nur sehr wenige qualitativarbeitende ForscherInnen auf die Deskription und / oder Dokumentation des Einzelfalles.Fast allen geht es auch um das Muster, das verbindet, das Muster, das verstehen lässt, dasMuster, das erklärt. Ich sehe also keinen generellen Verzicht der Qualitativen auf Erklären -wie dies immer wieder behauptet und auch befürchtet wird.

Einzuräumen ist allerdings, dass innerhalb qualitativer Forschung ‚Erklären‘ nicht mehr miteinem einfachen Determinismus verbunden werden kann, sondern nur noch mit Wahrschein-lichkeiten. Aber das hat etwas mit dem Gegenstand der qualitativen Forschung zu tun. DieserGegenstand (= menschliches sinnhaftes Handeln) ist einerseits sehr komplex, aber wichtigerist, dass er nicht nur auf die eigene Praxis reagiert, indem er das Vergangene interpretiert undsein Handeln danach neu orientiert, sondern diese Praxis reagiert sehr sensibel auf Deutungendieses Handelns z.B. durch die Wissenschaften. Und je mehr die WissenschaftlerInnen sich inihren Publikationen an die Öffentlichkeit wenden und je leichter diese an die Ergebnisse derWissenschaft gelangen kann, desto leichter und nachhaltiger wird die Wissenschaft das vonihr Untersuchte auch irritieren und verändern. Insofern konstituieren die Wissenschaften ihrenGegenstand immer mit. Dieses Wissen ist eigentlich nicht besonders neu.

Darüber hinaus sollte nicht besonders betont werden müssen, dass es nicht die qualitativeSozialforschung gibt, sondern eine Vielzahl verschiedener Ansätze (dazu unten mehr, sieheauch das Heft von Erwägen. Erwägen. Ethik, Heft 2 / 2007 zur Qualitativen Sozialfor-schung). Ebenso klar ist, dass der von Schulz und Ruddat als Kronzeuge benannte Lamnek(bei aller Wertschätzung seiner Person) nicht der Sprecher der qualitativen Sozialforschungist, sondern Exponent einer besonderen Variante. Gleiches gilt für Mayring: auch er vertritteine eigene Position, die nicht unbedingt ‚mehrheitsfähig‘ ist. Nicht ‚mehrheitsfähig‘ dürfte(bei aller Wertschätzung) auch die These sein, bei der von Mayring entwickelten inhaltsana-lytischen Methode der skalierten Strukturierung würde es sich um eine Methode der qualita-tiven Sozialforschung handeln.

Kurz: Die von Schulz und Ruddat vorgenommene Engführung der qualitativen Sozialfor-schung auf das Verständnis von Lamnek und eine Methode von Mayring engt zugleich dieAussagekraft der von ihnen vorgetragenen These (zu) stark ein. Nichtsdestotrotz kann mandie Arbeit von Schulz und Ruddat zum Anlass nehmen, grundsätzlich über eine Verbindungqualitativer und quantitativer Verfahren nachzudenken.

3. Das Feld qualitativer Methoden

Qualitative Methoden weisen in gewisser Hinsicht Ähnlichkeiten mit Südfrüchten auf –nicht weil sie wohlschmeckend oder gar gesund wären. Nein, ähnlich wie bei Südfrüchtengibt es auch bei den qualitativen Methoden nicht etwas Bestimmtes, Festes, das (bei nähererBetrachtung) allen gemeinsam wäre – etwas, das es rechtfertigen würde, einerseits Feigen,Bananen und Zitronen und andererseits Inhaltsanalyse, Grounded Theory, Narrationsanaly-se und Hermeneutik unter einen jeweils eigenen Begriff zu fassen (siehe hierzu ausführlichReichertz 2007a und 2007b).

3) Zu den Merkwürdigkeiten der Rezeption der qualitativen Sozialforschung zählen auch die folgendenSätze: „Bei der Datenerhebung ermöglicht das Verfahren des theoretical sampling (Glaser / Strauss1998: 53 ff), auch mit geringen Fallzahlen eine Sättigung der inhaltlichen Perspektiven oder subjek-tiven Deutungsmuster der Befragten zu erreichen. Eine höhere Erhebungsvalidität (im Sinne von the-oretischer Validität) kann mit dem theoretischen Sampling erreicht werden. (Lamnek 1995a: 163)“(111)

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Kommentar zu „Unvereinbare Gegensätze?“ 127

Wendet man sich nun von der Vielzahl von Früchten, die nicht im Norden wachsen, abund betrachtet stattdessen das aktuelle Feld der qualitativen Methoden, dann sieht man vorallem „ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen.Ähnlichkeiten im Kleinen wie im Großen“ (Wittgenstein 1977: 57). Was man gerade nichtsieht, das sind klare Grenzen und abgeschlossene Gebiete. Es gibt also aus meiner Sicht kei-ne (kleine) Schnittmenge, die allen qualitativen Methoden gemein ist (z.B. die Ausrichtungauf den Akteur und seine Intentionen), sondern es gibt Ähnlichkeiten und Überschneidun-gen, aber auch Widersprüche und Gegensätze. Zumindest darin sind sich die aktuellen Ver-suche einig, die Qualitative Sozialforschung fassbar zu machen (Lüders 2000, Knoblauch2000, Wohlrab-Sahr 2000, Mruck 2000, Hollstein / Ullrich 2003, Flick 2005, Maiwald 2005,Bohnsack 2005, Hitzler 2002 und 2007 und Reichertz 2007a und 2007b; besonders lesens-wert ist im Hinblick auf die internationale Entwicklung der Qualitativen Sozialforschung derFQS Sonderband von Knoblauch / Flick / Maeder 2005 und auch Mruck / Cisneros / Cesar /Faux 2005 und Cisneros / César / Domínguez Figaredo / Faux / Kölbl / Packer 2006; zurEntwicklung der qualitativen Methoden in der Schweiz siehe Eberle / Elliker 2005).

Weil das so ist, macht es aus meiner Sicht keinen Sinn, von der qualitativen Sozialfor-schung zu sprechen, sondern, wenn überhaupt, sollte man das Ganze das Feld der qualitati-ven Methoden nennen. Dieses Feld der qualitativen Methoden spannt sich (nach meinemVerständnis) im Wesentlichen entlang zweier Prämissen auf: die eine bezieht sich auf denGegenstandsbereich der Wissenschaften, die sich mit dem Menschen beschäftigen, die ande-re bezieht sich auf die Arbeit der Erforschung menschlichen Handelns. Beide Prämissen be-stehen aus einer Reihe von Annahmen über die Besonderheiten (a) menschlichen Handelnsund (b) deren Erforschung. Diese Bündel theoretischer Aussagen resultieren so nicht aus em-pirischer Forschung, sondern liegen ihr zugrunde.

(zu a) Es sind immer konkrete Menschen, die handeln. Stets nehmen konkrete, allerdingsin die Geschichte und in die Gesellschaft eingebettete und eingebundene Menschen etwaswahr, bewerten es, messen ihm Sinn zu, ordnen sich dann (aufgrund der vorgenommenenSinnzuschreibung) unter oder lassen alles beim Alten oder entscheiden sich dafür, etwas zuverändern oder Neues zu entwickeln. Das tun sie in erworbenen, gesellschaftlich erarbeitetenFormen, Gattungen und Rahmen. Handeln hat immer eine Geschichte und einen Kontext.Auf dieses Handeln wirkt das Äußere - die Natur, die Sozialität, der Kontext, die Geschichte- nicht direkt und unmittelbar ein, sondern das Außen wird von der implizit deutenden Wahr-nehmung und der (bewussten oder routinisierten) Deutung des Handelnden gebrochen. DasÄußere besitzt nur dann (einschränkende oder ermöglichende) Kraft und manchmal auchMacht über den Handelnden, wenn es durch ihn und damit für ihn Bedeutung erhalten hat.

Qualitative Sozialforschung (und hier argumentiere ich vom Selbstverständnis einer her-meneutischen Wissenssoziologie aus) kann all dies nachzeichnen und festhalten. Darüber hi-naus kann sie aber auch die typische Gestalt des konkret Gewordenen, das Muster oder dieFigur rekonstruieren und so auch konkrete Fälle und Entwicklungen erklären. Was qualitati-ve Forschung aber nicht kann (und nicht will) ist auch klar: sie kann hinter all dem keinenSinn, keine Rationalität und auch keine Funktion (zum Nutzen des großen Ganzen) erken-nen. Geschichte entfaltet sich nicht, sie reproduziert in der Aktion nicht immer wieder diegleiche Struktur, sondern Geschichte und Interaktion sind trotz ihrer Gebundenheit an dieVergangenheit entwicklungsoffene, einander bedingende und einander durchdringende Pro-zesse, die immer einmal (wieder) Muster bilden, dann jedoch immer wieder sich ihren eige-nen Weg suchen bis zum nächsten Muster, das jedoch wieder ein völlig anderes sein kann.

(zu b) In und mit ihrer Lebenspraxis schaffen (konstruieren) Menschen arbeitsteilig Ge-sellschaft und soziale Ordnung: nicht jeder mit der gleichen Möglichkeit, seine Vorstellun-gen umzusetzen und viele nicht freiwillig. Ihre Deutungen der gemeinsamen Welt werden im

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Anschluss an die Arbeiten von Alfred Schütz ‚Konstruktionen erster Ordnung‘ genannt. Siesind Ausdruck der jeweiligen sozialen Lage und zugleich auch Mittel der ‚Reflexion‘ undVeränderung dieser sozialen Lage. Wissenschaftliche Arbeit ist immer und notwendig Teildieser arbeitsteilig organisierten Schaffung von Gesellschaft und der sozialen Lagen. Sie istein spezifischer Arbeitsbereich mit spezifischen Methoden, Arbeitsstilen und Zielen. Wis-senschaftliche Arbeit, die wesentlich durch Forschung, Kommunikation, Reflexion, Lehreund Prüfung gekennzeichnet ist, produziert auf diese Weise ‚Konstruktionen zweiter Ord-nung‘. Dies sind also (Re-)Konstruktionen der sozialen Konstruktionen erster Ordnung. DaWissenschaftler auch immer in der Praxis leben, die sie untersuchen, sind sie Produzentenvon Konstruktionen erster wie zweiter Ordnung. Das bringt sie in eine verzwickte Lage.

Vielfalt ohne rechte Einheit – so lautete oben der Befund hinsichtlich der Geschlossenheitder deutschen qualitativen Sozialforschung. Dennoch ist es gewiss keine Geschmacksfrage,welche Forschungsstrategie gewählt wird, besteht doch eine enge Verbindung zwischen vor-ab entwickelter Theorie über den Gegenstand, der Datenerhebung und der Datenanalyse. Miteinigen Daten lässt sich mehr anfangen, mit anderen weniger. Mit welchen Daten sich nunmehr und mit welchen sich nun weniger anfangen lässt, ist letztlich eine Frage des Verwen-dungszweckes oder anders: Ob Daten nützlich sind, hängt von der Frage ab, auf die man mitihrer Hilfe eine Antwort (re-)konstruieren will. Das scheint mir im Übrigen der Punkt zusein, über den sich alle Forscher und Forscherinnen, egal welche Methoden sie bevorzugen,einig sind: Die Auswahl der Methoden hängt von der Frage ab, auf welche die Forschungeine Antwort produzieren soll. Und m.E. lassen sich zur Zeit innerhalb der qualitativen For-schung insgesamt vier Großfragerichtungen unterscheiden (siehe hierzu auch die früherenAusführungen in Lüders / Reichertz 1986 und Reichertz / Schröer 1994).

a) Frage nach den subjektiven Sinnwelten von Handlungen

„Im Mittelpunkt dieser Forschungsperspektive steht das Subjekt, seine Sichtweisen, Weltbilder,lebensgeschichtlichen (Leidens-)Erfahrungen, Hoffnungen und Handlungsmöglichkeiten“ (Lü-ders / Reichertz 1986: 92). Es geht um die Gewinnung der Innensicht des Subjekts, also um Ein-drücke, Wünsche, Ängste, Welt- und Fremddeutungen etc. Insbesondere das Narrative Inter-view und die Biographieforschung gehen dieser Fragestellung nach - und die Grounded Theory.

b) Deskription sozialen Handelns und sozialer Milieus

„Zu dieser hier sehr allgemein bezeichneten Forschungsperspektive gehören alle jene Ansät-ze, die - auf welchem Weg auch immer - letztlich beanspruchen, soziales Handeln - und da-mit ist unter dieser Perspektive immer gemeint: soziales Handeln in Milieus - zu beschreibenund zu verstehen“ (ebd.: 93). Vor allem die Ethnografie, manchmal auch ‚teilnehmende Beo-bachtung‘ oder ‚beobachtende Teilnahme‘ genannt, verfolgt diese Fragestellungen - und dieGrounded Theory.

c) Rekonstruktion deutungs- und handlungsgenerierender Strukturen

„Gemeinsam ist den Ansätzen dieser Forschungsperspektive der Anspruch, deutungs- undhandlungsgenerierende Tiefenstrukturen rekonstruieren zu wollen“ (ebd.: 95). Es sind vor al-lem die Objektive Hermeneutik, die Gattungsanalyse und die Konversationsanalyse, die die-ser Fragerichtung nachgehen.

d) (Re-)Konstruktion historisch und sozial vortypisierter Deutungsarbeit

Diese Forschungsrichtung versucht zu (re-)konstruieren, aufgrund welcher Sinnbezüge Men-schen handeln, wie sie handeln. Gefragt wird, wie Subjekte, hineingeboren in eine historisch

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und sozial vorgedeutete Welt, diese Welt permanent deuten und somit auch verändern. DieseForschungsfragen werden vor allem von der Diskursanalyse, der Dokumentarischen Metho-de und der Hermeneutischen Wissenssoziologie verfolgt - und von der Grounded Theory.

Nun möchte ich nicht behaupten, die vielen Methoden der qualitativen Sozialforschungließen sich umstandslos den einzelnen Großfragestellungen zuordnen. Je nach Anlage derForschung können sie auch in anderen Forschungsperspektiven genutzt werden. Insbesonde-re das Narrative Interview und die Grounded Theory finden sich in verschiedenen Kontex-ten.

Da qualitative Forschung ein zukunftsoffener Prozess ist, bleibt abzuwarten, ob es bei die-sen vier Forschungsperspektiven bleiben wird. Auch hier ist zu erwarten, dass neue Entwick-lungen (Medien, Daten, Gegenstandsbereiche) es erforderlich machen, neue Fragen zu stel-len und neue Theorien und Verfahren zu entwickeln.

4. Quantitative Methoden – ein Versuch der Umgrenzung

Auch wenn ich das Feld der quantitativen Forschung nicht so gut überblicke, scheint mir dieThese, dass auch dort vor allem Vielfalt anzutreffen ist, nicht besonders gewagt. Gemeinsamdürfte den ‚Quantitativen‘ lediglich der stabile Glaube an drei Glaubenssätze (Axiome) sein,nämlich dass (a) auch die Welt der sozialen Ordnung und die Welt der handelnden Akteurerecht stabil, (b) von Gesetzmäßigkeiten bestimmt und (c) direkt oder indirekt beobachtbarsind. Und weil dies so ist, können diese Welten genau vermessen und auch Theorien zu ih-nen entwickelt werden. Und - so der Glaube - die Theorien können auch in einem ,dichten‘Verhältnis zu der jeweils untersuchten Welt stehen - entweder weil man aufgrund von Beob-achtungen (also induktiv) Wissen von der Welt erlangt hat (das ist eine etwas ältere und heu-te weitgehend überholte Sicht) oder weil man aufgrund der Unterstellung von Gesetzen An-nahmen über die Beschaffenheit von Welt abgeleitet und mittels empirischer Forschungentweder widerlegt oder bestätigt hat.

Diese Verfahrensweise, die (wie Popper es einmal formuliert hat) ein aus Theorien ge-knüpftes Netz auswirft, um Stück für Stück die Welt einzufangen, wird nomologisch-deduk-tiv genannt. Auch heute gilt sie bei vielen (noch) als Inbegriff empirischer Sozialforschung.Ziel dieser Forschungsstrategie, die vor allem auf die Beseitigung falscher Hypothesen setzt,ist, möglichst nahe an die ,Wahrheit‘ heranzukommen. Oder wie Schulz und Ruddat es for-mulieren: „Das Ziel quantitativer Sozialforschung ist in der Regel die Überprüfung der Er-klärungskraft theoretischer Modelle über die soziale Realität“ (109).

Quantitativ orientierte Forscher verfügen über vermeintlich scharfe Gütekriterien - einer-seits um sich von bestimmten Kollegen abzugrenzen, andererseits um bei konkurrierendenTheorien zwischen den Böcken und den Schafen unterscheiden zu können. Zentral hierfürsind neben den Kriterien der Repräsentativität der Datenauswahl und der Objektivität dieValidität und Reliabilität der Datenauswertung.

Diese Gütekriterien sind nun auf einen Teil des Forschungsprozesses bezogen, der alsdurchaus heikel gilt - nämlich auf den Teil der Forschung, in dem die ,harte‘ Wirklichkeit inwissenschaftlich verwertbare (in diesem Fall: numerische) Daten verwandelt wird. Hat manerst einmal die numerischen Daten, dann kann man mit der Hilfe von Logik und MathematikHypothesen und auch Theorien testen. Da die Güte von Logik und Mathematik außer Zwei-fel stehen, sind die entscheidenden Fragen alleine die, ob die Daten gut ausgewählt wurden(Repräsentativität) und ob ‚gut‘ gemessen wurde. Objektivität, Validität und Reliabilität be-ziehen sich nun genau und nur auf diesen Messvorgang. Die strategische Bedeutung der bei-den Begriffe innerhalb einer quantifizierenden Sozialforschung besteht also darin, dass sieim wahrsten Sinne des Wortes das Fundament legen für die Glaubwürdigkeit wissenschaftli-

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cher Forschung: Ist das Fundament brüchig, wird das darauf ruhende Theorie-Gebäude baldeinstürzen - ist dagegen das Fundament stabil, lassen sich selbst gewagte und weit gespannteBrücken bauen.

5. Lassen sich qualitative und quantitative Methoden miteinander verschneiden?

Nach dieser kurzen Beschreibung der Eigenheiten der qualitativen und quantitativen For-schung kann man sich fragen, wie das Hauptanliegen von Schulz und Ruddat, nämlich dasGeben (wie bereits oben gesagt) von ‚praxistauglichen Hinweisen‘ zur Verbindung beiderMethodenbereiche, gelingen kann. Über das Wie der ‚Verbindung‘ findet sich bei den Auto-ren folgender Hinweis: Es „zeigen sich die Stärken und Schwächen der beiden Methoden inunterschiedlichen Bereichen des Forschungsprozesses. Sie sind aber gerade dadurch geeig-net, sich gegenseitig zu ergänzen und ein umfassenderes, abgesichertes Bild der sozialen Re-alität zu zeigen. Zweifellos haben beide Verfahrensklassen ihre inhärenten, unvermeidbarenund invarianten Beschränkungen und ihre spezifischen Grenzen müssen erkannt und berück-sichtigt werden. Qualitative Daten können keinen allgemeinen Anspruch für größere Grund-gesamtheiten erheben. Quantitative Daten erlauben keine detaillierten Aussagen über Denk-und Handlungsweisen von Individuen. Allerdings sind die jeweiligen Schwächen gleichzei-tig die Stärken des jeweils anderen Ansatzes und gerade deshalb können beide Paradigmenzur gegenseitigen Ergänzung herangezogen werden“ (111).

Die Deutung der Textpassage scheint mir unproblematisch. Um gegenseitige Ergänzunggeht es Schulz und Ruddat. Das Gute des Einen (aus dem einen Bereich) soll um das Gutedes Anderen (aus einem anderen Bereich) ergänzt werden, auf dass das neue Ganze ein um-fassenderes und abgesichertes Bild der sozialen Realität erschaffen kann. Das klingt danach,als ob die Methodenintegration (später auch Triangulation genannt) mehr Validität und Ob-jektivität bringen soll - wie eingeschränkt auch immer. Damit ist das Ziel der Methodenver-bindung klar: Verbesserung im Hinblick auf die Leistung wissenschaftlicher Forschung.Fraglich ist nur die Art der Verbindung.

Nun liegt der Teufel bekanntlich im Detail, was hier bedeutet: in dem Wort ‚verbinden‘.Denn es gehört zum kleinen Einmaleins, nicht nur von Köchen, sondern auch von Gärtnern,Züchtern, Chemikern und Weinbauern, dass es zumindest zwei Arten von Verbindungengibt, die sich in Art und Ergebnis wesentlich unterscheiden.

Zum einen gibt es Gemenge, bei denen die beteiligten Einheiten in einem bestimmten Ver-hältnis gemischt werden, dabei aber ihre ursprünglichen Qualitäten behalten. Mischt manHafer mit Roggensamen und sät sie aus, dann wachsen nachher Hafer und Roggen in demausgesäten Verhältnis friedlich nebeneinander. Zum anderen gibt es Verbindungen, bei de-nen sich die beteiligten Einheiten zu einer neuen Einheit mit teilweise völlig neuen Qualitä-ten verbinden. Wenn man z.B. roten mit weißem Wein verschneidet, kann man mit ein we-nig Glück eine Cuvée erlangen, die anders und sehr viel besser als die Ausgangsstoffeschmeckt. Mit dem Verschneiden von Weinen soll in der Regel sowohl die Qualität des Pro-duktes erhöht als auch die Dauer dieser Qualität über mehrere Jahrgänge erreicht werden.Zahlreiche Champagnersorten basieren auf einer Cuvée. Die Frage ist: Kann man Methodenmiteinander verschneiden? Hierzu einige Überlegungen, die aus meiner Sicht durchausmehrheitsfähig sind.

Wissenschaftliche Methoden sind bestimmte Praktiken, mit Daten umzugehen – und zwarsolche Praktiken, von denen bestimmte Wissenschaftler zu bestimmten Zeiten erhoffen, dassmit ihrer Hilfe das Offensichtliche deutlich überschritten werden kann. Methoden gründenstets, und diese Einsicht ist weder neu noch originell, auf einer oft impliziten und (zu) seltenexplizierten Vorstellung davon, was die Daten ‚sind‘ bzw. repräsentieren, was wir wie er-kennen und wie sich Daten erheben und auswerten lassen. Forschung ‚schafft‘ somit ihren

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Gegenstand (in gewisser Weise) und damit auch die zu erhebenden Daten – weder das Einenoch das Andere findet sie einfach in der Außenwelt vor (vgl. auch Breuer 2005). Deshalbsind Methoden immer theoretisch geleitet und deshalb sind die ausgearbeiteten ‚Methoden‘immer auch Theorie: Gesellschaftstheorie, Sozialtheorie, Handlungstheorie und Erkenntnis-theorie.

Elaborierte qualitative wie quantitative Methodenlehren – und das kennzeichnet sie – sindwegen dieser Lage der Dinge grundsätzlich der Selbstreflexion verpflichtet und zugleich dar-um bemüht, die eigene theoretische und methodische Arbeit immer wieder selbst in die For-schung mit einzubeziehen.

Wer dagegen ohne vorab entworfene Grundlagentheorie seine Forschungsarbeiten be-ginnt, liefert sich (meist ohne dass es von den Forschenden selbst wahrgenommen wird) sei-nen Alltagstheorien über den Gegenstand aus – seinem Common Sense: Statt kontrollierterund reflektierter Erkenntnisse liefern nicht-bewusste, meist ad-hoc entworfene Vor-Urteiledie relevanten Ansichten über die noch zu untersuchenden Gegenstände und verlängern sieauf diese Weise.4

Mit dieser Forschungspraxis einher geht oft die Ansicht, die Methoden seien neutrale tools(im Sinne von ‚Hilfsmittel‘), die sich je nach Geschmack und Arbeitszeit beliebig für jedeFragestellung nutzen lassen. Hauptsache sie sind ‚praxisnah‘ oder auch: ‚praxistauglich‘.Hier ergibt sich die Auswahl der Verfahren der Datenerhebung und Datenauswahl eher aussituativen Erwägungen als aus systematischen Gründen. Eine solche Methodenwahl gleichtin wesentlichen Punkten dem Zusammenstellen des Essens in Kantinen und Cafeterien. Hierwählt man das aus den angebotenen Angeboten aus, was einem gerade schmackhaft, gesundoder bezahlbar erscheint. So sammelt sich dann auf dem Tablett ein buntes Gemenge vonVor-, Haupt- und Nachspeisen, deren jeweilige Spezifik sich daraus ergibt, dass sie geradeverfügbar und günstig sind und ‚passend‘ erscheinen.

Methoden sind jedoch (wie oben dargelegt) keine Mittel, die man sich nach aktuellem Ge-schmack und Verfügbarkeit in der Cafeteria zusammenstellen kann, sondern sie sind im en-gen Sinne des Wortes ‚tools‘, also Handwerkszeuge. Jedes Handwerkszeug enthält in seinerForm und seiner Materialität bereits eine ‚Theorie‘ seines Gegenstandes: Der Hammer ist so,wie er ist, weil er sich aus der Praxis des Nageleinschlagens ergeben hat, und das gilt ver-gleichbar auch für den Meißel, die Säge, den Füller, den Anspitzer und alle Dinge, die geeig-net sind, bestimmte Aufgaben effektiv zu erledigen. Wer mit einer Spitzhacke einem Zahnim Mund zu Leibe rückt, wird ebenso scheitern wie der, welcher das Fieberthermometernutzt, um Erbsen zu zählen. Das ist trivial – ohne Zweifel. Nicht trivial ist dagegen der Be-fund, dass diese Trivialität oft vergessen wird.

6. Es gibt sie doch – die zwei Kulturen

Aber es gibt nicht nur Unterschiede, es gibt auch Gemeinsamkeiten zwischen den Gruppender qualitativen und quantitativen Forschern und Forscherinnen: Auffällig ist erst einmal dasFehlen einer rechten Einheit in beiden Gruppen. So gibt es keine Einheit bei den Qualitati-ven: Es gibt die, die vor allem verstehen wollen, und die, die den Prozess des Verstehens und

4) Für diese Forschung gilt das Urteil von Lazarsfeld aus dem Jahre 1962 über die Wissenschaftstheo-retiker. Diesen warf er damals vor, sie seien weder an der alltäglichen Arbeit der Forscher interessiertnoch wüssten sie darüber Bescheid. Den jungen Qualitativen empfahl er damals, entweder auf denSegen des methodologischen Klerus zu verzichten und weiter zu wursteln (eine Empfehlung, die spä-ter oft missverstanden wurde) oder aber die eigenen Methodologen zu entwickeln (vgl. Lazarsfeld1976: 46). Letzteres legte er damals seinen Mitstreitern ans Herz – nicht die Kunst des Weiterwurs-telns.

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das Verstandene reflektieren wollen. Und es gibt, da bin ich ziemlich sicher, auch keinerechte Einheit bei den Quantitativen: Es gibt die, die vor allem zählen und vermessen, unddie, die den Prozess des Zählens und Vermessens und das Vermessene reflektieren wollen.

In beiden Gruppen (auch das ist ihnen gemeinsam) arbeiten Forscher und Forscherinnenoffen, kommunikativ, flexibel, intersubjektiv und reproduzierbar. In beiden Gruppen gibt eswelche, die sich auf Aussagen über Zusammenhänge kleiner Reichweite beschränken, undandere, die zudem noch Zusammenhänge mittlerer und großer Reichweite erklären wollen.In beiden Gruppen finden sich Forscher und Forscherinnen, welche die Mikroperspektive,und andere, welche die Makroperspektive bevorzugen. Manchmal liefern bei Forschungsar-beiten die Quantitativen die Hypothesen, manchmal tun das die Qualitativen, und manchmalüberprüfen die Quantitativen und manchmal tun das die Qualitativen.

Und natürlich ruht jede quantitative Untersuchung einer qualitativen Basis auf und natür-lich muss sie im Verlauf der Arbeit immer wieder interpretieren – weshalb in quantitativenUntersuchungen immer und notwendigerweise mit den Prämissen qualitativer Forschung ge-arbeitet wird. Und natürlich ruht jede qualitative Untersuchung einer quantitativen Basis auf(z.B. dann, wenn sie ‚Normalität‘ bestimmen will) und natürlich muss sie im Verlauf der Ar-beit immer wieder die Relevanz, die Wichtigkeit, die Häufigkeit ‚intuitiv‘ ermitteln – wes-halb in qualitativen Untersuchungen immer und notwendigerweise mit den Prämissen quan-titativer Forschung gearbeitet wird.

In der konkreten Forschung durchdringen sich also das Feststellen von Häufigkeiten und dieAusdeutung von Sachverhalten – und zwar in jeder Phase der Forschung. Es gibt sie also nicht,die klare Trennung der quantitativen und qualitativen Forschung entlang von bestimmtenMerkmalen, Phasen, Perspektiven oder Reichenweitenansprüchen. Gründe genug, darauf zuhoffen, dass es auch eine echte Verbindung der beiden Methodenverständnisse geben könnte.

Was die beiden Forschungsrichtungen allerdings trennt, das ist der Umstand, dass jedeRichtung eine eigene Kultur besitzt und dass diese Kulturen nicht so viele inhaltliche Ge-meinsamkeiten aufweisen. Das gilt insbesondere, wenn man im Anschluss an Hans-GeorgSoeffner unter ‚Kultur‘ jenen „Bedeutungsrahmen [versteht, J. R.], in dem Ereignisse, Din-ge, Handlungen, Motive, Institutionen und gesellschaftliche Prozesse dem Verstehen zu-gänglich, verständlich beschreibbar und darstellbar sind“ (Soeffner 1988: 12). Obwohl man-che sprachlichen Formulierungen ähnlich klingen, ist eine Reise von der qualitativenForschung zur quantitativen nicht mit einer Reise von Dortmund nach Essen, sondern mit ei-ner von Dortmund nach Detroit zu vergleichen: Ein Ozean trennt die beiden Kulturen – umeine alte Idee und Metaphorik von Snow 1965 aufzugreifen. Quantitative und qualitativeForschung sind nicht nur durch die Methoden getrennt, sondern vor allem und wesentlich:durch die Kultur, deren Ausdruck die Methoden sind (zu der Idee der verschiedenen For-schungskulturen auch im Hinblick auf die Sozialwissenschaften siehe Lepenies 1985).

Wollte man beide Kulturen zum Zwecke der Optimierung, also zur Erreichung einer Cu-vée, die sowohl die Qualität des Endproduktes erhöht als auch bleibend eine konstante Quali-tät erreicht, wirklich miteinander verbinden, dann bräuchte man als Erstes eine ‚neue‘ Spra-che, mit der die Fragen und Probleme aus einer neutralen und übergeordneten Perspektiveformuliert werden könnten. Die beiden methodischen Zugangsweisen zur Wirklichkeit müss-ten zugleich als Perspektiven begriffen werden und das Neue bestünde dann in einer Perspek-tivenüberschreitung, die jedoch die beiden vorhandenen Perspektiven bewahrt und zugleichüberschreitet. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob es überhaupt eine Sprache geben kann,die methodenneutral ist, die also nicht bereits Ausdruck eines Paradigmas ist. Unterhalb derEntwicklung einer neuen gemeinsamen Sprache und einer Perspektivenüberschreitung ist je-doch jede Kombination von qualitativen und quantitativen Methoden nur ‚ein Cafeteria-Me-nü‘ oder moderner: ein cross over, ein Gemenge ohne ernsthafte Qualitätsverbesserung.

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Ohne Zweifel bringt ein cross over der Methoden ein neues, bunteres Bild der untersuch-ten gesellschaftlichen Prozesse. Wenn man aber daran festhält, dass (aller sozialkonstrukti-vistischen Einsprüche zum Trotz) Wissenschaft auf eine Verbesserung von Validität hinar-beitet, dann ist aus meiner Sicht fraglich, ob das cross over mehr an Validität erbringen kann– immer unterstellt, man ist sich einig, dass ‚Validität‘ nicht eine messtechnisch definierteGültigkeit meint, sondern stattdessen, dass der untersuchte Wirklichkeitsbereich in irgendei-ner Weise ‚besser‘, ‚differenzierter‘ erfasst wird. Praxistaugliche Handreichungen zum crossover von Methoden führen dann eher in eine (neue) Sackgasse, als dass sie Wege eröffnen.

Vielleicht besteht eine vorläufige Antwort auf die Frage ja darin, dass man nicht sofort die‚große Lösung‘, also eine echte Verbindung der Methoden angeht. Vielleicht macht es mehrSinn, als ersten Schritt zu einer solchen Verbindung darüber nachzudenken, wie Forschungs-fragen, die jeweils an bestimmte Methoden gebunden sind, sinnvoll miteinander verknüpftwerden können. Denn es wird einige Fragen (und damit einige Methoden) geben, die manleichter miteinander verbinden kann, und andere, wo das sehr schwer werden wird. Unddann kann man darüber nachdenken, ob es gelingt, auch eine gemeinsame Perspektive zuschaffen.

Aber hinter all den Überlegungen steht die historisch gar nicht so alte Idee, dass die Wirk-lichkeit prinzipiell durch empirische, methodisch angeleitete und abgesicherte Forschungaufgehellt werden kann. Vor dem Hintergrund dieser alten Hoffnung stellt sich dann für vie-le (nur noch) die Frage, welche Methoden gut und welche schlecht sind. Diskutierte man nurlange genug über diese Frage und würde bei dieser Debatte nur das gute Argument zählen,so die Hoffnung weiter, dann würde am Ende die eine gute Methode (egal ob qualitativ oderquantitativ oder beides) und die Aufklärung der Wirklichkeit stehen. Das ist natürlich nureine Idee, genauer: eine Utopie. Und die eigentliche Frage ist, ob diese Idee wirklich trägt.

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Prof. Dr. Jo ReichertzKommunikationswissenschaft

Universität Duisburg-EssenUniversitätsstraße 12

[email protected]

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Soziale Welt 59 (2008), S. 137 – 140

Kommentar:

Eine Diskussion zur Integration quantitativ-qualitativer Ergebnisse

Von Monika Jungbauer-Gans

Worin bestehen die in der Überschrift des Aufsatzes von Marlen Schulz und Michael Ruddatgenannten »Gegensätze« zwischen qualitativen und quantitativen Methoden? Bettina Holl-stein und Carsten Ullrich (2003) haben die häufig gebrauchten Differenzierungen zwischenden Methodologien geprüft und festgestellt, dass lediglich vier Merkmale konstitutiv fürqualitative Forschung sind, die nicht auch mehr oder weniger häufig in Zusammenhang mitstandardisierten, quantifizierenden Verfahren gebracht werden. Diese Merkmale sind Sinn-verstehen als methodisch kontrolliertes Fremdverstehen, Kontextualität, Offenheit bei derErhebung und für den Forschungsgegenstand sowie interpretative, offene Auswertung.Möchte man qualitative und quantitative Forschungsergebnisse integrieren, sollte man sichGedanken darüber machen, welche Auswirkungen diese für qualitative Verfahren typischenMerkmale auf die Qualität und den Stellenwert der Forschungsergebnisse haben.

Wie werden die methodischen Probleme im Rahmen von qualitativen und quantitativenVerfahren gelöst, die sich hinter den vier grundlegenden Unterschieden verbergen? (1) Wäh-rend in standardisierten Untersuchungen die Sinnadäquanz durch die Entwicklung des Erhe-bungsinstruments, die Konstruktion und statistische Prüfung der Reliabilität und Validitätvon Skalen herzustellen versucht wird, sammelt man im qualitativen Verfahren zunächstTexte (Bilder, Informationen…), deren Sinn anschließend dechiffriert, in Kategorien trans-formiert und schließlich abstrahiert wird, z.B. durch die Konstruktion von Typologien oderdie Anwendung eines Kodierparadigmas, wie es die Grounded Theory vorschlägt und dasdie erarbeiteten Codes im Wesentlichen in einer Ursache-Wirkungslogik anordnet. (2) DieKontextualität bei der Erhebung und insbesondere bei der Auswertung wird bei qualitativenVerfahren immer bezogen auf den Einzelfall hergestellt. In standardisierten Verfahren stehthingegen nicht der singuläre Einzelfall, sondern die gesamte Stichprobe im Analysefokusund die Komplexität der Realität wird theoriegeleitet abgebildet in multivariaten Analyse-verfahren. (3) Das Kriterium der Offenheit spiegelt sich bei qualitativen Verfahren beispiels-weise in den wenig strukturierten Fragen, die an das soziale Feld gestellt werden, und derMöglichkeit, Fragestellungen und Analysefokus auch im Lauf der Erhebung zu differenzie-ren und in ihren Richtungen zu verändern. In standardisierten Verfahren muss – zumindestprinzipiell – von vorneherein an alle zu erhebenden Details gedacht werden, da eine mög-lichst vollständige Datenmatrix Voraussetzung für die Anwendung der statistischen Verfah-ren ist. Die Erfahrung im konkreten Forschungsalltag zeigt jedoch, dass vielfältige undinnovative Analysen mit vorhandenen Datensätzen (z.B. SOEP, ALLBUS, ESS …) gemachtwerden können, ohne dass die Primärforscher schon alle Fragestellungen antizipiert hatten.Sie zeigt auch, dass sich im Rahmen quantitativer Forschungen Fragestellungen ebenfallsverändern, wenn die Ergebnisse den ursprünglichen Erwartungen nicht entsprechen, die Da-tenquelle aber Weiterentwicklungen und die Prüfung neuer Hypothesen zulässt. (4) Die in-terpretative Auswertung qualitativer Daten erlaubt den Schluss, zumindest wenn siesorgfältig, d.h. »reliabel«, systematisch und mit dem Feld angemessener Kommunikations-kompetenz durchgeführt wurde, dass die erarbeiteten Kodierungen die subjektiven Sinnzu-schreibungen, die betrachteten sozialen Milieus oder das untersuchte soziale Handeln inadäquater Weise (»valide«) wiedergeben. Bei standardisierten Verfahren setzt die Interpreta-tionsarbeit teilweise früher im Forschungsprozess ein – wenn Befragte oder Beobachter diegestellten Fragen oder zu beobachtenden Sachverhalte interpretieren und eine aus ihrer Sichtangemessene Einstufung in die angegebenen Antwortmöglichkeiten vornehmen – teilweise

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aber auch später im Forschungsprozess –, wenn vorliegende Koeffizienten und Kennzahlenim Hinblick auf die Verhältnisse und Kausalzusammenhänge im sozialen Feld interpretiertwerden sollen.

Prinzipiell ist zu konstatieren, dass sowohl qualitative, wie auch quantitative Sozialfor-schung ähnliche Grundfragen lösen müssen, dies aber auf unterschiedliche Art und Weise er-reichen wollen. Beide verstehen sich als empirische Ansätze, d.h. Erfahrungen und darausgeneriertes Wissen spielt eine zentrale Rolle. Diese Daten müssen durch Kommunikationmit den Forschungssubjekten oder die Beobachtung von Verhaltensspuren erhoben und fürdie weitere Analyse aufbereitet werden. In beiden muss die Vielzahl an empirischen Detailsklassifiziert (d.h. kodiert) und damit vergleichbar gemacht werden. Ziel der Auswertungenist in der Regel die Abstraktion vom konkreten Einzelfall durch die Verallgemeinerung deruntersuchten Inhalte, die dann im Fall qualitativer Forschung die Gestalt von Typologien,dichten Beschreibungen von sozialen Milieus oder latenter Strukturen annehmen, in derstandardisierten Forschung als Kennwerte mehr oder weniger komplexe Muster beschreibenoder als Korrelations- und Regressionskoeffizienten bzw. Parameter Zusammenhänge oderProzesse quantifizierend beschreiben.

Dass quantitative und qualitative Methodologie und die damit erarbeiteten Forschungser-gebnisse oft unverbunden nebeneinander stehen, ist für Marlen Schulz und Michael RuddatAnlass, für eine Integration mittels Metaanalysen zu plädieren. Das Ansinnen, eine gangbareBrücke zwischen qualitativen und quantitativen Verfahren zu schlagen, ist sehr zu begrüßen,zumal eine in der Forschungspraxis umsetzbare Methodologie von großem Gewinn wäre.

Wie Metaanalysen, die beispielsweise in der klinischen Forschung verwendet werden, an-hand von statistischen Verfahren funktionieren, leitet sich recht unmittelbar aus der Logikderselben ab. Doch das ist nicht das Verfahren, das Schulz und Ruddat vorschlagen, selbstwenn sie den Begriff »gemeinsame Analyse unter quantitativer Logik« verwenden. Vielmehrwollen sie eine »skalierende Strukturierung« nach Mayring (2003) durchführen, die das Ma-terial auf einer Ordinalskala einschätzt. Quantifizierend daran ist, dass den Ergebnissen Zah-len zugewiesen werden. Als zusammenfassende Analyseverfahren werden dann univariateHäufigkeitsauszählungen und eine Schätzung der Varianz der Ergebnisse der zugrunde lie-genden Studien möglich. Als qualitatives Metaanalyse-Verfahren schlagen sie die Methodeder inhaltlichen Strukturierung nach Mayring (2003) vor, die themenrelevante Bestandteileder qualitativen und der quantitativen Studien extrahiert und systematisch zusammenfasst.Dass das zu analysierende Textmaterial nicht Primärtexte sind, sondern Forschungsberichte,wird dabei leider nicht problematisiert. Der Geltungsanspruch der mit einer derartigen Meta-analyse erzielten Ergebnisse kann nur sehr indirekt auf das ursprünglich untersuchte sozialeFeld zurückbezogen werden. Es stellt eher eine inhaltliche Analyse des wissenschaftlichenDiskurses zu der fraglichen Thematik dar.

Im zusammenfassenden Abschnitt stellen Schulz und Ruddat einen Entscheidungsbaumvor, der herleiten soll, ob man sich bei einer gemeinsamen Metaanalyse eher der quantitati-ven (Vorschlag 2) oder der qualitativen Logik (Vorschlag 3) bedienen sollte oder ob nachvorheriger getrennter Analyse quantitativer und qualitativer Befunde eine anschließende ge-meinsame Interpretation (Vorschlag 1) vorgenommen werden sollte. Kriterien für die Ent-scheidung für die Vorgehensweise bei der Metaanalyse ist die Gesamtzahl der zu integrie-renden Studien, das Verhältnis der Zahl qualitativer und quantitativer Studien und die Artder Fragestellung (ob eine »zweidimensionale, kausal ausgerichtete, geschlossene Fragestel-lung« oder eine »mehrdimensionale, komplexe, offene Fragestellung« vorliegt). Dieser Ent-scheidungsbaum weist einige gravierende logische Mängel auf. Ob unter der Bedingung,dass gleich viele qualitative und quantitative Studien einbezogen werden, eine geringe odereine große Zahl von Studien vorliegt, hat keine Auswirkungen auf die vorgeschlagenen Ver-

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Kommentar zu „Unvereinbare Gegensätze?“ 139

fahren, sie sind identisch. In vier von zwölf Konstellationen kann eine Wahl zwischen einergemeinsamen Analyse unter quantitativer Logik oder unter qualitativer Logik getroffen wer-den. Wenn das egal ist, wozu dient dann dieser Entscheidungsbaum? Vielleicht hat die An-ordnung der Vorschläge »2 oder 3« bzw. »3 oder 2« eine tiefere Bewandtnis dergestalt, dasszwei der drei Bedingungen für den einen oder den anderen Vorschlag sprechen? Sollte diesder Fall sein, dann hätte man die Reihungen im dritten und fünften Fall der zwölf Konstella-tionen genau umgekehrt notieren müssen. Und eine weitere Ungereimtheit steckt in der Ta-belle: Von der Logik der Anordnung her läge der Fall, dass gleich viele qualitative und quan-titative Studien einbezogen werden sollen, zwischen dem Fall, dass qualitative, und demFall, dass quantitative Studien überwiegen. Trotzdem wird für ein zahlenmäßiges Gleichge-wicht beider Studienarten ein grundlegend anderes Verfahren vorgeschlagen, nämlich diegetrennte Analyse mit anschließender gemeinsamer Interpretation, während die grundlegenddivergenten Varianten (mehr qualitative oder mehr quantitative Studien) mit im Prinzipgleichartigen Verfahren bedacht werden. Zu allem Überfluss hat man im Fall des Gleichge-wichts aber auch die Wahl, eine gemeinsame Analyse (je nach Konstellation qualitativeroder quantitativer Art) durchzuführen.

Wenn man über die Integration qualitativer und quantitativer Verfahren nachdenkt, solltenicht nur die Metaebene, sondern vor allem die einzelne Studie in den Blick genommen wer-den. Sinnvoll wäre es, sich »best practice«-Beispiele vorzunehmen und zu analysieren, wiehierbei qualitative und quantitative Methoden verzahnt werden, um triangulativ zu einemResümee zu kommen. Wenn verschiedene Vorgehensweisen der Verzahnung gefunden sind,können diese systematisiert und im Sinne einer weiteren Dimension von Designentscheidungin den Kanon der methodologischen Diskussionen aufgenommen werden. Unsystematischzusammengestellte Beispiele dafür sind: die Entwicklung von Skalen und Frage-Items auf-grund vorgeschalteter explorativer Studie mit offener Fragetechnik, die Überprüfung vonResultaten statistischer Schätzverfahren mit Hilfe von Experteninterviews, die die jeweiligesubjektive Perspektive von Akteuren im untersuchten Themenfeld analysieren (z.B. Xiao /Tsui 2007 mit einer Studie über die Karriereeffekte von ›structural holes‹ in den egozentrier-ten Netzwerken von Beschäftigten in chinesischen IT-Firmen unter der Bedingung einer kol-lektivistischen Kultur), oder die Kombination von lexikometrischer Analyse (Frequenzana-lyse, Kookkurrenzen) und Untersuchung narrativer Muster mit Methoden der Diskursanalyse(z.B. Glasze 2007 zur diskursiven Konstitution der Frankophonie).

Neue Möglichkeiten bieten auch Weiterentwicklungen der Analyseverfahren und der Ein-satz von Computerprogrammen für qualitative Analysen (z.B. Kuckartz 2006), die die Gren-ze zwischen qualitativen und quantitativen Verfahren zunehmend verschwimmen lassen. Einsolches Analyseverfahren ist die ›Qualitative Comparative Analysis‹ (Ragin 1987). Sie istgeeignet, ein zu erklärendes Phänomen als Ergebnis verschiedener Kombinationen vonMerkmalsbedingungen zu modellieren (Schneider 2006). Dabei kann einerseits eine kausaleAnalyselogik über das Vorliegen notwendiger oder hinreichender Bedingungen, wie sie fürdie quantitative Analyse typisch ist, und andererseits eine kleine Fallzahl, ein niedrigesMessniveau der Daten und das Vorhandensein von fallbasiertem Wissen, wie sie für qualita-tive Verfahren typisch sind, im Analyseprozess berücksichtigt werden. Ein weiteres Verfah-ren ist die Bayesianische Datenanalyse (Broscheid 2006), die subjektive Wahrscheinlich-keitseinschätzungen verwendet und auch für kleine Fallzahlen einsetzbar ist.

Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass der Weg der Metaanalyse zumindest in dervorgeschlagenen Weise wahrscheinlich nicht zum Ziel führen wird, qualitative und quantita-tive Ansätze stärker zu integrieren. Vielmehr soll hier dafür plädiert werden, auf der Ebeneder einzelnen Studie ein stärkeres Gewicht auf die Integration von qualitativen und quantita-tiven Methoden zu legen. In methodologischer Sicht gibt es noch einige Aufgaben, derenLösung eine Integration erleichtern wird. Positiv hervorzuheben ist jedoch, dass die Autoren

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einen weiteren Anstoß gegeben haben, über mögliche Lösungen zur Überwindung der ver-meintlichen (?) Kluft zwischen qualitativen und quantitativen Verfahren nachzudenken.

LiteraturBroscheid, A. (2006): Bayesianische Datenanalyse, in: J. Behnke / T. Gschwend / D. Schindler / K.-U.

Schnapp (Hrsg.), Methoden der Politikwissenschaft. Neuere qualitative und quantitative Analysever-fahren, Baden-Baden, S. 47-58.

Glasze , G. (2007): Vorschläge zur Operationalisierung der Diskurstheorie von Laclau und Mouffe in ei-ner Triangulation von lexikometrischen und interpretativen Methoden, in: Forum Qualitative Sozial-forschung 8, Mai 2007, abgerufen am 02.06.2008 unter http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/2-07/07-2-14-d.htm.

Hollstein, B. / U. Carstens (2003): Einheit trotz Vielfalt? Zum konstitutiven Kern qualitativer Sozialfor-schung, in: Soziologie 32, S. 29-43.

Kuckartz, U. (2006) Computergestützte qualitative Inhaltsanalyse, in: J. Behnke / T. Gschwend / D.Schindler / K.-U. Schnapp (Hrsg.), Methoden der Politikwissenschaft. Neuere qualitative und quanti-tative Analyseverfahren, Baden-Baden, S. 81-92.

Mayring, P. (2003) Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken, 8. Aufl., erstmals 1983, Wein-heim–Basel.

Schneider, C. Q. (2006): Qualitative Comparative Analysis and Fuzzy Sets, in: J. Behnke / T. Gschwend/ D. Schindler / K.-U. Schnapp (Hrsg.), Methoden der Politikwissenschaft. Neuere qualitative undquantitative Analyseverfahren, Baden-Baden, S. 273-286.

Ragin, C. C. (1987): The Comparative Method. Moving Behind Qualitative and Quantitative Strategies,Berkeley–Los Angeles.

Xiao, Z. / A. S. Tsui (2007): When Brokers May Not Work: The Cultural Contingency of Social Capitalin Chinese High-Tech Firms, in: Administrative Science Quarterly 52, S. 1-31.

Prof. Dr. Monika Jungbauer-GansChristian-Albrechts-Universität Kiel

Institut für SozialwissenschaftenWestring 400

24098 [email protected]

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Soziale Welt 59 (2008), S. 141 – 156

Das Leiden der Anderen:

Episodische Solidarität in der Weltgesellschaft

Von Boris Holzer

Zusammenfassung: Der vorliegende Beitrag geht davon aus, dass Kriterien für die „Sozialinte-gration“ der Weltgesellschaft weniger anspruchsvoll formuliert werden sollten, um der Besonder-heit dieses Sozialsystems Rechnung zu tragen. Als Alternative zu einer im engeren Sinne normati-ven Integration, die auf geteilte Überzeugungen und entsprechende Institutionalisierungenvertrauen muss, soll die kommunikative Integration durch die Fokussierung massenmedialer Auf-merksamkeit in Betracht gezogen werden. Am Beispiel der Tsunami-Katastrophe im IndischenOzean im Dezember 2004 zeigt der Aufsatz, wie ein solches Weltereignis zum Ausgangspunkt ei-ner „episodischen“ transnationalen Solidarität werden konnte. Charakteristisch für diese Form vonSolidarität ist eine anlassbezogene Aktivierung der universalistischen Hilfsprogramme internatio-naler humanitärer Organisationen, die ergänzt wird durch spontane und partikularistische Hilfe,die sich an vorhandenen sozialen Beziehungen orientiert.

Einleitung

Dass man sich auf die Hilfsbereitschaft der Menschen schon in überschaubaren Interaktions-situationen nicht immer verlassen kann, ist eine klassische These der Sozialpsychologie. Mitder Zahl der potentiellen Helfer sinkt die Wahrscheinlichkeit der Hilfe. Selbst dann, wennandere ersichtlich in Not sind, sorgt der „Zuschauereffekt“ dafür, dass man sich auf dieHilfshandlungen Dritter verlässt, die vielleicht näher am Geschehen sind oder besser dafürgerüstet (Darley / Latané 1968). Noch weniger selbstverständlich ist es, dass fremdes Leidüber größere Distanz hinweg Aufmerksamkeit oder gar Hilfsbereitschaft erregen sollte.Dementsprechend skeptisch lautet denn auch die Einschätzung von Jean-Jacques Rousseauzur Frage globaler Solidarität aus dem Jahr 1755: „Allem Anschein nach verdampft das Ge-fühl der Menschlichkeit und wird schwächer, indem es sich über die Erde ausdehnt, und esist uns nicht gegeben, von den Unglücksfällen bei den Tataren oder in Japan ebenso berührtzu werden, wie von dem, was einem europäischen Volk zustößt“ (zitiert nach Ritter 2004:44).

Im Folgenden soll dieser nüchternen, aber wohl realistischen Einschätzung globaler Soli-darität nicht grundsätzlich widersprochen werden. Gleichwohl möchte ich anhand eines Bei-spiels plausibel machen, inwiefern die Intensivierung weltweiter sozialer Beziehungen zuspontanen, auf konkrete Ereignisse reagierenden Formen solidarischen Handelns führenkann, ohne dass damit Ansprüche an eine ethisch anspruchsvolle, widerspruchsfreie und vorallem dauerhafte Solidarität verbunden sein müssten. Um dieses bescheidenere Modell „epi-sodischer“ Solidarität zu erläutern und seine Bedingungen zu beleuchten, diskutiere ich dasBeispiel der Tsunami-Katastrophe im Indischen Ozean im Jahr 2004. Anhand dieses Ereig-nisses lassen sich einige soziale Mechanismen aufzeigen, die zur nachträglichen Konstrukti-on und Inszenierung einer transnationalen Schicksalsgemeinschaft beigetragen haben. DerZusammenhang zwischen Extremsituationen und grenzüberschreitenden Schicksalsgemein-schaften wird oft betont (vgl. Baehr 2005). Er ist ein wichtiges Element der Theorie derWeltrisikogesellschaft, welche vor allem die potentielle Betroffenheit aller und die darausfolgende Antizipation einer „Schicksalsgemeinschaft“ herausstellt (vgl. zuletzt Beck 2007).Die Relevanz globaler Risiken soll nicht bestritten werden; sie soll hier vielmehr ergänztwerden durch die Analyse eines Beispiels tatsächlicher, aber selektiver Betroffenheit durcheine lokal begrenzte Naturkatastrophe.

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Daraus ergibt sich als Leitfrage für diese Untersuchung, wie ein räumlich begrenztes Er-eignis überhaupt „globale“ Betroffenheit durch entferntes Leiden herstellen kann und welcheFaktoren eine zu Solidarität führende Anteilnahme begünstigen. Mit der Antwort auf dieseFrage soll zugleich die These plausibel gemacht werden, dass episodische Solidarität als einder Weltgesellschaft angemessener Modus der Sozialintegration begriffen werden kann. Daszugrunde liegende Verständnis von Integration erläutere ich im folgenden Abschnitt, bevorich die Tsunami-Katastrophe als ein globales Medienereignis rekonstruiere. Die darauf fol-genden Abschnitte diskutieren, wie episodische Solidarität im Fall dieser Naturkatastropheals Effekt organisierter Hilfe und der massenmedialenn Realisierung einer „Schicksalsge-meinschaft“ rekonstruiert werden kann.

1. Weltgesellschaft und Sozialintegration: wie oder wann?

Ein soziologischer Begriff von Gesellschaft muss keine allzu hohen Ansprüche an die Inte-gration der damit bezeichneten sozialen Einheit stellen. Das gilt selbst dann, wenn man sichnicht mit einer über Handlungsketten oder Kommunikationsmedien vermittelten „Systemin-tegration“ bescheiden möchte und ein gewisses Maß an normativ verankerter „Sozialintegra-tion“ als notwendig erachtet.1 Keineswegs ist soziale Integration an vollständige Werthar-monie, umfassende Verständigungsbereitschaft oder gar das Fehlen von Konflikten geknüpft(Dubiel 1999). Dennoch konvergieren in der Frage der Sozialintegration zahlreiche Einwän-de gegen den Begriff der Weltgesellschaft. Nach Meinung vieler Beobachter klafft dort, woder klassische Gesellschaftsbegriff die „vorgestellte Gemeinschaft“ (Anderson 1983) desNationalstaats platziert, auf der globalen Ebene eine Lücke. Diese, so scheint es, hängt zumeinen eng zusammen mit der größeren Vielfalt und Widersprüchlichkeit – und damit gerin-geren Verlässlichkeit – von sozialen Normen. In Ermangelung eines Weltstaats kann man al-lenfalls darauf setzen, dass die Ansätze einer global governance das Fehlen eines einheitli-chen politisch-rechtlichen Rahmens kompensieren (Archer 2007). Zum anderen aber magauch diese Aussicht noch in der Hinsicht defizitär erscheinen, dass sie eine „kollektive Iden-tität“, ein der Nation entsprechendes „Wir-Gefühl“ kaum wird hervorbringen können. Derar-tige Einwände legen es nahe, von der Welt-„Gesellschaft“ nur in Anführungszeichen zusprechen. Ist die Weltgesellschaft, um es paradox zu formulieren, gar keine „richtige“ Ge-sellschaft (vgl. z.B. Altvater / Mahnkopf 1999)?

Man kann dem widersprechen, indem man das hier offensichtlich sehr anspruchsvoll an-gesetzte Niveau sozialer Integration realistischer justiert. Dafür reicht bereits der Hinweis,dass die Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft es durchaus erlaubt, mit ver-schiedenen Formen und Intensitätsstufen der Integration umzugehen. Zu entscheiden istdann, ob man einen gewissen Grad an Vergemeinschaftung als unerlässlich ansieht, um einSozialsystem als „Gesellschaft“ zu bezeichnen. Parsons wählte bekanntlich diese Option,und viele Theoretiker folgen ihm darin noch heute.2 Andererseits ist es möglich, den Gesell-schaftsbegriff von der Frage der Sozialintegration zu emanzipieren. Diese Lösung versuchteinsbesondere Luhmann (1992; 1997) stark zu machen. Doch die Strategie, analytisch alleinauf den „nicht-normativen Zusammenhalt der Weltgesellschaft“ abzustellen, neigt dazu, diefaktische Bedeutung normativer Strukturen auch und gerade in der Weltgesellschaft zu ge-ring zu veranschlagen (Stichweh 2004). Unterhalb des Niveaus einer kollektiv handlungsfä-

1) Zur Unterscheidung zwischen Sozial- und Systemintegration siehe Lockwood (1964) sowie, darananknüpfend, Münch (1995) und Peters (1993).

2) Am deutlichsten gilt dies vielleicht für Münch (2001), aber auch für Habermas (1998) – auch wennbeide insofern differenzierter argumentieren, als sie die Sozialintegration der Weltgesellschaft als„defizitär“ beurteilen, aber keineswegs völlig ausschließen. Zum Unterschied zwischen Parsons undLuhmann in dieser Frage siehe auch Stichweh (2005).

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higen Weltgemeinschaft gibt es verschiedenste soziale Bindungen und normative Strukturen,die nicht an den Grenzen einzelner Nationalstaaten Halt machen. Deutlich wird dies bei-spielsweise in der Frage der Menschenrechte, die oft als Kern einer „weltbürgerlichen“ Soli-darität gesehen werden (Beck 2004; Habermas 1998: 163ff). Allerdings handelt es sich umeine (noch) „schwache Integration der Weltbürgergesellschaft über negative Gefühlsreaktio-nen“ (Habermas 2004: 231).

Bei aller Skepsis gegenüber der in solchen Diagnosen noch durchscheinenden, klassischenVorstellung einer sozial integrierten Gesellschaft hat auch Luhmann mit der Idee einer Inte-gration der Weltgesellschaft experimentiert. Im Zusammenhang mit der Behandlung moder-ner Kommunikationstechnologien spekuliert er etwa, die Weltgesellschaft finde den zu ihrpassenden Modus der Integration nicht in einem Wertkonsens, sondern in der Herstellungvon Gleichzeitigkeit durch die Massenmedien. Das spontane und synchrone Miterleben ent-fernter Ereignisse schaffe die Grundlage für eine „Sofort-Integration“ der Weltgesellschaft(Luhmann 1981: 318). Den Ausgangspunkt einer kommunikativen Integration verortet er inder „Herstellung einer gemeinsamen Aktualität“ und in einem daraus abgeleiteten „Gefühldes Dabeiseins“. Natürlich gilt dies nicht zu jedem Zeitpunkt und für jedes Thema. DieseIdee muss daher in der Richtung weiterentwickelt werden, dass es eine spezielle Gattung vonEreignissen gibt, die für ein globales Publikum relevant sind (oder relevant gemacht wer-den). Erst solche „Weltereignisse“ sind geeignet, zu Vehikeln einer „Sofort-Integration“ zuwerden. Dieses zunächst am Vorbild von Weltmeisterschaften und anderen Veranstaltungengeschulte Modell lässt sich erweitern um Ereignisse, die globale Relevanz nicht durch dengeplanten Einbezug eines großen Teilnehmerkreises gewinnen, sondern dadurch, dass sie einPublikum plötzlich und spontan konstituieren.

Als „Weltereignisse“ bzw. world events firmieren in der Alltagssprache Veranstaltungen,die auf ein weltweites Publikum abzielen, wie zum Beispiel Fußball-Weltmeisterschaftenund Olympische Spiele, Weltausstellungen oder auch UN-Vollversammlungen.3 Ihnen istgemeinsam, dass sie ihre globale Relevanz entweder aus einem repräsentativen, internationa-len Teilnehmerkreis ableiten oder aber aus dem Anspruch, besondere Höchstleistungsni-veaus eines bestimmten Sachbereichs zu definieren. Man kann derartige Veranstaltungencharakterisieren als „Inszenierungen von Welt in einem räumlich und temporal begrenztenEreignis, das aber wiederholbar und vielleicht auch örtlich verschiebbar ist“ (Stichweh 2001:5); in ihnen vollzieht sich ein „Erleben von Welt durch transnationale Teilnehmer undschließlich auch Zuschauerkonfigurationen“ (ebd.). Die meisten dieser Ereignisse haben ei-nen engen Bezug zu einem bestimmten gesellschaftlichen Teilsystem, zum Beispiel zumSport oder zur Politik. Jene Weltereignisse, die sich nicht unmittelbar am Schema funktiona-ler Differenzierung orientieren, wie zum Beispiel die Weltausstellungen, scheinen demge-genüber immer mehr Schwierigkeiten zu haben, ihren Stellenwert zu behaupten (vgl. Wege-ner 2008).

Diesem aktuellen Verständnis von Weltereignissen, das sich stark von den Gesichtspunk-ten der massenmedialen Aufmerksamkeit und der funktionsspezifischen Bewertungskriterienleiten lässt, steht eine Tradition gegenüber, die den Begriff etwas weiter fasst. Seit dem 18.Jahrhundert ist im deutschsprachigem Raum die Rede von Weltereignissen bzw. „Weltbege-benheiten“, doch waren damit vor allem natürliche Ereignisse wie Überschwemmungen,Erdbeben und Vulkanausbrüche und „historisch-politisch-moralische Ereigniszusammen-hänge“ wie die französische Revolution gemeint (Stichweh 2008). Offensichtlich handelt essich hier um Vorgänge, die nicht im Hinblick auf globale Bedeutsamkeit geplant und ent-worfen worden waren, sondern vielmehr nachträglich so interpretiert wurden. Demgegen-

3) Siehe zu einigen dieser Beispiele die Beiträge in Nacke et al. (2008).

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über zeichnet die späteren, heute meist im Fokus stehenden Weltereignisse ihre „reflexiveIdentifikation“ aus (ebd.): Sie schreiben sich Weltbedeutsamkeit selbst zu, indem sie ent-sprechend geplant werden. Dies beruht auf zwei komplementären Teilnahme- bzw. Inklusi-onsprofilen: Zum einen wird ein ausgewählter oder repräsentativer Kreis von Leistungs-trägern herangezogen (beispielsweise Regierungschefs, Hochleistungssportler oderherausragende Wissenschaftler); zum anderen wird neben einem nicht immer vorhandenenlokalen Interaktionspublikum ein globales Massenmedienpublikum vorausgesetzt, das sichprinzipiell und mehr oder weniger in Echtzeit über das Ereignis informieren kann.

Verschiedene Gründe kommen dafür in Frage, dass ein Ereignis die Aufmerksamkeit ei-nes größeren oder sogar globalen Publikums auf sich ziehen kann. Zum einen mag das Er-eignis eine deutliche Diskontinuität, einen Umbruch markieren. Dies dürfte sowohl für großeNaturkatastrophen als auch für politisch-historische Einschnitte gelten, wobei letztere mitun-ter erst mit einiger Verspätung als Weltereignisse registriert werden. Derartige Umbrüche,ob natürlichen oder sozialen Ursprungs, sind jedoch ungeplant. Davon zu unterscheiden sinddie zuvor genannten geplanten Weltereignisse sowie solche, die durch massenmediale Insze-nierung entstehen. Stichweh (2008) argumentiert, dass sich unter der Regie der modernenVerbreitungsmedien der Schwerpunkt auf diese von der Gesellschaft „selbsterzeugten“Weltereignisse verschoben hat. Das ist insofern sicherlich richtig, als auch Naturkatastro-phen, wie wir am Beispiel der Tsunami-Katastrophe noch sehen werden, nicht mehr ohneMithilfe der Massenmedien als „Weltereignisse“ vorstellbar sind.

Die Massenmedien tragen insbesondere dazu bei, dass so etwas wie soziale Inklusivitätauch über größere Distanzen überhaupt möglich ist. Denn die Relevanz eines Ereignisses al-lein kann nicht sicherstellen, dass eine größere Zahl an Personen (und sei es nur als Beob-achter) auch an ihm teilnehmen kann. Um sich als Thema der Massenmedien gegenüber kon-kurrierenden Themen behaupten zu können, muss ein Weltereignis darüber hinausAlleinstellungsmerkmale und vor allem eine gewisse Neuheit besitzen. Es handelt sich abernicht einfach um erfolgreiche Themen der Massenmedien. Weltereignisse zeichnen sich viel-mehr dadurch aus, dass sie Weltgesellschaft auf eine bestimmte Weise „erfahrbar“ machen,indem sie auf Symbolisierungen der Weltgesellschaft zurückgreifen oder neue entwickeln:Die Olympischen Spiele oder Fußballweltmeisterschaften zum Beispiel versuchen, Weltge-sellschaft durch die Teilnahme aller oder möglichst vieler Nationen an einem Wettkampf zurepräsentieren, was dann in Formeln wie der „Jugend der Welt“ seinen Niederschlag findet.Für eine begrenzte Zeit wird die Weltgesellschaft – oder ein „sportlicher“ Ausschnitt davon– interaktiv realisiert, indem spezifisch kosmopolitische Situationen geschaffen werden. Oftist hier weniger die Einheit des Gesellschaftssystems als vielmehr die demonstrative Ver-sammlung von Vielfalt das Kriterium einer gelungenen Symbolisierung. Es ist jedoch häufigein funktionsspezifischer Ausschnitt, der diese Vorstellung trägt: Sportler, Politiker oderWissenschaftler aus allen Teilen der Welt kommen ja gerade unter den Vorzeichen eines be-stimmten Handlungsprogramms zusammen, das zum Beispiel die Kür der „Besten“ oder„Mächtigsten“ erlaubt.

Dies gilt nicht für den Fall der Naturkatastrophe. In der Konfrontation mit der Naturgewaltliegt es nahe, dass nicht lediglich die Systemreferenzen einzelner Teilsysteme, sondern dieSystemreferenz Gesellschaft zur Debatte steht. Ein Weltereignis dieser Art könnte deshalbfür die Suche nach Integrationseffekten fruchtbarer sein, da das „Gefühl des Dabeiseins“nicht von vornherein bereichsspezifisch und damit selektiv ist. Sofern ein solches Ereigniskommunikative Integration erzeugt, ist diese in dem bereits erwähnten Sinne „schwach“,dass sie reaktiv ist. Doch sie hat die Chance, die Gesellschaft als solche zu betreffen, da sienicht auf ein bereits unter Funktionsgesichtspunkten fokussiertes Publikum beschränkt ist.Diese These soll im Folgenden anhand eines jüngeren, global rezipierten Naturereignisses –der Tsunami-Katastrophe im Jahr 2004 – geprüft werden.

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2. Die Tsunami-Katastrophe als ein globales Medienereignis

Das Seebeben, das am 26. Dezember 2004 den Indischen Ozean erschütterte, entwickeltesich in kürzester Zeit zu einem Medienthema, das weit über die betroffene Region hinausund über mehrere Wochen hinweg mit großer Aufmerksamkeit verfolgt wurde.4 Bereits dasAusmaß der Katastrophe machte eine regionale Eingrenzung schwierig: Das Epizentrum lagvor der Nordwestküste Sumatras und verursachte durch seine Flutwellen verheerende Schä-den in den südostasiatischen Küstenregionen am Golf von Bengalen und an der Andamanen-see. Doch auch an der Küste Ostafrikas kamen Menschen ums Leben. Insgesamt starbennach einer jüngeren Zählung 297.248 Menschen – mehr als jemals zuvor bei einem Tsunami.Hunderttausende wurden verletzt, 50.000 Personen bleiben vermisst, und mehr als 1 Millionwurden obdachlos (NGDC 2008). Unter den Betroffenen befanden sich zahlreiche Einheimi-sche, aber auch viele Reisende, die sich über die Weihnachtstage in der Region aufgehaltenhatten. Die Massenmedien weltweit berichteten über mehrere Wochen hinweg intensiv überdie Flutwelle, ihre Folgen und die sich anschließenden Rettungs- und Hilfsaktionen.

Die sozialen Erschütterungswellen des Seebebens reichten weit. Das erklärt sich zunächstaus der grenzüberschreitenden Betroffenheit. Sie erstreckte sich auf Bewohner der Küstenab-schnitte in den Anrainerstaaten des Indischen Ozeans, aber auch auf zahlreiche Touristenund deren Herkunftsländer. Anhand ihrer Schicksale und der internationalen Hilfsaktionenberichteten die Massenmedien so intensiv, dass die Katastrophe zu einem global diskutiertenund kenntnispflichtigen Thema wurde. Für einige Tage faszinierte sie eine thematisch fokus-sierte Weltöffentlichkeit (Beck / Sznaider 2006: 11). Freilich überstieg die Zahl der Zu-schauer die nicht geringe Zahl direkt Betroffener erheblich – Zuschauer, die weder selbst be-troffen waren noch durch räumliche Nähe zu den Betroffenen zur Beobachtung derEreignisse besonders motiviert waren.

Von der Tsunami-Katastrophe waren die meisten Zuschauer trotz der enorm hohen Zahlder Toten, Verletzten und Vermissten nicht betroffen. Aber gleichzeitig befanden sich Tou-risten aus vielen Ländern unter den Opfern. Viele potentielle Zuschauer waren deshalb ver-mittelt über persönliche Beziehungen und die eigene Staatsangehörigkeit „betroffen“. Odersie konnten sich zumindest vorstellen, selbst zu den Betroffenen zu gehören. Die große Re-sonanz auf das Seebeben, die sich von jener auf vergleichbare Ereignisse wie das Erdbebenim iranischen Bam (2003) abhebt, wird nur vor dem Hintergrund dieser, durch die intensiveEinbindung der Region in den globalen Tourismus hergestellten Verbindungen verständlich.Erst dadurch wurde es möglich, der Katastrophe das für die massenmediale Aufbereitung desThemas unerlässliche „persönliche Gesicht“ zu geben. Nachrichtenwerte wie Aktualität, Au-ßeralltäglichkeit, markante Diskontinuität, große und sich ständig verändernde Zahlen (vonToten und Verwundeten) bot das Ereignis ohnehin, doch Touristen und ihre Erfahrungsbe-richte sorgten darüber hinaus für die Verknüpfung mit handelnden Personen und einen zu-mindest indirekten lokalen Bezug. Dieser wurde erleichtert durch die Tatsache, dass Augen-zeugenberichte und Amateurvideos sehr schnell im Internet verfügbar gemacht wurden, sodass die Massenmedien und Einzelpersonen darauf zugreifen konnten5.

Die Globalität der Publikumsreaktion wird deutlicher, wenn man sie mit einer Katastrophevergleicht, die sich ziemlich genau 250 Jahre vorher im Westen Europas ereignet hatte: demErdbeben von Lissabon. Dieses „Weltereignis“ (Weinrich 1986) war freilich eine primär eu-ropäische Angelegenheit. Nur dort konnte das Ereignis genug Wirkung entfalten, um der zu

4) Die folgenden beiden Abschnitte greifen zurück auf eine frühere Interpretation der Tsunami-Kata-strophe als „Weltereignis“ (Holzer 2008).

5) Zu diesen und einigen weiteren häufig diskutierten Selektionskriterien der Massenmedien siehe Wil-ke (1984: Kap. 4) und Luhmann (1996: Kap. 5).

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dieser Zeit eher schwach entwickelten europäischen Öffentlichkeit zu einer kurzzeitigenBlüte zu verhelfen (Araujo 2006).6 Gleichwohl blieb „Europas Schrecken“ (Löffler 1999)wohl auf spezifische Personengruppen beschränkt. Die Nachricht vom Erdbeben in Lissabonwurde in den über Handelsbeziehungen verbundenen europäischen Städten mit besondererBesorgnis aufgenommen, weil dort die Familien und Freunde von Kaufleuten um derenWohlergehen fürchteten (Günther 1994: 13f; Eifert 2002: 649ff). Doch auch diese musstenzum Teil lange warten, ehe sie über das Ausmaß der Katastrophe und das Schicksal der Be-troffenen informiert wurden. Es dauerte acht bis zehn Tage, bis die Zerstörung Lissabons imMittelmeerraum bekannt wurde, und zwei Wochen bis einen Monat, bis die Nachricht auchLondon, Paris und Hamburg erreichte (Eifert 2002: 649).

Im Vergleich zum Erdbeben von Lissabon traf die Tsunami-Katastrophe auf ein geogra-phisch weiter verstreutes Publikum, das über die Reiserouten des globalen Tourismus jedochstark mit der Region verbunden war und die Ereignisse in den Massenmedien und im Inter-net zeitgleich verfolgen konnte. Bereits wenige Minuten nach dem Tsunami konnte man bei-spielsweise auf der Website des U.S. Geological Survey Earthquake Hazards Program dieseund alle anderen weltweiten seismischen Aktivitäten nachvollziehen.7 Und innerhalb weni-ger Stunden waren die ersten Videofilme von Augenzeugen im Internet und im Fernsehen zubesichtigen.

Die kommunikativen Folgen dieses Ereignisses fielen demgemäß, anders als im Jahr 1755,eher im Bereich des Populären als in Form von Neujustierungen theologischer oder wissen-schaftlicher Argumente an. Das Erdbeben von Lissabon gilt nach wie vor als eine Zäsur dereuropäischen Geistesgeschichte (Breidert 1994; Günther 2005). Selbstverständlich inspirier-te auch die Tsunami-Katastrophe religiöse Deutungen und die Weiterentwicklung wissen-schaftlicher Theorien. Doch es gab keinen Anlass zu einer grundlegenden Revision – wederaus christlicher Sicht (Pell 2005) noch aus islamischer (Kraus 2006). Und schon gar nichtwurden die Geologie, Seismologie und andere Wissenschaften wesentlich irritiert; sie fandeneher eine günstige Gelegenheit vor, Daten für die Prüfung und Verfeinerung ihrer Modellezu sammeln. Die komplexeren, von einzelnen Umweltereignissen unabhängigeren Program-me ausdifferenzierter Funktionssysteme machten es einerseits unwahrscheinlich, dass dasSeebeben im Jahr 2004 ähnliche semantische Erschütterungen auslösen würde wie jenes von1755; andererseits markierten sie Ansatzpunkte für eine sehr vielfältige, aber eben auch starkdifferenzierte Auseinandersetzung mit dem Ereignis.

Anders war es um die Anschlussmöglichkeiten des Publikums bestellt: Für die Konsumen-ten massenmedial verbreiteter Katastrophen klaffen die Anlässe, fremdes Leiden aus derDistanz zu erleben, und die Möglichkeiten, darauf handelnd zu reagieren, auseinander. Esbesteht praktisch keine Gelegenheit, die vom Schicksal Gebeutelten nicht nur zu bemitlei-den, sondern ihnen auch zu helfen. In einer Analyse der Anteilnahme an fremdem Leidenvermutet Boltanski (1999) daher, Mitleid auf Distanz resultiere häufiger im wortreichen Be-klagen der Missstände (pity) als in tätigem Erbarmen (compassion), das die Möglichkeit di-rekter Interaktion zwischen Opfer und Helfer voraussetzen würde. Selbst wenn sich, wie imFall der Tsunami-Katastrophe, soziale Verbindungen zwischen Opfern und Zuschauern kon-struieren lassen, ergibt dies noch keine solide Grundlage für eine Solidaritätsgemeinschaft.Die Konstellation des distanzierten Erlebens des Leidens Anderer ist insofern problematisch,als das „Spektakel des Unglücks“ keine Reziprozität herstellt: Die Mittel, mit denen fremdesLeid in weit entfernte Wohnzimmer übertragen wird, sind nicht dieselben, mit denen ihm ab-

6) Zur Rezeption des Erdbebens von 1755 in einzelnen europäischen Ländern siehe neben Löffler(1999) auch Adamo (2006) und D'Haen (2006) sowie die Beiträge in Braun / Radner (2005).

7) Siehe http://earthquake.usgs.gov/.

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geholfen werden könnte (ebd.: 17). Auf das Leiden, das anhand einzelner Opfergeschichtenoder aggregierter Opferzahlen repräsentiert wird, kann nicht direkt reagiert werden – zumin-dest nicht über dieselben Mitteilungskanäle.

Anstelle von materieller persönlicher Hilfeleistung kommen daher nur vermittelte Formendes Helfens in Frage: die reine Mitteilung des Mitleids oder die Zahlung, die es Intermediä-ren ermöglicht, Hilfe zu leisten (ebd.: 17ff). Die zweite Form scheint einem modernen Mo-dus der Solidarität zu entsprechen, der nicht mehr auf Reziprozität gegründet ist. Doch Bol-tanski argumentiert, dass das „Nur-Darüber-Sprechen“ nicht unterschätzt werden sollte. Eskann aufgefasst werden als Performanz eines Engagements, das in tätiger Hilfe sich nichtmehr äußern kann – oder dies vielleicht auch gar nicht mehr zu tun braucht. Denn diese Leis-tung von Solidarität wird im großen Maßstab und erst recht über große Distanzen hinwegvon Organisationen erbracht. Was dies im konkreten Fall hieß, möchte ich kurz erläutern,bevor ich auf die Rolle kommunizierten Mitleids eingehen werde.

3. Organisierte Hilfe: die Solidarität der Zahlen

Es gehört zu den Konstanten der Gesellschaftsgeschichte, dass die Bewältigung von Naturka-tastrophen als Gelegenheit zu „solidarischem“ Handeln begriffen wird. In archaischen Gesell-schaften nimmt dies die Form spezifischer Normen an, die beispielsweise zur nachbarschaft-lichen Hilfe innerhalb einer Dorfgemeinschaft verpflichten (vgl. Schmitz 2004; Scott 1976).In rangmäßig differenzierten Gesellschaften variieren die Erwartungen, wer wem zu helfenhat, nach Maßgabe der gesellschaftlichen Stellung; Solidarpflichten bleiben insofern zentral,als sie – zum Beispiel in Form von Patron-Klienten-Beziehungen – die ungleiche Verteilungvon Einfluss und Gütern balancieren. Die moderne Gesellschaft dagegen verlässt sich weitge-hend auf wohlfahrtsstaatliche Organisationen, die über Steuern, Versicherungsprämie oderSpenden finanziert werden, anstatt Solidarerwartungen an konkrete Personen zu richten.

So auch im Fall des Seebebens von 2004: Internationale humanitäre Organisationen sorg-ten dafür, dass die Katastrophe nicht nur zur neugierigen Betrachtung animierte und erlebendkonsumiert wurde, sondern auch „solidarisches“ Handeln veranlasste. Auf den ersten Blickfolgten die internationalen Hilfsaktionen nach dem Seebeben dem modernen Muster des„Helfens“, das auf organisierte statt auf persönliche Solidarität setzt (vgl. zum FolgendenLuhmann 1975): Auf die Motivationskraft unmittelbarer Reziprozität ist in der modernenGesellschaft kein Verlass mehr, da sich die Lebens- und damit auch die Notlagen zu sehr di-versifiziert haben. Es ist daher nicht damit zu rechnen, dass jemand schon allein deshalbhilft, weil er selbst einmal in die gleiche Lage geraten könnte. Durch Organisation werdenjedoch sowohl die routinemäßige Sozial- und Entwicklungshilfe als auch die außeralltägli-che Katastrophenhilfe unabhängig von individuellen Entscheidungen. Die Frage, ob manHilfe erhält, hängt dann ab von entsprechenden Hilfsprogrammen. Das gilt innerhalb natio-nalstaatlicher Grenzen ebenso wie über sie hinweg. Im ersten Fall stehen Sozialhilfe und Ka-tastrophenschutz zur Verfügung, im letzteren die Entwicklungszusammenarbeit (die frühereinmal „Entwicklungshilfe“ hieß) sowie die vom Internationalen Roten Kreuz und andereninternationalen Organisationen koordinierten humanitären Hilfsaktionen.

Organisierte Hilfe zeichnet sich dadurch aus, dass sie den Bedarfsfall in Form entspre-chender Programme antizipiert. Deren offizieller „Zweck“ ist es natürlich, Unterstützungund Linderung in Notlagen bereitzustellen. Dies darf allerdings nicht so verstanden werden,als könnten Organisationen mithilfe eines Zweckprogramms „Hilfe“ ihre Arbeit strukturie-ren.8 Dazu gibt es meist zu viele, manchmal aber auch zu wenige Anlässe zu helfen. Bestün-

8) Zur Unterscheidung zwischen Zweck- und Konditionalprogrammen in formalen Organisationen sie-he Luhmann (1964; 1968).

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de die einzige Festlegung darin, möglichst umfassende „Hilfe“ zu leisten, wären Hilfsorgani-sationen mal mit der Selektion, mal mit der Suche nach entsprechenden Anlässenbeschäftigt, weniger aber mit der Bereitstellung von Hilfeleistungen. Tatsächlich orientierensich Hilfsorganisationen denn auch weniger an dem wenig informativen Zweckprogramm,Not generell zu lindern, als an Konditionalprogrammen, welche die Auslösebedingungen fürhelfendes Handeln festlegen. Die Hilfsarbeit wird technisiert, die Entscheidung über Hilfsak-tionen zentralisierbar und somit die Kontrolle über die Handlungsmöglichkeiten der Organi-sationen deutlich gesteigert. Allerdings treten zugleich die Perspektiven der Organisationund ihrer gesellschaftlichen Umwelt auseinander: Das Zweckdenken bestimmt die Ansprü-che an die Hilfsorganisation und oft auch das Selbstverständnis der Mitglieder, während diefaktischen Entscheidungen sich an den Konditionalprogrammen orientieren.

Im Zuge der Tsunami-Hilfe trat das Missverhältnis zwischen einer zweckorientierten Au-ßenwahrnehmung und einer bedingungsgesteuerten Organisationswirklichkeit ungewöhnlichoffen zutage. Die zahlreichen Medienberichte führten zu einer enormen Menge an Spenden-geldern. Doch einige Hilfsorganisationen sahen sich außerstande, die gespendeten Beträgeauszugeben, weil viele Mittel spezifisch für die Flutkatastrophe gespendet und somit nur ineinem engen Rahmen einsetzbar waren. Hilfsorganisationen wie Médecins Sans Frontières(MSF) hatten aber Schwierigkeiten, entsprechende Anlässe für konkrete Hilfsprojekte zuidentifizieren – und rieten schließlich, auf weitere Spenden für die Krisenregion ganz zu ver-zichten. Insgesamt hatten MSF beispielsweise bis zur Mitte des Jahres 2005 nur 6,88 Prozentihres Tsunami-Budgets verbraucht. Das hatte, auch wenn viele Beobachter dies aufgrund desgerade erst begonnenen Aufbaus in den betroffenen Gebieten nicht recht verstanden, guteGründe: So konnten MSF von einer Spende der Popgruppe Die Toten Hosen über mehr als100.000 Euro nur einen Bruchteil – nämlich 7.000 Euro – in Projekte umsetzen. Schon die-ser Betrag reicht allerdings aus, um einer Krankenschwester in Banda Aceh vier Jahre langihren Lohn zu bezahlen (Luyken 2005).

Da allein in Deutschland etwa eine Milliarde Euro aus staatlichen und privaten Quellenzusammenkamen und weltweit sogar über zehn Milliarden Euro teilweise ausbezahlt, teil-weise in Aussicht gestellt wurden (Telford / Cosgrave 2007), waren die Schwierigkeiten,diese Mittel in Hilfsprojekte umzusetzen, nicht überraschend. Das große Spendenaufkom-men nach der Tsunami-Katastrophe trug Züge eines „kompetitiven Humanitarismus“ (Stirrat2006). In einer Art „Olympiade der Barmherzigkeit“ wurden sowohl die erreichten Spenden-niveaus der verschiedenen Kampagnen als auch die Beiträge einzelner Länder immer wiedermiteinander verglichen (Eberwein 2005). Im Interpretationsrahmen der Massenmedienkonnte dies zunächst als Beleg für die große Anteilnahme gewertet werden; für die beteilig-ten Hilfsorganisationen bedeutete es aber eine Irritation ihres ansonsten anlassbezogenenVorgehens. Die Hilfsorganisationen sind angesichts eines solchen Mittelzuflusses schlichtüberfordert. Ihr Problem besteht darin, ausreichend Probleme zu finden, auf die ihre Lösun-gen – technische und finanzielle Unterstützung – überhaupt passen (Ferguson 1990: 70; vgl.auch Hanke 1996). Mittel- und langfristig ist dies in aller Regel möglich, doch nicht inner-halb des recht kurzen Zeithorizonts humanitärer Hilfe. Dies gilt insbesondere dann, wenn dieSpendenaufrufe und -entscheidungen nicht auf einer genauen Analyse des Bedarfs vor Ortberuhen (vgl. Telford / Cosgrave 2007: 4f).

Vor diesem Hintergrund ist es interessant, dass die Tsunami-Katastrophe auch eine Viel-zahl unabhängiger Hilfsprojekte auf den Plan rief. Neben einschlägigen Erfahrungen mit derSchwerfälligkeit und Gesichtslosigkeit großer Hilfsprojekte trug die vermittelte Betroffen-heit einer großen Anzahl von Personen dazu bei, dass spontane und teilweise sehr spezifi-sche Hilfsprojekte einen Boom erlebten. Unterstützt durch die Fernsehauftritte von Promi-nenten, die teilweise selbst in der Region im Weihnachtsurlaub gewesen waren, und durchdie Informationsdiffusion über das Internet – insbesondere in Diskussionsforen und Weblogs

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– konnten auch kleinere Projekte effizient Spendengelder sammeln und diese relativ schnellin den Wiederaufbau oder in die finanzielle Unterstützung der lokalen Bevölkerung investie-ren.9 Auch wenn der Großteil der Katastrophen- und Aufbauhilfe in den Händen von Organi-sationen lag, kann man an derartigen Projekten ablesen, dass die durch Reziprozität oder ge-sellschaftlichen Status motivierte Hilfe immer noch Anziehungskraft besitzt – und sei es nurals Korrektiv der Selbstüberlastung der organisierten Hilfe durch ihren eigenen (Spenden-)Erfolg.

4. Die massenmediale und interaktive Realisierung einer Schicksalsgemeinschaft

Die Spenden- und Hilfsbereitschaft im Anschluss an die Tsunami-Katastrophe zeigt das be-sondere Spannungsfeld, in dem sich die Aufmerksamkeit für das Leiden der Anderen entfal-tete: die universalistisch ausgelegten, aber routinierten Hilfsprogramme formaler Organisati-onen auf der einen Seite und die eher partikularistischen, spontan auf die Situationreagierenden „Parallelaktionen“ von Einzelpersonen auf der anderen. Der Zusammenhangzwischen diesen beiden Phänomenen wird deutlicher, wenn wir die Art und Weise, wie überFragen von Hilfe und Solidarität kommuniziert wurde, in den Blick nehmen. Dazu möchteich im Folgenden anhand ausgewählter Gesichtspunkte auf verschiedene Foren der Kommu-nikation über die Folgen des Seebebens eingehen: die journalistische Berichterstattung unddie Verbreitung von Nachrichten und Augenzeugenberichten über das Internet.

Anhand der Berichterstattung in Tageszeitungen lässt sich gut nachvollziehen, wie sichdie Weltöffentlichkeit für einen begrenzten Zeitraum dem Thema zuwandte. Dazu wurdenBerichte über die Katastrophe und ihre Folgen in vier Tageszeitungen aus Asien, Europa undNordamerika herangezogen: Süddeutsche Zeitung, New York Times, Bangkok Post (Thai-land), Straits Times (Singapur) und The Statesman (Indien). Wie Abbildung 1 anhand derkumulierten Länge der Berichte pro Tag zeigt, wurde die Katastrophe innerhalb wenigerTage zu einem prominenten Thema. Der überregionale Höhepunkt der Aufmerksamkeit inden vier Zeitungen wurde am 8. Januar 2005 erreicht, aber trotz einiger Schwankungen bliebdas Ereignis durchgängig bis zum 16. Januar in der Berichterstattung präsent.

9) Ein Beispiel für ein solches Hilfsprojekt ist die unter anderem von der Schauspielerin Natalie Wörnerinitiierte „Tsunami-Direkthilfe“. In der Selbstdarstellung des Projekts wird erneut die Bedeutung desinternationalen Tourismus für diese Form der Hilfe deutlich, wenn es dort über die Verantwortlichenheißt: „Wir sind […] vier Menschen, die sich zufällig im Urlaub in Südostasien getroffen haben“. Sie-he http://www.tsunami-direkthilfe.de (Zugriff am 05.01.2007).

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Abbildung 1: Tsunami-Berichterstattung in vier Tageszeitungen

Schon aufgrund der weihnachtlichen Feiertage waren die Printmedien jedoch nur eine be-schränkt ergiebige Quelle für Informationen über das Seebeben. Und auch die Fernsehbe-richterstattung hatte zumindest dort mit Problemen zu kämpfen, wo Korrespondenten nochnicht vor Ort waren. Das Internet wurde darum zu einer wichtigen Informationsquelle wäh-rend der Tsunami-Katastrophe. Das galt für besorgte Angehörige, die sich so beispielsweiseüber die Verletztenlisten der Krankenhäuser informierten konnten, aber auch für andere inte-ressierte Beobachter. Diese konnten zurückgreifen auf zahlreiche „Blogs“, im Internet ge-führte Journale, in denen Augenzeugen von ihren Erfahrungen berichteten. Schneller als dieTageszeitungen, in manchen Fällen sogar schneller als die Fernsehsender, konnten Blogsüber das Geschehen vor Ort berichten. Die Bedeutung der Tsunami-Katastrophe zeigt sichdarin, dass innerhalb weniger Tage fast vier Prozent aller Blogs weltweit mit dem Thema be-fasst waren – eine thematische Fokussierung, die in der großen und differenzierten „Blogo-sphere“ sehr selten ist.10

Für den Zusammenhang zwischen Katastrophe und Solidarität ist natürlich nicht nur dieZahl der Berichte interessant, sondern auch wie berichtet wurde. Jene Berichte, die nicht le-diglich Opferzahlen registrieren oder geophysikalische Zusammenhänge erläutern, folgen inder Mehrzahl einem gemeinsamen Narrativ: Sie stellen das Seebeben als ein Ereignis dar,das die Normalität des Alltagslebens (der Einheimischen wie der Touristen) jäh unterbricht.Dies bezieht sich einmal auf das unmittelbare Katastrophengeschehen, das anhand von Au-genzeugenberichten veranschaulicht werden kann. Zum anderen betrifft es die Auswirkungenfür einzelne Regionen, Personengruppen oder Individuen, was die Bestandsaufnahme vonSchäden sowie die Bergung von Opfern und die Hilfe für Überlebende einschließt. In diesenSchritten wird eine mehr oder wenige idyllische Urlaubswelt transformiert in ein Katastro-

10) Siehe für entsprechende Statistiken http://tsunami.blogpulse.com; oft aufgerufen wurden Blogs wiehttp://tsunamihelp.blogspot.com (mit Informationen einer Autorengruppe) und verschiedene Augen-zeugenberichte, wie zum Beispiel http://travelsandtrips.blogspot.com/2004/12/tsunami-christ-mas.html (Zugriffe am 30.03.2008).

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phengebiet, in dem sich Einheimische und Touristen mit denselben Gefahren und Problemenauseinandersetzen müssen.11

Am Ereignis selbst wird also die plötzliche Zerstörung herausgestellt, die „aus demNichts“ und „ohne Vorwarnung“ kam.12 Zur Kontrastfolie der Zerstörung wird die Situationvor dem Seebeben, die häufig als „Paradies“ charakterisiert wird:

„Vorangegangen war eine Nacht im Paradies, Vollmond, Wärme, das leise Plätschern der Wellen amStrand. Am Tag danach starrt die Welt auf das Chaos. Und es beginnt das Zählen der Toten.“ (ebd.)13

Die Deutung der lokalen Situation vor der Flutwelle als „Paradies“ setzt ganz selbstver-ständlich auf den „touristischen Blick“ (Urry 1990). Aus dieser Perspektive zerstörte dasSeebeben nicht „nur“ Häuser und Hotels, sondern stellte auch wichtige soziale Erwartungenin Frage. In der Ideenwelt des Urlaubs haben Tod, Leiden und Zerstörung keinen Platz. DasRisiko von Krankheiten kann noch als unerwünschte Nebenfolge des Reisens in tropischeGebiete miterwartet werden. Doch die plötzliche Vernichtung einer kompletten touristischenInfrastruktur wird in keinem Reiseprospekt antizipiert. Gerade der scharfe Kontrast zwischenparadiesischen Stränden und von Trümmern übersäten Küstenabschnitten macht es möglich,die Radikalität des Wandels verbal und visuell schnell zu erfassen – und gleichzeitig nichtals endgültig hinzunehmen. Das Festhalten an der touristischen Idealisierung hilft, denWunsch nach Wiederherstellung des Paradieses zu formulieren, der schon bald viele Touris-ten zu freiwilligen Helfern macht (Law et al. 2007: 159).

Die Schilderungen der Situation während und unmittelbar nach der Flutwelle führen häu-fig Beispiele dafür an, wie sich Einheimische und Touristen teilweise getrennt, teilweise ge-meinsam mit der Notlage auseinandersetzen, dabei aber stets mit sehr ähnlichen Problemenkonfrontiert sind. Die Normalität vorher war dagegen noch gekennzeichnet durch den Unter-schied zwischen denen, die das Idyll genießen, und denen, für die es (Arbeits-)Alltag ist. Mitder Katastrophe scheint diese Unterscheidung aufgehoben zu sein. In diesem Moment ent-steht tatsächlich eine Art „Schicksalsgemeinschaft“, die zudem trotz der Lokalisierung derBedrohung eine transnationale Gemeinschaft ist. Die ansonsten durch den globalen Touris-mus normalisierte und deshalb gar nicht mehr bemerkte Durchdringung des Lokalen durchdas Globale wird auf einmal offensichtlich: Der Augenzeugenbericht eines britischen Urlau-bers in Sri Lanka steht direkt neben jenem einer Frau aus dem benachbarten Fischerdorf.14

Die Konturen einer transnationalen Schicksalsgemeinschaft werden deutlich, die sich nichtetwa über den gesamten Globus erstreckt, sondern lokalisiert und globalisiert zugleich ist –ein Fall von „Glokalisierung“ (Robertson 1995) gewissermaßen, der als Nebenfolge desMassentourismus zu entschlüsseln ist.

Bereits erste Bestandsaufnahmen machen klar, dass es sich um eine außergewöhnlicheNotsituation handelt und dass die lokalen Rettungsagenturen überfordert sind. Es ist deshalbnicht überraschend, dass Solidarität von Außenstehenden erwartet wird: zum einen in derForm von Anteilnahme, zum anderen natürlich auch als humanitäre Hilfe. Während die„Welt“ und der „Globus“ ähnlich wie im vorangegangenen Zitat als Beobachter des Gesche-hens beziehungsweise seiner Folgen fungieren,15 kommt die „Weltgemeinschaft“ (worldcommunity bzw. international community) als Adressat von Solidaritäts- und Hilfserwartun-

11) Eine ähnliche Erzählstruktur eines „Dramas in drei Akten“ identifiziert auch Bennani (2007) in denBerichten der deutschen Nachrichtenmagazine Focus, Spiegel und Stern.

12) SZ, Schockwellen, die die Welt erschüttern, 28.12.2004.13) Das „Paradies“ wird beispielsweise auch zitiert in der New York Times, Hunting for Lost Loved Ones

in a Lost Beach Paradise, 29.12.2004, und in der Bangkok Post, Diving Paradise Ruined, 28.12.2004.14) New York Times, Walls of Water Sweeping All in Their Path: Families, Communities, Livelihoods,

27.12.2004.

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gen in Betracht. Die Welt ist also eher ein Sammelbegriff für alle Nichtbetroffenen, die An-teilnahme und Solidarität mitteilen, die Weltgemeinschaft jedoch vor allem ein Synonym fürdie internationale Staatengemeinschaft inklusive internationaler humanitärer Organisationen,die als handlungsfähig betrachtet werden. An sie werden Erwartungen gerichtet, den Folgender Naturkatastrophe abzuhelfen. Die „Weltgemeinschaft“ ist dabei aber ein Kürzel für dreiverschiedene Adressen: Hilfsorganisationen wie zum Beispiel das Internationale Rote Kreuz(IRK) und Médecins Sans Frontières (MSF), einzelne Nationalstaaten (insbesondere natür-lich jene, deren Staatsbürger betroffen waren) sowie die Staatengemeinschaft als eine kollek-tive Handlungsinstanz, die ihr Vorgehen beispielsweise in Geberkonferenzen abstimmt.

Die Gemeinschaft, die hier zitiert wird, umfasst also allenfalls einen Ausschnitt dessen,was man sich unter einer „Weltgemeinschaft“ vorstellen kann. Betrachtet man die Reaktionder damit Angesprochenen, wird dies deutlicher. Die internationale Staatengemeinschaft, diedem Gedanken einer umfassenden, globalen Zuständigkeit wohl am nächsten kommt, ver-ständigte sich Mitte Januar 2005 tatsächlich auf einer Konferenz in Genf auf die Koordinie-rung der Hilfsaktivitäten. Doch abgesehen davon blieb ihr Eigenbeitrag zur organisatori-schen und kommunikativen Bewältigung der Katastrophe relativ gering. Die Rolle derWeltgemeinschaft wurde vielmehr von internationalen Hilfsorganisationen einerseits undeinzelnen Nationalstaaten andererseits übernommen. Das hat nicht nur damit zu tun, dass –wie bereits geschildert – die Hilfsorganisationen in besonderer Weise auf derartige Katastro-phen vorbereitet sind. Sie sind auch in einer privilegierten Position als Sprecher einer „vor-gestellten“ Weltgemeinschaft. Wie so häufig betätigten sich Nichtregierungsorganisationenwährend der Tsunami-Katastrophe als „Gewissen der Welt“ (Willetts 1995): Sie waren be-sonders darum bemüht, die Notwendigkeit von Hilfe und Spenden zu begründen – und über-nahmen darüber hinaus die Aufgabe, einerseits darauf zu dringen, dass die zugesagten Mittelauch bereitgestellt wurden, und andererseits an die Bedürftigkeit anderer, vom Tsunaminicht betroffener Regionen zu erinnern.16

Während die internationalen Hilfsorganisationen – und teilweise auch die Vereinten Nati-onen – also universalistische Orientierungen stark machten, trug das Engagement einzelnerNationalstaaten deutlich partikularistische Züge. Das betrat materielle Hilfeleistungen, so-fern sie vor Ort arbeitsteilig den jeweiligen Botschaften oblagen. Es galt aber auch für dieKommunikation über das Ereignis. Die Stellungnahmen von Politikern und Regierungs-chefs schwankten zwischen einer klaren Fokussierung auf die eigenen Landsleute und Be-schwörungen der globalen Solidarität. Das schwedische Außenministerium sprach von ei-nem „nationalen Trauma“, womit wohl nur das Trauma der eigenen Nation gemeint seinkonnte (Beck 2005), der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder hingegen von der „Un-teilbarkeit unserer Welt“, die im „gemeinsamen Leid“ zum Ausdruck komme (in: Beste et al.2005). Und die deutsche Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung,Heidemarie Wieczorek-Zeul, erkannte gar eine „Globalisierung der Mitmenschlichkeit“ inAnalogie zur „Globalisierung der Märkte“ (zitiert nach Bennani 2007: 57).

Ein wenig anders verhielt es sich mit den journalistischen Beiträgen in den Massenmedi-en: Zwar wurde die Katastrophe nicht so kommuniziert wie noch der Untergang der Titanic,den eine schottische Zeitung unter dem Titel „Aberdeen Man Lost at Sea“ berichtete (Ro-bertson 1992: 174). Doch einzelne Fernsehsender und Zeitungen förderten durchaus denEindruck, präzise gezählt würden vor allem die Opfer der eigenen Nation oder zumindest nurwestliche Touristen, während man sich bei den Einheimischen mit Schätzungen begnügte

15) So erwähnt zum Beispiel der Hilfeaufruf des thailändischen Königshauses „unprecedented compas-sion and support from all corners of the globe“ (Bangkok Post, Royal Request for Aid, 11.01.2005).

16) New York Times, For Honduras and Iran, World's Aid Evaporated, 11.01.2005.

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(was teilweise auch gar nicht anders möglich war). Dies betraf jedoch in der Tat hauptsäch-lich die Statistik. Berichte über das Katastrophengeschehen und seine Folgen dagegen wur-den auffällig oft dadurch angereichert, dass auch das Leiden von Staatsbürgern anderer Nati-onen und insbesondere natürlich von Einheimischen beleuchtet wurde.

Zusammenfassend können wir feststellen, dass die Deutung und kommunikative Verarbei-tung des Seebebens zwischen den Polen Universalismus und Partikularismus changierenmusste, weil in einer solchen Extremsituation beide ihre Berechtigung haben: Man erwartetsowohl universalistische und möglichst umfassende Hilfe von den Akteuren der internatio-nalen Gemeinschaft als auch partikularistische und selektive Unterstützung von Personen fürihre Angehörigen oder Mitbürger. Die vielleicht entscheidende Besonderheit der sozialenKonstellation der Tsunami-Katastrophe bestand darin, dass die ansonsten selbstverständlicheSeparierung solcher Kategorien in einer massentouristisch geprägten Region unterlaufenwurde. Touristen verschiedener Nationen und ihre Gastgeber fanden sich in einem gemein-samen, durch die Notlage diktierten Interaktionsgeschehen wieder. Dieses stellte sich, zu-mindest was die Heterogenität der Teilnehmer anbelangte, als verkleinertes Abbild der Welt-gesellschaft dar. Die Weltgesellschaft wurde so auf der Ebene von Interaktion „beobachtbar“und für einen kurzen Moment kommunikativ relevant.17

5. Schluss

Die weltweite Aufmerksamkeit für die Tsunami-Katastrophe, die durch eine enorme Spen-denbereitschaft ermöglichten Hilfsaktivitäten internationaler Organisationen und schließlichdie kommunizierte Anteilnahme könnte man mit Durkheim als Aspekte einer periodischen„moralische(n) Wiederbelebung“ (Durkheim 1981: 571) der Weltgesellschaft begreifen.Auch wenn das Gefühl der Menschlichkeit mit zunehmender Distanz „verdampft“, wieRousseau es formulierte, so schließt dies keineswegs aus, dass es zu bestimmten Anlässenwieder zu einem festeren Aggregatzustand kondensiert. Die Tsunami-Katastrophe ist einBeispiel dafür, wie sich ein solcher Zustand als „episodische“ transnationale Solidarität ma-nifestieren kann. Diese realisierte sich nicht nur als ein globales Medienereignis, sondernauch als ein Interaktionsgeschehen in einem Katastrophengebiet, in dem sich als Resultat desglobalen Tourismus bereits eine Weltgesellschaft en miniature versammelt hatte.

Der Stellenwert dieser Form von Solidarität in einer nicht-normativen Theorie der Weltge-sellschaft besteht darin, dass sie nicht als beliebig verwendbarer „Zement“ der Weltgesell-schaft vorausgesetzt werden kann, sondern nur unter zeitlich und thematisch definierten Be-dingungen Relevanz gewinnt. Mit diesem „reaktiven Charakter“ fügt sie sich ein in eineReihe von sozialen Mechanismen, die den „kosmopolitischen Zusammenhalt“ (Habermas1998: 163) anlässlich irritierender Ereignisse oder eklatanter Normverstöße in Erinnerungrufen – oder gar erst erzeugen. Dies geschieht einerseits spontan, da die konkreten Anlässefür Empörung oder Solidaritätsbekundungen nicht vorhersehbar sind; andererseits sind die inFrage kommenden Ereignisse aber oft schon antizipiert, zum Beispiel in den Programm-strukturen von Hilfsorganisationen. Diese können jedoch nur greifen, wenn sie ausreichendResonanz in der Weltöffentlichkeit finden. Deren Aufmerksamkeitspotential und Irritations-fähigkeit bestimmen deshalb die Gelegenheiten, aber auch die Grenzen für eine gelegentli-che Manifestation transnationaler Solidarität.

17) Vgl. zur Beobachtbarkeit des Makrosozialen zum Beispiel anhand von MitgliedschaftskategorienCoulter (1996).

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Ph.D. Boris HolzerSoziologisches Seminar

Universität LuzernKasernenplatz 3

6000 Luzern [email protected]

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Soziale Welt 59 (2008), S. 157 – 179

Rationale Kooperation oder Moral?

Der Wohlfahrtsstaat aus der Sicht der ökonomischen Institutionentheorie

Von Ursula Dallinger

Zusammenfassung: Der Beitrag beleuchtet kritisch die in der politischen Soziologie vertreteneSicht, dass formelle wohlfahrtsstaatliche Arrangements auf gesellschaftlichen Wertvorstellungenbasierten. Er stellt die Relevanz von sozialpolitischen Werten und anderen institutionellen Begren-zungen, die sozialstaatliche Kooperationsbeziehungen unter Bürgern sichern, nicht in Frage. Je-doch schlägt dieser Beitrag einen anderen theoretischen Zugang vor und macht Theorien rationa-ler Kooperation bzw. ökonomische Institutionentheorien zur Erklärung der sozialen Grundlagendes Wohlfahrtsstaats fruchtbar. Es wird gezeigt, wie diese Ansätze Institutionen aus sozialen Di-lemmasituationen und den Grenzen des rationalen Handelns beim Erreichen erwünschter Koope-ration erklären. Genauer wird auf solche Ansätze eingegangen, die Lösungen für das ‚sekundäreBeitragsproblem‚ bei der Entstehung von Institutionen vorschlagen. Gezeigt wird weiter, dass eineTheorie der durch Institutionen möglichen rationalen Kooperation eine begrenzte Reichweite hat.Sie macht zwar die Kooperation bei der ‚Versicherungsdimension‘ des Sozialstaats, jedoch kaumzugunsten der redistributiven Dimension verständlich. Diese benötigt durchaus sozialpolitischeWerte. Da aber auch sozialpolitische Werte divergieren, bleibt dennoch ein ‚Einigungsproblem‘auf verbindliche (Gerechtigkeits- oder Ungleichheits-) Prinzipien zu beantworten. Die Aggrega-tion divergenter Wertideen zu kollektiven Regeln wird mit Buchanans ökonomischer Kontraktthe-orie analysiert und dabei ausgelotet, wie weit eine ‚voraussetzungslose‘ Einigung reicht und wel-che Rolle Unsicherheit über die künftige soziale Position bei der Genese eines generalisiertenInteressenstandpunkts spielt.

1. Problemstellung1

Seit geraumer Zeit wird in der politischen Soziologie betont, dass wohlfahrtsstaatliche Pro-gramme und Leistungen auf Werten basierten und selbst wiederum die sozialen Beziehungenunter den Bürgern nach bestimmten Wertmustern strukturierten. Die Zumutungen des Wohl-fahrtsstaats – Beitragszwang, Kooperation, auch zu Gunsten von Umverteilung an Dritte –müssten durch belastungsfähige Solidaritäten gestützt sein. Sozialstaatliche Programme sei-en ‚organisierte Gegenseitigkeit‘, Solidaritäts- oder Reziprozitätsarrangements (Offe 1998 a;1998b; Bode 1997; 1999; Lessenich 1999 a, b; Mau 2004) und in ‚sozialpolitischer Kultur‘(Ullrich 2000) verankert. Eine ‚Moralökonomie‘ unterfüttere die formellen Organisationenmit gesellschaftlichen Wertvorstellungen, Leitideen prägten die wohlfahrtsstaatlichen Arran-gements.

Diese Perspektive in der Forschung zum Wohlfahrtsstaat gibt dem Wertbegriff aber einezu starke Stellung, sie trägt – zugespitzt formuliert – kommunitaristische Züge (Streeck2000). Die Argumentation, der Wohlfahrtsstaat verkörpere moralische Werte und werde vonmoralischem Konsens getragen, übernimmt die Position der klassischen Soziologie über dieRolle kollektiver Werte, die dynamische, prekäre Marktbeziehungen stabilisierten, aber da-mit auch deren Probleme aufgrund der Annahme eines Wertkonsenses. Durkheims klassi-sche und die Soziologie prägende These, dass ‚vertragliche‘, von den Akteuren selbst gesetz-te Regeln des Austauschs jedoch in kollektiven Werten verankert sein müssten, lebt wiederauf. Ganz im ‚Geiste Parsons‘ werden dem Wohlfahrtsstaat ein Gemeinwesen mit gemeinsa-

1) Ich danke den anonymen Gutachtern für die wertvollen Hinweise zum Manuskript. Weiterhin beste-hende Mängel gehen allein auf die Autorin zurück.

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mer Identität, geteilten Werten und wechselseitiger Verantwortung zu Grunde gelegt. Teilsbetont die Forschung zur ‚Moralökonomie‘ im Anschluss an den Neoinstitutionalismus, dassInstitutionen den Optionsraum der Menschen strukturierten und Werte zur Geltung brächten.Sie tendiert damit zu einem Normativismus, der bereits gegenüber dem soziologischen Neo-Institutionalismus kritisiert wurde (Beckert 1999). Die Reinstallation des homo sociologicusist aber mit Skepsis zu betrachten, weil die Verfügbarkeit von kollektiven moralischen Stan-dards, die soziale Ordnung schaffen, fraglich ist. Eine normativ weniger anspruchsvolle Er-klärung der Kooperation im Wohlfahrtsstaat ist diesen Bedingungen angemessener.

Die Relevanz von Werten oder anderen ‚Festlegungen‘, die soziale Austauschbeziehungenordnen, stellt dieser Beitrag nicht in Frage, jedoch schlägt er einen anderen theoretischen Zu-gang vor. Er macht Theorien rationaler Kooperation bzw. ökonomische Institutionentheori-en zur Erklärung der sozialen Grundlagen des Wohlfahrtsstaats fruchtbar. Diese Ansätze ausder ökonomischen Sozialtheorie schließen Werte und Institutionen keineswegs aus, sondernverankern sie in einem Modell, in dem Akteure nicht bereits qua einer verinnerlichten Moralabgestimmt sind und Institutionen als das Ergebnis des Handelns rationaler Akteure begrif-fen werden.2 Institutionentheoretische Ansätze der ökonomischen Sozialtheorie zeigen, wieKooperation und gemeinsames Disponieren über individuelle Ressourcen zu Gunsten vonKollektivgütern ausgehend von rationalen, an ihren Interessen orientierten Individuen mög-lich ist – und zwar aufgrund von Beschränkungen des Handelns rationaler Akteure durch In-stitutionen.3 Sie sind also dem methodologischen Individualismus verpflichtet, stellen aberdennoch die Grenzen des rationalen Kalküls Einzelner in Situationen kollektiven Handelnsin Rechnung. Situationen der Kooperation werden selbst als Quelle von Normen betrachtet.Das macht diese Ansätze geeignet für die Bedingungen einer pluralisierten modernen Gesell-schaft, der ein ‚gemeinsames Zentrum‘ (Luhmann (1998: 248, 1043) oder ein ‚überwölben-der Baldachin‘ (Soeffner 2000) fehlt, und in der unterschiedliche (Wert-)Interessen anzuneh-men sind. Individualisierung und Pluralisierung machen Ansätze angemessen, dieInstitutionen- und Regelgenese ausgehend von zunächst ungebundenen Akteuren erklären(Wiesenthal 1987).

Der vorliegende Beitrag konzipiert sozialstaatliche Institutionen auf der Grundlage vonTheorien rationaler Kooperation als soziale Mechanismen, die soziale Dilemmata ‚lösen‘und so Kooperation unter rationalen Akteuren mit divergenten (Wert-)Interessen zu Gunstenvon Kollektivgütern ermöglichen. Um wohlfahrtsstaatliche Kollektivgüter zu schaffen, müs-sen sich Akteure auf gemeinsame Regeln für die Finanzierung, die Re-Allokation derRessourcen, Verfahrensweisen oder ein Programmdesign einigen, und vor allem Beitrags-probleme durch free riding verhindern. Wohlfahrtsstaatliche Institutionen stabilisieren Bei-tragsprobleme, indem sie kollektives Handeln re-individualisieren (Baurmann 2000). DaBeitragsprobleme immer auch die Kooperation ermöglichenden Institutionen selbst betreffenund ein zentraler Einwand gegen ökonomische Institutionentheorien sind, berücksichtigt dervorliegende Aufsatz solche Ansätze, die Institutionengenese trotz des ‚sekundären Beitrags-problems‘ erklären und bezieht sie auf den Wohlfahrtsstaat.

Theorien rationaler Kooperation erklären eher die ‚moralisch anspruchslosen‘ Sozialversi-cherungen (Offe 1998a). Die in Wohlfahrtsstaaten ebenfalls organisierte asymmetrische Ko-operation zu Gunsten von Umverteilung lässt sich aber als ein der rationalen Kooperationangelagerter Bestandteil begreifen. Eine solche um solidarische Elemente erweiterte rationa-le Kooperation benötigt jedoch eine normative Basis. Eine Erweiterung kooperierender

2) Das heißt weder, dass Institutionen direkt mit individuellen Interessen übereinstimmen, noch dass In-stitutionen rational sind.

3) Auch Normen, Recht oder der Ruf werden als Beschränkungen behandelt.

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Gruppen um solidarische Elemente ist umso wahrscheinlicher, wie Unsicherheit über diekünftige eigene soziale Position einen ‚Schleier des Nichtwissens‘ erzeugt und die umvertei-lende Komponente akzeptabel macht. Die Hypothese des Beitrags lautet also, dass Sozial-versicherung und Umverteilung unterschiedliche Kooperationsprobleme und unterschiedli-chen ‚Moralbedarf‘ aufwerfen. Auf dieser Grundlage kann man auch erklären, dassWohlfahrtsstaaten sich als ein Mix an Kooperationsmechanismen darstellen.4

Wenn eine gewisse Pluralität der (Wert-)Interessen realistisch ist, dann fragt sich, wie daspolitische Gemeinwesen divergierende Präferenzen zu kollektiv zustimmungsfähigen Instituti-onen (die für alle Finanzierung und Verteilung, Belastung und Begünstigung etc. festlegen) ag-gregiert. Während eine moralökonomische Erklärung die sozialstaatlichen Institutionen direktaus Werten ableitet, wird dieser Kurzschluss in der ökonomischen Kontrakttheorie von JamesBuchanan vermieden. Betrachtet man die von diesem vorgesehenen ‚sozialen Mechanismen‘der Einigung dann lässt sich als zweite Hypothese formulieren, dass ökonomische Erklärungenvon Institutionen, hier qua ‚Gesellschaftsvertrag‘, diese eben gerade nicht naiv aus individuel-len Interessen ableiten, sondern das Kollektive der Institutionen erfassen. Weiter ist zu zeigen,dass Buchanans Vertragstheorie die unterschiedliche Verhandlungsmacht von Akteuren undUnsicherheit, die enges Vorteilskalkül unmöglich macht und einen generalisierten Interessen-standpunkt erzwingt, berücksichtigt. Beides ist für sozialstaatliche Kooperation zentral.

Das Folgende rekonstruiert zunächst Konzepte einer Verankerung des Wohlfahrtsstaats inMoralökonomie oder sozialpolitischer Kultur und deren Mängel (2). Dann wird die Veranke-rung von Institutionen in sozialen Dilemmata gezeigt und der Wohlfahrtsstaat in Rahmen ei-nes solchen ‚social dilemma approach‘ analysiert (3). Da die nützliche Funktion von Institu-tionen bei Problemen der Kooperation unzureichend als Erklärung ihrer Existenz ist, gehenwir auf sekundäre Beitragsprobleme anhand der Theorie kollektiver Güter ein und diskutie-ren Lösungsansätze (4). Anschließend an Hechters Konzept ‚kooperativer Institutionen‘ wer-den Versicherung und Umverteilung als unterschiedliche Kooperationsprobleme mit unter-schiedlichem Moralbedarf diskutiert. Selbst wenn Umverteilung Werte benötigt, gibt es einEinigungsproblem auf kollektive Regeln, das mit Buchanans ökonomischer Kontrakttheorieanalysiert wird. Mit Unsicherheit erweitert auch sie ihre Reichweite über rationale Koopera-tion hinaus (5). Ein Fazit (6) fasst die Ergebnisse zusammen.

2. Der ‚moralische‘ Wohlfahrtsstaat

Lange Zeit verließ sich die Soziologie des Sozialstaats auf die Annahme, dass ein Wohl-fahrtsstaat von den Interessen der von ihm abhängigen Klientelgruppen getragen werde. Mitder Einführung des allgemeinen Stimmrechts hätten die Interessen der Arbeiter an sozialerSicherung politisches Gewicht bekommen und sich per Mehrheitswahl durchgesetzt. DieSicht eines in Arbeiterinteressen verankerten Wohlfahrtsstaats wurde modifiziert, da die In-teressenlager offenbar vielschichtiger waren und sind. Man zeigte, dass ein Wohlfahrtsstaatkeineswegs allein auf den Interessen der ökonomisch Deprivierten basiert, schon weil diesenicht über die erforderliche politische Mehrheit verfügen und auf Koalitionen mit anderenGruppen angewiesen waren (Esping-Andersen / Korpi 1986; Goodin / LeGrand 1987; Bald-win 1990). Sozialpolitik kann ebenso in Mittelschichtsinteressen verankert sein (Rothstein1998). Das Sozialversicherungsprinzip verwische die klassischen Interessenstrukturen (Bal-dwin 1990). Andere Autoren sahen eine Krise des Sozialstaats, weil durch das Schrumpfender Arbeiterschicht im Zuge sozialstrukturellen Wandels ein wichtiges Fundament wegbre-

4) Auch Mau (2004) sowie Leitner und Lessenich (2003) sprechen von einem Mix der sozialstaatlichenProgramme organisierenden Prinzipien.

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che, während sich die wachsende Mittelschicht privaten Sicherungsoptionen zuwende (Wi-lensky 1975; Habermas 1973).

Seit den 90er Jahren thematisierte die Forschung zum Wohlfahrtsstaat aber verstärkt des-sen kulturelle Grundlagen. Ein ‚cultural turn‘ wurde teils durch die vergleichende Wohl-fahrtsstaatsforschung angestoßen, die Unterschiede zwischen Sozialstaaten auf divergieren-de politische Kulturen zurückführte, teils durch die Konjunktur neo-institutionalistischerAnsätze, die auf die in formellen Institutionen verankerten Ideen aufmerksam machte. DieAnnahme, dass der Wohlfahrtsstaat von der Loyalität gegenüber einer gemeinsamen Kulturabhänge, hat eine lange Tradition in der Sozialstaatstheorie. Bereits Richard Titmuss (1963,1970) vertrat, dass sich in sozialstaatlichen Institutionen gesellschaftliche Werte ausdrücken.Für ihn überlässt eine technisierte, organisierte Gesellschaft Reziprozität nicht mehr der Fa-milie oder privater Wohltätigkeit, sondern schafft Altruismus fördernde Institutionen, dieselbst einen „moralischen“ Gehalt verkörpern. Sie strukturieren die in einer Gesellschaft ak-zeptablen wechselseitigen Verpflichtungen. Heute werden Überlegungen zum normativenGehalt des Sozialstaats in zwei (nicht leicht unterschiedlichen) Varianten vertreten: a) Werteund Normen sichern die Beteiligung der Bürger am Wohlfahrtsstaat b) Sozialstaatliche Insti-tutionen verkörpern Werte und Ideen über die Gestaltung sozialer Beziehungen und struktu-rieren die Beziehungen der Bürger.

a) In kritischer Haltung gegen die politische Ökonomie des Wohlfahrtsstaats wurde aufdie den formellen Austauschbeziehungen zugrunde liegenden gemeinsamen Wissensbestän-de und ‚sozialen Hintergrundüberzeugungen‘ hingewiesen (Offe 1987; Kaufmann 19972000). Wohlfahrtsstaatliche Arrangements beruhten auf mehr als Interessen, sie benötigten‚gute Gründe‘, wegen der die Belastungen der Sozialpolitik anerkannt werden. Schon weildie Interessen der Unterprivilegierten kaum das Rückgrat eines breiten Sozialstaats seien,müsse folglich eine „moral majority“ angenommen werden (Schmidt 2000).5 GemeinsameIdentitäten und Interpretationsmuster seien grundlegend für die (durch Wahl und Beitrags-zahlung praktizierte) „Kooperation“ der Bürger im Wohlfahrtsstaat. Dieser werde gestütztdurch „trust in the validity of such norms as reciprocity, solidarity, or justice.“ (Offe 1987:515) Legitimierende Werte und Solidaritäten verhinderten, dass sich Bürger den Beiträgenzum Kollektivgut ‚Wohlfahrtsstaat‘ entzögen, was von rationalen Nutzenmaximierern zu er-warten wäre (ebd.: 519f). Die Bereitschaft sozialstaatliche Kollektivgüter mitzufinanzieren,werde durch „belastbare Hintergrundüberzeugungen“ geschaffen (Offe 1998a: 104). SozialeInterpretationsmuster zeigten an, ob Leistungsempfänger die eigenen Beiträge verdientenund ob anonyme andere als „zu uns“ gehörig zu begreifen seien. Insgesamt würden die sozi-alstaatlichen Solidaritätsarrangements von Deutungsmustern der Bürger über kollektiveIdentitäten und Loyalitäten getragen (Offe 1990: 181). Eine Moralökonomie sei das Funda-ment sozialstaatlichen Handelns (Hinrichs 1997; Mau 2002), die vor allem durch unter-schiedliche Reziprozitätsmuster geprägt sei. “Talking about a moral economy implies thatsocial transactions are grounded upon a socially constituted and subjectively validated set ofsocial norms and shared moral assumptions.“ (Mau 2004: 58).

Der besondere Moralbedarf des Wohlfahrtsstaats wurde außerdem aus seiner Stellung ge-gen den Markt abgeleitet. Der Sozialstaat institutionalisiere „Daseinsfürsorge im Rahmender kapitalistischen Marktökonomie“ (Bode 1999: 23). Gegen die durch die ‚invisible hand‘des Marktes entstandene Verteilungsordnung bringe er eigene ideelle, normative Rationali-tätskriterien zur Geltung. Maßgeblich sei zweifellos die naturrechtliche Idee der Gleichheitaller Menschen (Marshall 1949), die – neben rechtlichen und politischen Bürgerrechten –

5) Dieses Argument ist allerdings leicht zu entkräften. Denn soziale Programme verschaffen sich einebreite Interessenbasis, indem sie die Interessen auch breiter Mittelschicht-Bevölkerung bedienen.

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auch zu sozialen Anrechten führe, „die als politische Trümpfe gegen die Macht von Marktund Betrieb dienen“ (Rieger / Leibfried 2003: 28). Diese in einem Spannungsverhältnis zumMarkt stehenden Ordnungsideen machten den Wohlfahrtsstaat besonders legitimationsbe-dürftig. Da mit Sozialpolitik kulturelle Wertideen zu Gleichheit oder Gerechtigkeit gegen dieRealität des Marktes anträten, habe Sozialpolitik eine quasi religiöse Stellung.6 Weil Sozial-politik außerdem asymmetrisch privilegiere und die einen primär zu Finanzierern, die ande-ren aber zu Benefiziaren mache, benötige sie moralische Grundlagen: „eine vorsätzlich ge-sellschaftsgestaltende, Dritte unmittelbar verpflichtende und zwingende Politik [ist] aufeinen Überschuß an Akzeptanz und Legitimität angewiesen“ (Rieger / Leibfried 2003: 42;ähnlich Schmidt 2000: 230).

b) Eine andere Strömung verlagerte die Aufmerksamkeit auf sozialstaatliche Arrange-ments als Ausdruck von Werten und Leitideen. Der Sozialstaat sei ein politisch vermittelterGegenseitigkeits- und Sicherungszusammenhang, der nicht nur materielle Leistungen orga-nisiere, sondern auch Ideen der Gegenseitigkeit, der Gerechtigkeit oder der Solidarität um-setze. Die Solidaritätspotentiale moderner Gesellschaft verschöben sich in die formellen In-stitutionen des Wohlfahrtsstaats (Prisching 1996: 118), der soziale Risiken abfedere undZiele wie Gerechtigkeit oder Gleichheit fördere. Der Wohlfahrtsstaat sei solidarisch, weil inihm ‚Solidargemeinschaften‘ gebildet würden, die mit den Beiträgen Vieler die sozialen Ri-siken Einzelner auffingen. Der Sozialstaat sei zu begreifen

„as established normative arrangements as well. According to this view, political conditions result inmore than just rules (such as those specifying the mechanisms of political decision making). They alsoaffect what values are established in a society, that is, what we regard as a common culture, collectiveidentity, belonging, trust, and solidarity.“ (Rothstein 1998: 17)

In den Wohlfahrtsstaat sei demnach eine ‚normative Infrastruktur‘ eingelassen. Der Sozi-alstaat sei „die moderne, institutionalisierte Verkörperung des Prinzips wechselseitiger Ab-hängigkeit und Unterstützung“ oder die „gesellschaftliche Gegenseitigkeitsbeziehungen or-ganisierende institutionelle Struktur“ (Lessenich 1999a: 154f). In der modernen Gesellschaftentstünden neue reziproke Austauschmuster, durch die soziale Solidarität nun durch Organi-sationen vermittelt und zu einer Verpflichtung auf Gegenseitigkeit transformiert würde. DerWohlfahrtsstaat sei eine solche institutionelle Verstetigung von reziprokem Austausch (Bode/ Brose 1999: 179). Forschung zum Sozialstaat müsse zeigen, „wie diese [kulturellen, U. D.]Grundlagen im Design und Wandel wohlfahrtsstaatlicher Institutionen zur Wirkung gelan-gen“ (Bode 1999: 26).

Eine auf Dauer angelegte Gemeinschaft der Solidarpartner brauche immer dann, wenn sieden Rahmen der Gruppe überschreite, eine „den gesellschaftlichen Risikoausgleich organi-sierende Instanz“ (Lessenich 1999b: 26), eben den Wohlfahrtsstaat. Mit Sozialversicherun-gen, den Proto-Institutionen des deutschen Sozialstaats, gelänge die Integration moralischerVorstellung von Gegenseitigkeit mit dem Interesse an einer eigenen Absicherung. Analysender in sozialpolitischen Programmen verkörperten Werte extrahierten differierende Gerech-tigkeitskonzeptionen (Döring u.a. 1995; Tragl 2000), verschiedene Solidaritätstypen (Bode1997, 1999) und Reziprozitätsarrangements (Mau 2002) oder beides (Leitner / Lessenich2003).

Schwierigkeiten der Wohlfahrtskultur-Forschung

a) Die Forschung zu Wohlfahrtskultur oder Moralökonomie setzt in der Bevölkerung oderauch in Institutionen verankerte Werte voraus. Gemeinsame Werte aber sind in den Sozial-wissenschaften umstritten. Individualisierung habe ihre Verbindlichkeit erodiert und plurali-

6) Wie diese verweise sie auf eine andere bessere Welt (Rieger / Leibfried 2003).

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siert Beck (1986: 119, 206). Statt Wertkonsens erzielten nun anerkannte Verfahren gesell-schaftliche Einheit (Luhmann 1969). Vor dem Hintergrund dieser Zweifel wirkt das Konzepteiner Wohlfahrtskultur zu stark. Es blendet Dissens über Werte und Ideen aus, die realisti-scherweise einzelne sozialpolitische Programme umstritten machen, selbst wenn weiterhin inmodernen, westlichen Gesellschaften geteilte Kernnormen über die allgemeine Gestaltungdes politischen Gemeinwesens existieren (Nunner-Winkler 1999; Gerhards 2005). Diese be-wegen sich aber auf einer allgemeineren Ebene, als die, auf der sich sozialpolitische Vertei-lungsfragen abspielen. Die Fokussierung auf die in Institutionen inkorporierte moralischeLogik blendet ‚agency‘ aus (Beckert 1999). Konzepte wie Moralökonomie etc. verfehlen,dass Institutionen nicht nur wegen ihrer ‚appropriateness‘ akzeptabel sind, sondern auch we-gen ihrer Leistungen (Lepsius 1997). Schwächere Konsensprämissen macht das Konzept so-zialpolitischer Kultur. Dort wird sie wissenssoziologisch als ‚Deutungsmuster‘ begriffen(Ullrich 2000). Zwar ist dieser Kulturbegriff weniger verfänglich, kann aber nicht hinrei-chend erklären, dass sozialpolitische Institutionen für viele verbindlich sind und keineswegsnur subjektive Deutungsmuster.

b) Konzepte der Wohlfahrtskultur stellen eine enge Beziehung zwischen den Wertpräfe-renzen der Bürger und den sozialpolitischen Institutionen her. Von den Werten Einzelnerwird direkt auf kollektiv verbindliche, sozialstaatliche Institutionen geschlossen. Vermitteln-de soziale oder politische Mechanismen, durch die sozialpolitische Ideen und Wertpräferen-zen von Millionen von Bürgern aggregiert werden, fehlen. Sozialpolitische Institutionen ge-hen aber durch Einigungsprozesse hindurch, Kooperationsprobleme müssen überwundenwerden. Beides erfassen Ansätze besser, die von autonomen Einzelnen ausgehen und die ausder Aggregation der Präferenzen vieler entstehenden Institutionen betrachten.

c) Arbeiten zu Wohlfahrtskultur stellen meist einen einzelnen Wert als den tragenden her-aus. Wohlfahrtsstaatliche Institutionen verkörpern aber weder ausschließlich Solidarität, Re-ziprozität noch Äquivalenz, sondern ein Bündel unterschiedlicher, teils auch widersprüchli-cher Prinzipien (Alber 1989: 21). Neben den oben erwähnten Mechanismen der Einigungunter divergenten Wertinteressen geht der vorliegende Beitrag davon aus, dass v.a. wegender unterschiedlichen Kooperationsanforderungen von Sozialversicherung und Umvertei-lung verschiedene normative Prinzipien relevant werden. Zwar lassen sich die beiden Funk-tionen von Sozialstaaten nicht säuberlich getrennt verschiedenen Organisationen zuweisen(auch Sozialversicherungen verteilen um), mit der Unterscheidung sieht man aber mehr.

Moralökonomie und ähnliche Konzepte gehen von einem durch Werte geprägten Verhält-nis der Bürger zum Sozialstaat aus. Es ist aber unwahrscheinlich, dass Bürger keinerlei Be-wusstsein für die individuellen Vor- und Nachteile haben sollten, mit denen unterschiedlichesozialpolitische Lösungen verbunden sind. Gleichwohl sind Urteile über Vor- oder Nachteilemit Unsicherheit und Informationskosten verbunden, wegen der Bürger kaum objektiv ratio-nal, sondern nur intentional rational sein können. Die begrenzte kognitive Rationalität unddie Informationskosten sind oft der Grund, das Rational Choice-Entscheidungsmodell derneo-klassischen Ökonomie und daran anschließende Erklärungen ganz zu verwerfen, da dieVoraussetzungen rationalen Entscheidens empirisch unrealistisch sind. Dieser Weg wird hieraber nicht beschritten. Vielmehr gehen wir davon aus, dass individuelle Urteile über den So-zialstaat zwar von Ideen über Gerechtigkeit oder (Un-)Gleichheit etc. beeinflusst werden.Aber diese Skepsis am rationalen Entscheiden wegen kognitiver Grenzen betrifft nicht dieökonomische Sozialtheorie der Institutionen, die ja ebenfalls Grenzen individueller Rationa-lität bei sozialer Kooperation oder kollektivem Handeln in Rechnung stellt, aber dennoch ei-nen individualistischen Ansatz weiterverfolgt.7

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3. Institutionen in der ökonomischen Sozialtheorie

Für die ökonomische Sozialtheorie stellen Institutionen ‚stabilizing devices‘ dar, die wegender sozialen Dilemmata, die rationale nutzenmaximierende Akteure in Situationen des Aus-tauschs verursachen, und wegen der Schwierigkeit, in einer komplexen unsicheren Umwelteine optimale Option zu wählen, bestehen. Angesichts beider Handlungsprobleme – Koope-ration und Kognition bzw. rationale Entscheidung – hälfen Institutionen8, sichere Erwartun-gen ausbilden zu können, Optionsvielfalt zu reduzieren, Situationen zu definieren und Trans-aktionskosten zu reduzieren (Raub / Voss 1990; Schmid 1994; 1995; Kollock 1998; Zintl1999; Maurer / Schmid 2002). So wie man die Annahme rationalen Handelns als zu voraus-setzungsvoll kritisiert, so wird auch der Anspruch einer spontan möglichen Abstimmung derZiele und Interessen rationaler Akteure abgelehnt (Hirshleifer 1985; Beckert 1996).

Dieser knappe Einstieg zum Institutionenbegriff verdeutlicht, wie breit und vieldeutig sei-ne Verwendung ist. Gemeint ist alles, was antizipierbare, stabile Verhaltensweisen erzeugt,also Verhaltensbeschränkungen durch Regeln wie Recht, Moral, Werte, Normen oder Orga-nisationen, aber auch durch Wissensmuster, Ideen und mental maps. Das Folgende rekurriertauf einen Institutionenbegriff, der sich anhand von Überlegungen der Spieltheorie und Pro-blemen kollektiven Handelns entwickelte. Dieser begreift Institutionen als Verhaltensbe-schränkungen der sonst völlig offenen Handlungsoptionen, die im sozialen Austausch unterrationalen Egoisten in soziale Dilemmasituationen münden (und nicht als Begrenzung kogni-tiver Komplexität und von Informationskosten). Diese Verankerung der Institutionen in den‚suboptimalen‘ Ergebnissen, die ein ‚homo oeconomicus‘ im sozialen Austausch erzielt, unddas Argument eines ‚Bedarfes‘ an Institutionen wegen der kollektiven und individuellenVorteile, die diese erzielen, wird zuerst anhand des Konstrukts eines ‚Naturzustands‘ unddes spieltheoretischen Modells eines ‚Gefangenendilemmas‘ eingeführt.

Im ‚Naturzustand‘, den das Fehlen jeder Beschränkung der Akteure kennzeichnet, führedas ungehinderte Streben der Einzelnen nach der größtmöglichen Befriedigung individuellerBedürfnisse zu Konflikten um begehrte knappe Güter (Hobbes 1651). Alle Akteure seien ge-zwungen aufzurüsten und Ressourcen in unproduktive Aktivitäten zu lenken, statt friedlichzu produzieren und auszutauschen. Diese negative Situation des schrankenlosen Interessen-konflikts, in dem alles erlaubt sei, was die eigene Position verbessere, lasse die Einsichtwachsen, dass Verhaltensbegrenzungen aller einen besseren gesellschaftlichen Zustand er-zielten. Das Problem fehlender Beschränkungen gegen die ‚Begierden‘ der anderen wird ge-löst durch den „Gesellschaftsvertrag“.

Auch das Gefangenendilemma behandelt die negativen Folgen des Austauschs rationalerAkteure. Die Situationsstruktur gibt die Kooperationsprobleme rationaler Akteure wieder,die zwar interdependent sind und in den jeweils individuell erzielten Ergebnissen voneinan-der abhängen, aber doch opportunistisch ihre Präferenzen verfolgen. Es macht klar, dass an-gesichts des Risikos, dass die Partner sich unkooperativ verhalten, die eigene Nicht-Koope-ration immer am rationalsten ist. Kooperation könnte zwar alle besser stellen, entwickelesich aber aus der Handlungslogik rationaler Egoisten nie zur dominanten Strategie (Esser2000). Dominant ist die Wahl der Option ‚to defect‘, also die unkooperative, keine Beiträgeleistende Handlung, weil sie die beste Auszahlung ergibt, wenn der andere kooperiert, und

7) Man sollte trennen zwischen der kognitiven Komplexität individuellen Entscheidens, die rationaleWahlhandlung unwahrscheinlich und Orientierung vermittelnde kulturelle Begrenzungen sinnvollmachen, einerseits, und der vom rationalen Akteur ausgehenden Unsicherheit in sozialen Austausch-beziehungen, die durch soziale Begrenzungen vermieden wird.

8) Institutionen werden definiert als Regelsysteme und begleitende Sanktionen, die Handeln strukturie-ren, begrenzen und in verschiedenen gesellschaftlichen Feldern ermöglichen (Korpi 2001).

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immer noch relativ besser ist, wenn der andere ebenfalls ‚defect‘ wählt, was hochwahr-scheinlich ist, da dieser ebenfalls als rationaler Opportunist agiert. Schon die Erwartung lässtdas Spiel in eine suboptimale Situation münden. Demgegenüber sei Sicherheit über die Opti-onen von ‚alter‘ und dessen Unterlassen von ‚free riding‘ die Voraussetzung dafür, selbst zukooperieren bzw. Beiträge zu kollektiven Gütern zu leisten (Scharpf 2000). Diese Sicherheitwerde von ‚stabilizing devices‘ (Ullmann-Margalit 1977) generiert, d.h. von Mitteln zurFestlegung des sonst kontingenten individuellen Handelns. Erwartungssicherheit könne imGrunde auch aus dem Interesse des anderen an fortgesetztem Austausch kalkuliert werden(Axelrod 1991). In großen Gruppen, wo das Handeln anderer schwer kontrollierbar ist undder ‚Schatten der Zukunft‘ nicht diszipliniert, weil genügend alternative Partner verfügbarsind, sei die Festlegung von Austauschpartnern durch Regeln und Institutionen aber zuver-lässiger.9

‚Naturzustand‘ wie auch ‚Gefangenendilemma‘ modellieren, dass die erwünschte Koope-ration von ‚problematischen Situationen‘ unterminiert wird, in denen ein Konflikt zwischendem Ergebnis des strategisch-individuellen Handelns und den eigentlich erwünschten undoptimalen Ergebnissen (friedlicher Tausch, Zusammenarbeit zugunsten kollektiver Güter),besteht (Raub / Voss 1990; Kollock 1998).10 Dass individuell rationales Entscheiden geradenicht zu den vorteilhaftesten Ergebnissen führt, geht nicht nur auf egos nutzenmaximierendeEntscheidung zurück, sondern bereits die Erwartung, dass alter ein rationaler Opportunist ist,erzeugt die Unsicherheit potentiell ausgebeutet zu werden, wegen der ego vorsorglich eben-falls defection wählt. Soziale Dilemmasituationen werden aber vermieden durch ‚Festlegun-gen‘ des Optionsraums durch Verhaltensbegrenzungen. In der Literatur werden verschiedeneBegrenzungen, die unerwünschte Folgen individuellen Nutzenkalküls verhindern, diskutiert,von den Normen, der iterierten Kooperation über die Reputation bis zu den moralischen Prä-ferenzen, aber vor allem auch Institutionen (Schmid 1995, 1996; Baurmann 2000). Nur Insti-tutionen werden uns weiter beschäftigen, da in großen Gruppen – die Bürger eines Landes,die einen Sozialstaat tragen sollen, sind eine solche – andere Varianten nicht greifen. Da nurmit institutionellen Begrenzungen die Vorteile von Kooperation und kollektiven Gütern er-reichbar sind, hätten Akteure ein Interesse an ihnen.11 Diese Formulierung ist verkürzt undbetont lediglich die Kompatibilität eines individualistischen Ansatzes mit Institutionen. DieInstitutionengenese selbst wird komplexer erklärt und auf evolutionäre Entwicklungen oderkollektive Prozesse der Institutionenbildung zurückgeführt.

Wohlfahrtsstaatliche Institutionen sind aus der Perspektive der ökonomischen Sozialtheo-rie mehr oder weniger erfolgreiche Lösungen jener Probleme, in die individuell rationales

9) Das Konzept bedingter Kooperation in iterierten Spielen auf der Grundlage von reziproken Spielzü-gen funktioniert nur in überschaubaren Gruppen (Axelrod 1991 und viele andere). Die Tit-for-Tat-Strategie, bei der Kooperation mit Kooperation und Defektion mit Defektion beantwortet wird, undmittels reziproker Reaktionen sich über wiederholte Spielzüge eine kooperierende Gruppe bildet, istabhängig von der Sichtbarkeit der Beiträge anderer und der Sanktionierung derer, die keine Beiträgeleisten. In großen Gruppen herrschen andere Anreizstrukturen.

10) Die Spieltheorie verfügt über weitere Kooperations- und Koordinationsmodelle, aus denen aber eben-falls folgt, dass Institutionen die Lösung der Probleme rationaler Akteure in sozialen Interdependenz-situationen erleichtern. Nicht immer ist jedoch die Spannung zwischen individueller und kollektiverRationalität so stark wie im PD. Die Situationslogik beim Versicherungsspiel macht die Entwicklungvon Verhaltensbegrenzungen wie Institutionen, Recht oder Moral wesentlich unproblematischer(Kollock 1998), was auch für den Sozialstaat gilt.

11) Für die klassisch-soziologische Tradition hingegen müssten Verhaltensbeschränkungen den indivi-duellen Interessen entzogen sein und als unbedingter, durch verbindliche Werte gegebener ‚morali-scher Zwang‘ (Durkheim) wirken, da sonst keine Verbindlichkeit bestehe und Regeln gerade das, wassie sollen, nämlich individuelle Interessen einschränken, nicht leisteten.

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Handeln bei Kooperation in großen Gruppen führt. Sie befähigen rationale Akteure zu kol-lektivem Handeln (Olson 1968; Hechter 1987, 1990; Ostrom 1990). Im Wohlfahrtsstaat koo-perieren rationale Akteure zu Gunsten der Erzeugung kollektiver Güter wie monetäre Trans-fers, die den Verlust des Erwerbseinkommens (Alter, Arbeitslosigkeit etc.) absichern sollen,oder zu Gunsten von Dienstleistungen (Kinderbetreuung). Kollektivgüter sind individuell er-strebenswert, weil sie einen ‚Mehrwert‘ haben, der bei sozialstaatlichen Kollektivgütern da-rin besteht, dass sie soziale Absicherung oder Dienstleistungen besser zugänglich machen alsindividuelle Vorsorge durch private Versicherungen oder Sparen.12 Da sie durch kollektivesDisponieren über individuelle Ressourcen erzeugt werden, besteht für den Einzelnen die Ge-fahr, dass durch kollektive Entscheidungen Ziele verfolgt werden, die der ursprünglichenKooperationsmotivation Einzelner widersprechen (Baurmann 2000: 189; auch Abschnitt 4).Sprich: Da als Motivation der Beteiligung an sozialpolitischen Kollektivgütern die eigenesoziale Sicherung und gleichmäßigere Verteilung des individuellen Einkommens über denLebenslauf betrachtet wird, sprenge Umverteilung den Rahmen rationaler Kooperation. Dieswird aber im Folgenden als zu eng dargestellt; auch aus einer ökonomischen Perspektivewird plausibel, dass unter bestimmten Bedingungen soziale Umverteilung möglich ist.

Auch Rothstein verankert sozialstaatlicher Institutionen im ‚social dilemma approach‘(2001). Die Bereitschaft zu Beiträgen basiere auf ‚contingent consent‘. Doch während derBegriff der ‚bedingten Kooperation‘ üblicherweise die Abhängigkeit individueller Beiträgevon der Sicherheit, dass auch andere ihren Beitrag zum Kollektivgut (hier der Sozialversi-cherung) leisten, meint, interpretiert Rothstein ‚contingent consent‘ als Abhängigkeit derKooperationsbereitschaft von der Übereinstimmung sozialstaatlicher Organisationen mit Ge-rechtigkeitsprinzipien. Das ist aus der hier vertretenen Sicht voreilig. Denn für die Beitrags-bereitschaft reichen Interessen und die Sicherheit der Beiträge anderer; erst darüber hinauskommen aus Gerechtigkeit oder Gleichheit abgeleitete Motive zum Tragen.

Dass der ‚Bedarf‘ an Institutionen aber nicht bereits ihre Existenz erkläre, ist ein oft vor-gebrachter, berechtigt Einwand. Vielmehr sei angesichts der Handlungslogik rationaler Op-portunisten die Genese von regulativen Institutionen eher unwahrscheinlich. Daher wendenwir uns im Folgenden den ‚sekundären Beitragsproblemen‘ wie auch Modellen zu derenÜberwindung zu. Dabei werden solche Vorschläge betrachtet, die sich auf sozialstaatlicheKollektivgüter anwenden lassen und die sowohl zu moralisch anspruchloser Kollektivguter-zeugung wie auch zu moralisch anspruchsvollerer Umverteilung passen.

4. Kollektivgüter und darüber hinaus – verschiedene Kooperationsformen im Wohlfahrtsstaat

Seit Mancur Olsons Theorie öffentlicher Güter (1968) werden die in großen Gruppen auftre-tenden Situationslogiken und Anreize diskutiert, die kollektives Handeln und die Kooperati-on zu Gunsten von ‚öffentlichen Gütern‘13 erschweren, wenn nicht unmöglich machen. Sievermittelt die Einsicht, dass es keinen direkten Weg von Einzelinteressen zu kollektivenPhänomenen gibt, wie es das Marktmodell annimmt. Das Dilemma bei der Erzeugung öf-fentlicher Güter wie etwa sauberer Luft, öffentlicher Ordnung, sozialer Mindestsicherungaber auch sozialstaatlichen Institutionen bestehe darin, dass rationale Akteure zwar Kollek-

12) Der Mehrwert von Sozialversicherungen im Vergleich zu privaten Strategien wie Sparen besteht inder breiteren Risikostreuung und im effektiveren Umgang mit Unsicherheit über das Volumen der be-nötigten Sicherung. Der Mehrwert von sozialer Sicherung ist nicht für alle gleich.

13) Der Begriff öffentlicher Güter bezieht sich auf solche Güter, deren Nutzung frei zugänglich ist. Oftwird der Begriff mit kollektiven Gütern verwechselt. Kollektive Güter sind solche, in denen die Nut-zung bereits nicht mehr frei ist und reguliert wird, die aber dennoch durch kollektives Handeln zu-stande kommen.

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tivgüter wünschten, weil die gemeinsame Beschaffung Vorteile gegenüber der individuellenHerstellung habe oder weil das Gut überhaupt nur mit Beiträgen aller machbar sei, sich aberdennoch als Gruppe nicht damit versorgen könnten, weil für Einzelne immer ein Anreiz zu‚free riding‘ bestehe (die Nutzung von Gütern ohne Beitrag zu ihrer Erstellung). Schon dasWissen um die Möglichkeit der Ausbeutung durch ‚free rider‘ unterminiere Kooperation unddas erstrebte öffentliche Gut, da jeder – den Anreiz zu ‚free riding‘ anderer vorwegnehmend– ebenfalls nicht beitrage. Erst die Kontrolle individueller Beiträge wie auch des Zugangs zuöffentlichen Gütern durch eine ‚übergeordnete Instanz‘ sorge für Abhilfe.

Bei dieser übergeordneten Instanz kann es sich um eine Organisation (oder Gesetz) handeln,die einen Beitragszwang etabliert, der den Anreiz zur Ausbeutung anderer eindämmt und so ver-hindert, dass das präferierte Kollektivgut nicht zustande kommt. Eine Organisation, die mit Kon-troll- und Sanktionsbefugnissen ausgestattet sei, müsse die Beiträge aller erzwingen sowie Aus-zahlungen aus dem gemeinsamen Pool überwachen. Auch der Beitragszwang, wie ihn dieobligatorische Sozialversicherung oder die Steuerpflicht etablieren, erzeugt die Sicherheit, dass‚alle‘ sich beteiligen. Die institutionellen Begrenzungen vermitteln - wenn man so will - Vertrau-en gegenüber dem entfernten ‚Nächsten‘. Denn wegen der staatlichen Kontrollen ist sicher, dassdieser gar nicht defektieren kann (Offe 2001). Rationale Kooperation ist somit jenseits des perso-nalen Vertrauens aufgrund des Wissens um die Verhaltensbindung der Kooperationspartner mög-lich.

Auch die für das Gelingen von Kooperation erforderlichen Organisationen sind Kollektiv-güter und haben daher selbst ein ‚Beitragsproblem‘. Für Teile der Soziologie zeigten sekun-däre Beitragsprobleme das Scheitern des ökonomischen Programms (Miller 1994) und mansetzte auf Wertbindungen oder auf die diskursive Herstellung eines kollektiven Willens. Je-doch muss ein individualistisches Erklärungsprogramm wegen sekundärer Beitragsproble-me bei kollektivem Handeln nicht aufgegeben werden. In der ökonomischen Sozialtheoriewurde eine ganze Reihe an Vorschlägen vorgelegt, wie diese gelöst werden und wie Instituti-onengenese selbst unter der Annahme rationaler Egoisten erklärbar ist.14 Mit der Beobach-tung, dass es in der empirischen Welt mehr Kooperation und pro-soziales Verhalten gebe alses die Rational Choice-Theorie vorhersage, wird darauf verwiesen, dass Beitragsproblemeoffenbar überwunden werden (Hirshleifer 1985; Cook / Levi 1990). Oder die Genese regel-setzender Institutionen wird aus den Interessen der Beteiligten selbst begründet, wie bei Da-niel Hechter. Wie andere Autoren benennt er ein Kostenkriterium: Wenn der Aufwand fürdie Schaffung einer Organisation geringer sei als die Vorzüge des dann erreichten Gutes, ge-linge die ‚Selbsterzeugung‘ von Institutionen (Opp 1983; Maurer / Schmid 2002). Da Orga-nisationen, Normen oder Werte dafür sorgten, dass rationale Utilitaristen die Vorteile ge-meinsam erzeugter Kollektivgütern überhaupt erst nutzen könnten, würden die sekundärenKooperationskosten für die Kontrolle und Überwachung getragen: „rational choice theoryoffers the prospect of a better solution to the solidarity problem. It conceives of groups as theproducers of various types of joint goods. As such, their survival depends upon the enact-ment and enforcement of rules governing the production and allocation of these goods“(Hechter 1987: 39).

14) Dazu zählt Ostrom (1990) mit empirischen Analysen zu langfristigen Prozessen der Selbstorganisationvon formellen Institutionen, die es ermöglichen Allmenderessourcen (erschöpfliche natürliche Ressour-cen, die individuell angeeignet werden) zu nutzen. Hier wird gezeigt, dass Institutionengenese auchscheitern kann. Weiter wird Institutionengenese damit erklärt, dass Akteure dann die Organisationskos-ten tragen, wenn sie die Organisation zu ihrem eigenen Nutzen gestalten können oder wenn sie für ihrespezifische Rolle belohnt werden. Zu Principal-Agent Ansätzen vgl. Richter / Furubotn (1999). Ein evo-lutorischer Ansatz der Institutionengenese ist zu nennen, der v.a. von Hayek und Vanberg vertreten wird.

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Typische Probleme der Kooperation träten nicht auf, wenn öffentliche Güter mit einembedingten, von individuellen Beiträgen abhängigen Nutzungsrecht in kollektive Güter trans-formiert würden. Ein beitragsabhängiger Zugang zu Gütern und Dienstleistungen des Sozial-staats schließe ‚free rider‘ aus und re-individualisiere das Kollektivgut (Baurmann 2000:196). Menschen beteiligten sich am – in unserem Fall vom Sozialstaat - organisierten Zu-sammenlegen individueller Ressourcen, weil die Organisation glaubhaft mache, dass Leis-tungsentnahme ohne Vorleistung unterbleibe und Beiträge ‚äquivalent‘ zurückflössen. Dazumüssten die Beiträge Einzelner und die Re-Allokation des gesammelten Ressourcenpoolskontrollierbar gemacht werden: „Solidarity can be achieved only by the combined effects ofdependence and control.“ (Hechter 1987: 53) ‚Kooperative Institutionen‘ entstehen ohne einsekundäres Beitragsproblem, wenn das Überwachungsproblem gelöst ist und wenn es umGüter geht, die kollektiv günstiger als individuell erzeugt werden können, oder die überhauptnur kollektiv mit Beiträgen aller zustande kommen, wie etwa Normen, soziale Ordnung, öf-fentliche Sicherheit oder - Hechters empirischer Gegenstand - eine Kreditgenossenschaft.

Für die ökonomische Sozialtheorie enthalten Kooperationssituationen ein Potential derRegelgenese. Betrachtet man die bisher skizzierte rationale Kooperation zu Gunsten von (so-zialstaatlichen) Kollektivgütern hinsichtlich sozialer Regeln, die sie erzeugt, dann erkenntman das Äquivalenz- und das Reziprozitätsprinzip. Deren moralische Logik ist, dass Kollek-tivgüter äquivalent individueller Beiträge verteilt werden. Wenn bedingte Kooperation vonder Sicherheit zum einen äquivalenter Rückflüsse, zum anderen der Beiträge auch der ande-ren Nutzer des Kollektivgutes abhängt, dann kommt darin eine enge Reziprozität zum Aus-druck.15 Bedingte Kooperation (Ich trage bei, wenn du beiträgst) hat zunächst wenig morali-schen Spielraum und auch Hechters Rede davon, dass Gruppen eine Konstitution über dieKoordinierung der Beiträge und deren Allokation wählten, ist nicht schlüssig. Denn interes-senkompatibel wäre im Grunde nur die Regel, dass alle gleich beitragen und äquivalenteAuszahlungen erhalten. Ungleiche Beiträge müssen sich in entsprechend ungleichen Leis-tungen niederschlagen. Auch ‚strong reciprocity‘ reicht hier nicht weiter. Eine Kollektivgü-ter erzeugende Gruppe würde kaum Distributionsregeln aufstellen, die Zugang zu Transfersoder Dienstleistungen ohne Vorleistungen gewähren. Beiträge zu umverteilenden sozialpoli-tischen Programmen sind kaum denkbar, da Umverteilung nach der Logik kollektiver Güterein ‚free riding‘ bedeutet. In einer Welt rationaler ‚Gruppensolidarität‘ wären somit geradeBedürftige von kollektiven Gütern ausgeschlossen.16 Ein Sozialstaat wäre (und ist er fak-tisch teils) ein ‚Club der zahlenden Mitglieder‘ (Baurmann 2000: 197).

Weite Bereiche des Wohlfahrtsstaats, die Sozialversicherungen, lassen sich als rationaleKooperation erklären (Korpi 2001).17 Sie entsprechen in hohem Maße einem Kollektivgut

15) Neuere Arbeiten behandeln Reziprozität als das bedingte Kooperation sichernde Prinzip (Mau 2002;Alexander 2005; Fehr / Gintis 2007). V.a. Fehr und Gintis betonen, dass Reziprozität als verinner-lichte Norm wirke: Eine gewisse Zahl an ‚strong reciprocators‘, die rationale Egoisten sanktionierten,genüge um Kooperation zu initiieren. Auch Fairness sei ein Resultat verinnerlichter Normen. Dage-gen sei hier betont, dass bedingte Kooperation bereits aufgrund der situativen Rahmenbedingungenin wiederholter Interaktion unter interdependenten Akteuren funktioniert und Bestrafung (in unseremKontext Beiträge zu kooperativen, kontrollierenden Institutionen) auch ohne internalisierte Normenwegen des Interesses an einem Kollektivgut und der dann nötigen Abwehr von ‚free ridern‘ gelingt.Auch Fairness wird von situativen Bedingungen ‚erzwungen‘. Beide Perspektiven schließen sich abernicht aus. Reziprozitäts- und Fairnessnormen erleichtern Kooperation und sind Ergebnisse von evo-lutionären Lernprozessen unter Akteuren in Situationen strategischer Interdependenz.

16) Der Gebrauch des Solidaritätsbegriffes bei Hechter ist ungewöhnlich; Begriffe wie Reziprozität oder‚bedingte Kooperation‘ wären m.E. angemessener.

17) Institutionelle Variationen in Form unterschiedlicher Wohlfahrtsstaaten lassen sich als Ergebnis vonKämpfen zwischen Interessengruppen verstehen (Korpi 2001).

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mit Beitragszwang, kontrollierten Beiträgen, einem nur durch Vorleistung möglichen Zu-gang und Auszahlungen, die den vorigen Einlagen entsprechen (etwa beitragsäquivalenteRenten oder Arbeitslosengeld). Sozialversicherungen sind eine Kooperationsform, die gerin-ge moralische Anforderungen stellt, weil sie Leistungen auf das, was durch vorige Beiträgeerworben wurde, begrenzen und eher verteilungsneutral sind. Diese Begrenzung auf Äquiva-lenz macht sie auch für ‚rationale Egoisten‘ akzeptabel (Offe 1998 a; 1998 b). Empirisch fin-det man im Wohlfahrtsstaat aber Programme, bei denen das reziproke Beitrags-Leistungs-Verhältnis aufgeweicht ist. Der Wohlfahrtsstaat kennt Programme, bei denen Leistungenvom Bedarf abhängen (Sozialhilfe, Mindestsicherung, Gesundheitsdienstleistungen) oder beidenen eine Vorleistung (Beitrag, Steuer) zwar gefordert ist, aber die Auszahlung nicht äqui-valent der Einzahlungen entspricht. In vielfältiger Weise wird vom Äquivalenzprinzip abge-wichen und immer dann umverteilt, wenn Rechten auf sozialstaatliche Transfers und Dienst-leistungen keine individualisierbaren Vorleistungen gegenüberstehen.

Die neben kollektivgutförmigen Sozialversicherungen existierenden Elemente der Redistri-bution – entweder als eigenständige Programme (Steuern) und Leistungssysteme (Mindestsi-cherung) oder innerhalb der Sozialversicherungen – entstehen nach Hechter, weil Gruppen,die Probleme der Kollektivguterzeugung erfolgreich bewältigen und gelernt haben kollektivzu handeln (ähnlich de Swaans Lernen von Kollektivierung, 1989), auch Umverteilung anla-gern können. Wenn sich Gruppen auf konstitutionelle Regeln bezüglich der Finanzierung undder Re-Allokation einigten, hätten sie einen Spielraum, den sie für umverteilende öffentlicheGüter nutzen könnten. Die robusten, moralisch wenig fordernden Kooperationsformen werdenum moralisch anspruchsvolle Verteilungsformen erweitert, die sich jedoch auf sozialpolitikre-levante Ideen über Gerechtigkeit, (Un-)Gleichheit etc. stützen, nicht auf rationale Kooperati-on.18 Dass neben individuellem Nutzenkalkül auch ethischen Präferenzen handlungsrelevantwerden können, zeigen Modelle, die ein ökonomisches und soziologisches Handlungsmodellintegrieren (Voss 1985; Raub / Voss 1990).19 Die Möglichkeit moralischer Präferenzen nebendem, was individuell vorteilhaft scheint, ist entscheidend für die angelagerten Formen derUmverteilung. Aber auch normative Verteilungspräferenzen divergieren und bündeln sichnicht ad hoc, sondern in Einigungsprozessen, in denen Wertpräferenzen und individuelle Inte-ressen zu kollektivem sozialstaatlichen Handeln transformiert werden (siehe nächstes Kapitel).

Die angelagerten Bereiche, die sich der Modellierung als Kollektivgut sperren, sind teilsdie finanziell weniger voluminösen Programme wie die bedarfsorientierte Sozialhilfe, aberauch die Umverteilung durch Steuern, die je nach Land unterschiedlich hoch ausfällt. EinGros der Finanzströme wird in den kollektivgutartigen Sozialversicherungen abgewickelt.Doch selbst diese enthalten redistributive Anteile, die von striktem Beitragsbezug abweichenund Kriterien wie Bedarf, Gleichheit oder Gerechtigkeit wirksam werden lassen. Die umver-teilenden, werteabhängigen Aspekte des Sozialstaats sind umstritten und unterliegen stetenBemühungen, diese auszugliedern. Ein Wohlfahrtsstaat beruht nicht entweder auf rationalerKooperation oder aber auf kollektiven Wertüberzeugungen, sondern kombiniert beides. Zumeinen vertrauen die Einzelnen in die Fähigkeit von Institutionen, dass sie ‚free riding‘ undUmverteilung wirksam verhindern. Zum anderen knüpfen sie an normative Ideen etwa überden ‚gerechten‘ Ausgleich von materieller Ungleichheit oder das ‚richtige‘ Maß an Eigen-verantwortung an. Rationale Kooperation wie auch normativ unterfütterte Umverteilungsbe-

18) Es soll nicht verschwiegen werden, dass es in der politischen Ökonomie des Wohlfahrtsstaats auchrationale Erklärungen von Umverteilung gibt. Dazu ist hier jedoch kein Raum. (Ein Überblick findetsich bei Dallinger 2008).

19) Einen Überblick zur Integration moralischer und egoistischer Präferenzen geben Raub / Voss 1990:83-86. Eine duale Handlungsorientierung auf sowohl private als auch kollektive Ziele nimmt Margo-lis (1982) an; auch Etzioni (1994), Fehr / Gintis (2007).

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reitschaft leisten je Spezifisches: Erstes erlaubt Kooperation unter ‚Fremden‘ mit divergie-renden (Wert-)Interessen, zweites erlaubt sozialstaatliche Solidarität. In welchem Verhältnisbeide Formen stehen, kann hier nur angedeutet werden. Vorhandene Solidaritäten und ge-meinsame Wertmuster machen Kooperation leichter, sie sind ein Startkapital20 oder sozialesKapital, das in die Institutionenbildung einfließt (Ostrom 1990; Aretz 2005). Daher ist Wal-ter Korpi zuzustimmen: „it is fruitful to draw on more than one ‚school‘ among the new in-stitutionalisms” (Korpi 2001: 237), um die Entstehung wohlfahrtsstaatlicher Institutionen zuerklären.

Es sollte deutlich geworden sein, dass regulative Institutionen sich auch unter interdepen-denten, subjektiv rationalen Akteuren entwickeln (Ullmann-Margalit 1977; Esser 2000).Diese sind begrenzt in ihrer moralischen Reichweite, jedoch ein realistisches Modell der an-onymen, gesellschaftsweiten Kooperation im Wohlfahrtsstaat. Wenn Gesellschaften sichmehr ‚leisten‘, ist dies unterfüttert durch Werte der Gerechtigkeit, Fairness oder Solidarität.Da man aber hinsichtlich dieser Werte noch keinen Konsens unterstellen kann, fragt sichweiter, wie das Einigungsproblem – die Aggregation der Wertideen und der Interessen vielerzu kollektiv akzeptablen Regeln – gelöst wird. Dazu diskutieren wir im Folgenden das kon-trakttheoretische Modell von James Buchanan. Danach findet eine rationale Konsensbildungüber die ‚Regeln‘ gesellschaftlicher Beziehungen - dazu gehören auch sozialrechtliche Nor-men und sozialstaatliche Organisationen - statt. Buchanans Ansatz zeigt, wie Divergenzennicht-normativ überbrückt werden und wie ein individualistisches Konzept durch Unsicher-heit zu einem generalisierten Interessenstandpunkt kommt, in dem auch die Interessen deranderen berücksichtigt werden.

5. Das Einigungsproblem: die Sicht der konstitutionellen politischen Ökonomie

Auch in James Buchanans konstitutioneller politischer Ökonomie (1984) geht es wie zuvorum die Möglichkeit kollektiver Regeln selbst unter Akteuren mit divergenten Interessen undWerten.21 Institutionen – hier kommen sie eher in Form von Konstitutionen und Rechtsnor-men in den Blick – werden auch als soziale Mittel verstanden, durch die soziale Dilemmasitu-ationen beigelegt und vorteilhafte Kooperation etabliert wird (Brennan / Buchanan 1993: 5ff).Buchanan macht nicht die Vorteile von Regeln zur Erklärung ihrer Existenz, sondern seinökonomischer Kontraktualismus antwortet darauf, wie trotz der individuellen Ablehnung jederBeschränkung dennoch ‚constraints‘ durch Institutionen akzeptabel werden.22 Das Problemder Institutionengenese wird in einem kontrakttheoretischen Ansatz wie dem von Buchananunter dem Begriff der ‚constitutional choice‘ gefasst. Es handelt sich aber keinesfalls um einefreie Wahl.23 Denn kollektive Verhaltensbeschränkungen entstehen erstens aus der notgedrun-

20) De Swaan (1989) zeigt in seiner Studie zur ‚Erfindung‘ der Kollektivierung, dass die Produktion kol-lektiver Güter (wie Abwasserkanäle, Armenhilfe oder Sozialversicherung) dort leichter zu initiierenwar, wo Gruppen mit gemeinsamen Ideen und Vertrauen bereits vorhanden waren. Oft handelte essich um christliche Gemeinden, die als ‚Moralunternehmen‘ fungierten.

21) Bekannt ist Buchanans Ansatz auch als liberale Demokratietheorie. Sein vertragstheoretisches Den-ken beinhaltet aber ebenso eine Theorie der Genese von Institutionen, die beanspruchen kollektiveRegeln zu sein.

22) Damit antwortet Buchanans Vertragsdenken auf das ‚Paradox einer freiwilligen Begrenzung‘ ratio-naler Akteure. Diese Kritik hat die Soziologie der ökonomischen Erklärung von Regeln seit Durk-heims immer wieder entgegen gehalten.

23) Es ist ein Missverständnis, wenn Korpi (2001) meint, Kontrakte seien die freiwillige Vereinigung un-ter gleichen Personen und nur die ‚friendly societies‘ als solche zu deuten. Im Gegenteil: Bei Bucha-nan sind Verträge Mittel, die Interessenunterschiede labilen, immer wieder neu zu verhandelndenKompromissen zuzuführen. Sozialpolitische Institutionen bedeuten aus kontraktualistischer Sichteine notgedrungene Einigung, die gezwungen ist die Interessen anderer in Rechnung zu stellen.

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genen Einsicht, dass Verhaltensbegrenzungen nicht anders als im Tausch mit eigenen Be-schränkungen zu erreichen sind. Zweitens gehen dem Konsens u.U. komplexe sozialeMechanismen der Kompromissfindung voraus, die unten dargestellt werden. Drittens enthältBuchanans Kontraktbegriff ein Bewusstsein dafür, dass kollektive Regeln das Risiko bergen,Zwängen zu unterliegen, die den eigenen Präferenzen widersprechen. Wenn aus vertragstheo-retischer Perspektive gefragt wird, wie sich rationale Individuen auf Gesetze, Regeln oder In-stitutionen einigen, denen alle freiwillig zustimmen, dann sind diese Verwicklungen auf demWeg zum Konsens mit gemeint. Die Figur des Konsenses dient als Test für die hypothetischeZustimmung zu konstitutionellen Regeln, der deren Legitimität ‚beweise‘ (Pies 1996).

Eine kontrakttheoretische Perspektive behandelt also ähnlich wie die Debatte um die kultu-rellen Grundlagen des Wohlfahrtsstaats das Problem, wie eine anerkannte institutionelle Ord-nung entsteht. Während kollektiv gültige gesellschaftliche Normvorstellungen in der politi-schen Soziologie des Wohlfahrtsstaat vorausgesetzt werden, will Buchanans Vertragstheorieohne vor der Einigung auf Regeln bestehende normative Gemeinsamkeit auskommen und dar-legen, wie selbst rationale, nutzenmaximierende Individuen sich auf Regeln für gesellschaftli-che Beziehungen ‚einigen‘.24 Seine Ausgangsannahme ist, dass selbst ohne gemeinsameHandlungsziele noch ein Minimum an Regeln auch unter Akteuren mit ungleicher Macht undungleichen Ressourcen zustande käme, weil die Definition von Rechten per se Vorteile habe.Definierte Rechte (Konstitutionen oder Institutionen) reduzierten die Unsicherheit über dasVerhalten anderer. Rechte informierten über Verhaltensoptionen des anderen und ermöglichtenso die Ausrichtung des eigenen Verhaltens (Buchanan / Tullock 1962: 37f; Brennan / Bucha-nan 1993: 29). Auch rationale Egoisten bevorzugten den Schutz der Konstitution und die kol-lektiven Güter, die ein politisches Kollektiv bereitstelle, da Ungewißheit über die eigene Zu-kunft ein Interesse an gewissen Grundsicherheiten wecke.25 Die Wünschbarkeit von Regelnsteht für die konstitutionelle politische Ökonomie kaum in Frage, ein minimales Einigungsinte-resse wird vorausgesetzt. Betrachten wir, wie eine Gesellschaft zu definierten Rechten kommt.

Dass nutzenmaximierende Individuen sozialen Regeln zustimmen, die ihre Freiheit starkbeschneiden, erklärt Buchanan mit einer zweistufigen Einigung auf einen Gesellschaftsver-trag und einen postkonstitutionellen Vertrag (1984). Diese Aufteilung der Definition vonRegeln auf zwei Schritte hat einen systematischen Hintergrund. Der erste konstitutionelleVertragsschluß beendet den (idealtypisch gedachten) ‚Naturzustand‘, in dem jeder alles, waseigenen Begierden nutzt, tun darf – auch sich per Raub die Güter produktiverer Akteure an-eignen. Die absolute Regellosigkeit sei jedoch so nachteilig für jeden, dass Verhaltensbe-schränkungen Zustimmung finden. Eine Befriedung des konflikthaften, unsicheren Naturzu-stands26 entstehe durch die wechselseitige Anerkennung von Rechten. Eigentumsrechte sindder Prototyp, der allgemein das, was Recht ausmacht, enthält. (Eigentums-)Rechte bestim-men, was mit den Gütern einer Person geschehen darf, und welches Verhalten von anderendiesbezüglich erwartbar ist. Im Kern geht es bei allen Rechten darum, dass zwei Parteiensich wechselseitig zusichern, individueller Willkür entspringende (auch gewaltsame) Aktegegenüber dem anderen zu beenden und das zulässige Verhalten gegenüber Dingen und Per-sonen festzulegen. Beschränkungen der eigenen Freiheit sind nur im Tausch gegen die Be-schränkung des Handelns anderer akzeptabel. ‚Ego‘ gibt eigene Verhaltensrechte ab und darf

24) Das Wort Einigung müsste in Anführungszeichen gesetzt werden, da es das voluntaristische Missver-ständnis eines Vertragskonzeptes nährt.

25) Die soziologische Kritik an Vertragsmodellen lautet, sie unterstellten eine Interessenkongruenz an einemgeregelten vertraglichen Zustand, der aber aus einem utilitaristischen Handlungsmodell nie ableitbar sei(Parsons 1937). Die klassische Soziologie schloss daher auf durch Werte erzeugte Gemeinsamkeit.

26) Erinnert sei an Hobbes Beschreibung des Naturzustand als Leben, das einsam, eklig und kurz ist, weiljeder nach den Gütern des anderen trachtet und Gewalt an der Tagesordnung ist.

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dafür den Anspruch erheben, dass ‚alter‘ das eigene Verhalten ebenso begrenzt (Buchanan1984: 85, 152; auch Baurmann 2000).

Das Bild einer zwanglosen Einigung auf Regeln aufgrund der Präferenz ‚aller‘ für den kon-stitutionellen Zustand mit definierten Rechten und erwartbaren Verhaltensweisen muss präzi-siert werden. Denn Buchanan räumt ein, dass nicht alle Akteure im geregelten Zustand einenVorteil sähen. Zum einen könnten die ‚Mächtigen‘ sich und ihr Eigentum auch im ‚Naturzu-stand‘ selbst schützen; zum anderen hätten ‚Habenichtse‘, die ohnehin kein Eigentum zuschützen haben, wenig konstitutionelle Interessen. Sie kontrollierten immerhin das Drohpo-tential, die erreichte Ordnung zu destabilisieren (Schmid 1992). Beide Gruppen werden mitKompensationen für den basalen Gesellschaftsvertrag der ersten Stufe gewonnen. Diese Kom-pensationen durch die Übertragung von Gütern oder Rechten werden im zweiten, postkonsti-tutionellen Stadium vorgenommen (Buchanan 1984: 89ff). Denn in ihm werden Regelungenüber Art und Ausmaß kollektiver Güter getroffen, wie auch über die Verteilung der Belastun-gen für ihre Bereitstellung und die Anrechte für deren Nutzung (ebd.: 103). Das Gestalten derpostkonstitutionellen ‚Übertragungen‘ in einer Weise, dass Gruppen, die dem Grundvertragnicht freiwillig zustimmten, doch Vorzüge sehen und den Vertrag akzeptieren, ist ein weiterersozialer Mechanismus, Konsens trotz Interessendivergenzen zu erzielen. Kompensationen inForm von Transfers oder Zugang zu Rechten und Dienstleistungen sollen den Einzelnen fürdie Einschränkungen entschädigen, die ein Gesellschaftsvertrag verlangt, und die Belastungenausgleichen, die manche im Zuge der Kollektivguterzeugung aufgebürdet bekommen.

Denn obwohl Einstimmigkeit die allein akzeptable Regel für konstitutionelle Entscheidungenwäre, wird wegen der hohen Entscheidungskosten ein Mehrheitsprinzip eingeführt. Je weiter die-ses von Einstimmigkeit abweicht, desto größer ist die Gefahr, dass Entscheider und von Entschei-dungen Belastete nicht übereinstimmen. Die Tendenz, ‚Minderheiten‘ die Kosten kollektiverEntscheidungen aufzubürden, würde ebenfalls mit Kompensationen durch Transferzahlungenoder Zugang zu Kollektivgütern verhindert, da die Entscheider dann die Kosten in Rechnungstellen müssten.27 Der mit diversen Kompensationen zustande gekommene Konsens ist fürBuchanan das Gütekriterium von Regeln der Gesellschaft, da er den (pareto-)optimalen Zustandmarkiere. Denn die Belastungen partikularer Gruppen wären kompensiert, sodass die Gesamt-wohlfahrt, nicht bloß die Wohlfahrt Einzelner, berücksichtigt werde. Konsens würde in Prozes-sen des Bargaining um die Durchsetzung eigener Ziele gegen ausgleichende Vergünstigungen er-zielt. Daher träten Reformen oft als ‚Paketlösung‘ auf (Brennan / Buchanan 1993: 186).

Nach dem Kontraktmodell geht ein Sozialstaat aus einem ausgehandelten Konsens hervor.Programme sind das Ergebnis von Übereinkommen unter konfligierenden Parteien, die inter-dependent sind und Rechte, Zahlungen oder Drohpotential tauschen. Die öffentlichen undkollektiven Güter des Wohlfahrtsstaates stellen selbst Kompensation dar, die durch Begüns-tigungen Belastungen an anderer Stelle ausgleichen. Wenn also der Wohlfahrtsstaat bei derErzeugung kollektiver Güter umverteilt und bestimmte Gruppen besonders belastet, müsstedie Zustimmung dieser durch Seitenzahlungen bzw. Kompensationen erreicht werden. Dasim Sozialstaat institutionalisierte Set an Regeln der Finanzierung und Verteilung sollte keinper Mehrheitsvotum durchgesetztes Programm sein, das nur der Mehrheit Vorteile bringe,sondern ein Kompromiss mit den einkommensstarken Finanzierern.28 Daher kritisiert

27) Diese Konstellation entspricht dem, was Rieger und Leibfried als ‚asymmetrische Relation‘ im Sozi-alstaat zwischen Finanzierern und Nutznießern bezeichnen (2003). Die Autoren begründen mit derasymmetrischen Relation den besonderen Normbedarf; hier wird dagegen gezeigt, dass sie auch an-ders überbrückt werden kann.

28) Das Drohpotential manifestiert sich etwa in der Drohung, bestimmte Parteien, die für sozialen Frie-den und Ausgleich in der Mitte des politischen Spektrums stehen, abzuwählen und den sozialen Frie-den zu stören. Wer die Mehrheiten sind und ob Finanzierer eine Minderheit sind, ist fraglich.

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Buchanan Umverteilung ohne Kompensationen. Das Bild eines Konsens, in dem die Anlie-gen und Interessen aller berücksichtigt wurden, ist aber partiell richtig. Denn vertragstheore-tisch ist auch folgerichtig, dass mächtige Gruppen den Vertrag zu ihren Gunsten gestalten.Dass bei Vertragsaushandlung Mächtige ihre Konditionen durchsetzen und Ungleichheitenexplizit zugelassen sind, ist das Spezifische an Buchanans Vertragsmodell.

Eine kontrakttheoretische Sicht auf die Basis eines Sozialstaats wirkt ausgesprochen prag-matisch und entspricht der Evidenz, dass die Finanzierer des Sozialstaats nicht unbedingt ausAltruismus und normativer Überzeugung einer Umverteilung zustimmen, sondern wegenKompensationen und Überstimmt-Werden.29 Soweit Akteure keine Exit-Option haben, wer-den sie auch für sie schlechte Konditionen akzeptieren müssen.30 Ebenso evident ist, dasssozialpolitische Programme oft Wert- und Interessendissense aufwerfen, die nur mit Paketlö-sungen und Kompromissen – beides ist ein Tausch der Zugeständnisse – erzielt werden.31

Einigungen über kollektive sozialstaatliche Konstitutionen sind nach Buchanan das Resul-tat eines Bargainings unter unterschiedlich mächtigen Gruppen mit divergenten Zielen undWertinteressen. Ein kontrakttheoretischer Ansatz vergisst Machtungleichheit also keines-wegs (wie Korpi 2001 meint) und dynamisiert den statischen Blick, den Konzepte in der po-litischen Soziologie auf in sozialstaatlichen Institutionen inkorporierte Werte haben. Aller-dings hat das Konsenskriterium einige ‚Untiefen‘. Der Gedanke von Konsens durchEntschädigungen und Bargaining um eine günstige Stellung im Gesellschaftsvertrag bietetdennoch nur eine weiche Erklärung für zustimmungsfähige Regeln. Denn bei entsprechen-den Seitenzahlungen wäre ‚alles‘ möglich. Solange das politische Kollektiv denen, die nichteinverstanden sind oder einseitig belastet werden, genügend Kompensation an anderer Stellegewähren könnte, gelänge der Sozialkontrakt. Auch der Begriff der Kompensation läßt sichweit strecken und reicht von konkreten Zahlungen bis hin zur generellen Überzeugung, dassein Gesellschaftsvertrag auch mit unliebsamen postkonstitutionellen Belastungen noch Vor-teile gegenüber einem ‚Naturzustand‘ biete. Bei den Kompensationen und Vorzügen, die Be-lastung ausgleichen, kann es sich um Steuererleichterungen handeln, aber ebenso um denEindruck, als Bezieher hohen Einkommens trotz überproportionaler Steuerbelastung den-noch eine vergleichsweise attraktive Position zu haben (Priddat 2004:161ff).

Unsicherheit und generalisierter Interessenstandpunkt

Im Kontraktmodell ist die Unsicherheit über das Verhalten anderer ein zentraler Grund, wes-halb Vereinbarungen über soziale Einschränkungen die Erwartungssicherheit schaffen, ge-wünscht und errichtet werden. „When uncertainty exists due to the impossibility of recipro-cal behaviour prediction among individuals, it may be reduced only by agreement amongthese individuals. When the interests of the individuals are mutually conflicting, agreementscan be attained only through some form of exchange or trade.“ (Buchanan / Tullock 1962:37). Unsicherheit bewirke darüber hinaus aber, dass bei der Institutionengenese (qua Gesell-schaftsvertrag) ein verallgemeinerter Interessenstandpunkt zum Zuge komme. Denn Unsi-cherheit beeinflusst die Bedingungen der Wahl von konstitutionellen Regeln. Sie wirkt wieein ‚Schatten der Zukunft‘, wegen dem Akteure weitaus weniger eng eigennutzorientiert

29) So gab die Mehrheit der Befragten eines niederländischen Survey an, dass sie Sozialbeiträge undSteuern für den Sozialstaat leisten, weil sie es müssen (van Oorschot 1999).

30) Bekanntlich bestehen dennoch Exit-Optionen durch Steuerflucht oder durch die im Zuge der Globa-lisierung diskutierte Kapitalmobilität.

31) So wird zum Beispiel bei Lohnverhandlungen die normative Vorstellung der Gewerkschaft – Solida-rität für die untere Lohngruppe, d.h. Lohnanhebung für diese – in einem ‚deal‘ mit anderen Forderun-gen verrechnet (Elster 1989). Oder die Anhebung der Rentenbeiträge geschieht im ‚deal‘ mit derSenkung anderer Steuern.

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über eine Konstitution entscheiden, als es das Rational Choice-Modell vorsieht.32 Da derEinzelne über seine künftige (soziale) Position in der Kette kollektiver Entscheidungen unsi-cher sein müsse, werde er aus kluger Voraussicht nicht allein seine jetzigen Interessen zumMaßstab machen, sondern von einem generalisierten Interessenstandpunkt über die ‚besten‘konstitutionellen Regeln urteilen (Buchanan / Tullock 1962: 78f). „The self-interest of theindividual participant at this level leads him to take a position as a ‚representative‘ or ‚ran-domly distributed‘ participant in the succession of collective choices anticipated. Therefore,he may tend to act, from self-interest, as if he were choosing the best set of rules for the so-cial group.“ (ebd.: 96) Weiter werden Akteure dann, wenn sie nicht wissen, ob sie im Rah-men künftiger konstitutioneller Einigungsprozesse auf der Seite der Mehrheit oder der Min-derheit stehen, oder wenn sie erwarten, dass ihre Position fluktuiert, auch solchenKompensationen zustimmen, die eigentlich für Buchanan als Umverteilung ohne Entschädi-gung inakzeptabel sind (ebd.: 129).33 Denn potentiell kann jeder in eine Minderheitenpositi-on geraten, in der seine Anliegen nicht berücksichtigt werden brauchen. Die ArgumentationBuchanans ähnelt dem ‚Schleier des Nichtwissens‘ in einem ‚Urzustand‘, den Rawls (1975)als den Motor der Erzeugung gerechter gesellschaftlicher Regeln annimmt.

Indem Buchanan Unsicherheit in Rechnung stellt, öffnet er seinen sonst auf strikte Interes-senkompatibilität bedachten kontraktualistischen Ansatz für eine ‚Regelwahl‘, die von en-gem individuellen Nutzenkalkül abweicht. Diese Erweiterung ist für den Wohlfahrtsstaatund dessen ‚moralische‘ Reichweite relevant. In Bereichen mit hoher Ungewissheit werdenumverteilende Aspekte sozialstaatliche Programme leichter durchsetzbar sein.34

6. Fazit

Der Beitrag zielte kritisch auf die in der politischen Soziologie des Sozialstaats in den letztenJahren aufgekommenen Konzepte, die eine ‚Moralökonomie‘ oder eine Wohlfahrtskultur alsBasis des Sozialstaats betrachten oder für die wohlfahrtsstaatliche Institutionen kollektiveWerte, Identitäten und kulturelle Wissensmustern repräsentieren. Dagegen entwickelte er ei-nen Zugang zu sozialstaatlichen Institutionen aus der Perspektive einer ökonomischen So-zialtheorie, die Institutionen als Lösungen für Probleme kollektiven Handelns versteht.

Während die Konzepte der politischen Soziologie des Sozialstaats die oft diagnostiziertePluralisierung und Individualisierung der Werte nicht in Rechnung stellen und den Akteurausblenden, sind ökonomische Institutionentheorien der neuen Ausgangslage angemessener,da sie von autonomen, freilich in ihren Optionen und Ergebnissen interdependenten Akteu-ren ausgehen und deren Probleme der Kooperation bzw. des kollektiven Handelns in denBlick nehmen. Auch wenn von in sozialstaatlichen Institutionen verkörperten Werten ge-

32) Mit dem Argument, das Unsicherheit von der Durchsetzung der eigenen partikularer Interessen ab-weichen lässt, nimmt das Vertragsmodell Buchanans Elemente auf, wegen der auch sonst die ökono-mische Sozialtheorie das Rational Choice-Modell einschränkt. Hier wird zum einen die Möglichkeitrationalen Entscheidens wegen der Unsicherheit künftiger Vorteile bezweifelt, die nur bei hohenSuch- und Informationskosten zu vermeiden wäre (North 1992; Beckert 1997). Zum anderen wird mitVerweis auf die Unsicherheit über die eigene soziale Position darauf verwiesen, dass der Wunschnach wirksamen Verhaltensbegrenzungen ‚rational‘ sei (Baurmann 2000: 365-391).

33) Als Beleg: Bürger aus Ländern mit hoher Arbeitslosigkeit befürworten stärker Ausgaben für Arbeits-lose als Bürger in Ländern mit geringer Arbeitslosigkeit (Stjerno / Johannessen 2004). Das in dieserSituation gesteigerte Risiko selbst arbeitslos zu werden schafft eine gewisse Großzügigkeit.

34) Dies wird von der hohen Toleranz gegenüber einer nach Bedarf zugänglichen Krankenversicherungbestätigt, und im umgekehrten Sinne von der eng äquivalenten Alterssicherung, wo (wegen der heutesicher gewordenen langen Lebenserwartung) hohe Sicherheit herrscht, von individuellen Einzahlun-gen zu profitieren. Der demographische Wandel macht diese Sicherheit individueller Auszahlungenwieder zunichte und führt zu Akzeptanzproblemen der Rentenversicherung.

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sprochen wird, werden unterschiedliche Wertinteressen ausgeblendet. Dagegen gehen öko-nomische Ansätze explizit von divergenten Wertpräferenzen aus, erklären aber von hier ausdie Notwendigkeit der Einschränkung des zu suboptimalen Kooperationsergebnissen führen-den individuellen Nutzenkalküls durch Institutionen. Sie bieten damit einen angemessenenZugang zum Verständnis sozialstaatlicher Institutionen in einem Kontext, in dem der ‚homosociologicus‘ als rares Wesen betrachtet wird. Eine ökonomische Institutionentheorie be-greift den Wohlfahrtsstaat nicht als einen durch gemeinsame Werte prä-stabilisierten Zusam-menhang, sondern als Ergebnis von ‚social dilemma situations‘. Dass rationale Kooperationdennoch stattfindet, wenn das Interesse an bzw. die Abhängigkeit von Kollektivgütern hochist und sich in Gesellschaften geeignete organisatorische Lösungen gegen ‚free riding‘ undBeitragsprobleme entwickeln, gilt auch für den Sozialstaat. Institutionen, die Kooperationermöglichen und daher als kollektiv wie auch individuell erwünscht gelten, haben aber se-kundäre Beitragsprobleme. Dieser klassische Einwand gegen ökonomische Institutionenthe-orien sollte den Beitrag davor bewahren, Institutionen funktional mit ihrer Nützlichkeit inDilemma-Situationen zu erklären.

Das sekundäre Beitragsproblem ist zentral, da eine Lösung der Probleme, die rationaleAkteure haben, wenn sie Kollektivgüter erzeugen wollen, kaum machbar wäre, wenn genaudie dann nötigen Institutionen für rationale Opportunisten nicht zu erreichen wären. Es wur-de aber in diesem Beitrag mit Verweis auf ein ‚Kostenkriterium‘ entkräftet, wonach Beiträgezu Institutionen dann geleistet werden, wenn die Vorzüge kollektiver Güter höher als dieKosten der Beitrage und Zugang überwachenden Institutionen sind. Diese organisatorischmachbare Lösung ist hoch plausibel für weite Teile des Sozialstaats: Indem Organisationendie Beteiligung aller am Kollektivgut sozialen Sicherung erzwingen, schaffen sie das Ver-trauen, dass alle einen Beitrag leisten – eine Sicherheit, die für rationale Egoisten die Bedin-gung für Kooperation ist. Wohlfahrtsstaaten schaffen den institutionellen Rahmen des kol-lektiven Handelns rationaler, Nutzen maximierender Akteure in N-Personen-Gruppen.Monetäre Beiträge zum Sozialstaat lassen sich relativ leicht kontrollieren, die Abflüsse inForm von Zugangsrechten zu Transfers und Diensten ebenfalls. Die Individualisierung derKollektivgüter durch eine an individuellen Beiträgen bemessene Allokation sorgt für die Ak-zeptanz auch unter rationalen Opportunisten. Da damit aber nur ein Teil des Sozialstaats er-klärt wäre, seine umverteilende Komponente aber nicht, argumentierte der Beitrag, dassGruppen, die gelernt haben rational zu kooperieren, darüber hinaus auch umverteilende Ele-mente anlagern könnten. (Geld- und Dienst-)Leistungen zu Gunsten ‚Dritter‘ fehlt die äqui-valente Beziehung zwischen Beitrag und Auszahlung, sondern die Beziehung ist geradenicht reziprok. Diese Form der Kooperation ist, wie gezeigt wurde, von Werten abhängig,die legitimieren, dass Wohlfahrtsstaaten umverteilen. Ein Kern moralisch anspruchsloserKollektivguterzeugung dürfte im Vergleich zu angelagerten solidarischen Anteilen wohl-fahrtsstaatlicher Programme die beständigere Form der ‚Einigung‘ auf kollektive Regeln derKooperation sein. Denn deren Stärke besteht darin, dass Kooperation selbst bei wenig mora-lischer Gemeinsamkeit und gar Dissens möglich ist. In einer sich globalisierenden Welt dürf-te dies zunehmend wichtig werden.

Während die in diesem Beitrag diskutierten Konzepte der politischen Ökonomie des Sozi-alstaats individuelle Werte und kollektive sozialstaatliche Institutionen eines politischen Ge-meinwesens unmittelbar aneinander schließen, begreift eine kontrakttheoretische Sicht dasKollektive von institutionellen Regeln reflektierter. Denn Kontrakte kommen nicht durch in-dividuelle Wahl, sondern durch kollektive Wahlprozesse und durch politische Aggregations-mechanismen zustande. Das wird dem Einigungsproblem gerecht, das bei unterschiedlichen(Wert-)Interessen besteht. Mit Buchanans konstitutioneller politischer Ökonomie wurdennicht-normative Mechanismen der Einigung auf gemeinsam anerkannte Institutionen unternicht per Wertkonsens verbundenen Akteuren erschlossen. Mit dem wechselseitigen Tausch

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von Einschränkungen und Kompensationen würde demnach ein Konsens hergestellt, selbstwenn ein Gesellschaftskontrakt eine Einschränkung individueller Präferenzen darstellt. Auchdie Kooperation im Wohlfahrtsstaat ist zustimmungsfähig, weil Belastungen einer Gruppedurch ‚constraints‘ auch für andere Gruppen ausgeglichen werden. Ein gesellschaftlicherKonsens auf eine bestimmte Verteilung der Anrechte – und ein Sozialstaat enthält eine sol-che – ist ein Geflecht an eingeräumten ‚Vorteilen‘ (durch Handlungsrechte und Rechte ankollektiven Gütern) einerseits und Belastungen (durch festgelegte Pflichten) andererseits.Was ein ausgleichender Vorteil ist, ist weich definiert und bei fehlender Exit-Option für vie-le auch wenig relevant. Ein Konsens mit Hilfe von Kompensationen bringt nur eingeschränktverallgemeinerbare konstitutionelle Regeln hervor; es ist immer nur ein faktischer Konsens.

Nach dem ökonomischen Kontraktualismus ist der Sozialstaat ebenso das Ergebnis vonMachtunterschieden und Verteilungskonflikten, was für einschlägige sozialstaatstheoretischeKonzepte 1980 (Korpi 1980) anschlussfähig ist. Denn kontraktuelle Einigungen sind nachBuchanan geprägt durch Machtpositionen. Andererseits führt Unsicherheit über die eigenekünftige soziale Position zu einem generalisierten Interessenstandpunkt, wegen dem umver-teilende Elemente selbst für rationale Nutzenmaximierer akzeptabel werden. Das kontrakthe-oretische Modell begreift, dass sozialstaatliche Kooperation ein asymmetrisches Verhältnisist (Rieger / Leibfried 2004), das konfliktive Interessen umklammert. Es führt zu einem rea-listischeren Modell weg von Konsensprämissen. Wir negieren nicht, dass es Werte gibt, überdie in westlichen, (post-)industriellen Gesellschaften weitreichend Konsens besteht, etwa dieTrennung von Staat und Religion, das Prinzip der Säkularisierung oder die Freiheit und derSchutz des Einzelnen (institutionalisierter Individualismus). Jenseits liberaler, demokrati-scher Grundprinzipien dürfte aber über die Verteilungsprinzipien jenseits der Sozialversiche-rungen mit ihren Re-Individualisierungsversprechen von Kollektivgütern Dissens herrschen.

Begriffe wie Moralökonomie, Wohlfahrtskultur, in wohlfahrtsstaatlichen Institutionenverankerte Werte meinen im Grunde etwas anderes, wenn sie von Institutionen sprechen, alsAnsätze der ökonomischen Sozialtheorie. Letzte zielen auf Regeln, die aus den Einigungs-zwängen unter interdependenten Akteuren geboren werden. Ein ‚gerechter Anteil‘ an kollek-tiv erzeugten Gütern, aber auch gewaltlose Konfliktlösung oder gleichberechtigte Teilhabeam politischen Prozess sind Regeln, die sich aus einem Interesse aller ableiten lassen. Sogeht es im kontrakttheoretischen Modell um Regeln, die selbst bei inhaltlich differierendennormativen Vorstellungen gewählt würden. Dagegen versteht die politische Soziologie un-ter verhaltensbeschränkenden Institutionen eingelebte und in Kultur abgelagerte Gewisshei-ten und sinnstiftende Wissensmuster, Skripte oder Regeln zur Interpretation der Umwelt (Di-Maggio / Powell 1991; March / Olsen 1989). Die Rolle von kulturellen Überzeugungen, dieweitgehend ‚taken for granted‘ und nicht rationalem Kalkül zugänglich sind, soll hier nichtverneint werden. Eine stärkere Beachtung des Unterschiedes zwischen kulturellen Ideenbzw. einer moralischen Basis einerseits und den kollektiven Regeln, die bei rationaler Koo-peration entstehen, würde in der Debatte um die Grundlagen des Wohlfahrtsstaats mehrKlarheit schaffen. Aber die Sphäre der (Sozial-)Politik zeichnet sich dadurch aus, dass kultu-relle Ideen der Gerechtigkeit oder der Gleichheit etc. umstritten sind und oft nicht normativeKooperation organisiert werden muss.

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Prof. Dr. Ursula DallingerProfessur für Soziologie/Sozialpolitik

Universität TrierUniversitätsring 15

54296 [email protected]

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Soziale Welt 59 (2008), S. 181 – 197

Glocalized Dioxin – Regulatory Science and Public Trust in a Double Risk Society

Von Kuei-Tien Chou

Abstract: This article probes into risk events that occurred in Taiwanese society between 2004and 2005, including dioxin contamination in baby formula, ducks and duck eggs. It critically dis-cusses the special risk governance structure, public risk perception and trust in newly industriali-zing countries. In particular, through discourse analysis, the author points out that historically,technocrats have shown authoritative attitudes when regulating different risk events. The authoralso analyzes how the delayed and hidden risk governance structure alters public perception andsystematically destroys public trust in regulators’ risk governance.

1. Problem identification

From the 1990s, occurrences of dioxin contamination in food have appeared in an apparentlyendless stream. For instance, in 1997, animal feed in Belgium, France, German and Austriawas found to be contaminated with dioxin. Serious political dispute surrounded the issue. InJune 1999, an instance of dioxin contamination in meat and milk occurred in Belgium. InMarch 2005, French baby formula was suspected of being contaminated by dioxin, and inMarch 2006, Dutch pork was found to be contaminated by dioxin. As Taiwan is an importerof these products, the above have all had a degree of impact on Taiwanese society.

Taiwan, as a newly industrializing country in East Asia, has experienced an authoritativesocio-political history in the Cold War era, and thus has its own special risk governance pro-blems in terms of regulatory science, which deserves in-depth discussion. By focusing on theissue of dioxin contamination in milk, and duck meat and eggs in Taiwan in 2004 and 2005,this article aims to discuss the phenomenon of technocrats’ risk assessment in terms of posi-tivistic regulatory science, which hides and delays risk and ignores risk communication. Al-so, through the results of national telephone surveys, the author analyzes problems of publictrust and risk perception in response to the special risk governance.

2. Theoretical and analytical framework

2.1 Regulatory science and culture

Since ecological, health, social and ethical risk threats have become trans-boundary, techno-crat-monopolized policy decision-making mechanisms are facing governance dilemmas. Inthe past, technocrats traditionally emphasized that positive scientific evidence for risk as-sessment and governance of health, ecology, and food contamination issues was the funda-mental basis for policy decision-making. Technocrats also believed that technological as-sessments should be done based on objective and neutral scientific rationality to ensure theexistence of risk and its effects. Thus, social values and political inventions of nonscientificrationality were excluded (Wynne 1980; Rutgers / Mentzel 1999). From another perspective,this is the character of contemporary „regulatory science“ – through the scientific consultati-on mechanism, technocrats apply mainstream and sound science as the foundation of policy-making to conduct risk regulation (Jasanoff 1990). However, these positivistic risk assess-ment viewpoints of regulatory science have had adverse impacts and suffered mismanage-ment. For example, the British government’s handling of BSE risk and the Seveso incidentin Italy are all being challenged on grounds of legitimacy.

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Another problem of regulatory science is that while supporting risk policy decision withpositivistic scientific assessment, it is often necessary to set risk tolerance standards. This isthe dilemma of narrow, positivistic scientific rationality, as proposed by Beck (1986, 1993).We live with much pollution, considering national regulation of toxic materials; yet the go-vernment ironically assures us that everyday exposure to „low“ levels of toxic materials doesno harm to human health. Additionally, experts in different sectors (including governmentalagencies and scientific consultation commissioners) have disputes on single risk events. Dis-putes between experts also reveal scientific uncertainty (Schwarz / Thompson 1990). Howe-ver, for ease of regulation and management, technocrats often ignore the uncertainties anddirectly deem positivistic knowledge as the foundation of regulation. They are fully confi-dent that scientific inspection, tracking and management are the sole instrument in dealingwith contemporary uncertainties. Such an attitude makes risk regulation a matter that givespriority to science and shows severe and objective positivism. Under these circumstances,analysis of the following cases showed that regulatory culture is rather inclined to „hard sci-ence“ (Jasanoff 1990).

From another perspective, such limited regulatory culture, which also ignores scientificuncertainty, in fact usually underestimates the complexity of risk, delaying and hiding riskthreats, which results in public distrust and dissatisfaction in state’s risk governance capabili-ty. Yet, „ignorance“ (Nicht-Wissen) is the core of contemporary risk problems (Beck 1986).In a society with highly-developed, complex technologies, more transparent and open socialleaning and reflection are required. Ignorance makes public panic and discontent. However,technocrats and their narrow scientific rationality have a monopoly on risk knowledge, andthis broadens the gap between science and society and shapes public trust and risk percepti-on.

2.2 Risk governance and regulatory culture in newly industrializing countries

Newly industrializing countries have their own particularities in terms of risk governanceand regulation, especially in the face of fierce global technological competition. Like allcountries of the world, they shoulder the threats and pressures of technological risks. Further,the metaempirical goal of learning and tracing development trends in Western industrializedcountries results in a mentality that puts economic and technological competition ahead ofrisk governance. On the other hand, in recent decades, emerging industries have rapidlyforced high technology onto societies. However, unstifled criticism and a watch-dog attitudehave not developed within society.1 Such a contradictory phenomenon partially reveals thetheory of the development state, one which argues that government authority directs and ma-nipulates the outlook of national technological and economic development (Evans 1995;Weiss 1998).

We need to deliberate on the relationship between the long-term authoritative historicaland political backgrounds and mainstream regulatory science. That is the „selective affinity“between them and how it manifests in terms of technocrats’ risk policy-making. Taiwan ex-perienced an authoritarian rule during the Cold War era. From the 1970s, technological ex-pertise dominated policy-making and formulation, and became institutionalized. On the

1) For in-depth analysis, please refer to Chou’s (2002, 2004) articles. Moreover, in newly industrializingcountries, the tension and systemic gap between technology and society has caused greater problemsregarding public trust and risk governance. For example, the South Korean researcher Dr. HuangWoo-suk faked scientific numbers and breached scientific ethics. What caused ethical disputes wasthe issue of female personnel in his research team donating their eggs to his research. However, be-cause of the strong nationalist feeling in South Korean society, most Koreans viewed Dr. Huang as anational hero (The Guardian Newspaper, 2006). Please refer to analysis of Chou (2005).

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other hand, although Taiwan democratized at the end of the 1980s, the Taiwanese govern-ment still relied on the expertise-oriented scientific consultation model inherited from theWest. Thus, authoritarian expert politics maintained its position controlling policy-makingand governance. This history shows how authoritative political tradition and positivistic re-gulatory science have been embedded in society, allowing technocrats to hold relative auto-nomy to execute authoritative policy-making and control discourses of risk regulation.

Chou’s (2005, 2007) research in risk governance and communication of GMOs, SARSand the Taiwan Biomedtech Island Project discovered that due to the „selective affinity“ bet-ween authoritative ruling and regulatory science, Taiwan’s risk regulators emphasize the spi-rit and model of scientific positivism to a certain degree. Also, technocrats get used to mani-pulating evidence-based scientific risk assessment as the foundation of judgement. They alsoassert that resolution and prevention of scientific problem should be dealt with by scientificlogic. Thus, they ignore other dimensions such as the social, ethical and legal. Such a regula-tory culture not only results in risk uncertainty, it also causes hidden and delayed risk gover-nance, inadvertently causing „public unawareness“ to risks. This is why the government’sslow and ineffective risk governance has encountered strong public criticism. This illustratesthe particularity of risk governance in newly industrializing countries – an authoritative re-gime of regulatory science perpetually hides risks and breeds ignorance, causing public anxi-ety.

2.3 Ignorance shapes risk perception

We need to examine how ignorance shapes public risk perception, and how it causes publicdistrust. Slovic (2000a, 2000b) points out the „asymmetry principle“; that is, the public trustis rather vulnerable and easily destroyed in response to technological risks. In many cases,we see that public distrust is developed faster than trust.

When dealing with risk events, if technocrats, trapped in the viewpoint of positivism and„sound science“, totally ignore the impact scientific uncertainty and risk communication hason the public, public antipathy develops. The public considers official aggrandizing of se-rious objective scientific evidence as the basis of risk policy-making “trash science“ (Ed-mond / Mercer 1998). That is, how technocrats ignoring risk uncertainty and showing incli-nation to positivistic and empirical scientific judgment results in a lack of interaction andmultilateral risk communication.

To reflect the problems of the authoritative regulatory regime of newly industrializing so-cieties, risk communication is critical. Not only is scientific uncertainty ignored (this is ratio-nalized as being more effective and emphasizing economic development); risk governancedelays knowledge of and conceals risks. This distorts the process of risk communication,causing „system gaps“ and weakening public trust (Chou 2002). This cyclical process cancause serious public anxiety and distrust.

2.4 Analytical framework

Using the above theoretical frameworks, this research focuses on risk regulation and gover-nance in newly industrializing country and public perception and trust under these structures.For the risk regulation and governance, the author analyzes regulators’ (technocrats’) view-points on risk assessment and communication at the occurrence of an event through dis-course analysis. Mainly, „symbolic viewpoints“ and „narrative materials“ were collected toidentify the problems in the risk regulation model. As the major actors of risk regulation,technocrats hold the power to control mainstream discourses on risk events. Whether for fol-low-up, investigation or statistics, technocrats possess more risk knowledge and systemati-

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cally carry out systematic governance measures (Lipton 1999; Ericson / Haggerty 1997). Thediscourses of technocrats reveal the particularity of regulatory science and the authoritativeculture. At the same time, by studying the development of instances of dioxin contamination,the author analyzes how technocrats respond to criticisms from social movement groups andthe public. Under these contexts, we clearly see how technocrats’ attitudes shape a gover-nance culture of uncertainties (Wynne / Dressel 2001) and symbolically become the over-ri-ding characteristic of risk regulation in newly industrializing country.

In facing the culture of governing regulatory science, the author observes what kinds ofrisk perception and trust are formed. Attention is particularly given to pubic risk perceptionand trust formed by the arousal of political and social movement groups in a structure of hid-den and delayed risk governance. The author undertook national telephone surveys to studypublic opinions on state’s risk governance capability, to systematically understand publicrisk perception, and to discuss the problem of public trust and risk governance in newly in-dustrializing country.

3. Storyline of risk events and governance

Below are several dioxin contamination risk events for analyzing risk governance problemsin newly industrializing country. Viewpoints of risk assessment and risk communicationfrom technocrats in different sectors are studied to know how regulatory science is operated,so as to further reveal how it is governed in the authoritative historical background, and howtechnocrats become strongly inclined to positivism in conducting risk regulation.

3.1 Story one: dioxin contamination in milk

Risk disputes spread along with the deeds and delayed communication of regulators. OnApril 13th 2004, the Department of Health (hereafter DOH) announced that dioxin levels inall food in Taiwan for the past year conformed to WHO standards. However, stories ran inthe China Times Express on May 17th and in the Apple Daily on May 18th about the surpri-sing news that the DOH had concealed the fact that three samples of milk (produced by twodifferent brands) contained excessive levels of dioxin. These news caused public panic and aslowdown in sales of all milk products in supermarkets. On May 24th 2004, Legislator JaoY-ung-ching and the Environmental Quality Protection Foundation (hereafter EQPF) held apress conference. They requested the DOH to identify the brands of milk that were testedwith excessive dioxin levels. However, their request was rejected. Further, politicalization ofrisk dispute becomes even serious. Facing the pressure of social movement groups and thepublic, DOH was still unwilling to publicize examination details. Even, Director Chen Lu-hon of the Bureau of Food Sanitation argues that from the viewpoint of scientific assess-ment, there is no food safety problem. On TV Media, he also stressed:

Although the examination value is higher than regulated, they are all within the range of WHO regula-tion (Hong / Liao 2005).

However, surveys done by environmental protection groups showed that not only didsome of milk products have excessive dioxin levels, but one goose sample and two chickensamples all had excessive dioxin levels based on EU standards. This caused strong criticismfrom environmental protection groups. Environmental protection groups such as the GreenFormosa Front, the Green Citizens’ Action Alliance, the Taiwan Watch Institute, and theEQPF strongly criticized DOH reports, which only argued that the general average of the in-spection was lower than the highest tolerable level of EU standards rather than notifyingwhich milk samples contained abnormally excessive dioxin levels. The DOH tried to „pre-tend that everything was going well“ (Lin 2004). At 6 p.m. on May 25th 2004, under greatpressure from environmental protection groups, the DOH announced that milk products of

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two brands were over 3 pg I-TEQ / kg-bw / day as regulated by the EU. This event stimula-ted environmental movement groups to request the government to establish strict dioxinstandards for food. They also declaimed against the government intentionally concealing thetruth and breaching the consumers’ right to know. In fact, the reasons that the DOH refusedto notify the public included protecting the suppliers and their stance of adopting narrow riskassessment. When interviewed by TV media, Director Chen of the Bureau of Food Sanitati-on said:

Dioxins are everywhere in our living environment. They are in all kinds of food we eat, but in differentlevels. This is a normal situation (TVBS News 2004).

Obviously, from these statements, it can be seen that DOH officials viewed risk communi-cation from the obstinate perspective of positive risk assessment. And, ironically, it was dee-med that there is no harm for the public with exposure to „normal“ or „low“ dioxin contami-nation in daily life.

3.2 Story two: salmonella contamination in baby formula

On March 24th 2005, Celia baby formula (imported from France) was suspected of beingcontaminated with salmonella. After La France à Taiwan had urgently informed the DOH,they had immediately requested the suppliers to remove some milk products from supermar-ket shelves. However, this information was not released until the evening of April 18th 2005.This caused fierce protests from consumers and great public fear. In addition to the media’swide reporting and critical comments regarding this issue, the Consumers’ Foundation alsostrongly attacked the DOH for deceiving the public and delaying the release of risk informa-tion. Obviously, such deeds meant that officials ignored the public’s right to know in safegu-arding their health. As Central News Agency reported, Director Chen of the Bureau of FoodSanitation explained:

The reason of why we delayed in informing the public was that we were actively investigating conta-minated brands and products. We did not want to cause unnecessary fears. We are certain that ourmeasures in dealing with this issue were beyond question (Lin 2005).

However, under great pressure from a consensus of consumer groups, the Executive Yuan,DOH, and BFS apologized to the public on April 19th 2005. They said reflections should bemade about better risk communication (Chen et al. 2005a). Up to this point, the gap betweenthe above fragments of issue development occurred because technocrats still deeply believedthat scientific risk assessment and professionalism was superior to risk communication. AsChina Evening reported, Director of Bureau of Food Sanitation apologized to the public andannounced:

DOH will take administrative responsibilities. If the public grades us 80 points then there is 20 left forus to work on (Chen et al. 2005b).

His attitudes showed DOH’s deficiencies in risk communication. Also, it seemed he im-plied that DOH had done enough as a regulator. However, DOH ignored what consumers’required – information transparency and communication. More, during the disputes of thiscase, the vice minister of the DOH continued to emphasize the spirit of scientific risk assess-ment and tried to legitimize their actions. Instead, he put little concentration on risk commu-nication. With such attitudes of hard science, he indicated:

From existing information and risk assessment, the DOH’s actions were not improper (Lin 2005).

Balanced information access and scientific risk assessment were elements of professional considerati-ons (Chen et al. 2005b).

Overall, the issue of salmonella contamination in French baby formula also involved a riskgovernance culture with hidden risk information and delayed risk communication. The logic

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embedded in such contexts was that technocrats were still accustomed to applying traditionalrisk assessment models as the foundation for professional judgment. They ignored the factthat risk communication is equally important.

From governance disputes on these two food risk issues, we can see that, compared to thepublic, technocrats held different thoughts on the importance of risk assessment and riskcommunication. Technocrats tended to apply risk assessment and positive scientific evi-dence to form reaction strategies. What is paradoxical is that positive evidence and investiga-tion are usually only used as reference. Accordingly public risk perception and possible reac-tions are ignored. The public values the transparency of risk information and considers riskperception and risk identification priorities. That is, there are essential risk communicationgaps between the public and technocrats.

3.3 Story Three: dioxin polluted duck eggs

On June 11th 2005, following the previously mentioned food risk disputes, the media unmas-ked another case where the DOH delayed and concealed risk information. As news of dioxincontamination in ducks and duck eggs made national headlines in the following days, fearand criticism arose from the public and consumer groups. In addition, since the origin andevidence of pollution were not certain, it was believed that the problem had been there for along time.

In February 2005, when the DOH carried out selective inspections in supermarkets, theyfound that duck eggs from Siansi Township (Chunghua County, Taiwan) contained excessi-ve dioxin levels. They immediately destroyed these toxic duck eggs and closed duck farms,but did not release this information. However, in June 2005, the DOH found contaminatedduck eggs had entered the market and the secret thus became public. After exposure of thisnews, in addition to receiving wide coverage highlighting the adverse health effects dioxinmay pose to humans, the media and social movement groups also successively criticized go-vernment practices as very improper.

However, as people suspected that the government concealed the truth, on United Daily,the Council of Agriculture (hereafter COA) insisted:

Since pollution origin is not ascertained, hastily announcing the information will cause public fear (Heet al. 2005).

Meanwhile, the director of the Bureau of Food Sanitation denied that the DOH had con-cealed the truth. He said that based on professionalism, the priority was to stop dioxin conta-minated duck eggs from entering the market and to destroy them the very first time. OnEpochtimes, he also emphasized:

Discovering problems is for solving problems, not for raising meaningless public panic. DOH did notwant to conceal the information. According to a past experience, even one milk company closed forhigher dioxin tolerance standard. Thus, DOH decided to destroy all duck and duck eggs before infor-ming the public (Chen 2005).

However, the media still suspected that the DOH, COA, and Environmental ProtectionAdministration (hereafter EPA) had known the inspection results as early as four months agoand that they had concealed the news and secretly bought back then destroyed and slaughte-red contaminated ducks and duck eggs. The Consumers’ Foundation condemned the DOH,COA, and EPA for „making a joke of the health of the public“ (ibid.). Moreover, evidenceshowed that the pollutants came from dense smog with greatly excessive dioxin levels emit-ted by the Taiwan Steel Union Company (hereafter TSU). However, since the EPA and COAlacked clear scientific evidence, confirmation of the pollutant still cannot be made public(Lin 2005a).

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3.4 Story four: regulatory science and high pollution industries

The issue of dioxin contamination in duck eggs raises another wave of concerns in informati-on concealment and risk assessment instrumentalization. Subsequently, another secret of in-strumentalized scientific risk assessment and hidden information broke out when it emergedthat Taiwan Steel Union Company, which emitted dense smog with greatly excessive dioxinlevels, had been operating since 2001. July 2003 was the first time that the EPA found dioxinemissions from TSU to be 150 ng-TEQ / Nm3, which was hundreds of times in excess of theEU standard (0.4 ng-TEQ / Nm3). In February 2005, a reading of 282 ng-TEQ / Nm3 wasfound. However, since there was no regulated national dioxin emission standard, TSU onlyreceived a ticket from the EPA. It was not until the issue outbreak of dioxin contaminatedduck eggs that the TSU was forced to officially shut down in June 2005 (ibid.).

It was because the TSU is one of the resource industries of the „Challenging 2008 – Natio-nal Development Projects“, which are promoted by Taiwan government. China Times repor-ted that the Director of Industrial Development Bureau said:

If TSU closed, slag from all factories will be no place to go. Thus, TSU shutdown will cause seriousproblems (Lin 2006).

It was feared that serious consequences would result from the shutdown due to TSU beingcategorized as a state-promoted resource industry, and it was also part of a subproject titledChallenging 2008 National Development Project (Lin 2006).

Greenpeace Taiwan trumpeted criticism that the environmental evaluation of TSU was fa-ked. They questioned „how can this kind of industry survive?“ and proposed the following:

Early in 2003, EPA found that TSU emitted over 150 ng-TEQ / Nm3 and twice required them to im-prove. TSU was fined third times for excessive emission and improper outdoor storage. This means thatSiansi Township has been polluted for over two years. EPA did not regulate TSU when it was establi-shed. After TSU operated, EPA made no warning after pollution caused“ (Lee / Lin 2005).

As the EPA urgently enforced dioxin emission regulations, in October 2005, TSU finisheda self-inspection on dioxin emission standards in January 2006. At that time, the dioxinemission quantity had been reduced from 251 ng-TEQ / Nm3 to 1.73 ng-TEQ / Nm3. On Au-gust 12th 2006, the EPA announced that dioxin emissions from TSU had achieved the stric-test regulatory standard of 0.4 ng-TEQ / Nm3. That is to say, the great drop of dioxin emissi-on quantity during this period was due to the laissez-faire attitude towards risk governanceand long-term concealment of risk information. Inspection and assessment of pollution hadno practical function for risk governance. It was until risk outbreak that legal regulation wasenforced. Coincidentally, such a hidden and delayed risk governance process conformed tothe severe criticism by Environmental Quality Protection Foundation:

The average dioxin emission quantity of 150 ng-TEQ / Nm3 was 375 times higher than the newlyenforced standard 0.4 ng-TEQ / Nm3 (Lin 2005b).

The whole issue reveals that technocrats maintain the authoritative logic of developmentalstate and they hold the attitude of „valuing economic development and ignoring risks“. Un-der the contexts of strong statism and valuing industrial development, they concealed risk in-formation and delay risk governance. For now, they faced strong criticism and challenge bythe society.

3.5 Story five: the second dioxin contamination issue

Scientific uncertainty was involved as well in the issue outbreak of dioxin contaminatedduck eggs in June 2005. Duck farmers not only denounced the EPA for maintaining silencefor two years, they also requested the government to release the truth (Jiang 2005). The EPAand COA passed the buck regarding the responsibility of solving the problem of dioxin con-

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tamination in duck eggs (Wang 2005). On August 16th 2005, the COA, EPA, and DOH helda joint press conference. However when the EPA indicated that the pollutant of dioxin conta-mination might be animal feeds, the COA immediately contradicted this statement. TheCOA believed there to be no problem with animal feeds, and that the pollutant might be to-xic combined ash emitted by TSU.

After issue outbreak, the COA, EPA, and DOH decided to strengthen communication me-chanisms. They planned to hold regular meetings on food safety issues and to establish across-department Crisis Management Team. Yet, while the risk outbreak in June was stillunder investigation, Legislator Ting Shou-chung announced that on September 27th 2005 di-oxin contamination in ducks and duck eggs was found again in the neighboring SengkangTownship (Chunghua County). His interrogation showed that governmental agencies had al-ready known the results of the inspection on August 18th 2005, but they continued concea-ling the information. They did not notify and warn the public immediately. Thus, anotherwave of consumer fear and criticism from social movement groups occurred (Chen / Cao2005).

Since this was the second issue outbreak of dioxin contamination in ducks and duck eggs,it made headlines and full page news reports appeared in all major newspapers and other pa-per media in Taiwan. The main emphasis of this criticism included the following. WhenEPA tests found dioxin contamination in food, they did not send official communicationforms to the COA for immediately carrying out collective measures. Thus, during this peri-od, contaminated ducks had entered the markets with nearly 3,000 ducks being sold. Also,nearly ten thousand contaminated duck eggs were preparing to be manufactured (Chen et al.2005b). In reality, dioxin contamination in food was found or tested for by technocrats inAugust. However, the EPA did not immediately release the explanation of the uncertainty ofrisk assessment. The director of the Department of Air Quality Protection and Noise Control(of the EPA) indicated:

DOH is serious in handling this issue. The problem is that it is complicated to figure out pollution ori-gins, thus we need to collect scientific evidences. This is why we didn’t announce the information im-mediately (ibid.).

That is, technocrats deemed cautious scientific risk assessment and evidence to be the fun-damental basis of policy decision-making. However, such a concept may delay initial riskcommunication to the public from concerns of causing serious social fear. Eventually, simi-lar consequences occurred with the minister of the EPA admitting his fault and to apologize.

In respond to pubic fear and criticisms, from the viewpoint of scientific safety standard, asEpochtimes reported, Director of Bureau of Food Sanitation said:

According to WHO standard, tolerance intake for a person per month is 70pg / kg. That is, for a 60kgadult, the tolerance intake for him / her is 4,200pg / month, which means there will be no problem foran adult to eat 12 ducks in a month. To converse into the number of duck eggs, if one eats 70 duck eggswith 10pg dioxin, then he / her exceeds the level regulated by WHO (Epochtimes 2005).

But, the next day, after criticisms, Director Chen changed his statements and said:

Dioxin is in not only duck and duck eggs, but other food. Therefore, better not to eat more than 7 ducks/ 40 duck eggs per month (ibid.).

What contradictory was that, from the view of scientific safety, even regulators have diffe-rent interpretation – one COA commissioner said that if he were the director of DOH, hewould call upon the public not to eat ducks and duck eggs for these two days (ibid.).

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3.6 Reflective discussion

In observing the risk events above (see Table 1), we can see that along with wide reportingand follow-up by the media, the emphasis of social sectors has been changed from a hiddenand delayed risk culture to continuous scrutiny and criticism of social movement groups. Ac-cordingly, the public displayed high risk perception and awareness, and started to get rid ofthe structural gaps of delayed development in the social system. However, conversely, as so-cial sectors became aware of risks, technocrats who dominated national risk governancewere still being limited within old ideologies of regulatory science, so as to produce instituti-onal gaps between risk assessment and risk communication. No matter whether it was tech-nocrats of the EPA, DOH, or COA, they all dealt with these successive risk events by app-lying the model of delayed regulation and risk communication. In addition, basic discoursesafter issues outbreak mainly emphasized that for protecting consumers to be free from fear,uncertain pollutants and pollution origins will be investigated thoroughly in order to proposeprecise evidence and results of risk assessment. In other words, consumers can be free fromfear through severe risk assessment and scientific evidence – this is still the favorite risk go-vernance model by technocrats. However, comparing reactions of social sectors to those oftechnocrats, the latter seemed to play the role which continuously produced systemic gaps interms of hidden and delayed governance model, regulatory institution, and risk communica-tion. From the 1990s on, in EU societies, BSE and GMO disputes have aroused social con-cern amongst consumer groups. However, in comparison with Taiwanese society, relatedrisk perception on food risks just started to develop around 2005. That is, only recently glo-balization of food safety and risk, and risk perception in newly industrializing countries hasbeen increased. Maybe this is another developmental stage characterized by a later-comerand technological learning society. Most important of all, how newly industrializing coun-tries gradually get rid of hidden, delayed, and ignorant risk culture / structures. This new de-velopment, which pushes forward the need of paradigm shift in terms of risk governance foremerging technologies, goes hand in hand with the creation of high tension between nationaltechnocrats and the public.

On the one hand, such structural tension results in requests by the public for transparentand open information and public participation. On the other hand, professional authority andblack-box operation is insisted by technocrats, which usually result in another wave of riskdebates. What is worthy of further analysis is how such a structurally hidden and delayedrisk culture would challenge public trust. Moreover, concerning previous analysis, as the pu-blic becomes rather sensitive and suspicious in response to risk information, the so-calledasymmetry principle highlights the reason for public trust loss in a disadvantageous structu-ral environment. Based on this hypothesis, we further analyze the problem of public trust inrisk disputes and risk governance.

Table 1: Comparisons of Risk Issue Developments

Time Issue Governmental Agency Civil Society Media Public Reaction

June1999

Dioxin conta-mination in Belgian milk and dairy pro-ducts

DOH official admitted that they had limited knowledge about dioxin levels in food.

Consumers’ Foundation appealed to government to check products tho-roughly and the sup-pliers should ensure products are not conta-minated.

Wide co-verage & strong cri-ticism

General public fear

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July2004

Disputes re-sulted from DOH’s inspec-tion of milk

DOH did not notify the public that Tunghai and Uni-President milk had excessive dioxin levels. Public fear and criti-cism arose.

Environmental protec-tion groups criticized the snails pace of the government’s progress in establishing dioxin standards in food and raw materials. Consumer groups criti-cized DOH for trying to conceal risk informati-on.

Wide co-verage & strong cri-ticism

General public fear

March2005

Salmonella contaminati-on in French baby formula

On March 24th 2005 DOH knew imported French baby formula was suspected of being contaminated with sal-monella. However, DOH delayed infor-ming consumers until a press release on April 18th 2005.

Consumers’ Foundation strongly criticized the government of concea-ling risk information. CF also appealed DOH to actively release infor-mation to consumers in-stead of concealing. And, an emergent risk communication mecha-nism should be establi-shed as well.

Wide co-verage & strong cri-ticism (from CF and legis-lators)

Frighte-ned con-sumers de-nounced DOH for concea-ling the truth and delaying to inform the public.

June2005

Dioxin conta-mination in duck eggs (Si-ansi Town-ship)

In February 2005, duck eggs in supermarkets were tested, and found to be contaminated with dioxin. DOH forced to remove toxic duck eggs from shelves. From March 2005 on, toxic duck eggs were destroy-ed and duck farms were closed in turn. After four months, the public was notified the public of the issue on June 10th 2005. Outsiders suspec-ted that the government concealed the truth.

Consumer groups criti-cized the government for delaying risk com-munication. Environmental protec-tion groups fiercely cri-ticized the DOH for being irresponsible, in-tentionally concealing risk information, igno-ring public health, and trying to pretend that everything was going well.

Wide co-verage and strong criticism

General public fear

Time Issue Governmental Agency Civil Society Media Public Reaction

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4. System destroys public trust

Based on above issue contexts, the author conducted a national-wide telephone survey inNovember 2005.2 The main purpose was to analyze public opinion on risk regulation andgovernance measures of technocrats, with a special focus on risk communication and publictrust. Hence, the questionnaire design was based on the development contexts of related issu-es. Major emphasis was placed on public trust and public recognition on risk communicationand risk assessment models of technocrats. Meanwhile, based on this foundation, the questi-onnaire also tested public trust in the risk governance capacity of the state and public percep-tion towards food safety issues in Taiwan.

June 2005

Excessive dio-xin emission of TSU

In 2003, the Environ-mental Protection Ad-ministration (hereafter EPA) found that the dio-xin emission quantity of TSU exceeded 150 ng-TEQ / Nm3. However, due to delayed regulati-ons, it was not until 2005 that dioxin emissi-on standards were set and put into effect.

Environmental protec-tion groups widely criti-cized the government for being lax about the existence of highly-pol-luted industry and de-layed risk regulation.EQPF indicated that the average emission quan-tity of TSU was as high as 150 ng-TEQ / Nm3. This meant that Siansi Township has been suf-fering the dioxin emissi-on standard which is 375 times higher than that of the EU (0.4 ng-TEQ / Nm3).

Wide co-verage and strong criticism

General public fear

Sep-tem-ber 2005

Dioxin conta-mination in duck eggs (Shenkang Township)

EPA had tested excessi-ve levels of dioxin emis-sions in August 2005 but no preventive measures were adopted. On September 27th 2005, Legislator Ting unmasked this secret. EPA thus urgently sent an official communicati-on form to COA for car-rying out joint measures.

Social movement groups fiercely critici-zed the government for delaying and hiding risk information again.

Wide co-verage and strong criticism

General public fear

2) The national telephone survey was done during the period from November 2nd 2005 to November16th 2005 by the Center for Survey Research, Academia Sinica. Subjects included citizens aged over18. The survey fields including the island of Taiwan, Kinmen, Matsu, and the Pescadores. Computer-Assisted Telephone Interviewing (ACTI) was utilized for data collection. The sampling method wasstratified systematic sampling. A total of 924 valid samples were collected with a confidence level of95 %. The standard error was ±3.29 %, with 14.80 % completion rate and 35.59 rejections. Averagetime for finishing a complete questionnaire was 16 minutes and eleven seconds.

Time Issue Governmental Agency Civil Society Media Public Reaction

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4.1 Toxic baby formula (salmonella contamination in French baby formula)

In March 2005, France and the WHO urgently informed the DOH (of Taiwan) that importedbaby formula was suspected of contamination. However, in order to carefully investigate andevaluate the whole issue, the DOH notified the public nearly three weeks after risk outbreak.This action raised strong public opinion and criticism from consumer groups. Although theDOH apologized afterwards, the key is that technocrats insisted that only after cautious sci-entific investigation and assessment was done could risk information be released to the pu-blic.

In the survey, only 15.1 % of the respondents agreed with the following statement: „Afterknowing imported baby formula was suspected of being contaminated by salmonella inMarch 2005, the DOH immediately requested suppliers to remove contaminated baby for-mula from shelves. However, the DOH only notified the public after three weeks of issueoutbreak.“ As many as 70 % of the respondents disagreed with the statement. Moreover,42 % of the respondents strongly disagreed.

Based on scientific risk assessment dominated by technocrats, respondents were given thefollowing statement: „The reason why the DOH delayed informing the public was becausethey had to clearly verify the name of the company and product variety.“ Only 32.4 % of therespondents agreed with this statement and 29.4 % disagreed, with 34.1 % strongly disagree-ing. In total, 63.5 % of the respondents disagreed with this statement.

Further, for the statement: „DOH’s actions of dealing with the issue of toxic baby formulawere not in accordance with the principle of openness and transparency.“ 55.4 % of the re-spondents agreed with this statement, while 35.2 % held the opposite opinion.

That is to say, the reactions of the majority of the public are that transparent and speedycommunication and notification mechanisms are essential for governing serious food riskevents. The superiority of risk assessment was rejected. Meanwhile, the public is worriedabout technocrats concealing related risk information and delaying to inform the public.

4.2 Dioxin contamination in duck eggs and ducks (Siansi and Shenkang Townships)

In 2005, risk events of dioxin contamination in duck eggs and ducks broke out in Chang-huaCounty (Siansi Township – June 11th; Shenkang Township – September 27th). The DOH andEPA successively delayed and concealed related risk information. Although these two ho-mogeneous risk events happened one after another, technocrats adopted traditional scientificand closed risk assessment models. Risk communication was done based on this foundation.The whole process started after media exposure of risk issues and was passive and dispirited.

Following is an analysis of risk communication models on the above risk issues. Techno-crats usually adopt the model of risk communication after risk assessment. Based on this mo-del, survey participants were asked to respond to the following statement: „The DOH saidthe reason why they destroyed toxic duck eggs first and informed the public later was becau-se they wanted to reduce public fear.“ Only 28.3 % of the respondents agreed with this state-ment, 30 % disagreed, while 38.2 % strongly disagreed. In total, 70 % of the respondents dis-agreed with this statement.

For the statement: „People said that the reason the government delayed notifying the pu-blic risk information was because they required complete professional assessments.“ 38.2 %of the respondents agreed with this statement, while 57.1% disagreed.

In terms of the degree of risk communication, we asked: „People said that the DOH haddone their duty and fulfilled their responsibilities to explain the situation to the public.“29.9 % of the respondents agreed with this statement, while 36.6 % and 28.5 % disagreed

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and strongly disagreed respectively. That is, in total, 65.1 % of the respondents disagreedwith this statement.

The above three questions show that the public was in considerable disagreement with thetraditional risk governance model of technocrats in dealing with risk issues of dioxin conta-mination in ducks and duck eggs (which deemed risk information notification and risk com-munication as trivial and narrow scientific risk assessment to be the priority). Thus, publictrust in professional risk assessments done by technocrats was reduced.

In light of these two risk issues of dioxin contamination in ducks and duck eggs, the direc-tor of the Bureau of Food Sanitation openly announced safety standards of eating ducks.

Concerning statements on food safety standards, we asked: „The DOH indicated that oneperson will be safe if he / she eats no more than 12 ducks in a month or 27 duck eggs in oneday.“ Only 26.9 % of the respondents trusted this statement. The number of respondents whodistrusted and strongly distrusted this statement was as high as 36.7 % and 31.2 % respec-tively. In total, nearly 70 % of the respondents distrusted this statement. Thus, it is concludedthat past models of delayed and hidden risk communication provided a weaker and moresensitive asymmetrical basis of trust. Within this structure, safety discourses on technocrat-dominated scientific risk assessment have found it even more difficult to regain public trust.In particular, since previous delayed and hidden risk communication was based on professio-nal scientific risk assessment, this resulted in severe social criticism.

Overall, from survey analysis on public risk communication, it is showed that risk assess-ment and risk communication models dominated by technocrats had lost their legitimacy. Indetailed analysis, the scientific authority of technocrats had been under fierce criticism of thepublic. On the contrary, the public requested transparency of policy decision-making and in-formation communication processes. That leads to problems in the relationship of trust. Thatis, such a risk governance model results in the system destroying trust (Slovic 2001).

5. Discussion

From the above analyses of technocrat regulation and the public perception survey, it is ob-served that whether for dioxin contamination in milk, French baby formula, duck meat, duckeggs or excessive dioxin emission by TSU, technocrats’ risk handling and governance ac-tions caused great disputes. These events have in common consistent inaction, delay ofknowledge and concealment of risk. However, in this process, risk assessment and policy de-cision-making are obviously instrumentalized. Moreover, scientific uncertainty of risk as-sessment was highlighted to delay risk regulation and public risk communication of seriouspollution events. In fact, instrumentalization of risk assessment by technocrats is not new(O’Brien 2000). Further, EU countries saw the following areas as needing more work: trans-parent information and diversified and participative policy decision-making. In particular,from the 1980s on, occurrences of BSE and dioxin contamination in food, and GMOs stimu-lated the world’s governments to reflect on risk governance. The historical role of risk go-vernance has undergone paradigm shift in Europe also, in 1990. A most concrete example isthe UK government’s measures in dealing with the BSE crisis. Values and mechanisms ofscientific risk assessment were widely changed, but, at the same time were also fiercely chal-lenged (Millstone / Zwanenberg 2000).

While shouldering the burden of paradigm shift in the historical role of risk governance, itis doubtful whether world’s governments will move ahead and undergo self-modificationand reflection. In fact, for newly industrializing country, with globalization of technology,food, and health, social sectors have gradually changed from being characterized by blind,delayed, and hidden risk cultures into those defined by awareness, criticism, and transparent

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communication. However, based on past experience, the situation is not so optimistic that itis likely that technocrats in governmental agencies will adopt a new governance paradigmlike that of the EU. It seems that there is no sign of a great institutional shift occurring in au-thoritative and top-to-down risk policy decision-making and governance models. In addition,even after undergoing many challenges, technocrat-monopolized risk governance still holdsits dominative stance by combining scientific expertise and conforming to the value of riskassessment, as well as ignoring risk communication. Don’t forget that expertise governanceis a combination of authoritative political and historical contexts embedded in local society.

Technocrats’ perpetuating delayed and hidden risk culture is a major cause of „double-risksociety“ (Chou 2002, 2004). This results in the process of „system destroying public trust“.Instead, such special contexts and structural developments make later-comer and technologi-cally learning newly industrializing countries became weak in disputes about technologicalrisks, and more vulnerable than Western societies3.

This can be observed from a comparative EU survey investigating risk perception and pu-blic trust in risk governance by governments. From research contained in Eurobarometer2006 – Risk Issues published by the European Commission (European Commission 2006),we see that 63 % of respondents stated that they were worried about mercury or dioxin con-tamination in food (ibid. 2006: 22). Also, there was general trust in risk governance of go-vernments in EU member states. 54 % of respondents considered EU authorities to haveplaced considerable emphasis on public health and food risk problems (ibid. 2006: 35). 55%of respondents considered EU authorities to have been quick to react to public health andfood risk problems (ibid. 2006: 39). Meanwhile, 49 % of respondents considered the EU au-thorities able to perform good risk communication in cases of food risk events (ibid. 2006:40). This survey related the state of risk governance in 25 EU states. On average, it showedthere was prevailing public trust in governments. Although the risk governance capacities ofworld’s governments vary, for Europe, the survey results were met with stable and positiveappreciation.

Conversely, previous research in Taiwan has revealed that the public are highly suspiciousof the government’s risk communication and risk governance ability. That is, due to distinctproblems and social contexts in Taiwan, a double-risk society characterized by weak riskperception and weak public trust has formed. Also, through the accumulation of a hidden anddelayed risk culture, the foundations of technological risks and public trust have becomeeven weaker. Thus, the confrontation between technology and society is more serious in Tai-wan than in western societies.

6. Conclusion

In Taiwan, with the authoritative historical and political background, as major regulators,technocrats hold their superiority in terms of risk policy-making and risk knowledge. Withrespect to risk policy-making, because the government had not been challenged by social

3) Bijker (2006) proposed the viewpoint that due to advanced technological development in Western so-cieties, they are subject to more vulnerability. The author considers that for newly industrializingcountries, more vulnerable and unstable tensions will be caused due to the special structure and cul-ture of a „double risk society“ – characterized by authoritative technological policy decision-making,a hidden and delayed risk governance and risk culture. As the tension between technology and societyin Western societies can be managed by scrutiny of social movement groups in a systematical way,risk governance problems and policy decision-making in later-comer countries are dealt with by ad-hering to traditional historical and cultural thoughts. The state of high confrontation between the stateand society is also another dilemma. This is also a problem that urgently needs to be resolved in termsof risk governance on technology, food, and human health.

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movement groups in response to technological risk policy-making, the long-term authoritati-ve ruling retains its legitimacy. Regarding risk knowledge, like western industrialized coun-tries, technocrats can trace, investigate, and gather risk statistics and manipulate informationto create official discourses. They comprehend much more about risk than the general pu-blic. Thus, authoritative expert politics are a special feature of Taiwan’s risk governance.Technocrats who are inclined to positivistic regulatory science and institutionally hide anddelay risks shape a governance culture in response to uncertain risks. To maintain the autho-rity of regulation, even under strong social pressure seen nowadays, technocrats have conti-nued to promote the effectiveness of scientific risk assessment. They apply a „hard science“view to support their discourses, which, though the public views as controversial are neces-sary to support their discourses. In other words, they still firmly believe that scientific riskassessment is superior to transparent risk information and risk communication.

In social sectors, whether for social movements or for public opinion surveys, the public isdissatisfied with the narrow official culture of regulatory science. In particular, the pubic isanxious and uncertain of these risk disputes and distrusts the technocrats’ governance capa-bility. In other words, even when social sectors strongly force paradigm shift of risk gover-nance, they have to struggle with the expertise-dominated political structure of theauthoritative state. In this wave of risk governance ideology confrontation, conflict ensues.Technocrats not only retreated to traditional model of scientific risk assessment and policy-making; from manipulating expertise, they systematically conceal and delay risk handlingand risk communication. Compared with western societies, newly industrializing country ap-pears positioned in high confrontation in terms of risk governance paradigm. Also, the au-thoritative decision-making and structure enjoyed by technocrats in newly industrializingcountry still perpetuates the legitimacy of continuing such a governance model. Even underfierce social criticism, the existing governance model will not easily collapse.

While dealing with governance disputes of emerging technological and food risks, wehave to evaluate the historical and social contexts of later-comer and technological learningindustrializing countries. Through analysis of the special structural dilemmas in social andgovernmental agencies, risk problems in different societies can be understood better. In par-ticular, the phenomena and features of weak public trust and risk perception in a double-risksociety can be the theoretical basis for future research on risk governance.

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Glocalized Dioxin 197

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Dr. Kuei-Tien Chou – Associate ProfessorGraduate Institute of National Development

National Taiwan UniversityNo. 1, Roosevelt Rd., Sec, 4,

Taipei, Taiwan (R.O.C.)[email protected]

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198 Kuei-Tien Chou

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Soziale Welt 59 (2008), S. 199 – 200

Abstracts

Marlen Schulz and Michael Ruddat

Incompatible interests? A discussion concerning the integration of qualitative and quantitative results

The advantages of combining qualitative and quantitative research methods was already ad-vocated by Max Weber. In spite of his early start on this subject, German sociologists follo-wing in Weber’s footsteps have been reluctant in exploiting the potential of combining quali-tative and quantitative methods. Such a combination promises two major advantages: mutualvalidation of research results and expanded realms of interpretation due to the integration ofexplorative and confirmative purposes. In this paper the strengths and weaknesses of qualita-tive and quantitative methods are being reviewed and the mutual benefits of combining thetwo approaches explained. Based on empirical studies in which such an integration was pur-sued the potential gain in explanatory power will be documented and possible conditions de-termined under which these gains can be expected. At the end the potential for meta-analysisin sociology will be addressed.

Boris Holzer

The Suffering of Others: Episodic Solidarity in World Society

In order to account for the specific characteristics of world society this paper is predicatedupon the view that the idea of „social integration” should be conceived of in less demandingterms. It suggests the communicative integration achieved by the focused attention of themass media as an alternative to normative integration. Analysing the tsunami-catastrophy in2004, I show how such a world event was able to precipitate an „episodic” form of transnati-onal solidarity. This kind of solidarity is based upon the universalistic programs of internati-onal humanitarian organizations that are triggered off by specific events combined withspontaneous and particularistic efforts of relief that take existing social ties as their point ofdeparture.

Ursula Dallinger

Rational Cooperation or Cultural Norms? The Welfare State in the Light of Economic Institutionalism

The contribution criticizes those concepts in Political Sociology, which assume, that formalwelfare state arrangements have to be embedded in societal values. It does not put into ques-tion the importance of (welfare) values, which order social relations and structure cooperati-on. But this contribution proposes a different theoretical approach and refers to theories ofrational cooperation and economic institutionalism in order to explain the social fundamentsof the welfare state. It analyses how economic social theory explains institutional constraintson the background of social dilemmas and the limits of rational action when co-operation isto be achieved. Approaches offering solutions to second-order contribution problems to in-stitutions are introduced more closely and related to cooperation in the welfare state (f.e. ‘co-

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200 Abstracts

operative institutions' and 're-individualization'). Economic approaches to cooperation andinstitutions are limited in scope; they explain the social insurance dimension of the welfarestate, but the redistributive dimension hardly becomes plausible. Here is the place of socialvalues about equality or justice. But even after giving values a certain role, the problem toreconcile multiple and conflicting social policy values has to be solved. The solutions of aneconomic contractarianism (Buchanan) are presented and their potential to explain consentdiscussed. The role of insecurity about the future social position that generates generalizedinterests is an important topic when asking for the preconditions for cooperation in a welfarestate.

Kuei-Tien Chou

Glocalized Dioxin – Regulatory Science and Public Trust in a Double Risk Society

This article analyses risk events in Taiwan between 2004-2005 that were produced by dioxincontamination in baby formula, duck and duck eggs. It critically discusses the special riskgovernance structure, public risk perception and trust in newly industrializing countries. Inparticular, through discourse analysis, the author points out that historically, technocratshave shown authoritative attitudes when regulating different risk events. The author alsoanalyzes how the delayed and hidden risk governance structure alters public perception andsystematically destroys public trust in regulators’ risk governance.