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Hochschule für Musik und darstellende Kunst Wien Abteilung 1 – Komposition, Musiktheorie und Dirigentenausbildung Speed and synthesis Interpretation von Energiefluß und Formdynamik in der Musik von Edgard Varèse und Beiträge zur Diskussion unterschiedlicher Hörhaltungen Diplomarbeit im Fach Musiktheorie bei Prof. Diether de la Motte vorgelegt von Christian Utz Mai 1995

Speed and synthesis

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Hochschule für Musik und darstellende Kunst Wien

Abteilung 1 – Komposition, Musiktheorie und Dirigentenausbildung

Speed and synthesis

Interpretation von Energiefluß und Formdynamik in der Musik von Edgard Varèse und Beiträge zur Diskussion unterschiedlicher Hörhaltungen

Diplomarbeit im Fach Musiktheorie bei Prof. Diether de la Motte

vorgelegt von Christian Utz

Mai 1995

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INHALTSVERZEICHNIS Vorwort 4 I. IMPULS 6 Hörhaltungen und Rezeptionsumfeld 6 Frei wuchernde Musik 7 Interpretation statt Analyse 8 Energiefluß und Formdynamik – Ernst Kurth 9 Hören und Vergessen 11 Das Hören als Bezugspunkt der theoretischen Interpretation – 13 Heinrich Besseler Möglichkeiten statt Ideal 14 II. ANNÄHERUNG – Edgard Varèse und seine Musikästhetik 16 Aggregatzustand des Klanges 16 Kristallisation 17 Formvorstellungen 18 Hörhaltung und Tradition 19 Neue Instrumente, neue Klänge 21 III. ARCANA – Energiefluß und Montage 23 Titel 23 Aufspüren der Energiemuster 25 Klangmassen: 26 - Statische Klangmassen 27 - Bewegte Klangmassen 35 Initialimpuls: Korrespondenzen 38 Episoden 42 Signalmotive: Variantentechnik 44 Abstrakte Melodik: Repetitionsgewehr und Pendelschlag 45 Zusammenfassung: Interpretation der Formdynamik 46 Exkurs: Absolute Form und gewachsene Formtypen 52 Arcana als Absolute Form 55

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IV. AMÉRIQUES und DÉSERTS – Verknüpfungen und Abzweigungen 58 1. AMÉRIQUES: DIE KRAFT FINALER ENERGIEZENTREN 59 Zwischen Amériques und Arcana 59 Erste Phase 59 Energiepole 61 Suspensionsfelder und Episoden 64 Glissandogestik, Sirene und Repetitionsmaschine 64 Signale und Motive: - Initialmotiv 66 - Folkloristische Melodik 68 - Horn-Episode 68 - Chromatische Fanfare 69 - Moll-Dur-Geste 70 Exkurs: Varèse – Mahler – Strawinsky 72 Interpretation der Formdynamik 74 2. DÉSERTS – ENTWICKLUNG DER METAMORPHOSENTECHNIK 76 Zwischen Arcana und Déserts 76 Instrumentarium 78 Instrumentalklang und "Organized Sound" 79 Resonanz und Orchesterpedal 80 Stasis der Veränderung 81 Tonhöhenstrukturen 81 Binnenpole und Energielinien 82 Interpretation der Formdynamik 87 V. DEBUSSY – MONTEVERDI: 88 Varianten der Absoluten Form 1915 und 1605 1. Magnetismus des Stillstandes - 89 Claude Debussy: Sonate für Flöte, Viola und Harfe (1915), 1. Satz 2. Verwandlung des musikalischen Ichs - 94 Claudio Monteverdi: T'amo mia vita (V. Madrigalbuch, 1605) fünfstimmiges Madrigal mit basso continuo VI. AUSKLANG UND AUSBLICK 102 Literaturverzeichnis 104 BEILAGE: DIAGRAMME UND NOTENBEISPIELE (TAFELN I-VI UND PARTITUREN ZU KAPITEL V)

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VORWORT Diese Arbeit enthält eine Art Zusammenfassung meiner musiktheoretischen Beschäf-tigung der vergangenen fünf Jahre. Als künstlerisch tätiger Mensch war es für mich noch nie möglich, theoretische Reflexion abzuspalten von der Aktualität und heutigen Fragen der künstlerischen Produktion und in rein historisch ausgerichteten Archiven beschleicht mich immer ein starkes Unbehagen. Bei aller Wertschätzung des hohen Informationswertes, den uns diese Archive heute bieten, vermag ich für mich selbst keinen Wert von theoretischer Beschäftigung jenseits ihrer Relevanz für aktuelle Fragen der Kunst/der Musik und ihrer Wahrnehmung und Rezeption zu sehen. So hält sich diese Arbeit im gewiß nicht immer ungefährlichen Gebiet zwischen der Beschäftigung mit heute "historisch" gewordener Musik der Vergangenheit und dem Versuch, deren Potential für unsere heutige Wahrnehmung zu sondieren auf. Musik nur um ihrer selbst willen theoretisch abzuhandeln oder um ihren hohen "Wert" vor der Theoretikergemeinde apologetisch unter Beweis zu stellen, scheint mir als Moti-vation für theoretische Äußerung über Musik allein nicht ausreichend. Im günstigsten Fall kann eine Theorie der Musik unsere Wahrnehmung von ihr und möglicherweise sogar unsere Präsentations- und Rezeptionsgewohnheiten verändern und erweitern sowie die aktuelle künstlerische Arbeit durch neue Perspektiven zu Innovationen anregen. Ihr Wert zeigt sich erst in einer Konsequenz in der Praxis, sei es in der der künstlerischen Produktion, Interpretation, Präsentation, Rezeption oder einfach in einer allgemeinen Veränderung von Wahrnehmungstrukturen. So hat eine lebendige Theorie die Aufgabe, in kreativer Weise neue Horizonte zu eröffnen und unsere Wahrnehmung und unseren Umgang mit Musik zu bereichern. Ob dies in der vorliegenden Arbeit gelungen ist, muß der Leser/die Leserin selbst entscheiden. Mein Wunsch wäre es, sie oder ihn zu Experimenten unterschiedlichs-ter Art zu ermutigen, vor allem zu solchen des Hörens und der Rezeption von Musik im Allgemeinen. Für mich selbst jedenfalls hat die Arbeit an der vorliegenden Studie viele neue Horizonte des Hörens eröffnet und auch meine eigene künstlerische Arbeit stark angeregt. Ich hoffe sehr, etwas von dem auch dem Leser/der Leserin der Arbeit vermitteln zu können.

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Mein Dank gilt Herrn Prof. Diether de la Motte für die geduldige Betreuung während der sich immer wieder so stark verzweigenden Prozesse, in denen diese Arbeit entstand.

Wien, April 1995

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I. IMPULS Niemand kann einen

Einfall haben, wenn er

erst einmal wirklich

zu hören beginnt.

(John Cage)1

Hörhaltungen und Rezeptionsumfeld Die vorliegende Schrift hält sich im Umfeld der Erforschung von Hörerfahrungen und Hörhaltungen auf und behandelt deren Zusammenhang mit dem musikalischen Energiefluß und der aus ihm resultierenden Formdynamik von musikalischen Wer-ken. Auslöser für die Beschäftigung mit dieser Thematik war zum einen die aufre-gend neue Erfahrung des Hörens, die ich selbst in der Begegnung mit der Musik Edgard Varèses machen konnte, andererseits die Erkenntnis einer immer dringlicher werdenden Notwendigkeit neuer und beweglicher Hörhaltungen angesichts der oft genung verwirrenden Vielfalt und Heterogenität heutiger musikalischer Produktion und ihrer starken Präsenz in unserer Gesellschaft. Sehr schnell erwies sich der Zusammenhang solcher Hörhaltungen mit derjenigen Kraft von Musik, für deren Beschreibung die Energiemetapher mir immer noch die brauchbarste erscheint. Das Aufspüren einer solchen energetischen Kraft beruht auf der Beobachtung, daß unsere Wahrnehmung von Musik wesentlich durch die Span-nungen geprägt ist, die zwischen den Tönen, Klängen und Phasen eines Musikstü-ckes entstehen und daß es möglich ist, diese Energien unmittelbar in andere Mani-festationen von Energie (etwa geistige, seelische oder körperliche) umzuwandeln. Das Hören eines Musikstückes kann verknüpft sein mit kreativen Handlungen, in denen sich diese Energien äußern, sei es durch geistige Aktivität (z. B. Nachdenken, auf Ideen kommen, Lösungen für ungeklärten Fragen finden), seelische Vorgänge (z. B. Verstärkung oder Abschwächung psychischer Blockaden, Auftauchen verschütte-ter Erinnerungen, Aufstauen oder Freiwerden von Aggression) oder körperliche Aktion (Ausdruckstanz, spontane Bewegungen). Eine solche Rezeption ist im Konzertsaal freilich meist nicht möglich, die strenge Etikette verbietet ein allzu offensichtliches Aufnehmen und Umsetzen solcher Ener- 1John Cage: 45' für einen Sprecher in: Silence, Übersetzt von Ernst Jandl, Frankfurt am Main 1987,

S. 154

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gien beim Zuhörer. Beherrschtheit, die sich einzig in der ins Konzertritual eingeglie-derten Etikette des Beifallklatschens lösen darf, bestimmt die musikalische Rezepti-on des Konzertbesuchers. Dagegen hat der Hörer der Medienkonserve den Vorteil, daß er sich außerhalb solch reglementierter Öffentlichkeit befindet, es fehlt ihm aber die Präsenz und der unmittelbare Bezug zum Energiefluß der Ausführenden, der – in der Konserve festgeschweißt – seine Lebendigkeit leicht verliert. Die scheinbaren Ekstasen der großen Rockevents schließlich sind in ihrer Massenhysterie nahezu ebenso ritualisiert und vorhersehbar wie die behäbigen Reaktionen des bürgerlichen Konzertpublikums und geben dabei ebenfalls der individuellen Hörhaltung zu wenig Raum. Man sieht also, daß unsere heutigen Hörhaltungen nicht zuletzt eine Frage der Prä-sentationsformen sind und daß, auch wenn diese vorgeben, die individuelle Freiheit des Hörens nicht einzuschränken, die gesamte Rezeption von Musik doch untrenn-bar mit der äußeren Haltung des Hörers verknüpft ist. Vor diesem Hintergrund wollen wir hier versuchen, "Hör-Spuren" in der Musik zu entdecken, die die Begrenztheit solches ritualisierten Hörens aufzeigen und – stets in Bezug zum Energiefluß der Musik – über dieses hinausweisen und damit gleichzeitig neue Formen der Präsenta-tion dieser Musik zur Diskussion stellen. Es kann nicht damit getan sein, einfach eine "Entsinnlichung" der abendländischen Kunstmusik zu konstatieren und ihre Präsen-tation und Rezeption ausschließlich als vergeistigten Vorgang anzusehen, der kei-nerlei Innovation bedürfe. Ein Großteil der abendländischen Musik spricht da eine durchaus andere Sprache, nur kann sich dieser Teil von ihr in einem derart innovati-onslosen Musikleben wie dem heutigen nur sehr schwer artikulieren. Wer diese Energie in der abendländischen Kunst-Musik auch schon einmal verspürt hat, wird wissen wovon hier die Rede ist. Frei wuchernde Musik Die Musik von Edgard Varèse bildet dabei den Schwerpunkt unserer Betrachtungen. Ein wichtiger Motor für die nähere Beschäftigung mit dieser Musik war meine bereits oben angedeutete Hörerfahrung, die sich beim Hören von Varèses Werken beson-ders häufig und nachhaltig einstellte und sich in einem Mitgerissen-Sein, einem wachen Sich-Aufhalten "in der Musik" und einem damit verbundenen "Aussetzen des Gedächnisses" ansatzweise skizzieren läßt. Darüberhinaus erwies sich die Faktur von Varèses Musik nach eingehender Betrachtung als besonders geeignet, meine aus dieser Hörerfahrung erwachsenden Erkenntnisse über die in musikalischer Energie sich ausdrückende Dynamik der Form zu exemplifizieren, da sie in ihrem

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Wuchern nicht durch eine Ästhetik der Einheitlichkeit oder Geschlossenheit des Kunstwerkes behindert ist, auch wenn in ihr der Werkcharakter grundsätzlich nicht aufgegeben wird. Auch in anderer Musik unterschiedlichster Art, der nun plötzlich das "Memorierbare" auf seltsame Weise entschwunden schien, erwies sich die bei Varèses Musik ent-deckte Hörhaltung plötzlich als interessanter neuer Zugang des Hörens. Als Refe-renzpunkte aus anderen musikalischen Epochen wird deshalb zum Schluß der Arbeit auch die Musik von Claude Debussy und Claudio Monteverdi herangezogen, um Varianten dieser Hörhaltungen und ihr Verbundensein mit dem energetischen Fluß der Musik über den Einzelfall Varèse hinaus näher zu bestimmen. Die Musik von Edgard Varèse wird schwerpunktmäßig anhand seines Orchester-stücks Arcana (1927) untersucht, das in vieler Hinsicht einen zentralen Verknüp-fungspunkt in seinem Oeuvre darstellt. Ergänzt wird diese Untersuchung durch Bezüge auf Amériques (1921) und Déserts (1954), den beiden chronologischen "Randstücken" innerhalb der von Varèse für gültig erachteten Werkreihe. Interpretation statt Analyse Die Betrachtungen der Musikstücke versuchen dabei ebenso beweglich und kreativ zu bleiben wie es für das Hören gefordert wird. So wird man hier weder ein System der Analyse finden, noch eine Theorie, die ihre Bestätigung in der Musik sucht. Vielmehr soll versucht werden, sinnliches Erfassen, Interpretation des Notentextes und Bewußtsein des ästhetisch-theoretischen Hintergrundes zu vernetzen und dar-aus Erkenntnisse über die Musik und Möglichkeiten ihrer Rezeption abzuleiten. Die Verknüpfung dieser drei Rezeptionsebenen sehe ich allgemein als Voraussetzung für ein lebendiges Sprechen über Musik an und ihre Gleichwertigkeit als Referenz-punkte in der Diskussion musikästhetischer Fragen als die einzige Möglichkeit, das ausgetrocknete Klima so vieler Arbeiten zu vermeiden, die als "seriös" gelten, weil sie in ihrer Konzentration "aufs Wesentliche" den Bereich der (Noten-)Schrift nie verlassen. Der Begriff der Analyse wird in dieser Arbeit deshalb auch nicht zu finden sein; er wird durch den Begriff der Interpretation ersetzt. Analyse, die den Notentext als scheinbar objektiven Bezugspunkt idealisiert, ist zunächst nicht mehr als ein Aufde-cken "lesbarer" struktureller Sachverhalte einer Partitur – meist in isolierter und reduktionistischer Betrachtungsweise und häufig ohne ausreichende Verbindung der

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daraus gewonnenen Erkenntnisse. Nicht weniger problematisch ist eine Beschrei-bung von Musik, die von der Illusion eines "rein subjektiven" Hörerlebnisses ausgeht und doch im Prozeß seiner Niederschrift bereits eine Fülle von objektivierenden Schritten durchläuft, durchlaufen muß, um schließlich als bloßer "Erlebnisbericht" meist zu substanzlos und un-greifbar zu bleiben. Jede Analyse, egal welcher Art, ist bereits eine Interpretation des Notentextes, da es den "rein objektiven" Beobachterstandpunkt ja bekanntlich niemals geben kann2 und so eine "reine", nicht bereits interpretierende Strukturanalyse von vornherein illuso-risch ist. So ist Analyse immer zugleich auch Ästhetik3 und kann sich – besonders nicht bei einem Gegenstand wie der Musik – auf das scheinbar "wertneutrale" Feld unbeteiligter Betrachtung "von außen" zurückziehen. Theoretische Interpretation muß wie die praktische immer Stellung beziehen, Farbe bekennen, will sie mehr sein als ein weiteres verstaubtes Konvolut in den Archiven. Damit soll nicht gesagt werden, daß ein genaues Partiturstudium für das Begreifen von Musik überflüssig wäre oder daß nur das an Musik Gültigkeit habe, was gehört werden könne. Immerhin ist die Tendenz zur nominalistischen Überbewertung des Noten-Textes und einer gleichzeitgen Vernachlässigung des in ihm sich manifestie-renden energetischen Potentials in der Musiktheorie unseres Jahrhunderts kaum zu übersehen und es scheint an der Zeit, eine erweiterte Sichtweise von Musik in den Vordergrund zu rücken als die "offizielle" Musiktheorie und -wissenschaft sie uns heute bietet. Energiefluß und Formdynamik – Ernst Kurth Hierbei ist nun eine Beziehung zu drei theoretischen Ansätzen herzustellen, die nicht unwesentlich die Gestaltung dieser Arbeit beeinflussten. Die Erkenntnis von der zentralen Wichtigkeit des musikalischen Energieflusses ist am umfassendsten in der Musiktheorie von Ernst Kurth ausgeführt, die in der von der Sachlichkeit Hugo Rie-

2Vgl. hierzu die Forschungen des Konstruktivismus, u. a. in den Publikationen von Paul Watzlawik, z.

B. in: Wie wirklich ist die Wirklichkeit. Wahn Täuschung Verstehen, München 1976. Die Illusion des

objektiven Beobachterstatus wurde allerdings bereits zu Beginn des Jahrhunderts im Rahmen der

revolutionären physikalischen Entdeckungen der Relativitätstheorie und Quantentheorie erkannt. 3Vgl. hierzu Carl Dahlhaus: "Ästhetik, Analyse, Theorie" und "Ästhetik und Rezeptionsforschung" in:

Analyse und Werturteil, Mainz 1970, S. 15-19 und S. 33-36

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manns geprägten Musiktheorie des 20. Jahrhunderts bis heute nur wenig rezipiert worden ist. Kurth betont die Dynamik, das Werden der musikalischen Form und lehnt eine an "Umrissen" orientierte Formenlehre ab, wie sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch weit verbreitet war. In seiner uns heute eher befremdenden, von der Metaphysik Schopenhauers geprägten Terminologie ist Musik "Übergang von Kraft in Form", in der "kinetische Energie" aus jedem einzelnen Ton herausdringt und sich in der "po-tentiellen Energie" von Klangspannungen sammelt.4 So wird sie zu einer Folge von Spannungen, die Bewegungsvorgänge auslösen, welche in ihrem Werden den Formvorgang, die Formdynamik darstellen. "Form ist nicht das, wovon der Strom des Schaffens ausgeht, sondern worein er mündet."5 Die Metapher der Welle als Bild für einen über längere Zeit gezogenen Spannungs-verlauf exemplifiziert Kurth vorrangig an der Musik Bruckners und des Schopenhaue-rianers Wagner. Die Problematik von Kurths Theorie liegt in ihrem Anspruch, mit ihr – wiederum in der Nachfolge Schopenhauers – das "Eigentliche" oder das "Wesen" der Musik zu erfassen, was auf eine neue Form von Kategorisierung und Polarisie-rung musikalischer Stile hinausläuft.6 Kurth ersetzt das von ihm abgelehnte Katego-riensystem durch ein neues und ideologisiert so – wenn auch in geringerem Maße als die "orthodoxe Musiktheorie" seiner Zeit – sein Verfahren. Der Wert seiner Theorie für unsere Interpretationen liegt also mehr in der Erkenntnis von der Existenz und Wichtigkeit des musikalischen Energieflusses und in der dy-namischen Auffassung von Form als Formvorgang als in der Theorie selbst oder gar in deren Terminologie. Immerhin ist zu beachten, daß Kurth seine Theorie zur selben Zeit (1919-1925) entwickelte, in der Varèse seine meisten Werke schrieb und daß in Varèses Musikauffassung die Vorstellung von einem dynamischen Formprozeß und energetischen Anziehungs- und Abstoßungskräften eine zentrale Rolle spielen.7 Aber auch grundsätzlich scheint mir der so sich ergebende Ansatz besonders dazu

4Vgl. hierzu besonders: Ernst Kurth: Romantische Harmonik und ihre Krise in Wagners Tristan, zuerst

erschienen 1919, 3. Auflage Berlin 1923, vor allem S. 1-14 und Bruckner, 1. Band, Berlin 1925, Seite

233-240 5Kurth: Bruckner, 1. Band, a.a.O., S. 233 6Vgl. dazu auch die Kritik von Dahlhaus in: Carl Dahlhaus, Michael Zimmermann (Hg.): Musik zur

Sprache gebracht, München - Kassel 1984, S. 437 7Vgl. hierzu Kapitel II dieser Arbeit.

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geeignet, dem längst als untrennbar erkannten Zusammenhang von theoretischer Interpretation, Ästhetik und Rezeptionshaltung einigermaßen gerecht zu werden. Hören und Vergessen So offensichtlich es ist, wie stark das Produzieren und Rezipieren von Musik mit den Möglichkeiten oder besser: Haltungen des Erinnerns und Vergessens zusammen-hängt, so erstaunlich und bedauernswert ist es, daß diese Kategorien in der Theorie der Musik bisher kaum eine Rolle gespielt haben. Nachdem Daniel Charles' für das Thema zentraler Essay La musique et l‘oublie bereits 1976 erstmals publiziert und 1984 in deutscher Übersetzung erschienen ist8, wird in musikalischen Fachkreisen erst in jüngster Zeit das Thema im Rahmen einer Diskussion über "ephemere Musik" aktuell9 und – teilweise angeregt durch andere Wissenschaften – auch ansatzweise historisch aufgearbeitet.10 In dem so stark auf die historischen Wissenschaften konzentrierten 20. Jahrhundert konnten neue Strömungen in der Kunst sich oft deshalb so schwer etablieren, weil sie dem Vergleich mit der – oft idealisierten – Erinnerung an das Vergangene, das durch Erinnerung scheinbar "zeitlos" Gewordene vermeintlich nicht standhalten konnten. Solche Tendenz der Kultur zur Nostalgie prägt bereits das 19. Jahrhundert stark und führt in der Musik unter anderem zur Palestrina-Renaissance und einer damit verbundenen Idealisierung der "wahren" Kirchenmusik. Bei Nietzsche führt die übermächtige "Präsenz der Vergangenheit" zu einer deutlichen Abwertung der Erin-nerung gegenüber einem "positiven Vergessen", wenn er sagt: "Also: es ist möglich, fast ohne Erinnerung zu leben, ja glücklich zu leben; es ist aber ganz und gar un-möglich, ohne Vergessen überhaupt zu leben."11

8In: Daniel Charles: Musik und Vergessen, Berlin 1984, S. 7-24 9So in zwei Ausgaben der Zeitschrift "Positionen", Nr. 19 und 20, 1994 10So in zwei Aufsätzen in: Kunstforum International Bd. 127, September 1994: Hermann Danuser:

Erinnerter Klang - Musik und Mnemosyne, S. 154-159 und Mathias Fuchs: Total Recall - Erinneren

und Vergessen in der Musik, S. 170-176 11Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen der Historie für das Leben, 1874, zit. nach Fuchs: a.a.O., S. 174

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Die negative Besetzung des Vergessens als "Verdrängen" durch die Psychoanalyse Freuds12 sowie die daraus abgeleitete Analyse eines kollektiven Verdrängens der Nazi-Verbrechen im Deutschland nach dem 2. Weltkrieg13 führten – allerdings auf einer ganz anderen Ebene als im 19. Jahrhundert – zu einer notwendigen Verstär-kung dieses "Imperialismus des Gedächtnisses"14 im 20. Jahrhundert als Reaktion auf das "negative Vergessen", das im Falle der Nazi-Verbrecher nichts als uneinge-standene Schuld war. Erst nach den gesellschaftlichen Aufbrüchen im Europa Ende der 60er Jahre ent-standen auch Ansätze zu einer Umwertung der Gedächtnisfunktionen, in dessen Kontext Charles' Essay zur Rehabilitierung des Vergessens beim Hören von Musik zu sehen ist. Dabei ist die Verbindung von Charles' Ideen zur französischen Philoso-phie zu beachten, vor allem zu der von Deleuze/Guattari und ihren beiden Büchern "Anti-Ödipus"15 und "Tausend Plateaus"16, die das "Anti-Gedächtnis" als Funktions-weise eines "Rhizoms" postulieren, d. h. eines verzweigten, wuchernden Prozesses, dem zentralen Bild ihrer Philosophie. Auch in der Psychologie ist bereits seit längerer Zeit eine deutliche Abwendung von der Psychoanalyse Freudscher und Jungscher Prägung zu konstatieren17 und somit auch eine Neubewertung der Gedächtnisvor-gänge Erinnern und Vergessen. Heute erscheint angesichts einer starken Präsenz künstlerischer Ästhetik, die histori-sches Material als Objets trouvés begreift, dessen historische Besetztheit im Falle der Musik entweder in anekdotischer Musik direkt thematisiert wird oder im elektroni-schen Sampling eine Art "Exzess der Erinnerung" durch Potenzierung heterogener

12Die Verdrängung ist in der Freudschen "Metapsychologie" die zentrale Form, in der sich Abwehr-

mechanismen manifestieren. Unbewußt werden Triebregungen ins Unbewußte abgedrängt und

fixieren sich dort als unerkannter Komplex. Vgl. u. a. Sigmund Freud: Das Ich und das Es. Metapsy-

chologische Schriften, Gesammelte Werke (S. Fischer Verlag) Band 10442 X 13Vgl. Alexander und Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern, München 1968 14Daniel Charles: a. a. O., S. 17 15Gilles Deleuze/Félix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt am Main

1968 16Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Dt. Ausgabe Berlin 1992

(Merve Verlag) 17Vgl. etwa die Ansätze der Gestalttherapie, der Psychoenergetik (Peter Schellenbaum: Nimm deine

Couch und geh!, München 1992) oder des Neuro-Linguistischen Programmierens (Richard Bandler,

John Grinder: Reframing - ein ökologischer Ansatz in der Psychotherapie (NLP), Paderborn 1985).

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Materialfülle herbeiführt, eine solche Neubewertung in der musikalischen Praxis längst vollzogen. Daß unsere Hörweisen, mit der wir die Musik vergangener Epo-chen aufnehmen allerdings kaum eine vergleichbare Neuorientierung erkennen lassen, zeigt allein schon ein Blick auf das derzeitige musikanalytische Schrifttum und die populäre Musiktheorie der Konzertführer und Abendprogramme: der spät-bürgerliche Ansatz des möglichst "guten Hörens" (Adorno), das Bemühen, um ein Erkennen von Beziehungen in der Musik mittels der Kraft der Erinnerung, der über-große Respekt, den man glaubt sowohl in der instrumentalen als auch in der theore-tischen Interpretation den "Intentionen" des Schaffenden zollen zu müssen, die "Werktreue" als Ideal der entsubjektivierten Darstellung eines autoritären Schöpfer-willens, ein analytisch reduzierter "Verstehens"-Begriff: all das scheint kaum zu dem Vorhaben geeignet, ein unserer Zeit und ihrer Musik angemessenes Hören zu fin-den. Charles analysiert die Bedingtheit einer Betrachtungsweise, die in der Tradition Adornos stehend den musikalischen Funktionalismus, das Bezogen-Sein jeder Note auf eine andere als vorderstes Kriterium für die ästhetische Wertschätzung einer Musik annimmt. Dem Druck des negativen Vergessens – das das Ideal des Adorno-schen "guten Hörers" auf die Rezeption ausübt -, der Panik des "zu-spät-Kommens", des "nicht-Mitkommens" beim Hören von Musik ledig, können neue Dimension in einer Musik entdeckt und kann das verhängnisvolle Wort vom "Verstehen" von Musik etwas relativiert werden. Dabei wird weder unbewußt in die Musik hineingedämmert noch irgendein "mystischer" Zustand, der womöglich nur für eine Elite erreichbar ist, gesucht, sondern einfach eine neue Gelassenheit des Hörens gefunden, die Erinne-rung dort aktiviert, wo sie sich ergibt und nicht einzig auf "Leistungen" des Gedächt-nisses getrimmt ist. Das Hören als Bezugspunkt der theoretischen Interpretation – Heinrich Besseler Daß jedes Zeitalter seine eigenen Hörhaltungen ausprägt und wie diese dabei mit gesellschaftlicher Entwicklung, philosophischen Strömungen und Kompositionstech-niken in Zusammenhang stehen, hat Heinrich Besseler bereits 1959 in seiner wichti-gen Schrift Über das musikalische Hören der Neuzeit scharfsinnig analysiert.18 Daß Besselers chronologisch durchgeführte Untersuchung mit dem Ende des 19. Jahr-hunderts abbricht, ist aus heutiger Perspektive kein Zufall: so wie der erstarrte Prä-sentationsmodus des Konzertwesens in den letzten hundert Jahren keine wesentli-

18Heinrich Besseler: Das musikalische Hören der Neuzeit, Berlin 1959

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chen Innovationen gezeitigt hat, so ist auch die mit ihm verbundene Hörhaltung – im Bereich der "klassischen Musik" – im wesentlichen dieselbe geblieben, auch wenn sich die jeweils aktuelle Musik in den letzten hundert Jahren radikal verändert hat. Welche entscheidende Rolle dagegen die modernen Reproduktionstechnologien der Tonträgerindustrie für die Entwicklung des Hörens gespielt haben, soll hier nur an-gedeutet werden. Besseler analysiert zunächst allgemein die "Aktivität" des Hörens als Phänomen der Neuzeit, die sich mit der zunehmenden Trennung in "Umgangsmusik" und "Darbie-tungsmusik" und der mit ihr verbundenen Herausbildung einer musikalischen Öffent-lichkeit ab Mitte des 18. Jahrhunderts immer mehr verstärkt. So zieht er eine Linie vom mitvollziehenden "Vernehmen" der stets Neues hervorbringenden musikali-schen Prosa, des dahinströmenden Vollklangs der Renaissance über ein "passives Zuhören" im Frühbarock hin zu seiner Umwandlung in das "aktiv-synthetische Hören" im Zeitalter der Aufklärung, bei dem der Hörer den – jetzt periodisch faßbaren – Aufbau eines Musikstückes aktiv nachvollzieht, sich seiner Korrespondenzmelodik bewußt wird und so Zusammenhänge mittels Erinnern (was Decartes – bereits 1618 – "recordamur" nennt19) herstellt. Im Grunde ist bereits hier ein Hörverhalten erreicht, das bis zu Adorno und Dahlhaus hin als Idealtypus "adäquaten Hörens"20 präsent bleibt, auch wenn es im 19. Jahrhundert von einer romantischen Strömung passiven Hörens parallelisiert wird, die sich in der "Verzauberung" (Eichendorff) durch Musik und im dem Stimmstrom der Renaissance verwandtem "Klangstrom" des romanti-schen Orchesters – etwa bei Berlioz oder Wagner – genußreich badet. Möglichkeiten statt Ideal Diese Arbeit könnte so auch als ein Ansatz zu einer Fortsetzung von Besselers Schrift gesehen werden, deren Unvollständigkeit ebenso bedauernswert wie auf-schlußreich ist. Daß es heute nicht mehr die eine, sondern eine Fülle möglicher Hörhaltungen gibt, liegt auf der Hand, vergegenwärtig man sich die Fülle der uns umgebenden Klangphänomene. Im heutigen, zuvor nie dagewesenen Pluralismus aller musikalischen Stile und Epochen in der medialen und alltäglichen Realität könnten jeden Tag neue Hörhaltungen entstehen und entdeckt werden. Daß durch neue und flexible Hörhaltungen auch Werke vergangener Epochen – und dazu zählt mittlerweile ja auch die Musik Varèses – jenseits von sentimentaler Gegenwartsflucht

19René Descartes: Compendium musicae , 1618, zit. nach Besseler: a.a.O., S. 38-39 20T. W. Adorno: Einleitung in die Musiksoziologie , Frankfurt 1962, S. 17-18

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und historisierender "Werktreue" wirklich als "neu" empfunden werden können, möchten die folgenden Seiten vermitteln und in die musikalische Rezeption unserer Zeit neue Lebendigkeit bringen.

* * *

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II. ANNÄHERUNG – Edgard Varèse und seine Musikästhetik Aggregatzustand des Klanges Varèse war ein Mensch, der seiner Zeit sehr nahe war. Er liebte das Stadtleben mit seinen vielfältigen Geräuschen, er lauschte der Musik von Baustellengeräuschen und verachtete die Scheinidylle des Landlebens. Seine Musik ist untrennbar ver-knüpft mit der Vorstellung vom Elementaren, Primitiven, vom unbearbeiteten, "natur-haften" Aggregatzustand des Klanges, den es aus den Zwängen der Systeme zu befreien galt. Der "Natur"-Begriff muß so bei Varèse von bukolischer Verklärung abgelöst und in die Nähe einer Ästhetik des "objet trouvé" gerückt werden.21 Varèse war ein Klangskulpteur, der sein akustisches Gestein aus den Betonbauten der modernen Großstadt herausschlug und sich nicht auf abgelegenen Steinbrüchen umtat. In der Faszination vom Mythos des Primitiven, scheinbar "Natur-haften" trifft sich Varèse mit zahlreichen anderen Künstlern und Künstlergruppen seiner Zeit. Gaugins freiwillige "Emigration" nach Tahiti, Picassos Begeisterung für afrikanische Skulptu-ren, Strawinskys Verarbeitung von "primitiven" Ritualen im "Sacre de Printemps" (dessen Uraufführung Varèse 1913 in Paris erlebte), die Wiederentdeckung der nationalen Volksmusiken vor allem in den Ländern Osteuropas (Bartok), der große Einfluß, den die damals so genannten "Negersprachen" auf die Dadaisten ausübten und der wesentlich zur Entwicklung der Lautpoesie beitrug: all dies waren deutliche Zeichen einer Abwendung vom sakrosankten abendländischen Kunstbegriff vor allem in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg, dessen traumatische Folgen das Erbe der gesamten europäischen Kultur dekadent und ausgehöhlt wirken ließen. Im Unterschied zu den genannten Künstlern suchte Varèse allerdings das Primitive nicht außerhalb der eigenen Kultur, sondern eher auf "naturwissenschaftlichem" Weg durch eine Reduzierung des musikalischen Materials auf einen "unbearbeiteten Aggregatzustand". In Abgrenzung vom traditionellen Kompositionsvorgang sah er seine Arbeit dabei als Aufspüren der im Material selbst angelegten Konsequenz und

21Vgl. dazu: Georges Charbonnier: L'Art et la Science chez Varèse in: Varèse: vingt ans après..., La

Revue Musicale, Paris 1985, S. 58 ff.

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nicht als ein bewußtes Ausformen von musikalischen Charakteren im Sinne von "Gestalten". Einerseits ist er hier Erbe der romantischen Genie-Ästhetik, die den Künstler nur als Medium sah, durch den eine höhere, meist göttliche Macht spricht, andererseits aber bricht er auch mit ihr, indem er den aufbrausenden Schöpferwillen des Genies negiert. Seine oft eigentümlich gestaltlose, amotivische und athemati-sche Musik hat eine Motivation, einen "Grund" also in diesem Weg hin zur "Ent-kunstung" des Klanges. Auch in dem großen Interesse und dem Respekt, den Varèse den Naturwissenschaf-ten entgegenbrachte, bewegt er sich ganz auf der Höhe seiner Zeit. An die revolutio-nären Entdeckungen der Physik in der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik und deren mathematische Grundlagen ist in diesem Zusammenhang ebenso zu erinnern wie an die Fülle von neu aufkommenden wissenschaftlichen und pseudo-wissenschaftlichen Zweigen, die auf Künstlerkreise oft starken Einfluß hatten, wie z. B. die Theosophie Helena Petrowna Blawatskys auf die Skrijabinisten oder die Zeit-philosophie Bergsons auf den Simultaneismus. Im Fall von Varèse ist darüberhinaus seine Entdeckung mittelalterlicher esoterischer Denkrichtungen wie der Alchimie, der verschiedenen Kosmologien oder der Astronomie von besonderer Relevanz. Kristallisation Die Tatsache, daß Varèse seine musikalischen Schaffensprozesse teilweise in der Terminologie dieser "Geheimwissenschaften" beschrieb, ist bereits ausführlich ana-lysiert worden.22 Für die folgenden Ausführungen ist dabei besonders wichtig, daß Varèse in solchen Beschreibungen immer wieder auf die herausragende Bedeutung dynamischer, prozeßhafter Vorgänge in seiner Musik zu sprechen kommt. In Analo-gie zum Vorgang der Kristallisation nennt er dabei die Veränderung einer Basisidee durch Anziehung, Abstoßung und Durchdringung in permanenter dynamischer Be-wegung als eine zentrale Art der Energieübertragung. Er beschreibt diese Verände-rung folgendermaßen:

"...da ist einfach eine Idee, die Basis einer inneren Struktur, sie wird entfaltet und aufge-

splittert in verschiedene Formen oder Klanggruppen, sie wechselt ständig die Form, die

22Vgl. Helga de la Motte-Haber: Die Musik von Edgard Varèse, Hofheim 1993, S. 148-176

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Richtung und die Geschwindigkeit, sie wird angezogen und abgestoßen durch verschie-

dene Kräfte. Die Form des Werkes ist die Konsequenz dieser Wechselwirkung."23 Bezugnehmend auf Äußerungen Braques und Picassos spricht Varèse auch davon, daß sich diese Basisidee im Laufe der Arbeit an einem Werk immer mehr verflüchtigt und schließlich ganz verschwindet, gewissermaßen von der Eigendynamik der durch sie ausgelösten Prozesse aufgesogen wird:

"Der Antrieb kann von einer Idee kommen, von einer Vorstellung, von etwas, das einem

einen Schock gibt. Aber das, was den Komponisten von außen her anspricht, ist nur ein

scheinbares Motiv, es wird verschwinden und schließlich ausgemerzt in der Gestalt, die

das Werk annimmt."24 Formvorstellungen So begriff Varèse die Form seiner Werke als ein Resultat dieser auf-, mit- und ge-geneinander wirkenden Kräfte und den Vorgang der Formwerdung als automatisier-ten, entsubjektivierten Prozeß: als "die Art und Weise, wie sich meine Werke for-men"25. Tatsächlich bietet seine Musik die Erfahrung einer im ständigen Werden begriffenen "dynamischen Form" wie Ernst Kurth sie nennen würde oder einer "abso-luten Form", wie ich sie weiter unten beschreiben werde, wie kaum eine andere. Zahlreiche Äußerungen Varèses weisen auf einen solchen dynamischen Formbegriff hin:

"Form ist das Ergebnis eines Prozesses. Jedes meiner Werke entdeckt seine eigene

Form."26

"Den alten Begriff von Melodie oder melodischem Wechselspiel wird es nicht mehr ge-

ben. Das ganze Werk wird eine melodische Totalität sein. Das ganze Werk wird fließen

wie ein Fluß fließt."27

23Christine Flechtner (Hg.): Die Schrifen von Edgard Varèse (1883-1965), Lic. phil. Universität Frei-

burg (Schweiz) 1983 (Ms.), S. 360. Im folgenden zitiert als Schriften . 24Schriften, S. 357 25Edgard Varèse: Die Befreiung des Klanges, Auszüge aus seinen Vorlesungen in: Edgard Varèse.

Rückblick auf die Zukunft, Musik-Konzepte Band 6, 2. Auflage, München 1983, S. 19, im folgenden

zitiert als Musik-Konzepte. 26Schriften, S. 359

Page 19: Speed and synthesis

19

"...my chief occupation in composing is the form, the structure of the work I have con-

ceived. The form of the work results from the density of the content. [...] timbres and their

combinations ... become part of the form. [...] sounds ... are an intrinsic part of the struc-

ture."28 Die Musikästhetik von Edgard Varèse ist mittlerweile bereits mehrmals ausführlich und gut dargestellt und erforscht worden. Besonders Helga de la Motte-Haber wid-met in dem Kapitel "Musik als Musik"29 dieser Frage fünfzig sehr aufschlußreiche Seiten, wobei ein Schwerpunkt auf Einflüsse aus der bildenden Kunst auf Varèses Ästhetik gelegt wird. In früheren Arbeiten wird dieses Feld ausführlich von Khittl 1982, Christine Flechtner (in ihrem Kommentar zur Herausgabe der Schriften Va-rèses) 1983, Bernard 1987 und Stenzl 1991 behandelt.30 Es soll hier deshalb nicht darum gehen, diese bereits getane Arbeit noch einmal wiederzukäuen, sondern darum, die Varèssche Ästhetik, aus seinen Äußerungen über Musik rekonstruiert, auf Aspekte hin zu untersuchen, die für unser Thema unmittelbar relevant sind. Hörhaltung und Tradition Haben wir dabei den dynamischen Formbegriff Varèses bereits geortet, so weisen auch zahlreiche seiner Äußerungen auf den Wunsch und die Notwendigkeit einer neuen Hörhaltung zur Rezeption der zu seiner Zeit neuen Musik, insbesondere seiner eigenen, hin. Der – allerdings von seiner Frau Louise erfundene – Slogan der International Composers Guilt, die Varèse 1921 in New York gründete, lautete: "New Ears for new Music. Leave your memory at home, when you come to our concerts".31 Deutlicher kann eine Abwendung von als antiquiert empfundenen Hörgewohnheiten wohl kaum ausgedrückt werden.

27Musik-Konzepte, S. 12 28Schriften, S. 291 29de la Motte-Haber: a.a.O., S. 229-277 30Vgl. Literaturverzeichnis 31Das von Varèse entworfene Plakat, das diesen Slogan enthält, für die dritte Saison, in der die

Gesellschaft ihre Konzerte gab (1923/24), ist abgebildet in: Lousie Varèse: Varèse. A Looking-Glass

Diary, London 1972, Bildtafel vor S. 163

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20

Die Vorherrschaft dieser Hörhaltung erkannte Varèse als ein Charakteristikum der "Bourgoisie", sie entspricht in etwa dem Adornoschen Typus des "Bildungskonsu-menten", der ein auf Wiedererkennen von Bekanntem ausgerichtetes und so feti-schistisches Hören ausbildet.32 "The education of this class [the bourgoisie] is almost entirely a matter of memory"33 stellt Varèse fest und sieht deshalb wenig Chancen, diese Publikumsschicht für die Musik seiner Zeit zu gewinnen (womit er ja bis heute recht behalten hat). Die Ehrfurcht vor der Vergangenheit "hat musikliebende Zuhörer daran gehindert, mit ihrer Empfänglichkeit zu lauschen statt mit ihrem Gedächtnis. Die wahre Grundlage für jede schöpferische Arbeit ist Ehrfurchtslosigkeit. Ehrfurchts-losigkeit und Experiment."34 Alles, was an Haltungen der Vergangenheit, an verstaubte Traditionen erinnerte, lehnte Varèse emphatisch ab, auch wenn er alte Musik selbst häufig öffentlich auf-führte (so Barock- und Renaissancemusik mit der von ihm gegründeten Schola Cantorum). Er haßte Italien, weil es für ihn ein Land war, das in und von der Ver-gangenheit lebte (nicht nur weil sein – ebenfalls verhaßter – Vater Italiener war) im Gegensatz zu Amerika, dessen Innovationsstand in Kunst und Architektur er begrüß-te. Er empfand die Musik als in der Tradition gefangen; im Tonfilm sah er das Mittel, das der Musik ermöglichen könne "de s'évader de la tradition dont elle est prisonni-ère".35

"...Mein Denken kreiste von Anfang an um die Idee der Befreiung... von den schlechten

Gewohnheiten, die irrigerweise Tradition genannt werden."36 Er lehnte – oft in scharf polemischer Form – alle Stile und Musikrichtungen ab, die an die Vergangenheit erinnerten wie etwa die Programmusik oder den Jazz:

32Adorno: a.a.O., S. 20f. 33Schriften, S. 78 34Schriften, S. 285 35Schriften, S. 105 36Schriften, S. 351

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21

"The telegraphic style... impels us to rid ourselves of all the literary rubbish of the nine-

teenth century, which permeates the German School"37

"Jazz...appeals only to people who are 100 years behind the time. The jazz forms... im-

press him [Varèse] as old-fashioned and academic."38

Den Neo-Klassizismus, den er als "Arterienverkalkung" denunzierte, und die Zwölf-tonmethode, die ihm nur der Austausch eines einengenden Systems (des tonalen, wohltemperierten) durch ein anderes (das dodekaphonische) war, kritisierte Varèse gleichermaßen scharf. Gegen eine Zuordnung zu den Avantgarderichtungen der 20er Jahre wehrte er sich ebenfalls, auch wenn vereinzelte Verbindungen zu Futu-rismus, Dadaismus und Surrealismus bestanden. Darüberhinaus distanzierte er sich mehrmals ausdrücklich vom thematischen Ent-wicklungsdenken der Beethoven-Tradition:

"The beginning of art is not reason. We are happily no longer in the period of the theme

and its development"39 Über Amériques sagt er:

"You would not... find the development of themes that you have in the music of Beetho-

ven and his followers."40

Neue Instrumente, neue Klänge Wie die Stile und Formen lehnte Varèse im Grunde auch das Instrumentarium des im 19. Jahrhundert entstandenen Symphonieorchesters ab, obwohl er es – als Notlö-sung – in allen seinen Werken verwendete mit Ausnahme des 1958 entstandenen Poème electronique , das rein akusmatische Musik ist. Durch die Ausdehnung des Schlagzeuginstrumentariums und die Ausweitung der Register sowie durch eine Konzentration des Orchestersatzes auf Bläser und Schlagzeug entstand in jedem

37Schriften, S. 69 38Schriften, S. 40 39Schriften, S. 69 40Schriften, S. 41

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22

Fall ein gänzlich neuer Klangkörper, der an das Symphonieorchester des 19. Jahr-hunderts nur noch entfernt erinnert. Dieses Orchester ist für Varèse im Grunde nur noch ein Museum:

"Aber das von Menschenhänden bediente Orchester wird ohne Zweifel einmal für die

Musik dasselbe sein wie das Museum für die bildende Kunst. Tatsächlich sind die meis-

ten von ihnen heute praktisch Museen"41 Varèse forderte einen "telegrafic style" und nannte "Speed and synthesis" als Ziele einer aktuellen Musik, die allerdings nur mit neuen Instrumenten angemessen reali-siert werden könnten. Die außerordentlich häufige Forderung nach neuen Instrumen-ten schloß auch die nach einer Auflösung des wohltemperierten Systems und nach neuen Notationsformen mit ein.

* Der Lebendigkeit von Musik maß Varèse zu allen Zeiten höchste Bedeutung bei: "La musique qui doit vivre et vibrer".42 Musik wird in ihrer Immaterialität ernst genommen, sie ermöglicht – in der Worten von Julien Benda "the condition of being a being without being an object".43 Die dynamische und anti-ideologische Musikauffassung Varèses dürfte hiermit aus-reichend beschrieben sein. Wie sich diese Ästhetik in der Faktur und den Kraftlinien der Musik niederschlägt, ist eine der Fragen, die die folgenden Kapitel wenn auch nicht zu beantworten so doch zu behandeln haben.

41Schriften, S. 287 42Schriften, S. 24 43Schriften, S. 66

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23

III. ARCANA – Energiefluß und Montage TITEL Arcana, Varèses zweites großes Orchesterwerk, komponiert 1925-27, wurde am 8. 4. 1927 in Philadelphia uraufgeführt, genau ein Jahr nach der Uraufführung der ersten Version von Amèriques (komponiert 1918-22) am 9. 4. 1926, ebenfalls in Philadelphia. Beide Uraufführungen wurden vom Philadelphia Orchestra unter der Leitung von Leopold Stokowski gespielt. Die Arbeit an Arcana war von starken Stimmungsschwankungen Varèses gezeich-net. Schrieb er Mitte Oktober 1925 noch an seine Frau Louise in überschwenglicher Stimmung:

Arcanes – Never have I written music as solid, as joyous – as full of force, of life, of sun.

44 so schreibt er nur zwei Wochen später, daß er alles verworfen und noch einmal neu begonnen habe. Die Partitur wird spät fertig, die ersten Aufführungen sind musika-lisch deshalb nicht befriedigend.45 Der Titel Arcana (Geheimnisse) weist auf die Kosmologie des Schweizer Arztes, Philosophen und Alchimisten Paracelsus (1493-1541), aus dessen "Hermetischer Philosophie" auch das Zitat entnommen ist, das Varèse der Partitur voranstellt:

One star exists, higher than all the rest. This is the apocalyptic star. The second star is

that of the ascendant. The third is that of the elements – of these there are four, so that

six stars are established. Besides there is still another star, imagination, which begets a

new star and a new heaven. Das Zitat weist, laut Varèse, auf "die Notwendigkeit neuer Horizonte" in der Musik hin, auf ein "univers musical en expansion".46 44Louise Varèse: a.a.O., S. 239 45Vgl. Louise Varèse: a.a.O., S. 253f. 46Schriften, S. 448

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24

Die alchimistische Technik der Transmutation, das Herstellen von Gold aus einfa-chen Substanzen, vergleicht Varèse in einem kurzen Text über Arcana mit der Ver-wandlung von Tönen in Musik. Außerdem erklärt er den Titel des Werkes so:

"Je pensai aussi que le processus de création musicale était analogue à la découverte

des arcanes – les secrets cachés des bruits et des sons".47

Das Bild vom musikalischen Schaffensprozeß als Entdecken der Geheimnisse, die in den Geräuschen und Tönen verborgen sind, ist sehr gut dazu geeignet, Varèses "haptische" Auffassung vom Komponieren, von Musik überhaupt, wie wir sie im letzten Kapitel kennengelernt haben, zu beschreiben. Mehrmals betonte Varèse außerdem nachdrücklich, daß der Musik von Arcana keinerlei programmatische Inhalte oder sonstige außermusikalischen Gehalte unter-zuschieben seien:

"...don't connect my music with anything external or objective. Don't try to discover a de-

scriptive programm for it. Regard it, please, in the abstract. Think of it as existing inde-

pendently of literary or pictorial associations."48 Die Uraufführung und die Folgeaufführungen in Philadelphia und New York endeten in großen Skandalen, die Kritiken waren unterschiedlich, dagegen wurde das Werk bei der europäischen Erstaufführung 1932 in Paris enthusiastisch gefeiert. Die deut-sche Erstaufführung am 5. 3. 1932 in Berlin unter der Leitung von Nicolas Slonimsky dagegen führte zu einer breiten Front der Ablehnung bei Publikum und Presse. "Lärm" und "Kakophonie" würde das "Tönescheusal" Arcana verbreiten und der Hörer dabei "mit Skorpionpeitschen traktiert".49 "Kein Ohr hält diese Musik auf Dauer aus", meinte Heinrich Strobel im Berliner Börsenkurier. Einig war man sich in jedem Fall darüber, daß es sich um eine "ultra-moderne Musik" handelte. Einzig Hans Heinz Stuckenschmidt bemerkte Reste traditioneller kompositorischer Verfahren, konstatierte eine "Überschätzung des Klanglichen" und kritisierte die Inkonsequenz des Werkes: "Er [Varèse] gerät unversehens in dramatische und thematische Ab-

47ebda. 48Schriften, S. 91 49Vgl. Musik-Konzepte, S. 106-107

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hängigkeiten und gefährdet so die Neuheit des Versuchs..."50, eine Beobachtung, auf die ich später noch einmal kurz zurückkommen werde. AUFSPÜREN DER ENERGIEMUSTER Ausgehend von Varèses Äußerungen über die dynamische Formwerdung seiner Musik sollen nun zunächst zentrale Energiemuster in Arcana geortet und beschrie-ben werden, ohne daß dabei eine direkte Übertragung von Varèses Terminologie auf detaillierte strukturelle Sachverhalte unternommen wird, was bereits mehrmals mit ziemlich wenig Glück versucht worden ist. Vor allem die reinen Strukturanalysen amerikanischer Wissenschaftler verfehlen in ihrer erzwungenen Synthese aus der Methodik eines Post-Schenkerismus und einer allzu wörtlichen Auslegung und Systematisierung von Varèses Äußerungen meist die Dynamik dieser Musik völlig. Wenn beispielsweise Jonathan W. Bernard den Einfluß des Kubismus auf Varèse so auslegt, daß er kubistische Techniken wie Projektion oder Rotation als Begriffe für die Transposition oder Umkehrung von abstrahierten Intervallverhältnissen verwendet51 und sich dabei eines seriellen Symmetriedenkens und einer Reduzierung der Musik auf bloße Tonhöhenverhältnisse bedient, so führt dies einerseits von der pulsierenden Lebendigkeit dieser Musik gänzlich weg und bringt in seinen häufig das Absurde streifenden analytischen Konstruktionen auch sonst keine wirklich relevanten Aussagen über die Machart der Musik zustande. Dies geschieht in erste Linie deshalb nicht, weil eben in der Musik Varèses, wie Bernard selbst auch mehrmals sehr richtig ausführt, Intervalle nach ihrer absoluten, nicht nach ihrer relativen Tonhöhe beurteilt werden müssen und es darüberhinaus irrefüh-rend ist, Komplementärintervalle als strukturell gleichwertig aufzufassen, was einem Denken in Tonalitäten und tonalen Zentren entspringt und für Varèses Musik deshalb nur sehr begrenzt zutreffen kann. Genau auf solchen Gleichsetzungen und Zuord-nungen basieren aber die zahlreichen Tonhöhentabellen Bernards. Varèse wird so als Methodiker vereinnahmt, damit den Forderungen einer "serious analytical inquiry" genüge getan werden kann, was auf stark abstrahierte reduktio-nistische Analysemethoden mittels Parametertrennung und ein völliges Ignorieren energetischer Verläufe hinausläuft.

50de la Motte-Haber: a.a.O., S. 226 51Vgl. Jonathan W. Bernard: The Music of Edgard Varèse, New Haven/London 1987, S. 48-50

Page 26: Speed and synthesis

26

Dagegen sind die im folgenden beschriebenen Energiemuster nur in ihrer Vernet-zung, dem Zusammenwirken aller psychoakustisch wirksamen Paramter zu begrei-fen, d. h. vor allem von: -Dynamik -Register/Orchestrierung/Klangfarbe -Rhythmik -Satztechnik -Motivik -Harmonik (in der Reihenfolge absteigender Wirksamkeit). Es ist eindeutig, daß in Varèses Musik nicht mehr die Tonhöhenstruktur eines Klan-ges entscheidend ist, sondern vor allem das Tempo und die Art seiner Entstehung (Genese) und Auflösung (Abbruch/Abgrund oder Liquidation) sowie seine dynami-schen, klangfarblichen und rhythmischen Qualitäten. Das Melodische dagegen ge-rinnt in Varèses zunehmend amotivischer Musik immer mehr zur ins Horizontale geklappten Klangmasse, wobei die dabei entstehende Motivik meist Teil einer Klangmassengenese ist (s. u.). An die Stelle des Motivs ist sonst die körperhaft erfundene Geste, der energiegeladene Impuls getreten, an die Stelle der Akkordfort-schreitung das Nebeneinander- und Übereinanderschichten von Klangmassen, deren Folge keine lineare Fortschreitung innerhalb unterschiedlicher Akkordspan-nungen mehr ist, sondern ein Prozeß ständiger, unvorhersehbarer Verwandlung, Metamorphose. KLANGMASSEN Varèse bezeichnete in einer Vorlesung 1936 seine Musik als eine "Bewegung von Klangmassen "52, die an die Stelle des linearen Kontrapunkts getreten sei. Diese – nicht aufeinander bezogenen – Massen würden sich anziehen, durchdringen und abstoßen, sich gleichzeitig in verschiedenen Geschwindigkeiten bewegen und sich vor allem im Parameter des Timbres/der Farbe in verschiedene Intensitätszonen differenzieren. Die Massen sind aus verschiedenen Schichten oder Verdünnungen zusammengesetzt, wobei der Sprengung der üblichen Tonhöhen-Register erklärtes Charakteristikum ist.

52Musik-Konzepte, S. 12-13

Page 27: Speed and synthesis

27

Die Klangmassen in Arcana lassen sich zunächst in statische und bewegte Klang-massen differenzieren und relativ leicht in verschiedenen Abstufungen beschreiben und zusammenfassen. Dabei sind statische Klangmassen durchwegs aus Liegetö-nen gebildet, die meist sukzessive und in kurzer Zeit eine vollständige Klangmasse aufbauen, wobei die Schichten sich mittels instrumentatorischen Blöcken mehr oder weniger voneinander abheben können. Dagegen bilden bewegte Klangmassen länger gezogene Felder, in denen rhythmische Gestalten auftreten und die oft in mehrere simultane Bewegungsvorgänge differenziert sind. Statische Klangmassen Klangmassengenese, zur Technik des Orchesterpedals Die für Varèse sehr typische sukzessiven Genese statischer Klangmasssen findet sich in Arcana außerordentlich häufig. Eine auf mehrere Instrumente verteilte Tonfol-ge bildet oft eine Art Signalmotiv, von dem mittels Verdopplung in anderen Instru-menten alle Töne "liegen bleiben" und durchklingen, was an das Niederdrücken des rechten Pedals beim Klavier erinnert (NB).

NB: Arcana: 1/3 – 2/1: Technik des Orchesterpedals

Diese Technik des Orchesterpedals findet sich ebenfalls, wenn auch in etwas ande-rer Form, in der Musik von Jean Sibelius und Morton Feldman, die beide auch den Begriff verwendeten. Die Vorstellung vom Orchester als einem einzigen Instrument kommt dabei ebenso zu tragen, wie die Übertragung der experimentellen Arbeit in der Komponisten-Werkstatt am Klavier auf den großen Apparat des Orchesters.

Page 28: Speed and synthesis

28

Varèses Forderung "Forget the Piano"53 relativiert sich angesichts solcher Betrach-tungen ein wenig. Das Klavier als Resonanzkörper gewinnt später in Dèserts noch unmittelbare Bedeutung, wenn es dort die Resonanzen der Blasinstrumente mittels genauer Verdopplung der Tonfolgen verstärkt (vgl. Kapitel IV). Meist wird die Klangmasse sukzessive nach oben hin aufgebaut, so daß häufig Piccoloflöten und Es-Klarinette den letzten Einsatz vor der vervollständigten Klang-masse haben und so das graphische Bild eines rechtwinkligen Dreiecks entsteht Diese nach der Genese erreichten vollständigen Klangmassen sind energetische Pole, die sich gegenseitig abstoßen und die vor und nach ihnen liegenden Entwick-lungen mittels Anziehung und Abstoßung motivieren. Wie Magnetfelder steuern sie so die sie umgebenden Entwicklungslinien. Die erste der zahlreichen Klangmassengenesen in Arcana findet sich in 1/3.54 Auf das fünftönige Motiv in Blechbläsern und tiefen Holzbläsern am Anfang des Taktes (dis2-d1-a1-e2-b1), aus dem "im Pedal" ein Fünftonklang resultiert, folgen in der zweiten Takthälfte fünf weitere Töne in den hohen Holzbläsern und der Trompete (h2-c3-f3-c4-cis4), so daß am Ende von Takt drei ein scharfer Neuntonklang (NB) – aus zwei "Schichten" oder "Verdünnungen" zusammengesetzt – steht, der in 2/1 von einer impulsartigen Figur abgelöst wird (NB), die die drei restlichen Töne des chro-matischen Totals (ges2-g3-as3) verwendet, wobei der Ton f3 als Schnittstelle dient und sowohl der Klangmasse als auch der impulsartigen Figur angehört.

NB: vollständige Klangmasse 1/3 NB: Impulsfigur 2/1

53Schriften, S. 77 54Zur optimalen Orientierung wird jede zitierte Partiturstelle mit Angabe der Partiturseite und der

Nummer des/der auf dieser Seite zitierten Takte/s belegt. So bedeutet 1/3: Seite 1/Takt 3. Dies ist

möglich, da momentan nur eine Ausgabe der Partitur vorliegt, auf die sich alle diese Angaben bezie-

hen: Edgard Varèse: Arcana , Colfranc Music Publishing Corporation, New York. Leider finden sich in

der Partitur keine Taktnummerierungen.

Page 29: Speed and synthesis

29

Die vervollständigte Klangmasse am Ende von 1/3 selbst ist verblüffend symmetrisch gebaut (vgl. Tafel I): Die Intervallfolge von unten nach oben lautet: 5 – kl.2 – 4 – kl.2 – 5 – kl.2 – 4 – 5 – kl.2. Betrachtet man die mittlere Quinte e2-h2 als Symmetrieach-se so liegt mit Ausnahme der äußeren Ränder, die parallelsymmetrisch angeordnet sind, eine streng spiegelsymmetrische Struktur vor. Wichtiger als diese Symmetrie ist aber die Klangschärfe, die durch sie erzeugt wird. Außer den vier kleinen Sekunden ergeben sich vier kleine Nonen und drei Tritoni innerhalb dieser Klangmasse, was eine außergewöhnlich Häufung scharfer Intervalle darstellt, noch dazu in hoher und höchster Lage. Die Leerräume, die durch die Quinten und Quarten entstehen, geben dem Klang darüberhinaus Transparenz und Leuchtkraft. Es scheint hier ein Widerspruch zur obigen Kritik an der strukturellen Betrachtung von Tonhöhen und Intervallen aufzutreten. Deshalb sei hierzu ergänzt, daß weder die Symmetrie, noch die Art und Anordnung der Intervalle eine strukturelle Bedeu-tung haben, die über den einzelnen Klang hinausgeht. Sie dienen lediglich der opti-malen Ausformung dieses einzelnen Klanges und wenn sie dann später in verschie-denen "Transmutationen" wieder aufscheinen, so weist dies nicht auf einen struktu-rellen Zusammenhang, sondern im Gegenteil auf einen Prozeß der Verwandlung hin. Nicht das, was gleich bleibt, ist von Interesse, sondern das, was sich verändert. Niemals werden sich wörtliche Analogien finden, ein fortlaufender Verwandlungsvor-gang umfaßt das ganze Stück. Im Laufe der ersten Entwicklungsphase (1/1 bis 5/4) von Arcana wechseln fünf Vari-anten des eröffnenden Initialimpulses (s. u.) mit vier sich generierenden Klangmas-sen ab, erst die fünfte Klangmasse (5/1-5/4) führt zu einer neuen Entwicklung. Der kurzatmige Wechsel dieser ersten 18 Takte, der an die Geschwindigkeit heutiger Video-Clips erinnert, erzeugt eine für Varèse typische Art der Energiedynamik und bestimmt die unruhige Gestik des ganzen Werkes. Die drei auf die erste folgenden Klangmassen sind in Genese und strukturellem Aufbau eng dieser ersten verwandt. In 2/3 wird dieselbe Klangmasse gebildet wie in 1/3 allerdings ohne die Verdopplungen der vier Oboen, 3/5 resultiert in exakt dersel-ben Masse wie 1/3. In 2/4, bzw. 4/1 folgt wie in 2/1 eine impulsartige Figur mit dem-selben zur Klangmasse komplementären Tonmaterial (ges2-f3-g3-as3). In 4/3 wird diese Folge umgedreht, so daß die impulsartige Figur der Klangmassengenese vorangeht. Auch die Genese in sich ist nun umgedreht, die Klangmasse wird von oben nach unten aufgefüllt. Zudem bleiben die Töne der impulsartigen Figur liegen,

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so daß in 4/4 schließlich ein 11-Ton-Klang entsteht, ohne das f3, das nun als Schnittstelle zwischen Klangmasse und Impuls wegfällt (was allerdings auch in 4/1 der Fall ist). Eine Übersicht über die Veränderung der Klangmassen bietet Tafel I (Beilage). Im Vorgang der Genese finden sich zwischen allen vier Klangmassen deutliche Varianten. Abgesehen vom variierten Rhythmus der Einsatzfolgen (und damit der durch sie entstehenden signalartigen Motive) lauten diese: 1/3 2/3 3/5 4/3-4

Die genauen Dauern der Klangmassengenesen, der gehaltenen Klangmassen und der Impulsfiguren lauten demnach wie folgt (im Tempo =132, Angaben in Vierteln): Takt Abfolge/Dauer

1/3-2/1

2/3-4

3/5-4/1

4/3-4/4

Genese 4,66

Genese 4

Genese 4,25

Impuls 1

Klangmasse 2,58

Klangmasse 1,25

Klangmasse 1,25

Genese 5

Impuls 2,5

Impuls 6

Impuls 1

Klangmasse 2

Der Wechsel zwischen dem initiierenden Baßmotiv und den Klangmassen vollzieht sich in folgenden Dauern (in Vierteln):

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Takt Baßmotiv (Dauer) Takt Klangmasse/

Impulsfigur (Dauer)

1/1-2

2/2

3/1-4

4/2

4/5-5/1

13

3

13,5

3

6,5

1/3-2/1

2/3-4

3/5-4/1

4/3-4

9,5

12

6,5

8

Aus alldem kann gefolgert werden, daß sowohl die Prozesse innerhalb des Klang-massenbereichs als auch die Abfolge von Baßmotiv und Klangmasse einer ständi-gen Variierung durch Streckung und Stauchung unterliegen. Bei aller Verwandtschaft gibt es keinerlei wörtliche Wiederholung, ein zentrales Verfahren der Varèseschen Kompositionstechnik, das mit dem Begriff der Transmutation vom Komponisten selbst beschrieben worden ist und das mit der Variantentechnik, wie sie Mahler in seinen Symphonien entwickelte, einiges gemein hat. Bezieht sich der Begriff der Variantentechnik allerdings vorrangig auf motivische Verwandlungen, so ist bei Varèse die gesamte Musik: Klangzusammensetzung, Dynamik, Orchestration, Rhythmik und Dauer/Tempo von solcher fortgesetzten Veränderung gekennzeichnet. Insgesamt sind in Arcana 22 Genesen statischer Klangmassen zu beobachten, die zwischen 2 und 19 Sekunden lang dauern. Sie verlaufen, je nach Ausdehnung mehr oder weniger stark gestaucht, bzw. gestreckt, praktisch immer nach dem beobachte-ten Schema ab: gedrücktes Orchesterpedal, sukzessive Auffüllung von unten nach oben, meist auch unter gleichzeitigem Einsatz von Instrumentengruppen, was den Eindruck von verschiedenen Schichten bewirkt. Sie stellen Bündelungen musikali-scher Energie dar und werden entweder von einer die Energie wieder abschwächen-den Liquidation oder von einem neue Prozesse bewirkenden Schnitt (Abgrund ) gefolgt. Insgesamt nehmen die Vorgänge der Klangmassengenese mit 2:32 Minuten 12,6% der Gesamtdauer des Werkes (18:40 Minuten) ein. Verfestigungen Generierte Klangmassen verfestigen sich an mehreren Stellen in manisch repetierten Akkorden oder auch Einzeltönen, was Helga de la Motte-Haber als "unirhythmische Blöcke" bezeichnet und mit der Anweisung "Pesante" bzw. "Pesantissimo" in frühe-

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ren Stücken von Varèse (u. a. auch in Amériques) in Zusammenhang bringt.55 Die-sen Blöcken schreibt sie kadenzierende Funktion zu. Tatsächlich sind sol-che Verfestigungen (die auch Knoten genannt werden könnten) extreme Anzie-hungspunkte der musikalischen Energie und somit entscheidende Pole des dynami-schen Formprozesses. Die massivste Klangmassenverfestigung findet sich dabei in den vier Takten 104/2-105/3, dem Kulminationspunkt der musikalischen Energie. Die das ganze Stück über stark präsenten Gesten der Repetition eines Tones und des Unisono, bzw. der Unirhythmik bringen durch ihre Verfielfachung im Orchester-tutti das in ihr angelegte Energiepotential zur größtmöglichen Entfaltung. Das häufige Auftauchen von Tonrepetitionen weist insgesamt auf eine Annäherung der Orches-terinstrumente an nicht-tonhöhengebundene Schlaginstrumente hin, die ja an diesen Knoten und auch sonst sehr häufig synchron mit den tonhöhengebundenen Instru-menten erklingen. Die Tonrepetitionen erfahren ihre Erweiterung in der ebenfalls stark präsenten Geste des Pendelmotivs , bei dem die Repetitionsgeste auf zwei, bzw. drei hin- und herpendelnde Töne verteilt wird (vgl. etwa 51/1 – 52/2). Das ganze Orchester wird so an den Verfestigungen zu einem gewaltigen Schlag-zeugapparat, der ein in den angezogenen Prozessen aufgestautes Energiepotential in höchster Intensität "auswirft" und von einem plötzlichen Abbruch (Abgrund ) und einem vom Energiepol "abgestoßenen" Prozeß gefolgt wird. In Arcana finden sich insgesamt 10 solcher Verfestigungen, die entscheidende Zäsu-ren im Formprozeß darstellen und die ihnen vorangehenden Energiefelder vonein-ander abheben. Sie stellen wichtige Zentren dar, einen Überblick bietet Tafel I (Bei-lage). Abgrund Auf einige dieser Verfestigungen und auf viele weitere Stellen in Arcana hin (beson-ders auch nach vervollständigten Klangmassen) folgt ein radikaler Schnitt, den ich mit dem Bild des Abgrunds beschreiben möchte. Man kann die Abgründe in der Partitur als rein graphisches Ereignis sofort erkennen: die fertig generierte oder bereits verfestigte Klangmasse erhält einen "letzten Schub" oder Akzent und wird daraufhin vom gesamten Orchester auf einmal abgerissen und von einem meist

55de la Motte-Haber: a.a.O., S. 170

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diffusen, ausgesparten Satz oder gar einer Generalpause gefolgt, wodurch das graphische Bild einer Klippe oder eben eines Abgrunds entsteht (vgl. NB):

NB: Klangmassengenese und Abgrund, Arcana 24/2-4

Der Abgrund ist der deutlichste Hinweis auf die Einflüsse filmischer Techniken auf Varèses Musik. In einem plötzlichen, schockartigen Moment, einem "Cut" schlägt die Stimmung vollkommen um, das Szenario wechselt. Die Abgründe sind sehr auffällige Zäsuren und somit die einzigen Gliederungsmomente im sonst ständig voranfließen-den Formprozeß. Je nach Heftigkeit der vorangehenden Klangmassenentwicklung und je nach Stärke des Kontrastes der Klangmasse zur Entwicklung nach dem Ab-grund, sind diese Zäsuren mehr oder weniger einschneidend. An vier Punkten ist der Abgrund besonders "tief" und das von ihm ausgelöste Dispersionsfeld (s. u.) beson-ders lang und diffus. Bei diesen vier Punkten handelt es sich um folgende Stellen in der Partitur: 1. 24/4 (4:30) 2. 30/3 (5:36) 3. 40/1 (7:35) 4. 105/3 (16:30), nach Kulmination. Diese vier Abgründe sind Teil folgender Verläufe: 1. Es geht eine ca. 15-sekündige Klangmassengenese voraus, es folgt ein langes Dispersionsfeld (18 Sekunden). 2. Es gehen eine 4-sekündige Genese und eine 6-sekündige Verfestigung voraus, es folgt ein Dispersionsfeld (26 Sekunden). 3. Es geht eine 6-sekündige Verfestigung voraus, es folgt eine Generalpause (4 Sekunden) und ein Dispersionsfeld (27 Sekunden).

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4. Es gehen eine 19-sekündige Genese und eine 17-sekündige Verfestigung (Kulmi-nation) voraus, es folgt ein kurzes Dispersionsfeld (4 Sekunden) und ein langes Suspensionsfeld (47 Sekunden). Die Folge Klangmassengenese-Verfestigung-Abgrund-Dispersionsfeld erscheint somit als Charakteristikum aller vier Energiepole. Dieses läßt sie miteinander ver-wandt erscheinen über das Ereignis des Abgrunds hinaus und macht sie zu den vier markantesten Polen des Stückes, den wichtigsten Magneten der musikalischen Energie. Klangmassenliquidation Die Klangmassenliquidation kehrt – oft im Zeitraffer – den Vorgang der Klangmas-sengenese um, indem eine vervollständigte statische Klangmasse sukzessive aus-gedünnt und dabei meist ein Instrument oder eine Instrumentengruppe nach der anderen ausgeblendet wird. Dabei muß nicht die Reihenfolge der Genese umgekehrt werden, die Abfolge der Ausblendungen ist meist unabhängig von der der Genese. Die 8 Liquidationen in Arcana haben im Gegensatz zu Verfestigung und Abgrund die Funktion, die in den generierten Klangmassen aufgebaute Energie langsam wieder ausfließen zu lassen ohne daß es zu einer Ballung oder Entladung kommt. Eine auffällige Liquidation erfolgt in den Takten vor der letzten Generalpause (115/1-3). Die vorher in einem Takt generierte und dann leicht sich verfestigende Klang-masse wird in einem überlappenden Vorgang bereits während der Verfestigung aufgelöst. Nacheinander werden folgende Instrumente/Gruppen ausgeblendet: Gro-ße Flöten – Piccolo 2 – Klarinetten – Oboen – Trompeten – hohe Strei-cher/Posaunen – tiefe Streicher/tiefe Holzbläser/Hörner/Tubas – Piccolo 1 – Schlag-zeug. Ein gutes Beispiel für die Folge von Klangmassengenese und Liquidation bietet die Stelle ab 63/1: die dreitaktige Genese verläuft in der Folge tiefe Streicher/tiefe Holz- und Blechbläser/Pauke – Hörner/Trompeten – Schlagzeug – hohe Streicher/hohe Holzbläser. Während die Trompeten nach diesen drei Takten einen Pausentakt haben und sich für sie somit ein Abgrund ergibt, setzen alle anderen Instrumente (mit Ausnahme der beiden B-Klarinetten und eben der fünf Trompeten ein Tutti des gesamten Orchsters) auf die Eins im folgenden Takt einen dynamischen und diaste-matischen Höhepunkt, worauf die Liquidation beginnnt.

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Mit Ausnahme der hohen Streicher wird dabei bei allen Instrumenten die Dynamik mit einem Decrescendo zurückgenommen und nacheinander werden ausgeblendet: Fagotte/Baßklarinette/2. und 4. Posaune/Pauke – Oboe – Flöte 2/Piccolo 3 – Flöte 1/Celli – Es-Klarinette 2/Kontrafagotte/1. und 3. Posaune – Es-Klarinette 1 – Piccolo 1,2 – Tubas – Hörner – Bratschen – 2. Violinen – Kontrabässe – 1. Violi-nen/Schlagzeug. In 64/3 setzen dann 1. bis 3. Trompete einen Impuls, der das Sus-pensionsfeld ab Ziffer 23 auslöst und sich mit dem Liquidationsvorgang überlappt. Klangmassenliquidationen sind somit im Energiefluß als retardierende, bremsende Elemente anzusehen, die das Potential einer generierten Klangmasse "auffangen" und langsam das Energieniveau wieder zurücknehmen. Bewegte Klangmassen Bewegte Klangmassen bilden Felder, die zu motivischen Ansätzen tendieren und in zwei komplementäre Energiemuster einzuteilen sind: Die Suspensionsfelder münden nahezu immer in einer Klangmassengenese oder -verfestigung, werden von diesen angezogen und durchdringen sich auch mit diesen in Übergangszonen zwischen bewegter und statischer Klangmasse. Die Suspensi-onsfelder stellen somit tendenziell zielgerichtete Prozesse dar, werden von einem starken Energiepol (vervollständigte oder verfestigte Klangmasse, Abgrund) angezo-gen und bewegen sich dynamisch auf diesen zu, wobei sie sich ständig energetisch aufladen. Dagegen sind die Dispersionsfelder, die am deutlichsten unmittelbar nach starken Energieballungen auftreten, von zerstreuter, zielloser Bewegung gekennzeichnet. Die vorher freigewordene Energie ebbt nach wie die nachlassenden Sprünge eines hüpfenden Gummiballs. Die Energie wird von einem starken Energiepol aus abge-stoßen, der Energiespeicher wird entleert, um dann durch ein neues Suspensions-feld oder einen anderen Vorgang wieder aufgefüllt werden zu können.

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Suspensionsfelder Die Suspensionsfelder sind von Bewegungszunahme und Verdichtungsprozessen bestimmt, die im Grunde immer in die Genese einer statischen Klangmasse münden. Dabei sind vorantreibende Tonrepetitionen und Unisonobildungen, bzw. eine u-nirhythmische Satzweise sowie ein aufgespaltener Orchestersatz vorherrschend. Als Beispiel soll die Entwicklung ab 5/4 dienen, die auf die bereits weiter oben be-schriebenen Prozesse der ersten Phase folgt. In der Klangmassengenese ab 5/1 taucht zunächst ein signalartiges Trompetenmotiv auf (5/2-3), das im Gegensatz zu den bisherigen Signalmotiven nicht im Orchesterpedal liegen bleibt und damit bereits ein Impuls für das bewegte Suspensionsfeld ist. (Die Technik des Orchesterpedals zeigt sich hier als eng verknüpft mit dem Phänomen der statischen Klangmasse: Wo alles im Pedal "liegen bleibt", kann sich auch nichts bewegen.) Mit entschiedener Geste wird die Triolenrhythmik des Signalmotivs dann in Celli, Tuba und Fagotten im Unisono aufgenommen und in Wechsel und Überlappung mit dem hier erstmals auftretenden Schlagzeug (Chinesische Blöcke) über der liegenden Non E-Fis der Bässe vier Takte lang weitergetrieben. Der Vorgang bricht plötzlich ab und wird von einer Klangmassengenese abgelöst (7/1-3), auf die ein leicht bremsen-des Dispersionsfeld folgt (bis 8/4). Daraufhin wird in einem neu in Gang gesetzten Suspensionsfeld zunächst wieder die Triolenbewegung des ersten Suspensionsfeldes aufgegriffen, dieses Mal in Celli, Hörnern und Baßklarinette (unisono). Es folgen Unisonobewegung mit leichten Ab-weichungen und Repetitionen der Hörner und Trompeten, die dann von tiefen Blech-bläsern und Schlagzeug aufgegriffen werden. Parallel dazu vollzieht sich in den hohen Holzbläsern und hohen Streichern eine Klangmassengenese und -liquidation (von 10/1 bis 11/3). Die Hörner pendeln zwischen statischer und bewegter Klang-masse hin und her und bringen mit einer markanten Quintolenfigur das Suspensions-feld zu einem Abschluß. Auf eine kurze zweitaktige Klangmassengenese (hohe Streicher und Holzbläser) folgt schließlich eine Sonderform des Suspensionsfeldes in Gestalt einer von geteilten Streichern geprägten durchgehenden pendelartigen Sechzehntelfigur, die mit einem plötzlichen Tuttischlag und darauffolgenden Abgrund abgeschlossen wird. Vergegenwärtigt man sich die Kurzatmigkeit der Vorgänge in der weiter oben be-schriebenen ersten Phase und betrachtet dann diese – obschon im langsameren

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Tempo ( =72) stehenden, aber dennoch nie länger als 15 Sekunden dauernden – Stationen, so ist klar, daß allein das Aktionstempo ein mächtiges Energiepotential aufbauen muß, das durch die generierten Klangmassen, denen keine Entspannung folgt zusätzlich stark aufgeladen wird. Eine tabellarische Übersicht soll diesen Vor-gang nocheinmal veranschaulichen: Takt Energiemuster

1/1-5/4

5/4-7/1

7/1-3

7/3-8/4

9/1-11/3

11/4-12/1

12/2-5

12/5

Wechsel Initialimpuls-Klangmassengenese-Impulsfigur

Suspensionsfeld (Triolenfigur, Schlagzeug)

Klangmassengenese

Dispersionsfeld

Suspensionsfeld

Klangmassengenese

Suspensionsfeld (Sechzehntelbewegung)

Tutti-Schlag, Abgrund

In derartiger Form staut sich die Energie ohne größere Entspannungsfelder durch-gehend bis zu Ziffer 10, wo das erste größere Dispersionsfeld, nach 4 1/2 Minuten Hochspannung zu finden ist. Dispersionsfelder Die Dispersionsfelder lassen die Repetitionen und unirhythmischen Bildungen der Suspensionsfelder oft reminiszenzartig nachpochen. Sie ähneln den Mahlerschen Episoden die "wie aus der Ferne" zu spielen sind. Die Anweisung "Lontanissimo" für die Quintolen-Fanfare des ersten größeren Dispersionsfeldes bei Ziffer 10 weist sehr deutlich darauf hin und ist auch Zeichen von Varèses Vorstellung einer "spatialen Musik", in der Klänge in den Raum hinein projiziert werden. Aus dem "Vordergrund" der hochenergetischen Aufladungen tritt der Hintergrund hervor: kaum hörbarer Liegeton in Pauke und Bässen, Fanfaren, zerstreute Schlagzeugimpulse. Die quintolischen Tonrepetitionen der Fanfaren sind eine Reminiszenz an die bereits in der Entwicklung vorher häufig aufgetretenen Quintolenfiguren, die fast immer mit Repetitionen gekoppelt sind und auch im weiteren Verlauf des Stückes wie auch die Signalmotive (teilweise sich mit diesen vermischend) und das Initialmotiv der tiefen Instrumente sich wie Fäden durch das ganze Stück ziehen. Blitzartig tauchen so beim Hören Assoziationen auf, die aber in der Geschwindigkeit der vor sich gehen-

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den Prozesse kaum je die Zeit haben, sich im Bewußtsein zu verankern. Einzig die Dispersionsfelder geben einer vagen Erinnerung Raum, zeigen zugleich aber die räumliche Entfernung an, in die das Erinnerte gerückt ist und bewahren so davor, es allzu er-greifbar werden zu lassen. Aber allzu lange währen auch die Dispersionsfelder nicht. Bereits nach fünf Takten beginnt in 26/2 eine neue Klangmassengenese, die nach vier Takten abgeschlossen ist, allerdings noch im verhaltenen Gestus des Dispersionsfeldes verbleibt, Reminis-zenzen an die Quintolenrepetition (26/5) und an das Baßmotiv (27/2-4) beschließen das Dispersionsfeld und dienen gleichzeitig als Impulse für das in 27/5 beginnende Suspensionsfeld.

* Die Suspensions- und Dispersionsfelder nehmen im Formprozeß von Arcana den breitesten Raum ein, wobei besonders die Suspensionsfelder stark ins Gewicht fallen, auch wenn sie häufig von anderen Prozessen wie der Klangmassengenese überlagert werden. Sie nehmen insgesamt 8:51 Minuten, somit 46,25 % der Ge-samtdauer ein, die Dispersionsfelder 3:32 Minuten und 18,04 % der Gesamtdauer. Dies zeigt wie stark die "nach vorne" gerichteten, von einem Energiepol angezoge-nen Vorgänge gewichtet sind im Verhältnis zu den verebbenden Ruhephasen. In einer allgemeineren Sicht könnte man Arcana auch als eine Folge von Suspensi-onsfeldern interpretieren, die nur von kurzzeitigen Ruhephasen unterbrochen werden und alle anderen Bildungen der Energie der Suspensionsfelder unterordnen. Hier wäre allerdings die Gefahr der Nivellierung groß und die Geschwindigkeit und Kurz-atmigkeit der Musik würde in solchen allzustark "zusammenfassenden" Interpretatio-nen vernachlässigt. INITIALIMPULS: KORRESPONDENZEN Die häufige, mehr oder weniger stark variierte Wiederkehr und Verwandlung des Initialimpulses aus 1/1-2, der gewiß als die von Varèse so genannte "Basisidee" von Arcana gelten darf, führt stellenweise zu Irritationen im energetischen Fluß. Dabei hätte für Arcana beinahe das gelten können, was Varèse von dieser Basisidee sagte, nämlich, daß sie im Laufe eines Werkes immer mehr verschwindet, von der Dynamik der Formentwicklung gleichsam aufgesogen wird. Einzig die nahezu wörtliche Wie-derkehr des Anfangs in 89/4, nachdem ca. 3/4 des Werkes vorüber sind, spricht

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gegen eine solche Interpretation der Basisidee. Dieser reprisenartige Moment, wirkt in seiner eindeutigen Bezugnahme auf den Anfang im Kontext der sonst durchwegs sehr unkonventionellen Form fast schon restaurativ, wie ein Relikt, ja vielleicht auch wie ein Zitat eines überkommenen formalen Topos. In der überarbeiteten Fassung von 1960 wird das Reprisenerlebins durch Ausdün-nung der vorangehenden Entwicklung und der eingeschobenen Generalpause viel stärker hervorgehoben als in der Erstfassung, was Helga de la Motte-Haber ausführlich darstellt.56 Welche Überlegungen Varèse zu diesem Schritt veranlaßt haben, ist nicht mit Sicherheit zu sagen. In jedem Fall stellt diese Wiederkehr des Anfangs eine auffällige Zäsur dar, da sie, im Gegensatz zu den sonstigen wiederkehrenden Varianten des Initialimpulses, außerhalb der sonst zu verfolgenden energetischen Prozesse steht. Dieser Quasi-Reprise voran geht ein langes, fast einminütiges Dispersionsfeld (87/1-89/3), das längste im ganzen Werk. Es kommt also zu einem sehr starken Energieabbau, nachdem vor dem Dispersionsfeld mit der Folge Klangmassengenese (86/1-3), Klangmassenverfestigung (86/3) und Abgrund (86/3-87/1) ein starker Energiepol erreicht war. Das Energieniveau wird aber nicht, etwa mittels eines Suspensionsfeldes wieder langsam erhöht, sondern der Fluß durch den plötzlich einsetzenden Impuls durchbrochen, der seinerseits Klangmassengenese (90/1-91/2), -liquidation (91/2-4) und eine längere Verfestigung (91/4-95/1) auslöst, also die Musik sofort wieder auf ein sehr hohes Energieniveau schießt. Der Initialimpuls selbst ist eine entschiedene Geste, die in den ersten beiden Takten von zwei Instrumentengruppen gebracht wird: 1. Violoncelli, Pauken, Tuba, Fagotte, Heckelphon, 2. Kontrabässe, Kontrafagotte, Baßklarinette (NB). Im zweiten Takt wird die sff-Synkope zwischen erstem und zweitem Viertel von vier Posaunen verstärkt. Die Synkope ist im Laufe des gesamten Stückes nahezu immer präsent und – oft in Verbindung mit Tonrepetitionen – ein zentrales Mittel der energetischen Aufladung. Die Dreitonfigur des Impulses ist zweistimmig und enthält in nuce alle Intervalle, die Varèses Klangaufbau und die aus diesem ins Horizontale geklappten Linien prägen: Tritonus, Quint und Quart, kleine Sekund, große Septime, kleine None (vgl. NB).

56Vgl. de la Motte-Haber: a.a.O., S. 220-223

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NB: Arcana 1/1-2: Initialimpuls

Die Veränderungen des Initialimpulses sind von Helga de la Motte-Haber bereits beschrieben worden57, sollen hier aber unter den Vorzeichen des nun bereits in Ansätzen skizzierten Energieflusses noch einmal verfolgt werden. Dabei sind drei Grade der Selbstähnlichkeit/Korrespondenz der Gestalten zu unterscheiden, denen drei Grade des Erinnerns entsprechen: Wiederkehr : eindeutige oder deutliche Korrespondenz Reminiszenz : vage oder verschleierte Korrespondenz Variante : vorrangig strukturelle Korrespondenz Den drei Graden der Korrspondenz entsprechen etwa folgende Erinnerungsstufen: Wiederkehr : eindeutiges Wiedererkennen Reminiszenz : Ein Bezug wird hergestellt, eine eindeutige Zuordnung wird aber nicht getroffen. Variante : Eine diffuse Ahnung an bereits Gehörtes wird möglicherweise wachgeru-fen, andere Höreindrücke stehen aber im Vordergrund. Es wird keine bewußte Ana-logie hergestellt, außer vielleicht einem Gefühl der Einheitlichkeit durch strukturelle Verbindung. Tafel II (Beilage) zeigt die Veränderungen des Impulses eingeteilt in die drei Katego-rien. Dabei ist achtmal eine Wiederkehr (davon viermal in der oben besprochenen Anfangsphase bis 5/4), sechsmal eine Reminiszenz und vierzehnmal eine Variante des Impulses zu erkennen. Die eindeutigen Zuordnungen (Wiederkehr) beschränken sich dabei auf insgesamt vier Phasen des Werkes, wobei auch die Schnelligkeit und

57Vgl. de la Motte-Haber: a.a.O., S. 216-220

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Flüchtigkeit der wiederkehrenden Impulse zu beachten ist. Eindeutige Analogien (die freilich nie wörtliche Wiederholungen sind) dauern nie länger als 4 Sekunden und befinden sich immer innerhalb von Suspensionsfeldern, die ein hohes Energieniveau aufbauen. Beim Hören bleibt somit wenig Zeit, Bezüge zum Anfang zu setzen, mit Ausnahme des bereits diskutierten Reprisenmoments, der auf einen langen Energie-abbau folgt. Außerdem stellt sich insbesondere in der Kategorie der Varianten die Frage, welche Bildungen noch als Ableitung des Initialimpulses interpretiert werden und wie weit die Strukturanalogien hierbei getrieben werden sollen. Keinesfalls wird hier eine Interpre-tation versucht werden, die wie so viele "Analysen" darauf hinausläuft, ein ganzen Stück auf einen "Kern", einer "Urzelle" zurückzuführen. Nichts würde dem dynami-schen, prozeßorientierten Bewußtsein von Varèses Musik, das sich im Laufe der bisherigen Betrachtungen herausgebildet hat, mehr zuwiderlaufen als Einheitlichkeit, strukturelle Bindung, Atomisierung des Materials. Eher wären die hier als Varianten geführten Bildungen innerhalb ihres jeweiligen energetischen Feldes zu begreifen, da sie aufgrund ihres Abstraktionsgrades im Vergleich zum Initialimpuls nicht im Sinne der Korrespondenzmelodik zu Analogieschlüssen beim Hören führen können. Mit einem gewissen Geschick ließen sich sonst nahezu sämtliche intervallische und rhythmische Konstellationen auf den Anfang zurückführen, da hier für Varèse typi-sche Gestaltungsweisen in Intervallik und Rhythmik vorherrschen. Ein solcher Re-duktionismus würde aber von dem Weg abführen, den wir begonnen haben zu ge-hen, nämlich den des Einfühlens in die energetischen Prozesse und die Formdyna-mik des Werkes. Der Korrespondenz motivisch-thematischer Bestandteile kommt in Arcana somit keine entscheidende Bedeutung zu. Die Vorherrschaft von nach vorne gerichteten Energieprozessen und die Kürze der korrespondierenden Glieder setzen die vage Reminiszenz an die Stelle bewußt nachvollziehender Erinnerung. Da überdies jede die Erinnerung stützende Symmetrie oder Periodik der Gestalten fehlt, gewinnt das Vergessen breiten Raum und führt zu einer am Energiepuls der Musik sich entlang-tastenden Hörhaltung, die wenig mehr mit dem auf strukturellen Zusammenhang gerichteten aktiv-synthetischen Hörhaltung gemein hat, wie sie Besseler beschreibt.

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EPISODEN Der Energiefluß wird darüberhinaus für Momente durch episodische, kompakte und in sich abgeschlossene Teile durchbrochen, die aus den sie umgebenden Prozessen ausscheren und wie nachträglich in den Verlauf hineinmontiert aufgefaßt werden können. Dabei sind besonders die drei "Xylophonepisoden" zu nennen, die eine fast folkloris-tische "eindeutige" Melodik ausprägen und in den Farben von Xylophon und Glo-ckenspiel sehr charakteristische Wiedererkennungselemente besitzen. Hier wird bewußt im Sinne der Korrespondenzmelodik mit der Wiederkehr von Gestalten gearbeitet, was im Kontext der vorherrschenden Dynamik von Klangmassen und Energiefeldern als deutlicher Bruch, als plötzlicher Einbruch des Konkreten empfun-den wird. Bei den Xylophonepisoden handelt es sich um folgende Stellen: 1. Episode: 20/2-21/6, =132 (Dauer: 12 Sekunden) Die Episode ist mittels zwei Achtel-Generalpausen von der sie umgebenden Entwicklung abgehoben

und steht zwischen einer Klangmassenliquidation (19/2-5) und einem Dispersionsfeld (21/7-23/2),

also in einer Umgebung mit relativ niedrigem Energieniveau. Ihre satztechnische Homogenität, die

schlichte Dreiklangsmelodik und die sonst nie in dieser Weise eingesetzte klangfarbliche Kombination

(Unisono von hohen Holzbläsern, Xylophon und Glockenspiel) bilden einen starken Kontrast zu den

sonstigen Klangbildungen. Ein Schlagzeugensemble bringt eine einfache Rhythmik, bei der die

Synkopen zwar akzentuiert, die schweren Taktzeiten aber mit einer Ausnahme immer vorhanden

sind, so daß eine Art Tanzrhythmus entsteht. Abrupter Anfang und Schluß lassen das Zitathafte der

Episode verstärkt hervortreten, wenn auch mittels der anfänglichen Quintolenfigur ein Bezug zu den

allgegenwärtigen Quintolenrepetitionen hergestellt wird. Man könnte davon sprechen, daß hier das

einzige Mal das melodische Potential dieser Repetitionsfigur entfaltet wird.

2. Episode: 56/1-3, =120 (Dauer: 6 Sekunden) Die Episode wird um ca. die Hälfte verkürzt, sie steht zwischen einer vervollständigten Klangmasse

(55/3) und einem Suspensionsfeld mit deutlicher Wiederkehr des Initialimpulses (ab 57/1), also in

einer Umgebung mit relativ hohem Energieniveau, was den Bruch mit der Entwicklung des Energie-

flusses stärker werden läßt als bei der ersten Episode. Auch sind keine Generalpausen gesetzt, um

die Episode stärker abzuheben. Die Instrumentation ist fast exakt dieselbe wie zuerst mit geringfügi-

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gen Abweichungen (B-Klarinette statt 3. Oboe und 3. Piccolo). Auch die Schlagzeugbegleitung ist

wieder sehr schlicht gehalten, wieder sind die Synkopenachtel mit Akzent versehen.

3. Episode: 283/2-3, =112 (Dauer: 3 Sekunden) Die dritte Episode schließlich wird in der Dauer noch einmal um die Hälfte reduziert und verschwimmt

so noch stärker mit den sie umgebenden Prozessen. Sie folgt auf ein längeres Dispersionsfeld (72/3-

74/4) und eine plötzliche kurze Klangmassengenese der Streicher (75/1-2) und wird gefolgt von einer

ebenso plötzlichen Verfestigung (75/4-76/2) und einem längeren Suspensionsfeld (76/3-79/1). Durch

das Weglassen des Glockenspiels verliert die Klangfarbe dieser dritten Episode etwas an Charakte-

ristik gegenüber den ersten beiden auch wenn die anderen Elemente beibehalten werden (Xylophon,

hohe Holzbläser, Schlagzeug). Die Melodik ist abstrakter, so daß nur die rhythmischen Figuren die

Assoziation herstellen.

Eine Mischform aus Episode und Suspensionsfeld stellt die bereits beschriebene Sechzehntelfigur mit geteilten Streichern und Holzbläsern dar, die erstmals in 12/2-4 auftaucht. Durch die auffällige von den ansonsten sehr sparsam eingesetzten Strei-chern dominierte Instrumentation und die sonst stets uneinheitliche hier aber durch-laufende motorische Bewegung, entsteht eine in sich abgeschlossene Gestalt, die allerdings nicht, wie die Xylophonepisoden, in den Verlauf hineinmontiert wirkt, son-dern in stets neuen Kombinationen in den Energiefluß eingefügt wird, immer aber Teil eines Suspensionsfeldes ist, aus dem es nur durch seine besondere Charakte-ristik heraussticht und ihm aufgrund der dichten Bewegungsvorgänge stets einen verstärkten Schub auf den nächsten Energiepol hin gibt. Varianten dieser Episode finden sich an sieben Stellen in der Partitur (12/2-4, 14/1-3, 61/2-62/2, 78/2-79/1, 102/2-3, 107/3-109/1, 110/1-112/3), wobei eine Häufung im zweiten Drittel des Stückes bis zur Kulmination festzustellen ist. Für die Episoden gilt also auch die anhand des Initialimpulses gemachte Beobach-tung, daß sie sich immer mehr in den Energiefluß einfügen und so in ihrer Charakte-ristik immer unschärfer werden. Was zuerst noch wie eine Gestalt aussieht, erweist sich als abstrakter Teil einer auf größere Strecken angelegten Formdynamik, die nicht mehr auf die Identifizierung von Gestalten hin angelegt ist, sondern vielmehr deren Grund einer ständigen Veränderung unterzieht.

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SIGNALMOTIVE – VARIANTENTECHNIK Eine besondere Bedeutung haben die meist am Ende einer Klangmassengenese auftauchenden Signalmotive der Hörner und Blechbläser. Hier arbeitet Varèse durchaus mit motivischen Analogien und somit mit der Assoziations- und Erinne-rungsfähigkeit des Hörers. Bisweilen erinnert sein Verfahren dabei an Mahlers Vari-antentechnik (s. o.). Ob er hierbei, wie Stuckenschmidt in seiner oben zitierten Rezension der europäischen Erstaufführung von Arcana diagnostizierte, wirklich "unversehens in thematische Abhängigkeiten gerät" und damit die "Neuheit des Verfahrens" gefährdet, ist dennoch ungewiß. Jedenfalls ist diese Orientierung an einer im Verhältnis zur sonstigen Gestaltung eher traditionell zu nennenden Motivik sicher neben dem bereits diskutierten Reprisenmoment ein Element in Arcana, das stärker auf Varèses Werke verweist, die vor Arcana entstanden, als auf die später geschriebenen (vgl. IV. Kapitel). In Déserts sind dann tatsächlich alle Motivreste verschwunden, einzig die repetierte Quintolengeste bleibt dort als Sediment, als "Erinnerung an das Motiv" zurück. Die Signalmotive in Arcana entstehen anfangs aus ins Horizontale geklappten Klangmassen und ihre Töne ergänzen sich – im Orchesterpedal gehalten – schließ-lich zu diesen. In der Folge aber werden die Motive unabhängig von den im Pedal liegenden Klängen, auch wenn sie weiterhin mit dem Vorgang der Klangmassenge-nese parallel gehen (was gleichsam den Effekt des "mittleren Pedals" am Klavier nachahmt). Insgesamt 14 Signalmotive (vgl. Tafel III/Beilage) habe ich gezählt und die Analogie zwischen ihnen entsteht – neben der charakteristischen Klangfarbe der hohen Hörner und/oder Trompeten – vor allem durch zwei Faktoren: 1. Viele Signalmotive lassen einen "übergeordneten" melodischen Schritt von einer auf- oder absteigenden kleinen Sekunde zwischen den beiden Spitzentönen erken-nen. 2. Alle Figuren münden in einen längeren gehaltenen, meist noch im Crescendo anschwellenden Ton, wobei oft zum Schluß des Motivs eine Aufspaltung in Zwei- oder Mehrstimmigkeit erfolgt, meist unter Entstehung scharfer Intervalle (große Septime, kleine None). Die Funktion der Signalmotive innerhalb des Energieflusses ist die eines Auslösers: sie geben in einem Zustand bereits angestauter Energie das "Signal" zur Energie-Ballung, die meist in Form von vollständigen oder verfestigten Klangmassen mit

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Abgrund oder Liquidation erfolgt. Manchmal werden sie auch zu pendelartigen Moti-ven über längere Zeit ausgeweitet und erhöhen dabei das Energieniveau beträchtlich (z. B. 76/3-78/1, Trompeten). ABSTRAKTE MELODIK: REPETITIONSGEWEHR UND PENDELSCHLAG Mit Ausnahme der Xylophonepisoden und der Signalmotive bildet Varèse in Arcana einen Typus von horizontaler Bewegung aus, den ich "abstrakte Melodik" nennen möchte. Von den oft wie besessen wirkenden Repetitionen, die auf eine schlagzeug-artige Behandlung aller Instrumente hindeuten, wurde bereits gesprochen. In dies-selbe Richtung weisen die sehr häufigen Pendelbewegungen, bzw. Tonumspielun-gen, wie sie auch im Initialimpuls zu finden sind und die häufige Verwendung weiter Intervallsprünge (meist mit große Septime oder kleiner None). Dabei ist häufig die beharrliche Rückkehr einer Linie zu einem Ton, der gleichsam eine magnetische Kraft auf diese ausübt, zu konstatieren. Er wird dadurch meist energetisch stark aufgeladen, was das Energieniveau insgesamt ansteigen läßt, so daß sich solche Bildungen bevorzugt innerhalb von Suspensionsfeldern finden, so etwa von 23/2 bis 24/4 in den acht Hörnern (e1) oder von 67/3 bis 69/1 (1. und 3. Horn auf a1), bzw. von 68/2 bis 69/3 (Piccolo auf d3 und d4). In diesem Zusammenhang ist auch hervorzuheben, daß bei Varèse neben der relati-ven stets die absolute Tonhöhe in Betracht gezogen werden muß, da er die spezifi-schen Färbungen der instrumentalen Register sehr bewußt einsetzte und so der Verbindung von Dynamik, Register und Klangfarbe für die energetische Dynamik entscheidende Bedeutung zukommt, was bereits anhand der Schichteninstrumentie-rung der Klangmassen der ersten Phase beobachtet werden konnte. Gut zu erken-nen ist eine solche Vorgehensweise auch in 53/1-55/1, wo eine Reminiszenz an den Initialimpuls von einer verfestigten Klangmasse überlagert wird. Dabei ist der Impuls nahezu genauso instrumentiert wie zu Beginn (vc/kb – fag/cfg – pk; Synkopen ver-stärkt durch bkl/tb/cbtb), die Klangmasse ist auf die restlichen Orchesterinstrumente verteilt, wobei eine Schicht unbeweglich ist und ausschließlich das die Klangmasse prägende schrille h repetiert (pic-es-kl-trp 4,5-pos 1,2), während die anderen Instru-mente kurzzeitig auf Wechselnoten ausweichen und so Pendelmotive ausbilden. Daraus entsteht ein komplexes Suspensionsfeld, dessen vorantreibende Kraft noch durch die durchlaufenden Sechzehntel des Schlagzeugs verstärkt wird und – nach einer kurzen Energierücknahme in der Liquidation 55/1-2 – schließlich in einer mas-

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siven Klangmassengenese mit Abgrund mündet (55/3), darauf folgt die zweite Xylo-phonepisode. Wir sehen hieran, daß melodische Vorgänge soweit abstrahiert sind, daß ihnen für die Dynamik des Energieflusses keine entscheidende Bedeutung mehr zukommt. Dieser wird vielmehr bestimmt von der Vernetzung aus Dynamik (die hier noch gro-ßenteils im ganzen Orchester synchron verläuft, im Gegensatz zu Déserts, siehe IV), Register- und Schichtentechniken und rhythmischer Organisation (häufig in der Form von Unirhythmik). Tatsächlich ist also die Bewegung von Klangmassen an die Stelle linearer melodischer oder kontrapunktischer Bewegung getreten. ZUSAMMENFASSUNG: INTERPRETATION DER FORMDYNAMIK Um zur angestrebten Interpretation der gesamten Formdynamik von Arcana gelan-gen zu können, empfiehlt es sich, unter Einsatz der bis jetzt gewonnenen Erkennt-nisse, den Fluß der musikalischen Energie nun noch einmal über das ganze Stück hin zu verfolgen (vgl. dazu auch die graphische Gesamtübersicht, Tafel IV/Beilage). Dabei soll versucht werden, wie nun bereits mehrmals gefordert, die Paramter in ihrer Vernetzung und ihrem Zusammenwirken zu begreifen und sie nicht vom Ener-giefluß zu isolieren. Die vier weiter oben beschriebenen Energiezentren und die Zäsur, die durch das Reprisenerlebnis entsteht lassen insgesamt sechs Phasen des Energieflusses ent-stehen, die im folgenden nacheinander zusammenfassend interpretiert werden. Die erste, bereits ziemlich ausführlich behandelte Phase reicht dabei bis vor Ziffer 10, 25/1 und ihre Dynamik entwickelt sich wie folgt: Das bereits hohe Energieniveau des Anfangs wird zunächst durch ein Suspensions-feld weiter aufgeladen und daraufhin von einem Dispersionsfeld wieder reduziert. Das folgende lange Suspensionsfeld (ab 9/1) enthält insgesamt vier Klangmassen-genesen mit Abgründen und zweimal die vorantreibende Sechzehntelfigur der geteil-ten Streicher und führt schließlich zur Wiederkehr des Initialimpulses in 17/4, aber das Energieniveau ist hier durch das lange Suspensionsfeld bereits beträchtlich höher, was sich auch in einer massiveren Instrumentation des Impulses nieder-schlägt. Die Liquidation verringert dann das Energieniveau etwas und die erste Xylophonepisode setzt ein, worauf ein langes Dispersionsfeld das Energieniveau noch weiter reduziert, ehe es in einem verhältnismäßig kurzem Suspensionsfeld

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wieder auf das hohe Niveau von 17/4 gebracht wird und schließlich sich in einem Abgrund entlädt. So entwickeln sich aus der Kurzatmigkeit des Anfangs zunächst länger gezogene Felder, denen dann eine relativ plötzlich Aufladung zum Schluß folgt. Auch im Ener-giefluß ist also Unvorhersehbarkeit und Plötzlichkeit der Ereignisse häufig, Homö-ostasie und Gleichgewicht eher die Ausnahme. Die großflächige Einteilung in Suspensions- und Dispersionsfelder sollte nicht dazu verleiten, die Vielzahl der kleinen Binnenfelder einfach in eine "Box" zu kippen. Bei aller Kraft der energeti-schen Entwicklungslinien bleibt doch stets der Eindruck der Disparatheit stark und nur eine Betrachtung, die beides berücksichtigt, kann dieser Musik einigermaßen gerecht werden. 1. Phase

Takt Zeit/Beginn Energieverlauf

1/1-5/3

5/4-7/3

8/1-4

9/1-17/3

17/4-19/5

20/1-21/6

21/7-23/1

23/2-24/4

0:00

0:43

1:12

1:30

(2:30)

3:09

3:32

3:44

4:06 - 4:30

Wechsel Initialimpuls-Klangmassengenese-Impulsfigur

Suspensionsfeld (Triolenfigur, Schlagzeug)

7/1-3 Klangmassengenese

Dispersionsfeld

Suspensionsfeld

10/2-4 Klangmassengenese

10/4-11/3 Klangmassenliquidation

11/4-12/1 Klangmassengenese

12/2-4 Sechzehntelfigur, geteilte Streicher. Tutti-Schlag – ABGRUND

13/1-3 Initialimpuls: Reminiszenz

14/1-3 Sechzehntelbewegung, geteilte Streicher

15/1-3 Klangmassengenese – ABGRUND

17/1-3 Klangmassengenese – ABGRUND

17/4-18/3 Initialimpuls: Wiederkehr

18/4-19/2 Klangmassengenese

19/2-5 Klangmassenliquidation, rhythmischer Hintergund für

folgende Episode entsteht

1. Xylophonepisode (11 sek)

Dispersionsfeld

Suspensionsfeld

24/2-4 Klangmassengenese – ABGRUND

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Die zweite und dritte Phase sind zusammen 1 1/2 Minuten kürzer als die erste und bestehen im Grunde nur aus der wiederholten Folge Dispersionsfeld-Suspensionsfeld, wobei das Schwergewicht auf den Suspensionsfeldern und ihrer energetischen Aufladung bis hin zu den verfestigten Klangmassen 30/1-3 und 39/3-40/1 zu setzen ist. Dabei ist die erste Masse mindestens ebenso hoch aufgeladen wie die zweite, so daß im Grunde zwei gleichwertige Pole vorliegen. Einzig die Ge-neralpause nach der zweiten Masse läßt diese in ihrem Resultat noch stärker wir-ken. 2. Phase Takt Zeit/Beginn Energieverlauf

25/1-27/4

27/5-30/3

4:31

4:50 – 5:

36

Dispersionsfeld

Suspensionsfeld

29/2-30/1 Klangmassengenese

30/1-3 verfestigte Klangmasse – ABGRUND

3. Phase Takt Zeit/Beginn Energieverlauf

31/1-34/4

35/1-40/1

40/2

5:37

6:22

7:36

Dispersionsfeld

33/3-34/1 Klangmassengenese

34/2-4 Baßmotiv: Variante

Suspensionsfeld

38/2-39/1 Klangmassengenese – ABGRUND/Liquidation

39/3-40/1 verfestigte Klangmasse – ABGRUND

Generalpause

Phase IV dagegen ist wieder sehr vielgliedrig und disparat. Auf die zunächst wieder zweimalige Folge Dispersionsfeld-Suspensionsfeld (2:12 Minuten) folgt in 56/1-3 zunächst die zweite Xylophonepisode, der ein ausgedehntes, immer nur kurzzeitig gebremstes Suspensionsfeld folgt (1:50 Minuten). Dieses endet wie in Phase 1 in einer Wiederkehr des Initialimpulses, der in der Instrumentation wieder erweitert ist und mit einer stärkeren Ausweitung der Intervalle auf das höhere energetische Ni-veau reagiert. In einem Dispersionsfeld wird diese Energie aufgefangen, worauf – nach der dritten Xylophonepisode – wieder ein langes Suspensionsfeld (1:21 Minu-

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ten) bis hin zur zweimaligen Folge Klangmassengenese-Abgrund führt (84/4-85/3 und 86/2-3). Das nun folgende längste Dispersionsfeld des Stückes (50 Sekunden) führt zum niedrigsten Energieniveau überhaupt, auf dem – nahezu wie aus der Stille des Anfangs, aber eben doch von Verwandlungen gezeichnet – der Initialimpuls in großer Deutlichkeit hervorschießt. 4. Phase Takt Zeit/Beginn Energieverlauf

40/3-43/1

43/2-46/1

46/2-47/2

47/3-55/3

56/1-3

57/1-63/4

65/1-72/2

72/3-75/1

75/2-3

7:38

8:17

8:40

8:50

9:14

9:50

9:56

10:52

11:26

11:38

11:46

12:09

Dispersionsfeld

Suspensionsfeld

45/1-46/1 verfestigte Klangmasse (Pendel) – ABGRUND

Dispersionsfeld

Suspensionsfeld

51/1-52/2 verfestigte Klangmasse (Pendel)

52/3-55/1 Baßmotiv: Reminiszenz, verfestigte Klangmasse

55/1-2 Baßmotiv: Variante

55/3 Klangmassengenese

2. Xylophonepisode

Suspensionsfeld

57/1-58/3 Baßmotiv: Reminiszenz

58/4-59/2 Baßmotiv: Wiederkehr

59/3-61/1 Klangmassengenese

61/2-62/2 Sechzehntelfigur, geteilte Streicher

62/3-63/4 Klangmassengenese

63/4-64/3 Klangmassenliquidation (Dispersionsfeld)

Suspensionsfeld

66/4 Klangmassengenese

68/1-69/2 verfestigte Klangmasse

69/3-71/1 Klangmassenliquidation (Dispersionsfeld)

71/2-72/2 Baßmotiv: Wiederkehr

Dispersionsfeld

3. Xylophonepisode

Page 50: Speed and synthesis

50

75/4-76/2

76/3-80/1

80/2-86/3

87/1-89/3

12:13

12:48

13:34

verfestigte Klangmasse

Suspensionsfeld

78/2-79/1 Sechzehntelfigur, geteilte Streicher, verfestigte Klang-

masse

79/2-80/1 Klangmassenliquidation

Suspensionsfeld

80/2-84/2 Baßmotiv: Varianten,

84/4-85/3 Klangmassengenese – ABGRUND

85/4-86/3 Klangmassengenese – ABGRUND

Dispersionsfeld

Die damit eingeleitete fünfte Phase bringt nach einem kurzatmigen zweimaligen Wechsel von Suspensionsfeld und Dispersionsfeld schließlich die Aufladung zum stärksten Energieniveau des ganzen Stückes hin, das in der verfestigten Klangmas-se der Kulmination in 104/2-105/3 erreicht ist. Interessant ist dabei, daß der Über-gang vom niedrigsten zum höchsten Energieniveau in kürzester Zeit (1:52 Minuten) bewerkstelligt wird und so die vorangegangenen Energieübertragungen gleichsam im Zeitraffer wiederholt werden. 5. Phase Takt Zeit/Beginn Energieverlauf

89/4-5

90/1-91/2

91/2-91/4

91/4-95/1

95/2-3

96/1-99/2

99/3-102/1

102/2-105/3

14:24

14:43

15:09

Baßmotiv: Wiederkehr, Reprisenmoment

Klangmassengenese, versteckte Kadenz

Klangmassenliquidation

Suspensionsfeld, verfestigte Klangmasse – ABGRUND

Dispersionsfeld

Suspensionsfeld

97/1-99/2 verfestigte Klangmasse – (ABGRUND)

Dispersionsfeld

Suspensionsfeld

102/2-3 Sechzehntelfigur, geteilte Streicher

103/2-104/2 Klangmassengenese

104/2 verfestigte Klangmasse, Kulmination/1 – ABGRUND

105/1 Klangmassengenese

105/2-3 verfestigte Klangmasse, Kulmination/2 – ABGRUND

Page 51: Speed and synthesis

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Die auf die Kulmination folgende Schlußphase bringt eine deutliche Zunahme von Liquidation und Dispersionsfeldern. Die hier in Achtelquintolen abgeänderte Sech-zehntelepisode der geteilten Streicher gewinnt zunächst in einem Suspensionsfeld breiten Raum, wird aber schon bald (ab 111/1) mit Pausen durchsetzt und trägt so vor seinem plötzlichen Abbrechen (112/3) bereits die Spuren der Auflösung in sich. Die beiden Generalpausen 114/3-4 und 115/4 lassen zusammen mit dem abschlie-ßenden Dispersionsfeld, das aus einer Klangmassenliquidation und einem vereb-benden Holzblockrhythmus besteht, das Energieniveau kontinuierlich absinken bis zur völligen Stille und Bewegungslosigkeit. 6. Phase Takt Zeit/Beginn Energieverlauf

106/1-2

106/3-112/3

113/1-114/2

114/3-4

114/5-6

115/1-3

115/4

116/1-6

16:31

17:21

17:44

18:15

(18:40)

Dispersionsfeld

Suspensionsfeld

106/3-107/2 Baßmotiv: Varianten

107/3-109/1 "Sechzehntelfigur" (hier Achtelquintolen), geteilte

Streicher

109/2-4 Klangmassengenese

110/1-112/3 "Sechzehntelfigur" (Achtelquintolen), mit Pausen –

ABGRUND

Dispersionsfeld

Generalpause

Klangmassengenese

Klangmassenliquidation

Generalpause

Dispersionsfeld

Schluß

Page 52: Speed and synthesis

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Exkurs: Absolute Form und gewachsene Formtypen Varèses Musik erscheint unter diesem Betrachtungswinkel als das, was ich als prototypisch für ein

Bewußtsein von "absoluter" musikalischer Form bezeichnen möchte. Ich möchte diese Formvorstel-

lung abgrenzen von dem Schlagwort der "absoluten Musik", die eher als deren Gegenteil erscheinen

wird.

In der "absoluten Form" wird die sinnliche Erfahrung von Musik in den Vordergrund gerückt, was eine

Nähe zur Wirkungsästhetik (wie etwa bei Berlioz) ausmacht. Der Begriff "Form" wird dabei zunächst

keineswegs mit Fragen der Struktur in Verbindung gebracht, sondern vielmehr als Resultat, Ergebnis

eines Prozesses von musikalischen Energiesträngen, Kraftlinien gesehen. Das so entstehende

Ergebnis ist die – einmalige, unwiederholbare – "Form". Sie wird nicht bewußt gestaltet, sondern

entsteht gleichsam "von selbst", ist somit wesentlich unschematisch.

Solche Musik schafft sich ihre eigenes musikalisches "Programm", das sie unverwechselbar, einmalig

macht. In der "Programmusik" des 19. und 20. Jahrhunderts gibt es viele Beispiele einer "absoluten

Form" (von der später auch Komponisten beeinflußt wurden, die dann nicht mehr der Programmusik

zugerechnet wurden), weil die Orientierung an einem literarisch beschriebenen Vorgang im günstigs-

ten Fall die Loslösung von erstarrten Schemata und von einem mit ihnen verbundenen Gestaltungs-

zwang ermöglichte und die Konzentration auf neu "programmierte" musikalische Prozesse begünstig-

te. So ist auch durch die Inspiration, die die ersten Opernkomponisten aus der Orientierung an der

Sprache schöpften, in der Monodie eine frühe "absolute Form" herausgewachsen. Das Madrigal, die

barocke und frühklassische Fantasie , das Rezitativ und schließlich die Symphonische Dichtung

erscheinen so als Gattungen der "absoluten Form". Die große Bedeutung von zunächst nicht musika-

lischen Vorlagen als Inspirationsquelle ist dabei auffallend. Aus der Textstruktur der Madrigaldichtung

resultiert die – äußerst freie – madrigalische Form in der Musik. Aus der dramatischen oder poeti-

schen Vorlage der Symphonischen Dichtung wird absolute musikalische Form und zwar nicht trotz,

sondern wegen des Programms.

Daß auch diese Gattungen nach einiger Zeit wieder schematisiert wurden und in ihrer Spätform

erstarrten, soll dabei freilich nicht vergessen werden. Die realistisch nachzeichnenden Klischees

eines Werkes wie etwa der "Alpensymphonie" führt die Musik in eine Abhängigkeit von außermusika-

lischen Vorgängen, die jede Eigendynamik formaler Kräfte zugunsten eines naiven Funktionalismus

ignoriert. Und in den frühen Phasen der Programmusik war diese kaum weniger frei von den gewach-

senen Typen der symphonischen Form als die sogenannte "absolute Musik". So gewinnt Berlioz in

der Symphonie fantastique zwar angeregt durch das literarische Programm neues Terrain, bleibt

aber formal an den meisten Stellen im Rahmen einer dramatisierten Sonatensatzform, die er nur für

seine "literarischen" Zwecke leicht adaptiert. Die "absolute Form" dagegen ist eine extrem individuali-

Page 53: Speed and synthesis

53

sierte Form, wie sie ihre eindrucksvollste Entfaltung etwa in den Orchesterwerken Debussys (vor

allem in den Nocturnes und La Mer ) oder in der Schönbergs Verklärter Nacht findet.

Im günstigsten Fall entsteht so eine "Musik, die so ganz herausfällt aus der Muskgeschichte", wie es

eine Kritik 1932 anläßlich der deutschen Erstaufführung von Varèses Arcana formulierte. In solcher

Musik sind formale Korrespondenzen und Beziehungen zwar vorhanden, bilden aber offensichtlich

nicht die Substanz des wesentlich dynamischen Formvorgangs. Die Kürze von Episoden und die

Verschleierung von Analogien machen das In-Beziehung-Setzen insgesamt weniger sinnvoll und

lassen einen Fluß musikalischer Energie als stärksten Referenzpunkt des Hörens hervortreten.

In den "gewachsenen Formtypen" dagegen wird Musik als linearer "Verlauf" begriffen, den es zu

gestalten gilt. Die Form wird gebildet und organisiert , sie ist deshalb an tendenziell abstrakten

Kriterien wie Logik und Zusammenhang orientiert, was ihre Beliebtheit im musikalischen Klassizis-

mus verständlich macht. In der musikalischen Klassik, insbesondere bei Beethoven, bilden sich diese

Kriterien deshalb auch am deutlichsten aus, was zu einer extensiven Ausweitung struktureller Bezie-

hungen und einem reduktionistischen Formideal führt, in dem alle Bausteine des Ganzen in einem

"Kern" aufgehoben sind und zusammenlaufen. Dieser höhere Grad an Abstraktion für zur Entstehung

von Schemata, von Formtypen, wobei die "Kunst" mit dem Aufkommen des emphatischen Schöpfer-

bewußtseins nun darin besteht, diese Formtypen immer wieder mit neuem Leben zu erfüllen und der

Erstarrung des Schemas zu entkommen. Fuge und Sonate sind die beiden am deutlichsten ausge-

prägten Typen der "gewachsenen Form", in deren Entwicklung sich gleichzeitig das Bewußtsein von

dem "Urzellen"-Gedanken des Fugentypus (der für das monotheistische Weltbild stehen mag) und

der monothematisch begriffenen Sonate (etwa bei H. Chr. Koch) hin zur dialektischen Auffassung der

Sonate des frühen 19. Jahrhunderts (wie sie sich in der hegelianisch geprägten Einführung des

Themendualismus der Sonatenform in die Musiktheorie durch A. B. Marx niederschlägt) vollzieht.

Charakteristisch für die "gewachsenen Formtypen" ist, daß in ihnen mittels Rekurrierung auf struktu-

relle Phänomene in anderen Bereichen (vor allem Sprache und Tanz) die Vorziehung und Autorisie-

rung bestimmter musikalischer Vorgänge gegenüber anderen gefordert wird. Descartes leitete in

seinem "Compendium musicae" schon 1630 eine ideale musikalische Phrasenbildung aus den

"geraden" Proportionen 1:2:4:8 etc. ab, die er in der Tanzmusik fand und nun als neues Ideal für die

Musik insgesamt nahelegt.58 Ähnlich schematisierte die barocke Figurenlehre eine formalisierte

Zuordnung von musikalischen "Figuren" zu bestimmten Grundaffekten analog zur klassich-antiken

Rhetorik.

58Vgl. Heinrich Besseler: a.a.O., S. 30ff.

Page 54: Speed and synthesis

54

Natürlich waren "gewachsene Formtypen" häufig auch in den oben für die "absolute Form" reklamier-

ten Gattungen präsent, denkt man etwa an den großen Einfluß, den die Symphonien Beethovens auf

die Dramaturgie von Berlioz' Musik hatte, z. B. in der starken Gewichtung des Finales, der Scherzo-

Gestik oder der pathetischen Grundhaltung. Die Dialektik von "Absoluter Form" und "Gewachsenen

Formtypen" sollte nicht zu weit getrieben werden, will man nicht wieder in neue Wertungen und

Kategorisierungen verfallen. Immerhin ist auf Stränge in der Musikgeschichte aufmerksam zu ma-

chen, die außerhalb der "für die nächsten 100 Jahre gesicherten" Vorherrschaft einer bestimmten, im

Grunde in einem klassizistischen Formideal wurzelnden musikalischen Traditionslinie stehen und

denen auch die Musik Edgard Varèses zuzurechen ist.

Page 55: Speed and synthesis

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ARCANA ALS ABSOLUTE FORM Die Formdynamik von Arcana erscheint als komplexer Prozeß, der zwar auf gewich-tige Energiepole hin ausgerichtet ist, aber aufgrund seiner Vielgliedrigkeit in der Binnenstruktur eine rein final orientierte Interpretation einseitig erscheinen läßt. Auf die extrem vielgliederige Entwicklung der ersten Phase (4:30 Minuten) folgt die ge-ballte Konzentration der Felder in zweiter und dritter Phase (3 Minuten), ehe die wieder stark disparate Phase IV in fast 7 Minuten eine breite Palette an Reminiszen-zen, Episoden und Feldern durchläuft. Die Zäsur des Reprisenerlebnisses, das energetisch nicht vorbereitet ist, ist dann die einzige wirkliche Trennlinie in Arcana, sieht man von der Generalpause vor der vierten Phase einmal ab. Wieder führt eine stärker konzentrierte Energieanhäufung jetzt sehr schnell zur Kulmination des gan-zen Stückes (2 Minuten nach dem reprisenartigen Einsatz), ehe die sechste Phase das Energieniveau langsam abfließen läßt (ebenfalls 2 Minuten lang). So wird in zwei stärker disparaten und in zwei stärker konzentrierten Prozessen Energie angesam-melt, die sich jeweils am Ende der Phasen entlädt (I, II/III, V) , bzw. absinkt (IV); in der letzten Phase schließlich fließt das insgesamt sehr hohe Energieniveau des Stückes langsam ab: eine seltsam unsymmetrische Entwicklung, die keinerlei Asso-ziationen an klassische, gewachsene Formtypen mehr zuläßt. So erscheint es vollkommen sinnlos, obwohl wiederholt versucht, diese wuchernden Linien auf Schemata zurückzuführen, die Umrißlinien dann mehr oder weniger will-kürlich setzen müssen, um die Musik "in den Griff" zu bekommen. So konstatiert James H. Conely ABAB mit Coda als Formschema59 und sogar Helga de la Motte-Haber liebäugelt mit der Passacaglia-Interpretation, wenn sie Arcana unter dem Kaptiel "Klingende Geometrie und die Verwendung alter Formen" behandelt60, ob-schon sie dann zur Interpretation einer spiralartigen Form gelangt, die auf dem be-reits zitierten Gedanken Varèses basiert, die Basisidee würde sich im Laufe eines Stückes immer weiter vom Ausgangspunkt entfernen. Das trifft gewiß auf weite Strecken in Arcana zu, hat aber Wiedersprüche im Reprisenmoment und in der weiteren zweimaligen deutlichen Wiederkehr des Initialimpulses im Verlauf des Stückes, jeweils ein starker Anziehungspunkt, welcher mittels der Suspensionsfelder "angesteuert" wird.

59James Hannon Conely,: An Anaysis of Form in "Arcana" of Edgard Varèse and the Trilogy of

Samuel Beckett , Diss. phil., Columbia University, New York 1968, S. 24ff. 60de la Motte-Haber: a.a.O., S. 216ff.

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Ist Arcana also mit der Etikettierung der Formenlehre nicht zu erfassen, so ist doch dieser Typus von frei wuchernder Form nicht ohne Tradition, die ich die der "Absolu-ten Form" nennen möchte (vgl. obigen Exkurs). Die Absolute Form setzt die Dynamik von Formentwicklung und ständiger Verwandlung an die Stelle von Logik und Zu-sammenhang, Vielfalt und Heterogenität anstelle von Konzentration und Einheitlich-keit des Materials. Die Idee der Verwandlung, die so viele Künstler aller Epochen faszinierte, wird hier zum obersten Topos der Form. Auf die Erforschung von Hörhaltungen wurde in Bezug auf Arcana bisher nicht expli-zit eingegangen, da jeder Schritt der theoretischen Interpretation ja gleichzeitig auch ein Schritt hin zu anderem Hören ist und zudem stets unausgesprochen von Hörer-fahrungen ausgegangen wurde (wie dies in jeder theoretischen Äußerung über Musik der Fall ist). Durch die Lektüre dieser Interpretation (und wie sehr erst durch ihr Verfassen!) werden sich gewiß bereits jetzt schon radikale Änderungen in der Hörhaltung ergeben haben. Wollte man diese umschreiben, so tritt wieder das Thema "Hören und Vergessen" in den Vordergrund: Zwar gibt es in Arcana wiederkehrende Elemente, die auch vom Hörer identifiziert werden können, aber trotzdem scheint durch die Schnittechnik Varèses das Gedächtnis der Hörers über weite Strecken auf seltsame Weise "außer Kraft" gesetzt. Das Herstellen von Beziehungen, so fern es in der raschen Folge von Energieimpulsen überhaupt noch möglich ist, "bringt" offensichtlich nichts, erfaßt nichts von der Substanz der Musik. Arcana ist ein Vexier- und Verwirrspiel mit Erin-nerungsfetzen, die in ihrer Fragmentierung die Gedächtnisleistung des Hörers ad absurdum führen. Die Analogiesetzung von Gestalten oder Klangblöcken wird er-schwert durch die meist vagen motivischen oder klanglichen Entsprechungen. Statt-dessen eröffnet ein Mitvollziehen des Energieflusses, möglicherweise auch begleitet von einer Umsetzung in geistige, seelische oder körperliche Energie, neue Horizonte des Hörens. Eine Synthese aus einem montageartigen, ja einem heutige Sampling-Ästhetik an-deutendem kompositorischem Verfahren ("Speed") und einer linear zu verfolgenden Formdynamik ("Synthesis") schält sich so heraus: in den 18:40 Minuten Gesamtdau-er sind ca. 90 Binnenepisoden auszumachen, für die so eine Durchschnittsdauer von 12, 3 Sekunden errechnet werden kann. Varèse hat mit dem Begriff vom "telegraphic style", der "speed and synthesis" der Epoche vermitteln soll, seine eigene Musik treffend charakterisiert. Angesichts der oft sehr hohen Geschwindigkeit heutiger Musik relativiert sich für uns die Varèsesche freilich etwas. Immerhin ist auch heute

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noch in jedem Augenblick die Stimmung des Aufbruchs ins "Klanguniversum", zu neuen Horizonten, oder wo auch immer hin, zu spüren. Die Forderung nach Neuheit wird von dieser Musik erfüllt wie kaum von einer anderen. Tatsächlich war Varèse ein "ultra-moderner" Komponist, dessen Musik uns auch heute noch aufregend "modern" erscheinen kann.

* * *

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IV. AMERIQUES und DESERTS - Verknüpfungen und Abzweigungen Im folgenden sollen anhand der Interpretation zweier weiterer Werke Varèses die in Arcana erforschten Formprozesse durch Verbindungslinien und Differenzierungen innerhalb von Varèses Oeuvre erweitert werden und so Grundlagen für eine allge-meinere Diskussion von Hörhaltungen bei seiner Musik geschaffen als auch der noch bevorstehende Schritt hin zu einer Ausweitung dieser Betrachtungen in andere Epochen der Musikgeschichte vorbereitet werden. Mit Amériques (komponiert 1918-21, Uraufführung 1926) und Déserts (komponiert 1949-54, Uraufführung 1954) sind die beiden außer Arcana gewiß zentralen Werke innerhalb der Schaffensperiode, aus der Werke Varèses überliefert sind, gewählt. Die beiden Werke markieren zugleich chronologische Ränder: die Werke vor Amériques sind verschollen (mit Ausnahme des frühen Klavierliedes Un grand sommeil noir von 1906), in den elf Jahren nach Déserts bis zu Varèses Tod folgen mit Ausnahme des Poème éléctro-nique nur noch unvollendete Werke (Dans la nuit, Nocturnal I und II).

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1. AMÉRIQUES – DIE KRAFT FINALER ENERGIEZENTREN ZWISCHEN AMÉRIQUES UND ARCANA In vieler Hinsicht erweist sich Arcana als Zwischenstadium zwischen diesen beiden Rändern, auch wenn es, schon allein durch Chronologie und Besetzung, näher an Amériques ist. Zur Zeit zwischen der Fertigstellung von Amériques (1921) und der von Arcana (1927) bleibt vergleichsweise wenig zu sagen. Immerhin war dies Va-rèses produktivste Zeit, in der berühmt-berüchtigte Werke wie Hyperprism oder Intégrales entstanden und in der er als Komponist langsam einen gewissen Be-kanntheitsgrad erreichte, nicht zuletzt durch die Aktivitäten seiner International Com-posers' Guilt, die er 1921 gründete und die von 1922 bis 1927 durchgehend Konzer-te mit zeitgenössischer Musik gab. Es war somit die Zeit, in der sich Varèse am meisten für die öffentliche Präsenz seiner Musik und der seiner Kollegen engagierte. In Amériques lassen sich im Vergleich zu Arcana noch häufiger länger ausgeführte Motivik, verdichtetes Klanggewebe und glissandoartige Figuren und Gesten finden, Elemente, die in Arcana dann stark reduziert und abstrahiert werden. Voll ausgebil-det dagegen ist in Amériques bereits Varèses Schnittechnik, die hier auch mit einem noch größeren Episodenreichtum korrespondiert. Wie in Arcana ist die energetische Entwicklung so einerseits final auf Energiepole hin orientiert, was auch hier zu einer auffallend hohen Anzahl von starken energetischen Aufladungen mit abschließenden Abgründen führt, andererseits führt der Episodenreichtum besonders im ersten Teil des Werkes zu einer fortgesetzten Zerstreuung der Energie und ihrer Dezentrierung , die ein Gegengewicht zu den Energiepolen ausbildet. Die Melodik schafft aufgrund ihres geringeren Abstraktionsgrades deutlichere Korrespondenzen der Motive und Episoden als in Arcana . Dabei ist auch hier die signalartige Gestik, die häufig Ab-brüchen voransteht, bereits stark präsent. ERSTE PHASE Die erste Phase von Amériques ist von der Faktur her gesehen eng der ersten Phase von Arcana verwandt. Auch hier wird eine mottoartige Hauptgeste: ein Quint-Motiv der Altflöte (NB) – unterlegt von einer Klangfläche der beiden Harfen und ergänzt von chromatisch erreichten Liegetönen im Fagott – schnittartig unterbrochen von mehr oder weniger kontrastierenden Einschüben, so wie der Initialimpuls von Arcana wiederholt von Klangmassengenesen unterbrochen wurde. Dabei nehmen

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die Einschübe an Länge zu und das Quint-Motiv an Länge ab, so daß es schließlich selbst zum "Einschub" wird bis es sich zum Schluß in den Energiefluß der Musik einfügt und damit die schnittartige Abfolge des Anfangs verschwindet.

NB Amériques: Mottoartiges Initialmotiv (1/1-261). Das Tonmaterial kann aus einer sechstönigen

aufsteigenden Quintreihe abgeleitet werden(C-G-d-a-e1-h1). Hinzutritt ein Klangfeld aus den Tönen

b-des1-d1 in den beiden Harfen in 1/ 2 und ein chromatisch angespieltes as1 im 1. Fagott in 1/ 3.

Beim sechsten und letzten Auftreten des Motivs in der ersten Phase (13/5-14/3) ist es dann in Klangfarbe (Trompete), Tonhöhe (eine kleine Septime höher) und rhyth-mischer Gestalt gegenüber dem Anfang verändert (vgl. NB), während es die ersten fünf Male in Tonhöhenfolge, rhythmischer Gestalt und Klangfarbe unverändert bleibt, einzig Anfangs- und Schlußton des Motivs sind unterschiedlich lang. Am Anfang wird das Motiv siebenmal hintereinander wiederholt62, in der Folge nur noch jeweils ein-mal.

NB Amériques : 13/5-14/2 (Trompete 1). Verwandeltes Initialmotiv

In den Einschüben werden Gesten und Klangzustände exponiert, die im weiteren Verlauf des Stückes wesentliche strukturelle Elemente darstellen und im folgenden einzeln behandelt werden. Ihre hier noch fragmentierte Gestalt setzt sich zu immer

61Die Zitierung der Takte erfolgt nach demselben System wie in Arcana. 62Hier sei nur vermutet, daß derartige Zahlen unter Umständen in Varèse Welt nicht zufällig auftau-

chen, war er doch sehr an mystischen "Geheimwissenschaften" interessiert (vgl. II.). Die Zahl sieben

ist mehrfach auch in Arcana zu finden, unter anderem in der Präsenz des durchaus ungewöhnlichen

7/4-Taktes. Dieses Thema könnte weitere Forschungen wert sein.

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längeren Entwicklungen zusammen, so daß der ersten Phase die Funktion einer "andeutenden Exposition" zukommt. Dabei tauchen nacheinander auf: -die Repetitionsgestik (3/1) -die kreisende modale Melodik der Trompeten (4/1) und die Moll-Dur-Geste (4/3-5) mit anschließendem Pendel (5/1-3) -die arabeskenhaften Klangfelder der Holzbläser (6/1-7/2) -das Klanggewebe, das u. a. die "Horn-Episode" später grundieren wird (8/1-6 und 9/2-3) -die Glissandogestik (8/7-9/1) -die chromatische Fanfare (10/1-2) -das "rhythmische Thema" (11/3-12/4). ENERGIEPOLE Versucht man, die stärksten Energiepole in Amériques zu orten, so stößt man un-weigerlich wieder auf statische Klangmassen und ihre Verfestigungen und Abgründe. Die in Arcana so häufig zu findende sukzessive Klangmassengenese ist in Améri-ques allerdings selten. An ihre Stelle tritt die energetische Aufladung einer Klang-masse, die von vornherein vollständig da ist und dann mittels Zunahme von Dynamik und ggf. Einsatz anderer Spieltechniken (Triller, Tremolo, Flatterzunge) mit zusätzli-cher Energie angefüllt wird. Oft finden sich auch Glissando-Gesten im Laufe oder am Ende solcher energetischen Aufladungen, wie überhaupt neben die wie in Arcana unentwegt auftauchenden Repetitionen die Glissandogestik zur fixen Idee der Musik wird (s. u.). Die Intensität der Aufladungen nimmt zum Schluß hin immer mehr zu und läßt eine Einteilung des energetischen Verlaufs in neun Phasen hervortreten. Phase 9: Bereits nach einmaligem Hören kann kein Zweifel daran bestehen, daß der stärkste Energiepol am Schluß zu finden ist, den eine außergewöhnlich lange Ver-festigung von Klangmassen prägt. Bereits ab Ziffer 44 wird das Geschehen, ausge-löst von einer Wiederaufnahme und Variierung des "rhythmischen Themas" (von Ziffer 5ff.) immer mehr auf eine triolisch rhythmisierte Klangmasse mit Tutti-Akzent auf der letzten Triolenachtel fixiert, auf die die dazwischen liegenden Entwicklungen suspensionsartig hinführen. Die triolisch rhythmisierte Klangmasse tritt insgesamt 17mal auf, dabei folgen jeweils 2-4 Triolen unmittelbar aufeinander, wobei die letzte Triole oft an einen länger gehaltenen crescendierenden Notenwert angebunden ist, der gegen Schluß (ab dem 14. Auftreten) noch durch Triller intensiviert wird. Insge-samt ist so diese eine Klangmasse 45mal bis zu Ziffer 48 zu hören. Dabei wird die f-

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fff Dynamik bis zum Schluß nicht mehr aufgegeben. 6 Takte nach Ziffer 48 werden die Tutti-Schläge dann noch brutaler und nur kurzzeitig von einer durchlaufenden Schlagzeugschicht mit Sirene unterbrochen. 1 Takt nach Ziffer 49 leitet das zentrale chromatische Signalmotiv ("Chromatische Fanfare") einen letzten Suspensionsvor-gang ein, der bereits auf einem außerordentlich hohen Energieniveau beginnnt und schließlich zu der schier endlosen verfestigten Klangmasse hinzielt, mit der das Stück, nach einem Crescendo zum sffff hin, schließt. Phase 8 : Vor Ziffer 44 steht nach einer sehr ausgedehnten Presto-Episode (ab Ziffer 33) und einem diese abschließenden Dispersionsvorgang (Ziffer 38) ein Folge von sieben sich aufladenden Klangmassen und Abgründen (ab Ziffer 39), die jeweils von einem echoartigen Nachbeben der Schlaginstrumente gefolgt werden und einen weiteren starken Energiepol darstellen. Der siebten Klangmasse geht ein kurzer Suspensionsvorgang voran. der von auf- und absteigenden Glissandofiguren geprägt ist, die dann auch zum Schlußakzent der Klangmasse in Takt 91/3 hinführen (2 Takte vor Ziffer 44). Die vorangehende Prestoepisode einnert in der Gestik an die Xylophonepisode aus Arcana : Im schrillen Unisono der hohen Holzbläser und über einer durchgehenden schlichten Staccato-Achtelbegleitung entfaltet sich eine tänze-rische, auf der Folge von langen, ausgehaltenen Tönen und raschen, floskelhaften Figuren basierende Melodik mit modalem, kreisenden Charakter (s. u.). Wie in den Episoden aus Arcana werden hier, nicht zuletzt aufgrund der Instrumentation, Asso-ziationen an entsprechende Passagen bei Schostakowitsch und Strawinsky wachge-rufen. In der vorangehenden Entwicklung (Phase 7 ) führt ein langer Suspensionsvorgang, der 4 Takte nach Ziffer 27 beginnt auf dem Weg zahlreicher vorübergehender Ver-dichtungen bis hin zum starken Energiepol der verfestigten Klangmasse bei Ziffer 32, deren Energie mit einer Kulmination in Takt 71/5 11 Takte lang das Geschehen bestimmt, ehe nach einem Abgrund auch hier ein im pp nachhallendes kleineres Schlagzeugensemble zurückbleibt. Einer Reminiszenz an das Initialmotiv (73/4-9) folgt dann die beschriebene Prestoepisode. Die Entwicklung vom Anfang bis zu Ziffer 27 bringt zwar häufig starke energetische Aufladungen in Klangmassen mit darauffolgenden Abgründen, bildet aber nicht mehr so deutliche Energiepole aus, wie es hier im zweiten Teil des Stückes beobachtet werden konnte. Die Entwicklung des ersten Teil ist auch noch stark von Korrespon-denzen zwischen Episoden und motivischen und klanglichen Bildungen bestimmt

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und deshalb kurzatmiger und weniger eindeutig final ausgerichtet. Die stärksten Energiemassierungen bringen dabei: -13/3-4: letzte Massierung in der Phase 1, daraufhin die verwandelte Form des Initi-almotivs und Suspensionsfeld (Phase 2 ) -Takte 11/12 vor Ziffer 7 und die Takte unmittelbar vor Ziffer 7 mit darauffolgenden Abgrund und Dispersionsfeld (= Beginn von Phase 3 ) -Ziffer 15: nach oben hin erreichte Klangmasse mit Abgrund und darauffolgendem Dispersionsfeld (es folgt Phase 4 ) -Ziffer 18 (es folgt Phase 5 ) -Ziffer 21 (es folgt ein Dispersionsfeld, dann Phase 6 ) -1 Takt vor Ziffer 27 (es folgt ein Dispersionsfeld, dann Phase 7 ) Der Überblick über die Phasenentwicklung zeigt somit ein leicht verfälschtes Bild, da die Energiepole keine gleichwertigen Zentren sind, sondern gegen Schluß hin an Gewicht zunehmen. Zudem läßt die Disparatheit der ersten sechs Phasen diese weit weniger als eine zusammenhängende Energielinie wirken als dies in den letzten drei Phasen der Fall ist. Dennoch sei hier zur Orientierung ein Überblick über die Abfolge der Phasen gegeben: Phase Beginn Takt Zeit/ Dauer Energiepol

Beginn I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

1/1

2 vor Zi 6

Zi 7

1 nach Zi 15

Zi 18

8 nach Zi 21

2 vor Zi 28

Zi 33

Zi 44

1/1-14/2

14/3-20/5

21/1-32/3

33/1-40/1

40/2-47/4

47/5-58/3

58/4-73/9

74/1-92/1

92/2-115/3

0:00

4:02

5:08

9:20

10:54

12:20

14:36

17:37

19:51

4:01

1:06

4:12

1:34

1:26

2:16

3:01

2:14

4:16

13/5 (3:50)

20/5 (5:07)

32/3 (9:18)

40/1 (10:53)

46/4 (12:09)

57/3 (14:20)

71/5 (16:55)

88/1 (19:10)

115/3 (24:06)

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64

SUSPENSIONSFELDER UND EPISODEN Alle neun Phasen bilden im Grunde Suspensionsfelder, die bis zum Ende der Phase hin energetisch aufgeladen werden. Die während der Phasen auftretenden Klang-massen werden entweder durch Liquidationen oder simultane Bewegungen, die die Abgründe "abfangen" in ihrer Intensität abgeschwächt, so daß wieder neue Energie aufgebaut werden kann. Außerordentlich spärlich sind die Momente, in denen man von Dispersionsfeldern sprechen könnte: die aufgeladene Energie wird in Amériques weniger in Feldern zerstreuter Bewegung, sondern in gleichsam "hineinmontierten" Feldern, den Episoden, abgegeben, wie überhaupt aufgrund der relativ häufigen Korrespondenzen kürzerer Binnenteile, dem Prinzip der Montage in Amériques noch größere Bedeutung zukommt als in Arcana (darauf weisen auch zwei aus Offrandes übernommenen Selbstzitate). Die Suspensionsfelder werden häufig von Episoden unterbrochen, deren anekdoti-scher Charakter sie außerhalb des Energieflusses stellt und so Momente des Inne-haltens schafft, auch wenn dabei kein lyrischer Charakter vorherrscht (so in der Presto-Episode ab Ziffer 33). Eine strenge Trennung von Episode und Suspensions-feld ist nicht immer sinnvoll, da teilweise motivische Korrespondenzen zwischen diesen bestehen. Insgesamt aber zeichnen sich die Suspensionsfelder durch eine tendenziell abstrakte Melodik aus, die ihre auffallendsten Gesten in der Repetition und dem Glissando findet (s. u.). Zum Schluß hin verschwinden, bedingt durch die starke Anziehungskraft des abschließenden Energiepols, die Episoden und mit ihnen auch die anekdotische Motivik (mit Ausnahme der chromatischen Fanfare). Die Presto-Episode steht am Anfang dieses Prozesses und nimmt somit im Grunde eine Mittelstellung zwischen Episode und Suspensiondsfeld ein. GLISSANDOGESTIK, SIRENE UND REPETITIONSMASCHINE Die Allgegenwart des Glissando ist in enger Verbindung mit der kontinuierlichen Tonhöhenveränderung der eingesetzten Sirene zu sehen und als Annäherung an Varèses Ideal der unbegrenzten Kontinuität des Tonraumes, in dem jedes nur denk-bare Intervall auf jede denkbare Art und Weise verbunden und erreicht werden kann, worauf auch de la Motte-Haber hinweist.63 Varèses Forderung an die Instrumente der Zukunft war deshalb:

63de la Motte-Haber: a. a. O., S. 165ff.

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65

What we want is an instrument that will give us a continuous sound at any pitch.64 Den Ausgangspunkt aller Glissando-Gesten in Amériques bildet die Figur des Fagott in 1/3, die mit einem dreitönigen chromatischen vorschlagartigen Auftakt (f-fis-g) beginnt und auf den Liegeton as1 hinzielt. Die erste größere Glissando-Geste folgt noch in der ersten Phase in den tiefen Streichern als Zitat einer Stelle aus Offrandes 65 allerdings in deutlich schnellerem Tempo als dort ("Agité" statt "Lent. Moderato tempo initial"). Dort war es mit chromatischen Glissandi der Holz- und Blechbläser kombiniert gewesen, an deren Stelle jetzt die Violoncelli geteilt werden und außer-dem die geteilten Violen dazutreten. Im Zusammenhang mit der Bedeutung der Glissandogestik muß hier auch die Funk-tion der Sirene kurz untersucht werden. Oft tritt sie als Echo nach massiveren Ener-gieentladungen auf und suggeriert damit "konkreten, realen Raum". Ihre Funktion ist dann diejenige eines "Objet trouvés": Irritation und Suggestion von Räumlichkeit durch Versetzung von Elementen aus den Lebens- in den Kunstkontext.66 Im Kontext der Kunst kann die Sirene ihre im Lebenskontext streng normative Bedeutung aber auch verlieren und zum "Klangerzeuger", zum Generator einer eigenständigen Klangfarbe werden, bei der die aus dem Lebenskontext erinnerte semantische Ebe-ne mitgehört, zugleich aber vollkommen anders interpretiert wird. Die Sirene wird in Amériques insgesamt relativ sparsam eingesetzt. Ihr erster Ein-satz ist eine Reaktion auf die bereits erwähnte aus Offrandes übernommene Glis-sandogeste und wie ein "realistischer Nachhall" von dieser zu hören (9/2-6), gleich darauf allerdings mischt sie sich in einem großen Crescendo mit einer starken Klangmassenaufladung, die dem ersten Signalmotiv ("Chromatische Fanfare", s. u.) folgt (10/1-2). Schon hier also ist der Schritt vom anekdotischen Äquivalent (9/2-6) zur instrumentalen Gestik, zum gleichwertigen Musikinstrument (10/1-2) vollzogen. Zwischen diesen beiden Funktionen pendeln auch die weiteren Einsätze der Sirene, wobei der anekdotische Moment schon allein durch die Gewöhnung an die Sirenen-farbe im Laufe des Stückes immer schwächer wird.

64Schriften, S. 42 65Offrandes, II. Satz, 3 Takte vor Ziffer 4 66Vgl. dazu meinen Aufsatz im Musikperformance-Sonderton "Musik. Labyrinth. Kontext.": Musikper-

formance als Akt realer Gegenwart. Anmerkungen zu Phänomenologie und Geschichte, Linz 1995, S.

32-44

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66

Die Glissandogestik ist im Laufe des ganzen Stückes so zahlreich, daß hier nur die wichtigsten Momente ihres Auftauchens genannt werden sollen. Daß sie auch in die Motivik miteindringt, werden wir ebenfalls sehen. Die ebenfalls sehr häufig auftreten-de arabeskenhafte Melodieführung, vor allem bei den Holzbläsern, ist in der Gestik auch mit den Glissandofiguren verwandt und tritt auch in Mischungen mit ihr auf (vgl. beispielsweise 6/1ff.). Massierungen der Glissandogestik finden sich am Schluß der Phase III (31/2-32/3), am Schluß der Phase IV (37/2-40/1, vgl. hier auch die "aug-mentierten Glissandi") und am Schluß der Phase V (88/4-91/2). Der dreitönige chromatische Auftakt des Fagott in 1/3 wird in den verschiedensten Varianten zur beherrschenden melodischen Geste, die nahezu alle melodischen Bildungen durchdringt (vgl. etwa 99/3-103/2). In ihr drückt sich im Kleinen das aus, was die Musik insgesamt auch am stärksten "in Bewegung hält": das Zusteuern auf einen Energiepol, von dem eine große Anziehungskraft ausgeht und das dabei vor sich gehende Aufladen der musikalischen Energie. Ähnliches kann man von den – wie in Arcana in geradezu manischer Häufigkeit auftretenden – Repetitionsgesten sagen, deren Zielton ebenfalls zumeist der am stärksten energetisch geladene ist. Bereits in 3/1 wird diese Gestik exponiert, zu-nächst nicht zufällig im dafür sehr häufig von Varèse verwendeten Synkopenrhyth-mus ( ), der bereits in Arcana neben dem Quintolenrhythmus zentral war. Letzterer findet sich in Amériques erstaunlich selten und niemals in der Plastizität, die er dann in Arcana und später in Déserts annehmen wird. SIGNALE UND MOTIVE Initialmotiv Der Korrespondenz motivischer Elemente kommt in Amériques weit größere Bedeu-tung für den Energiefluß zu als in Arcana. Zentral ist es, hierbei festzuhalten, daß es auch in Amériques niemals wörtliche Wiederholungen gibt; auch fehlt ein Moment, der mit dem Reprisenerlebnis von Arcana vergleichbar wäre. Das Initialmotiv taucht zwar im Laufe der Phasen II-VII noch ab und zu auf, ist aber klangfarblich und rhythmisch-melodisch so stark verändert, daß eine tatsächliche Wiederkehr des Anfangs niemals in den Bereich bewußter Hörwahrnehmung rückt. Immerhin kehrt die variierte Motivgestalt der Trompete vom Schluß der Phase I um einen Ganzton nach oben transponiert in 43/1-4 wieder, was mit einer Wiederkehr der gesamten

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67

Entwicklung von 13/3-15/3 in 42/4-44/3 zusammenhängt. Die motivischen Verknüp-fungen sind sonst, aber im Grunde auch in diesem Fall geprägt vom Eindruck der Reminiszenz, da Kontext und Gestalt der Motive sich stets verwandeln. Anhand der Verwandlungen des Initialmotivs kann dieser Eindruck gut veranschau-licht werden. Nach seinem sechsmaligen Auftreten in Phase I (s. o.) ist es an folgen-den Stellen als Wiederkehr (W), Reminiszenz (R) oder Variante (V) zu finden67: Takt Instrumente Grad der Korrespondenz

17/3-4

21/2

40/3-41/1

43/1-4

47/5-48/2

61/5-6

67/2

73/4-6

73/7-9

Es-klar

vla

hr

trp

trp/pos

fag/2. viol

Es-klar

Holzbläser

Streicher

V

V

V

R (W zu 13/5-14/3)

V

V (R zu 101)

V

R

V Das Wichtigste an diesen Momenten der Korrespondenz zum Anfang ist allerdings nicht die strukturelle Verwandtschaft der Motive – diese kann, wie man sieht, auch sehr lose sein -, sondern das mit ihnen verknüpfte kurzzeitige Zurückfallen der Musik in einen fast statischen Energiezustand, der die fortgesetzten Suspensionen, Aufla-dungen und nach vorne gerichteten energetischen Prozesse in einem kurzen Mo-ment des Innehaltens unterbricht. Wie unter einer sonst durch die sich ständig aufla-denden Energien verdeckten Oberfläche taucht dann die Reminiszenz an das Initi-almotiv auf und damit auch die Reminiszenz an die Funktion, die das Initialmotiv als "Bremse" der Energiezunahme in der ersten Phase des Stückes ausübte. Besonders die langen Anfangs- und Schlußtöne des Motivs begünstigen diese Funktion auch im weiteren Verlauf: im langen Liegeton wird Energie abgefangen, so wie das auch – in

67Zu erinnern ist hier an unsere Unterteilung anläßlich der Untersuchung motivischer Korresponden-

zen in Arcana: Wiederkehr: eindeutige oder deutliche Korrespondenz, Reminiszenz: vage oder

verschleierte Korrespondenz, Variante: vorrangig strukturelle Korrespondenz. Bzgl. des Initialimpul-

ses ist W in Amériques höchstens an einer Stelle außerhalb der Phase I zu finden.

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Amériques deutlich häufiger als in Arcana – durch die Liquidierung von Klangmas-sen mittels liegenden und verklingenden Tönen und Tongruppen geschieht. Folkloristische Melodik Die neben dem Initialmotiv auffallendsten und konkretesten melodischen Bildungen sind die von stark begrenztem Tonmaterial bestimmten, oft quasi pentatonisch krei-senden Melodien, die oft über längere Entwicklungen hinweg ausgebreitet werden, am auffallendsten in der Prestoepisode ab Ziffer 33. Ihre Schlichtheit und ihre auffäl-lige Instrumentation (hohe Holz- und /oder Blechbläser und/oder Streicher) lassen Korrespondenzen zwischen ihnen entstehen, wenn auch eindeutige strukturelle Verwandtschaft nicht in allen Fällen erkennbar ist. Im einzelnen handelt es sich um folgende Stellen (vgl. dazu auch Tafel V/Beilage): Takt Instrumentation Tonmaterial/Tonalität

4/1-2

21/11-22/3

29/5-31/2

53/1-57/1

(55/1)

61/5-63/4

74/1-84/8

trp 1

trp 1-3

Streicher

4-6 Trompeten unisono

(Glockenspiel/hohe Holzbläser)

trp 1-3 (Quint-Oktavmixtur)

3 pic, 2 fl, 3 ob, Es-Klar. unisono

b-c-d-es-f

d-e-fis-g-a/ as-c

c-d-e-fis-g-a/dis-e-fis-g-a-b

c-d-f-g (Schluß: d-h-cis)

b-f-g (e-d-c)

Umspielung von fis,

Skala: c-dis-e-fis-g-a-b, Schluß auf e

Horn-Episode Ein ähnliche kreisende und modale Melodik, aber in gänzlich entgegengesetztem Charakter bildet die gedehnte Horn-Episode 26/6-27/6 (Dauer: eine Minute) aus, eine Umspielung des Tones es1 über einer langsam pulsierenden Klangfläche aus Harfen, Celesta und Schlagzeugimpulsen über liegenden Streicherakkorden. Diesel-be melodische Linie taucht gestaucht und variiert in 48/3-49/3 wieder auf in einer stark veränderten Instrumentation: die Holzbläser umspielen in zweifacher Oktavie-rung den Ton cis (cis1-cis2-cis3), die unterlegte Fläche bleibt gleich, hinzu treten pulsierende Triolen der Pauken. Die Harmonien des Begleitfelder sind ebenfalls verändert, aber nur teilweise – wie die Melodie – um einen Ganzton nach unten transponiert. Auf jeden Fall stellt sich durch den luftigen Charakter der Episode und die klaren Korrespondenzen eine Reminiszenz an die erste Episode ein. Eine Wie-

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69

derkehr wird nicht empfunden, da die charakteristische Klangfarbe des Solohorns gänzlich verschwunden ist. Mehrfach wird sowohl die klangfarblich stark wirkende lyrische Fläche als auch das Tonpendel bereits vor der ersten Episode angedeutet: In Phase I bringt der der dritte Einschub erstmals eine pendelartige Figur (5/1-2), der vierte Einschub dann in 8/1 eine viertaktige Fläche aus liegenden Streicherakkorden, Celesta- und Violinflageo-lett-Akzenten sowie einer Schlagzeugfläche und Harfeneinwürfen. In 8/5 treten die Fagotte mit einer angedeuteten Umspielung des Tones d hinzu. Nach der einge-schobenen Glissando-Geste wird die Stimmung der Grundfläche leicht verändert wieder aufgenommen (Celesta, Glockenspiel, Xylophon, Schlagzeug). Außerdem weist das Pendelmotiv in 22/5-9 ebenfalls auf diese Episode voraus, während das folgende Klanggewebe wiederum den Lyrismus der Grundfläche andeutet und zugleich eine Verbindung zu den Harfenklängen herstellt, die in der ersten Phase mit dem Initialmotiv verbunden waren. Chromatische Fanfare Ein wichtiger Moment motivisch-gestischer Korrespondenz ist die "chromatische Fanfare", das charakteristischste der in Amériques (wie in Arcana ) zahlreichen signalartigen Motive. Wie in Arcana sind diese Signale letzte Impulse im Verlauf einer Klangmassengenese oder -aufladung, die zu einer energetischen Spitze führen und oft von einem Abgrund gefolgt werden. Die "chromatische Fanfare" wirkt beinahe wie ein kurz aufblizendes Zitat aus einer dramatischen Hollywood-Filmmusik.68 Sie ist wie die Glissandofigur der tiefen Strei-cher aus Offrandes übernommen, wo sie unmittelbar auf diese folgt.69 Sie findet sich bereits zum ersten Mal in der Phase I (10/1-2, wo sie gleichsam aus dem "Nichts" auftaucht und zu einer überraschenden und plötzlichen energetischen Aufladung führt (10/2), die dann mit einem Abgrund abgebrochen wird, worauf wieder das Initialmotiv aufscheint. Die Fanfare besitzt die für Varèses Signale typische Gestalt

68Vergleichbare Gesten finden sich auch in anderen Werken Varèses, man vergleiche etwa die

scheintonale Kadenz, die auf den Reprisenmoment in Arcana folgt. Der gegenseitige Einfluß Varèse -

amerikanische Filmmusik wäre gewiß ein lohnenswertes Thema für die Varèse-Forschung, wie

insgesamt die Einflüsse des Films und seiner Techniken auf Varèses Komponieren kaum hoch genug

eingeschätzt werden können. 69Offrandes, II. Satz, Ziffer 4

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eines prägnanten Kopfmotivs, das in einen langen crescendierenden Liegeton mün-det. Dabei verweist das Kopfmotiv zurück auf den chromatischen Auftakt der anfäng-lichen Fagottfigur (1/3), die insgesamt als Urzelle aller chromatischen und glissando-artigen Bewegung in Amériques angesehen werden kann (s. o.). Der auf den chro-matischen Auftakt folgende akzentuierte chromatische Abstieg hat durch zwei Ton-wiederholungen besonderes Gewicht. Die Quintmixtur 2 Trompeten/hohe Holzbläser – 2 Trompeten verstärkt den fanfarenartigen Charakter des Signals. In der folgenden Aufladung treten Posaunen und Schlaginstrumente hinzu. In der Folge ist die chromatische Fanfare stets Anlaß für heftige energetische Aufla-dungen von Klangmassen, wobei auch verschiedene Varianten des Signals zu orten sind (hier in eckige Klammern gesetzt): Takt Instrumente folgende Energieaufladung

13/3-4

19/3-4

[35/3 (V)

42/4-5

[72/2-3 (V)

[96/1-2 (V)

107/1

112/2-4

fl/trp-pos/perc

pic/es-kl/hr/trp

B-kl/trp/vla]

trp/fl/kl-pos/perc

fl/Es-kl/trp]

fl(ob/kl]

trp

holzbl/str-trp

13/4-5 (Energiepol von Phase I)

analog zu 13/4-5

Schluß

Moll-Dur-Geste Ein ebenfalls sehr auffälliges Element motivischer Korrespondenz ist eine scheinto-nale Geste der Posaunen, die aus zwei aufeinanderfolgenden Akkordpaaren besteht, die jeweils kadenzartig phrasiert sind und aufgrund des zuerst halbtönigen, dann ganztönigen Abstiegs der Oberstimme Assoziationen an eine Moll- und eine darauf-folgende Durkadenz wachrufen. Die Moll-Dur-Geste wird in der Phase I von drei Posaunen in den 4/3-5/1 exponiert und von einer Pendelfigur gefolgt. Die Oberstim-me würde im tonalen Kontext eine Folge es-moll/B-dur und Es-dur/B-dur suggerie-ren, was freilich die beiden anderen Stimmen nicht stützen und so einen Verfrem-dungsmoment erzeugen. In der Folge taucht die Dur-Moll-Geste noch zwei Mal auf, jedes Mal folgt ein verklingendes Pendel in tiefen Harmonien (Hörner und Blechblä-ser):

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Takt Instrumente Harmonien

4/3-5/1

22/4-6

35/4-5

3 Posaunen

5 Posaunen

5 Posaunen

G-c-ges/des-c-f B-c-g/des-c-f

B-es-a/fes-es-as Ces-des-f-b/Fes-As-es-as

As-des-g/D-des-fis H-des-gis/D-des-fis

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72

Exkurs: Varèse – Mahler – Strawinsky In diesem Zusammenhang soll noch kurz der meines Wissens bisher noch nicht erforschte Zusam-

menhang von Varèses Musik zur Mahlerschen Symphonik kurz angedeutet werden. Die Moll-Dur-

Geste scheint mir nicht die einzige deutliche Spur zu sein, die auf eine bewußte Orientierung Varèses

an Mahlers Symphonien- vor allem in Amériques – hinweisen. Gemeinsam mit der folgenden Pendel-

gestik wirkt die Moll-Dur-Geste beinahe wie ein Zitat aus der Einleitung vom 1. Satz der III. Sympho-

nie Mahlers (Takt 11-14), eine melodisch in der Oberstimme analoge Harmoniefolge der Posaunen

mit folgendem Pendel der Fagotte und Hörner (schon Mahler harmonisiert nicht in der von der

Oberstimme suggerierten Weise, sondern mit mediantischen Harmonien). Im selben Satz taucht die

Stelle wieder in den Takten 655-658 auf und bestimmt auch mit einem darüber gelegten a die Harmo-

nien (Streicher) des Beginns des 4. Satzes derselben Symphonie (auf die wiederholte Anrufung "O

Mensch"). Die genau übernommene Instrumentation bei Varèse weist auf ein eindeutiges zitathaftes

Hineinmontieren dieser Mahlerschen Geste an den genannten Stellen in Amériques hin.

Aber auch sonst ließen sich viele bedenkenswerte Fragen bezüglich des Mahlerschen Einflusses auf

Varèse finden: Bedeutung von Signalmotiven, Bildung von Klanggeweben, Momente des Innehaltens,

überhaupt der Fluß der musikalischen Energie. Die Entdeckung von Varèses Klanguniversum ist

noch lange nicht zuende. Aber: nie soll es dabei um ein schulmeisterliches "Nachweisen" von Einflüs-

sen oder gar die Strawinskysche Form von Plagiatsinquisition gehen: interessant sind solche Paralle-

len nur dort, wo sie die Formdynamik betreffen, wo nicht nur – vielleicht zufällige – rein strukturelle

Parallelen "aufgedeckt" werden, sondern auch eine Übereinstimmung im Formprozess der Musik

festgestellt werden kann. Dies scheint mir im Falle von Varèse und Mahler zumindest wahrscheinlich

– im Gegensatz zur Parallele Strawinsky-Varèse, die sehr schnell im Detail stecken bleibt. Noch eher

wäre die Symphonik Schostakowitschs ein interessanter Referenzpunkt, der gleichzeitig einen ge-

meinsamen Bogen zu Mahler spannen könnte. Freilich gilt dies alles im verstärktem Maße für Améri-

ques, im geringeren Maße für Arcana und die anderen Werke die ab Mitte der 20er Jahre entstanden

und überhaupt nicht mehr für die späteren Werke wie Déserts.

Als abschreckendes Beispiel mag in diesem Zusammenhang Strawinskys "Plagiat"- Nachweis gelten,

in dem er – in einem der Gespräche mit Robert Craft – Stellen aus Arcana als Ableitungen aus

seinem Sacre de Prinstemps und dem Feuervogel "inkriminiert", wie es Helga de la Motte-Haber

ausdrückt. Wenn es diese Assoziationen oder sogar stellenweise sehr nahe Verwandtschaften zur

Musik von Strawinsky gewiß gibt, wobei diese in den Werken nach Amériques immer mehr nachlas-

sen, so ist mit solchen Nachweisen über die Musik und ihre Formdynamik freilich noch überhaupt

nichts ausgesagt. Ein Vergleich etwa des Sacre de printemps mit Amériques (ein weiteres gutes

Thema für eine theoretische Arbeit) würde solch grundlegende Unterschiede in der Entwicklung des

Page 73: Speed and synthesis

73

musikalischen Energieverlaufs zu Tage fördern, daß etwaige Detail-Parallelen in Satztechnik, Instru-

mentation oder auch Motivik dagegen nicht ins Gewicht fallen.

Geht das Sacre de Prinstemps in seiner suitenartigen Folge von kürzeren Einzelsätzen noch stark

von einer traditionellen Dramaturgie aus, die wesentlich von Kontrasterlebnissen geprägt ist, die auf

allen Ebenen der musikalischen Gestaltung ausgebildet werden, so zieht die Formdynamik von

Amériques an einem einzigen "Strang", folgt einer einzigen Energiespur, die im Grunde – wie in

Arcana, aber gewissermaßen noch weniger als dort – nicht unterteilbar ist: undenkbar, Amériques in

einzelne Sätze oder gar "Teile" aufzuspalten. Zudem werden die konvulsivischen Zuckungen des

Orchesters, die fortgesetzten Entladungen der Energie (das, was Adorno peiorativ die "Katatonik" bei

Strawinsky nannte) in einer Weise angehäuft, die im besten Sinn "unzumutbar" wird. Zu erinnern ist

an die Kritik, die klagte, Arcana habe "die Hörer mit Skorpionenpeitschen traktiert."70 Im Gegensatz

zu Arcana wirkt das Sacre in seinem Kontrastreichtum heute fast etwas brav und entschärft, Katego-

rien wie Ausgewogenheit, Homöostasie, Ökonomie der Mittel, die Varèses Musik außer Kraft setzt,

stehen hier durchaus noch im Vordergrund. Nicht nur in dieser Hinsicht also scheint die offizielle

Musikgeschichtsschreibung revisionsbedürftig.

70Paul Schwers in: Allgemeine Musikzeitung, Nr. 11, Berlin, 18. März 1932, S. 186

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INTERPRETATION DER FORMDYNAMIK Als wichtigster Moment der Formdynamik von Amériques erweist sich eine Verlänge-rung und Intensivierung der energetischen Prozesse bis zum Schluß des Stückes hin, der insgesamt eindeutig als stärkster Energiepol anzusehen ist. Im ersten Teil des Stückes entsteht durch die Vielzahl der Binnenteile und Episoden sowie durch ein Netz motivischer und gestischer Korrespondenzen ein weniger linearer gerichte-ter Energiefluß. Ein wichtiger Wendepunkt ist die Presto-Episode ab Ziffer 33, die das episodisch Feste ausweitet zum gestreckten Suspensionsfeld, das in die extre-men Aufladungen des zweiten Teils mündet. Immerhin beträgt die Dauer der beiden letzten Phasen zusammen noch 6:29 Minuten, etwas mehr als ein Viertel der Ge-samtdauer, was angesichts der ständigen "Hochspannung" außergewöhnlich lange ist. Varèses Gedanke, daß die "basic idea", hier gewiß das Initialmotiv, im Laufe eines Stückes immer mehr verschwindet und im Prozeß des Werkes aufgeht, trifft für Amériques gewiß besser zu als für Arcana , wie überhaupt hier eine stetige Abnah-me von konkreten Gestalten bis zur Presto-Episode hin zu konstatieren ist. Die Musik wird so gewissermaßen immer mehr aufs rein Gestische reduziert, wird zu vibrierender Kraft, gewinnt immer mehr Körper und nähert sich so dem Varèse-Wort:

"La musique qui doit vivre et vibrer a besoin de nouveaux moyens d'expression..."71

Solche "neuen Mittel des Ausdrucks" werden in Arcana dann zum Normalfall und werden in Déserts dann in ihrer Form radikalisiert und abstrahiert. In Amériques ist dieser Hang zum Gestischen und zum Abstrakten gekoppelt an die immer stärker werdende finale Orientierung auf die immer stärker anziehenden Pole und Energie-zentren hin. Amériques ist so durchaus mit finaler Orientierung zu hören, was die Möglichkeit des kontinuierlichen Vergessens von konkreten Gestalten einschließt: wer sich mit seiner ganzen "Hörenergie" in den Entladungen der 7. – 9. Phase auf-hält, wird sich um Korrespondenzen nicht mehr viel kümmern, wenn er diese in der verwirrenden montageartigen Abfolge des ersten Teils überhaupt einmal wahrneh-men konnte. Immerhin läßt sich aus dieser Kurzatmigkeit über die Presto-Episode gut ein Weg hin zu den langen Suspensionsfeldern der letzten Phasen finden.

71Schriften, S. 24

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So erweist sich dieser Magnetismus der finalen Energiezentren im zweiten Teil des Werkes und die Dezentrierung der Episoden des ersten als wichtigster Mechanismus der Formdynamik. In Arcana war letztlich die gesamte Formdynamik als Resultat kurzlebiger Binnenprozesse erschienen, in Amériques sehen wir einen Übergang von solchen Montageszenarien hin zu einer vielleicht konventionelleren Art der Formdyamik, nämlich einer Dramaturgie der finalen Orientierung. Allerdings ist in der Unmäßigkeit der letzten Energiepole ein Potential enthalten, daß solche scheinbar konventionelle Dramaturgie durch ein "Über-das-Ziel-hinausschießen" sprengt. Die Schreie, mit denen Amériques schließt, sind jenseits des guten Geschmacks, der Spaß hört sich plötzlich auf, das Maß ist nicht nur voll, sondern quillt über. So sprengt Varèse die Dramaturgie des "krönenden Abschlusses", in dem er sie gegen sich selbst wendet.

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2. DÉSERTS – ENTWICKLUNG DER METAMORPHOSENTECHNIK ZWISCHEN ARCANA UND DÉSERTS Bei der Interpretation von Déserts müssen zunächst einige grundlegende Unter-schiede zu den beiden betrachteten Orchesterwerken aufgezeigt werden, die uns klar machen werden, daß hier von anderen Voraussetzungen ausgegangen werden muß. Die sich dabei zunächst scheinbar auftuende Kluft zwischen Arcana und Déserts wird bei näherer Betrachtung um einiges schrumpfen. Auf die vielzitierte "Krise" Varèses während der Arbeit an seiner ausladendenden Konzeption Espace vor allem während der gänzlich "werk-losen" Jahre 1936-47, soll an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Immerhin sind Aspekte zu diskutieren, die mit dieser Zeit zusammenhängen und die Auswirkungen Varèses konkreter und unkonkreter Utopien auf sein Schaffen betreffen. Pascal Decroupet nennt das Komponieren von Varèse metaphorisch, da er in Er-mangelung technischer Hilfsmittel seine Vorstellungen von einem neuen Klanguni-versum zu seinem Lebzeiten nicht verwirklichen konnte.72 In einer ähnlichen Rich-tung kann Ernest Newmans Einstufung seiner Musik als "utopisch"73 interpretiert werden, wenn sich diese auch vor allem auf die Schwierigkeiten bezieht, die der außerordentliche Orchesterapparat von Amériques für die Realisierbarkeit der Musik mit sich bringt. Dieser Orchesterapparat bedeutet bei Varèse mehr als ein Anknüpfen an die romantische Tradition, vor allem die der Wagner-Strauss-Linie. Die Expansion des Orchesters ist, ähnlich wie bei Berlioz, als Annäherung an die Utopie eines unbegrenzten Klanguniversums zu sehen. Der Zusammenhang mit den – sehr konkreten – Utopien von Hector Berlioz wird frappierend, wenn man die Besetzung von Berlioz' "Riesen-Orchester" aus seiner

72Pascal Decoupret: Via Varèse in: H. de la Motte-Haber (Hg.): Die Befreiung des Klangs. Hofheim

1992, S. 28-40 73Ernst Newman in: The Glasgow Herald vom 13. 1. 1927, zit. nach Fernand Oulette: Edgard Varèse,

Paris 1989, S. 226 (Fußnote)

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Instrumentationslehre betrachtet74, das unter anderem 120 Violinen, 40 Violen, 45 Violoncelli, 12 Fagotte, 16 Hörner, 30 Harfen, 30 Pianofortes und 8 Paar Pauken einschließt und insgesamt 465 Instrumentalisten und 360 Choristen zählt (825 Aus-führende). Über die klanglichen Möglichkeiten dieses Orchesters reflektierend, gerät Berlioz in einen wahrhaftigen Rausch: "...sein Crescendo aber müßte selbst die widerstrebendsten Naturen schaudern machen, es würde emporwchsen gleich einer ungeheuren Feuersbrunst, die allmählich den ganzen Himmel in Flammen setzt!"75 Freilich ist das in Berlioz' "Riesen-Orchester" verwendete Instrumentarium für Varèse nur noch eine unerfreulich Kompromißlösung, die er nur in Ermangelung geeigneter neuer Instrumente eingeht. So versucht er, mit den traditionellen Instrumenten alle nur denkbaren Grenzen auszumachen und wenn möglich zu überschreiten. Das Bewußtwerden der Begrenztheit dieser Vorgangsweise mag ein Grund für die vielen werk-losen Jahre gewesen sein. Die utopische Dimension in der Arbeit Varèses ist jedenfalls ein nicht zu unterschät-zender Faktor. Wenn man bedenkt, auf welches Unverständnis er Anfang der 30er Jahre mit seinen Vorstellungen von neuen Instrumenten etwa bei Firmen wie Bell Telephone stieß, welche Ausmaße seine großen kosmologisch-visionären Projekte L'Astronome 76 und Espace 77 annahmen und wie sie sich immer weiter von einer

74Hector Berlioz: Instrumentationslehre. Ergänzt und revidiert von Richard Strauss, Frank-

furt/London/New York 1904, S. 436ff. 75Berlioz: a.a.O., S. 438 76Die Arbeit am L'Astronome basierte zunächst auf einer Indianerlegende, an der Varèse 1926 unter

dem Titel "The One All Alone. A Miracle" arbeitete. Die mystische Indianerfigur wandelte er 1928 in

den modernen Astronomen (der im Jahr 2000 lebt) um. Die 1932 begonnene Zusammenarbeit mit

Antonin Artaud an diesem geplanten "spectacle totale" wurde wegen Artauds Krankheit leider nicht

lange fortgesetzt. 77Die Arbeit an Espace reicht bis zum Jahr 1929 zurück. 1937 beginnt die Zusamenarbeit mit André

Malraux. Espace verfolgt die Vision einer Vereinigung der Menschheit mit dem Plan, das ca.

45minütige Werk über die Radiostationen aller großen Städte der Welt gleichzeitig auszustrahlen mit

live gemischten Chören in der jeweiligen Landessprache. Nach Kriegsausbruch 1939 fallen erste

Bemerkungen von Varèse im Zusamenhang mit Espace, die die Wüste Gobi als Bild für seine Intenti-

onen betreffen. So fordert Varèse Henry Miller auf, einige "magische Sätze" für den Chor beizusteue-

ren und spricht "von dem Gefühl, das die Wüste Gobi vermittelt" als Ziel dieser Arbeit (vgl. Henry

Miller: Mit Edgard Varèse in der Wüste Gobi, in: Musik-Konzepte, S. 25-36, hier S. 32). In langen

krisenhaften Umarbeitungsprozessen wird daraus schließlich 1954 Déserts. Espace selber wurde wie

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praktischen Realisierbarkeit entfernten, so ist nach weiteren Ursachen für seine Krise nicht mehr lange zu forschen. INSTRUMENTARIUM Zu Déserts ist zunächst zu bemerken, daß das dort gewählte Instrumentarium keine Beziehung mehr zum Symphonieorchester romantischer Prägung besitzt, wie es in Amériques und Arcana der Fall ist. Diese Besetzung aus 14 Bläsern, fünf Schlagzeugern und Klavier sowie die in Varèses Oeuvre erstmalige Einbeziehung akusmatischer Musik (die Varèse als "Organized Sound" bezeichnete) ist program-matisch zu sehen. Bereits in den frühesten überlieferten Werken Amériques und Offrandes hatten die Bläser neben den Schlaginstrumenten stets das Geschehen dominiert und die Strei-cher waren nur akzidentiell eingesetzt worden, häufig als Verstärkung, Verdopplung der Bläserstimmen. Zudem wurde einerseits die Spielgestik der traditionellen Or-chesterinstrumente der perkussiven Gestik des Schlaginstrumentariums angenährt, andererseits wurden die Grenzen der instrumentalen Möglichkeiten immer wieder gesucht und ausgedehnt, womit der metaphorische, utopische Aspekt von Varèses Musik wieder angesprochen ist: Der Wunsch nach neuen Instrumenten führte zum radikalen Versuch, die alten Instrumente auf neue Weise klingen zu lassen. Auch die ausladenden kosmologischen Konzeptionen, die Varèse mit der Arbeit an Espace verfolgt hatte (s. o.) finden in der multimedialen Konzeption von Déserts ihre Fortsetzung: Varèse plante eine filmische Umsetzung von Déserts , eine Idee, die im letzten Jahr vom amerikanischen Medienkünstler Bill Viola in die Tat umge-setzt wurde und die zu einem m. E. eindrucksvollen, in jedem Fall aber diskussions-würdigen Ergebnis führte. Die Tendenz zum Bläser- und Schlagzeugklang nimmt im Laufe von Varèses Arbeit immer stärker zu, so daß nach Offrandes (1921) mit Ausnahme von Arcana und dem unvollendeten Nocturnal I überhaupt keine Stücke mit Streicherbesetzung mehr entstanden (den Kontrabaß in Octandre ausgenommen). Eine mit der von Déserts vergleichbare Besetzung wählte Varèse in Hyperprism (9 Bläser, 9 Schlagzeuger), Intégrales (11 Bläser, 4 Schlagzeuger), Ecuatorial (4 Trompeten, 4 Posaunen, 6

L'Astronome nicht beendet, aufgeführt wurde nur die Étude pour Espace (1947), die die Idee der

Mehrsprachigkeit in einer Textcollage aus verschiedensprachigen Gedichten umsetzt.

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Schlagzeuger, Klavier, Orgel, Ondes Martenot). Ähnliche Besetzungen waren für die unvollendeten Werke Dans la nuit und Nocturnal II vorgesehen. Nimmt man dann noch das reine Bläserstück Octandre und das reine Schlagzeugstück Ionisation , so sind die wichtigsten Stationen und gleichzeitig nahezu das gesamte Oeuvre Varèses kurz umrissen. INSTRUMENTALKLANG UND "ORGANIZED SOUND" Die Abwendung von jeglicher konventionellen Gestik der Instrumente und die gegen-seitige Annäherung von Instrumentalklang und "Organized Sound" ist das musikali-sche Thema von Déserts . Die mit der Unterstützung von Pierre Henry 1953-54 erstmals erarbeitete akusmatische Musik ist zu einem großen Teil aus Instrumental-klängen, meist von Schlaginstrumenten abgeleitet und auch mit den sonstigen Ge-räuschen wird durchwegs in instrumentaler Weise verfahren, also durchaus nicht im Sinne von "Objets trouvés", wie es der Ästhetik von Schaeffer und Henry, in deren Club d'Essai Varèses Interpolationen entstanden viel eher entsprochen hätte. Nach der von einem großen Skandal gefolgten Uraufführung am 2. Dezember 1954 in Paris entstanden noch drei weitere Versionen der Interpolationen, eine unmittelbar nach der Uraufführung 1954, zwei weitere in den Jahren 1960 und 196178, wonach Varèse befriedigt von den fertigen Bändern sagte: "Sie klingen jetzt."79 Auf der Seite der Instrumente findet eine Radikalisierung der bereits in Arcana deut-lich erkennbaren Tendenz zur "abstrakten Melodik" hin statt. Prägnante Motive mit melodischer Ausprägung fehlen vollkommen, auch Signalmotive sind verschwunden. An die Stelle von Linien treten aufgespaltene Klangmassen, die nur noch sehr selten die Homogenität der Klangmassen von Arcana oder gar der von Amériques errei-chen, sondern Varèses Idee von der simultanen Bewegung von einander unabhän-giger Massen sehr plastisch umsetzen, was sich am deutlichsten an den unter-schiedlichen dynamischen Verläufen der einzelnen Stimmen ablesen läßt.80 Die klangfarblichen Verläufe, die damit erzielt werden und die oft frappierenden Mi-schungen mit dem Schlaginstrumentarium ergeben tatsächlich oft Klänge, die von neuen Instrumenten zu stammen scheinen, so ungewöhnlich wirken sie noch heute in ihrer Kombination.

78Zu den Interpolationen vgl. Frank Gertich: Zur Betrachtung der Tonbandeinschübe in Déserts in:

Helga de la Motte-Haber (Hg.): Die Befreiung des Klanges, a.a.O., S. 56-63 79Odile Vivier: Varèse, Paris 1973, S.160 80Vgl. de la Motte-Haber: a.a.O., S. 41f.

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RESONANZ UND ORCHESTERPEDAL Die spezielle Funktion des Klaviers als "Resonator"81, der mittels Verdopplung der Bläserstimmen deren Teiltöne verstärkt, intensiveriert einen in Arcana noch eher untergeordneten energetischen Vorgang, nämlich den der Klangmassenliquidation, der auf dieser Ebene als Nachhall einer vervollständigten Klangmasse greifbar wird. Die bereits anhand der Klangmassengenesen in Arcana erforschte Technik des Orchesterpedals findet in Déserts ebenfalls häufige Anwendung, wobei durch die Parallelisierung des Orchesterpedals mit dem tatsächlichen Pedal des Klaviers diese Technik geradezu "auf den Tisch gelegt" wird. So nennt Arnold Whittal Déserts gar "eine Studie über die Bildung mehrfacher und einfacher Pedale".82 Ein erstes gutes Beispiel dafür bietet die erste Klangmassengenese in Déserts in den Takten 21-2283, die mit dem Schluß der ersten Klangmassenentwicklung von Takt 1-21 überlappt. Diese geht in Schlagzeug 3, Horn und Tuba zu Ende, während, von einem ff-Impuls der drei Posaunen ausgehend, nacheinander Posaunen, Trom-pete 3, Trompete 2/Baßklarinette, Flöte und Piccolo/B-Klarinette sich bis zum ersten Schlag in Takt 22 zur vollständigen fünftönigen Klangmsse ergänzen. Dabei wird die "unabhängige Simultanbewegung" der einzelnen Schichten bereits sehr deutlich: Zwar scheint es, als sei zu Beginn von Takt 22 die vollständige Klangmasse in dy-namischem Höhepunkt erreicht, bei genauerer Betrachtung aber zeigt sich, daß die dritte Posaune ihren Ton gis bereits auf den vierten Schlag des Taktes 21 beendet hat und die erste Posaune bereits zwei Viertel vor Takt 22 mit einem Decrescendo auf dem Ton a1 beginnt. Konsequent wird das gis der dritten Posaune dann auch nicht ins Klavierpedal genommen, das erst zu Beginn von Takt 22 niedergedrückt wird, obwohl dieser Ton vorher angeschlagen wurde. Der Beginn des Taktes 22 ist gleichzeitig der Beginn der langgezogenen Klangmas-senliquidation bis zu Takt 29: der tiefere Teil der Instrumente wird sukzessive ausge-blendet (Posaune 1, Posaune 2, Klarinetten, Trompete 3, Trompete 1), während Piccolo, Flöte und Trompete 2 im pp bis Takt 29 liegen bleiben und dabei die Reso-nanzen des Klaviers verstärken. Über dieser Liquidation breiten sich tropfenartige Gesten, die an die Dispersionsfelder in Arcana erinnern, hier aber bereits Teil der

81Vgl. de la Motte-Haber: a.a.O., S. 43 82Arnold Whittal: Varèse und die organische Athematik, in: Musik-Konzepte, S. 75-79, hier S. 75 83Hier sind nun die Taktnummerierungen nach der üblichen Zählweise zitiert, da die Nummerierung in

der Partitur vorgenommen ist.

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folgenden Entwicklung sind, die dann ab Takt 30 zu einer neuen Klangmassengene-se führt. STASIS DER VERÄNDERUNG Man kann also erkennen: die musikalischen Vorgänge sind hier weit mehr ineinander verschachtelt und viel weniger blockhaft gestaltet als in den betrachteten Orchester-werken. Es gibt zwar auch hier scharfe Schnitte, aber insgesamt hat sich die Short-Cut-Technik von Arcana mehr in Richtung einer kontinuierlichen Metamorphosen-technik gewandelt. Zwar sind auch hier noch Energiepole zu orten, aber diese wer-den sehr viel unauffälliger ereicht als in Arcana oder gar in Amériques und sind stets Teil eines Kontinuums. Herrschte in den Orchesterwerken eine deutliche Tendenz zu finaler Orientierung auf die Anziehungskraft starker energetische Pole hin, so wird in Déserts diese Tendenz von Simultanbewegungen konterkariert, die die Richtung des Energieflusses immer wieder verunklaren und so ein starkes Moment der Stasis ins Spiel bringen. So bewegt die Klangmassen im Detail durch die Simultanbewegung ihrer Schichten auch sind, so statisch ist oft das damit erzeugte Resultat. Hier öffnet sich die Perspektive auf die Erkenntnis vom Stillstand aufgrund überhöhter Bewe-gungsaktivität84, vergleichbar dem Umschlagen eines chaotischen Zustandes in eine neue Ordnung wie ihn die Chaostheorie beschreibt. TONHÖHENSTRUKTUREN Dies besitzt eine Analogie in der seltsamen Veränderung der Tonhöhenstrukturen im Verlaufe des Stückes. Es wäre zunächst naheliegend, anzunehmen, Varèse habe hier nun als Konsequenz des Verzichts auf jegliche Thematik oder Motivik wenigs-tens die Entwicklung der Tonhöhen einer gewissen Systematik unterworfen, um so etwas wie "Einheitlichkeit" zu schaffen. Aber, wie kaum anders zu erwarten, auch hier kennen wir den Anti-Systematiker Varèse noch zu schlecht. Zwar zeigt eine genaue Tonhöhenanalyse der ersten Phase (Tafel VI, Beilage) durchaus über kürze-re Strecken eine Vorherrschaft bestimmter Intervalle, so von Varèses "Lieblingsinter-vallen", der "falschen Quinten und Oktaven" (Tritonus, große Septime und kleine None), ja sogar ansatzweise eine gewisse Regelmäßigkeit in deren Anordnung, die ganze Entwicklung aber kann einzig mit dem ausreichend vagen Begriff der Meta-morphose einigermaßen angemessen beschrieben werden. Kaum meint man, einen Mechanismus der Intervallabfolge entdeckt zu haben, so wird im nächsten Takt

84Vgl. dazu: Paul Virillio: Rasender Stillstand , Wien 1992

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dieser scheinbare Mechanismus ganz bestimmt schon wieder durchbrochen und die Systemlosigkeit der Tonhöhenanordnung aufs Neue bestätigt. Bei aller Tendenz zur dauernden Verwandlung ist also auch im Bereich der Tonhöhen aufgrund einer nicht zielgerichteten Struktur ein starker Anteil an Stasis zu erkennen, der derjenigen der rhythmischen Organisation entspricht. Das immerzu sich Verändernde wird in der Distanz besehen zum Immergleichen, das nur in sich pulsiert. BINNENPOLE UND ENERGIELINIEN Nach diesen Beobachtungen dürften es kaum mehr verwundern, wenn sich in Déserts Energiezentren und die an ihnen orientierten Kraftlinien kaum mehr in der Deutlichkeit finden, wie wir es in Arcana und noch stärker in Amériques beobachten konnten. Dennoch gibt es Momente im Verlauf der Metamorphose, die stärker ge-wichtet sind als andere und leichte Polarisierungen erkennen lassen. So sind die bereits beschriebenen Klangmassengenesen in der ersten Phase in Takt 21/22 und 29/30 nach der langen vorangehenden statischen Klangmasse und der zwischen ihnen liegenden Liquidation in ihrer Umgebung starke Pole der musikali-schen Energie, die auch danach während der ganzen ersten Phase nicht mehr in solcher Form gebündelt ist, vielmehr einer ständig steigenden Tendenz zur Zerstreu-ung in simultane Bewegungsschichten nachzugeben scheint. Dabei fallen besonders drei exponierte repetierte Figuren auf (Trompete Takt 49, Posaune Takt 59, Horn Takt 65/66), die in chromatisch absteigender Folge die Töne a-gis-g besonders exponieren und diese so als vorübergehende "Grundtöne" erscheinen lassen. Bildet die erste Instrumentalphase so eine tendenziell bruchlose, von einander über-lappenden Schichten geprägte Klangwelt aus, so tritt in der ersten akusmatischen Interpolation85 eine deutlich schärfer geschnittene Folge von Klangereignissen auf. In kurzatmigem Wechsel folgen einander leicht verfremdete Schlagzeugrhythmen, gefilterte und resonierende Geräusche, Piepsen, mit langsamer Geschwindigkeit abgespielte Orchestermusik (möglicherweise von Varèses eigenen Werken), schließ-lich gegen Schluß verstärkt Maschinen- und Fabrikgeräusche. Zum Schluß hin nimmt die Häufigkeit der harten Schnitte zu, was einen langsamen Übergang von der Instrumental- zur Lautsprechermusik hin ermöglicht, auch wenn der Moment des Einsatzes der Lautsprechermusik trotzdem unüberhörbar ist.

85Grundlage für meine Analyse der Interpolationen ist deren erste Version von 1954.

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Immerhin läßt der unmerkliche Einsatz der zweiten Instrumentalphase den neuen Klangkörper erst nach einiger Zeit ins Bewußtsein dringen, spätestens wohl beim Einsatz der hohen Flöten in Takt 85. Die zweite Instrumentalphase ist die längste Phase des Werkes und mit 7:44 Minuten über doppelt so lang wie die erste Phase (3:37 Minuten). Eine Folge von mindestens 17 unterscheidbaren Binnenentwicklun-gen führt in ihr zu einer insgesamt stärkeren Unruhe und Uneinheitlichkeit als in der ersten Phase. Dabei ist ziemlich zu Beginn, nach 13 Sekunden, bereits eine sehr starke energetische Aufladung in einer dreitaktigen Klangmassengenese zu verzei-chen (Takt 115-117), die von einem der in Déserts äußerst sparsam eingesetzten Abgründe gefolgt ist, was diese Energieballung besonders hervorhebt. Voraus gehen lange repetierte Klangaggregate, die zunächst um die Töne fis und g (Takt 83-93) und dann um die drei Quinten cis-gis/d-a/es-b kreisen (Takt 94-114). Hat sich sol-chermaßen also bereits Energie aufgestaut, erscheint die Ballung in den Takten 115-117 als energetische Konsequenz solcher Suspensionskräfte. Danach ist, wie das auch nach den anfänglichen Ballungen der ersten Phase zu beobachten war, wieder eine stärkere Zerstreuung und Aufspaltung des Klangbildes zu beobachten. Deut-lichstes hervorgehobenes Zeichen ist auch hier wieder die repetierte Qunitolenfigur, die zunächst mehrmals in den Posaunen auftaucht (auf die Töne a und es) und schließlich sehr bald in die Schlaginstrumente wandert, wo sie ab Takt 133 ständig präsent ist und schließlich in Takt 157ff. zur Septole erweitert wird (Xylophon auf c), was seine Fortsetzung wiederum in der Trompeten-Sextole in Takt 168 (ebenfalls auf c) findet. Ansonsten schwankt das Geschehen zwischen kurzzeitigen Massierungen, die aber nicht mehr die Intensität von Takt 117 erreichen, unabhängigen Simultan-bewegungen und zerstreuter Bewegung. Dabei werden häufig Töne im Abstand einer kleinen Sekunde, bzw. kleinen None fokussiert, so b und a in den Takten 118-122, c und cis in 156-174, g und as in 196-198 und a und b in 205-207. In 200-203 und in 218-224, am Ende der Phase, wird das Geschehen ganz auf das Schlagin-strumentarium reduziert, aus dem dann fließend die zweite akusmatische Interpolati-on hervorgeht, die ebenfalls mit reinen Schlagzeugklängen beginnt. Gegenüber der ersten Interpolation ist die zweite viel homogener und im Grunde auf reine Schlagzeugklänge beschränkt, die punktuell verstreute, unregelmäßige Rhyth-men erzeugen. Dabei wird durchaus die unregelmäßige Gestik des Schlagzeugparts der Instrumentalteile aufgenommen. Repetierte Figuren, unerwartete Akzentuierun-gen, kurze fragmentierte Figuren prägen das Geschehen, das mit 2: 09 Minuten 45 Sekunden kürzer als die erste Interpolation ist.

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84

Die dritte Instrumentalphase ist nun, im starken Kontrast zur zweiten, stark verkürzt (1:36 Minuten) und besteht aus nur zwei Binnenphasen, deren erste zunächst auf den Gestus und die Tonhöhen vom Schluß der zweiten Instrumentalphase zurück-greift (vgl. Takt 225 und 216 in Pauke, Posaune und Klavier), es kommt zu einer Massierung in Takt 242 auf der absteigenden Linie es-d-des, in ungewohntem Uni-sono und darauf in einer zweiten Phase zu einem sehr langem von Generalpausen durchsetzten Dispersionsvorgang, der das Geschehen vor allem auf den Ton fis konzentriert. Die dritte Interpolation setzt auf diesen Auflösungsvorgang hin mit kontrastierender Schärfe ein und entfaltet sich dann in über vier Minuten zu einer ausladenden Vielfalt an unterschiedlichen Geräuschen und Geräuschmischungen. Dabei tauchen schon bekannte Elemente auf (z. B. das Piepsen oder die zu langsam abgespielte Schall-platte), wobei immer stärker ein virtueller Raum erzeugt wird, teilweise durch ver-stärktes Resonieren von Teilfrequenzen, teilweise durch Einbeziehung konkreter Räumlichkeit mittels konkreter Geräusche (z. B. Hundebellen). Die zum Schluß wieder sehr dicht und auch laut werdende Schnittfolge endet mit einem harten Schnitt, auf den hin – kontrastierend im pp – wieder die Schlaginstrumente des Orchesters einsetzen. Die vierte Instrumentalphase nähert sich von der Dauer her zwar wieder der ersten an (3:09 Minuten), ist aber von der Klangwelt her stärker zerklüftet und weniger homogen als diese. Deutlichstes Zeichen dafür sind die hier nun doch wieder gehäuften Abgründe, die auf generierte Klangmasssen folgen, so in den Takten 270, 277, 279, 294 und 309, und von nachebbenden, typischen Dispersionsfelder gefolgt werden (271-275, 280-286, 311-325/Schluß). Dabei nimmt die Intensität der Massie-rungen zum Schluß hin zu und mit ihr auch die Länge und die Zerstreuung der Dis-persionsfelder. Den Höhepunkt bilden dabei die beiden Massierungen in den Takten 306/307 und 308/309, die in einem längeren Suspensionsfeld ab Takt 296 vorberei-tet werden. Die stärkere Gerichtetheit des Energieflusses in dieser Phase macht es nur hier sinnvoll von Suspensionsfeldern zu sprechen, was in den ersten beiden Phasen im Grunde nie sinnvoll ist und deren statische Grundhaltung verdeutlicht. Das letzte Dispersionsfeld des Phase IV fokussiert analog zum fis im abschließen-den Dispersionsfeld der dritten Instrumentalphase hier den Ton es, der auch der letzte klingende Ton ist, nachdem der letzte darübergelegte Klang E-G-as ausge-blendet ist.

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85

Die Folge der Energiemuster sei zum Schluß noch einmal überblicksartig zusam-mengefaßt: Takt Zeit Dauer Tonzentren Energiemuster/Klangbewegung Phase I

1-13

14-21

21-22

22-29/2

23/4-29

29/3-31

31-33

31-40

41-45

46-53

54-58

59-63

64-65

66-70

71-76

77-82

OS I

Phase II

83-93

93/4-114

115-117

118-124

124-132

132-145

0:00 – 3:37

0:00

0:52

1:15

1:43

1:57

2:23

2:34

3:32

6:34 – 14:18

6:34

6:58

7:45

7:57

8:45

3:37

0:52

0:23

0:28

0:14

0:26

0:11

0:58

0:06

2:55

7:44

0:24

0:47

0:12

0:48

0:56

g-f/d-e

es-b-e

es-fis-g/

c-h/f-e-b

g-c/cis-fis

g-fis/des-f/a

e-f-a-cis-b/

gis

g

gis-d/e-dis

... es-a

fis-gis

cis-gis/d-a/es-b

b-a

a

es/d/as-a-b

statische Klangmasse

statische Klangmasse/2

Genese

Liquidation

Suspensionsfeld

Genese

Liquidation

Simultanbewegung/Pendel

statische Klangmasse

Simultanbewegung

statische Klangmasse/Pendel

Genese-Liquidation

Genese-Liquidation

Genese-Liquidation

Liquidation

Genese-Liquidation

statische Klangmasse

Simultanbewegung

Genese/starke Aufladung-Abgrund

Dispersionsfeld

Simultanbewegung

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86

146-153

154-164

165-174

175-188

189-193

194-198

199

200-203

204-209

210-217

218-224

OS II

225-238

239-263

OS III

Phase IV

264-269

270-273

274-279

280-286

287-295

296-303

304-310

311-325

Ende

9:41

10:05

10:57

11:38

12:13

12:34

12:58

13:13

13:25

13:43

14:10

14:19-16:28

16:29-18:04

16:29

16:57

18:05-22:16

22:17-25:26

22:17

22:36

22:48

23:09

23:37

24:09

24:30

24:42

25:26

0:24

0:52

0:41

0:35

0:21

0:24

0:15

0:12

0:18

0:27

0:09

2:09

1:36

0:28

1:08

4:11

3:09

0:19

0:12

0:21

0:28

0:32

0:21

0:12

0:44

e-b

c-cis

fis-f-e-b/gis-a

h-c-des-d

g-as

Perkussion solo

a-b

h-e-f/d-es

Perkussion solo

h-e-f/d-es

es-d-des-c

fis

Perkussion solo

f-ges

a-e/b-es

fis-g-as

(b)

g-fis-f

es (e-g-as)

- Genese – Liquidation

Simultanbewegung

Genese-Liquidation, Dispersionsfeld

Simultanbewegung

statische Klangmasse

Simultanbewegung

Genese-Aufladung-Dispersionsfeld

Simultanbewegung

Simultanbewegung-

Genese/Aufladung

Dispersionsfeld

Simultanbewegung

Genese/Aufladung-Abgrund-

Dispersionsfeld

Suspensionsfeld-Aufladung

Dispersionsfeld

Suspensionsfeld-Genese-Liquidation

Suspensionsfeld

Genese/Aufladung-Abgrund (2*)

Dispersionsfeld

Page 87: Speed and synthesis

87

INTERPRETATION DER FORMDYNAMIK Ist auch in Déserts eine eindeutige Abwendung von jeglicher "Konvention" der Formdynamik zu konstatieren, wie sie im Energiefluß von Amériques und Arcana nun rückblickend doch vorhanden zu sein scheint, so sind doch Reste der dort ange-legten Energieprozesse hier durchaus noch zu finden. Sowohl die akusmatische Musik mit der Konzentration auf den Schluß hin und der ausladenden Entfaltung in der dritten Interpolation als auch die Instrumentalmusik mit ihren Ballungen in den suspensionsartig erreichten Klangmassengenesen und Abgründen der vierten Phase zeigen eine eindeutige Konzentration der musikalischen Energie zum Schluß des Stückes hin. Diese Ballung wird noch kontrastreich verstärkt und zugleich vorbereitet von den zurückgenommenen Energiezuständen der zweiten Interpolation und der dritten, stark gerafften Instrumentalphase und ihrem langem Dispersionsfeld, wäh-rend die Entwicklungen vorher neben kurzen Energiepolen zu Anfang der Instrumen-talphasen das Moment der Stasis stärker hervortreten lassen und so die Aufmerk-samkeit beim Hören stark auf feingliedrige Metamorphosenprozesse richtet, die sich innerhalb eines relativ unveränderten, doch stets in sich bewegt bleibenden Energie-niveaus abspielen. Déserts erscheint so als glückliche Synthese aus dynamischen und statischen form-bildenden Prozessen und in seiner spannenden Annäherung und zugleich Auswei-tung des Klangbildes zwischen Instrumentalklang und "Organized Sound" ein faszi-nierendes Panoptikum des Varèseschen Klanguniversums. Dem Mitvollziehen des Energieflusses kann hier ein sehr bewußtes Nachvollziehen der klangfarblichen und diastematischen Metamorphosen an die Seite treten, das jenseits von rein "struktu-rellem Hören" die ständige Veränderung von Farbe und Klangzustand sehr bewußt miterlebt. So kann sich beim Hören ein Raum öffnen, der auch mit der Räumlichkeit von Bill Violas Film vielfältige Korrespondenzen aufnehmen könnte.

* * *

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88

V. DEBUSSY – MONTEVERDI: Varianten der absoluten Form 1915 und 1605 Die Anwendbarkeit der hier auf die Musik von Edgard Varèse angewendeten Wege der theoretischen Interpretation soll nun ansatzweise an zwei Beispielen älterer Musik erprobt werden, wobei Komponisten ausgewählt wurden, deren Musik m. E. durch das Vorhandensein eines gut zu verfolgenden Energieflusses in ähnlichen Hörhaltungen gehört werden kann wie sie für die Rezeption von Varèses Musik angedeutet wurden. Man möge sich bei den folgenden Interpretationen nicht an Unvollständigkeit oder Lücken stoßen; es handelt sich mehr um Anregungen für weitere theoretische Unter-nehmungen in der angedeuteten Richtung als um in sich abgeschlossene Betrach-tungen. Gezeigt werden soll lediglich, welcher Reichtum an neuen Hörerlebnissen und theoretischen Sichtweisen auch in dieser scheinbar schon "kaputtanalysierten" oder gar "kaputtgehörten" Musik der ferneren Vergangenheit liegen könnte. Dabei geht die Leiter von einem etwas älteren Zeitgenossen Varèses, Claude De-bussy bis ins Jahre 1605 zurück, in dem Claudio Monteverdis V. Madrigalbuch veröf-fentlicht wurde. Daß hiermit historische Querstände, unorthodoxe Figuren in der Musikgeschichte, die sich deren Schemata und Epochenzuordnungen noch nie so recht fügen wollten, aufscheinen, dürfte nach der Auseinandersetzung mit Varèses Ästhetik und der Kenntnis unseres damit zusammenhängenden Interpretationsan-satzes kaum mehr verwundern. Neben der Vaterfigur Ferruccio Busoni, tauchen Namen wie Debussy, Berlioz, aber auch die Meister der Renaissance und des frühen Barock, mit denen sich Varèse als Chorleiter aktiv musizierend Jahrzehnte lang auseinandersetzte, immer wieder in seinen Äußerungen auf. Statt der etwas müßi-gen Arbeit nach den "unmittelbaren Einflüssen" auf Varèses Komponieren nachzu-gehen, erscheint es mir ergiebiger, die im Kontext von Varèses Musik entwickelten Interpretationsansätze auf die Musik der genannten Komponisten direkt anzuwenden und so auf einer übergeordneten Ebene eventuell Parallelen, aber natürlich ebenso Differenzen sichtbar zu machen, die sich bei einem Versuch, "Einflüsse" nachzuwei-sen, kaum erhellen würden.

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1. Magnetismus des Stillstandes Claude Debussy: Sonate für Flöte, Viola und Harfe (1915), 1. Satz Debussys Sonate für Flöte, Viola und Harfe ist schon ihrer Besetzung wegen von besonderem Interesse und ist nicht zufälligerweise auch die experimentellste der drei letzten Sonaten (nur drei von sechs konzipierten Sonaten wurden vollendet). Sind im ersten Satz, einer scheinbar harmlosen "Pastorale", durchaus Andeutungen von Topoi der Sonatensatzform (Suchende Einleitung, Reprisenmoment, Auflösungspro-zeß in der Coda) zu finden, so spricht doch die Formdynamik eine gänzlich andere Sprache als die der klassischen Sonate. Die Hauptmerkmale des Energieflusses sind dabei ein fortgesetztes Absinken des Energieniveaus bis hin zum völligen Stillstand und ein daraus entstehender Episo-dencharakter der zwischen den Stillständen liegenden Entwicklungen. An die Stelle der Entwicklung logischer Korrespondenzen der klassischen Sonate, tritt ein bruch-stückhaftes Spiel mit Assoziationen und Reminiszenzen, eine Art "Aufweichung des Gedächtnisses". So entsteht Musik, die sich nirgendwo lange aufhält und doch immer wieder einem Bedürfnis nach Innehalten nachgibt. Immerzu wird das musikalische Geschehen zu einem scheinbar endgültigen Schlußpunkt geführt, der dann doch nur ein vorüberge-hender Halt ist. Bewegungsenergie staut sich dadurch auf, Motorik wird im Keim erstickt, Pulsation verhindert. Einmal dann, im Zentrum des Satzes (Takt 39-4586), kommt dann die Bewegung doch noch in Fluß und bewirkt eine Konkretisierung der musikalischen Energie, die sich im zweitaktigen Unisono zwischen Flöte und Viola (Takt 43/44) aufs Satztechnische überträgt. Etwas, was die ganze Zeit über kaum erkenntlich im "Hintergrund" der Musik aufschimmert, tritt nun kurz nach vorne, wird hörbar, verschwindet aber rasch wieder im selben Wechselspiel zwischen Erstarrung und Bewegungsaufbau, dem sie auch vorher schon ausgestzt war. Der Begriff der Episode wird hier scheinbar hinfällig: es gibt keine "eingeschobenen" Teile mehr innerhalb eines größeren formalen Zusammenhangs, wie wir dies etwa bei den Xylophonepisoden in Arcana beobachten konnten, es ist vielmehr so, als

86Der behandelte erste Satz der Sonate ist in der Beilage vollständig und mit Taktzahlen versehen

wiedergegeben.

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würde die Musik ausschließlich aus solchen "eingeschobenen Teilen" bestehen: Musik wird zu einer Aneinanderreihung von Nebensächlichkeiten, nichts ist wichtiger oder weniger wichtig als das andere, so daß auch die Trennung zwischen themati-schen Partien und Überleitungsphasen überflüssig wird. Manchmal ereignet sich ein kurzes Aufblühen des Melodischen, taucht eine Wendung auf, die der Beginn einer festeren thematischen Gestalt sein könnte, aber gleich wieder in der nächsten Ne-bensächlichkeit, der nächsten "Episode" versinkt. Keine dieser Episoden ist länger als fünf Takte, mit der einzigen Ausnahme jener oben genannten konkretisierenden Stelle, die über 12 Takte einen kontinuierlichen Bewegungsfluß aufbaut, womit eine Tendenz zur Bewegtheit durchbricht, die vorher und nachher stets nur im Angedeu-teten verbleibt. Es scheint als wolle die Musik nicht mehr alles sagen, was sie vielleicht zu sagen hätte. Sie begnügt sich mit dem zart Hinweisenden, gibt nur kurze, oftmals rätselhaf-te Zeichen. Affirmatives ist ihr fremd; dort, wo die Möglichkeit bestünde, dem Gesag-ten Gültigkeit zu verleihen, bricht sie rasch ab und flüchtet sich in eine neue Andeu-tung, manchmal auch in Erinnerung, Rückschau, die auch so konkret werden kann, daß sich etwas Vergangenes wörtlich wiederholt. Länger als vier Takte aber dauert diese Wiederholung dann nicht, sogleich verliert sie sich in etwas Neuem, assoziativ vor- und zurückgreifend, scheinbar ziellos vor sich hin suchend. Die Binnenteile scheinen rein "assoziativ" einander zu folgen, es gibt keine zwingenden musikalisch-formalen Notwendigkeiten mehr. So bilden Quart- und Quintintervalle in diesen 83 Takten einen eigenen kleinen Kosmos. Da dient die stufenweise durchschrittene Quart nach unten als immer wie-derkehrende Schlußklausel, die die Musik abbremst, Bewegung erstarren läßt (Takte 7, 8/9, 13, 25, 65/66, 78/79, 79/80) oder Quint- oder Quartschritte schließen Binnen-teile kadenzierend ab (Takte 13, 15, 17, 25, 34/35, 46/47, 53, 58, 60, 80-83). Aber auch in melodische Bildungen dringen Quart/Quintintervalle ein, besonders deutlich in der "Animando-Figur" (Flöte Takt 18/19, bzw. Viola Takt 63/64) und der einleiten-den Melodie der Viola (Takt 4-6 und 48/49). Quint- und Quartpendel bilden ostinate Baßfiguren, die Entwicklungen hemmen, gleichsam durch die tonale oder modale kadenzierende Kraft die Energie "nach unten" ziehen, die Musik "festhalten" (vor allem in den Takten 14-17, 21-22, 31-35, 57-62, 63-64). Quintmixturen schließlich stellen das von einem Quintorgelpunkt suggerierte tonale Zentrum in Frage (Harfe Takte 9-12 und 66-69).

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Melodische Versatzstücke tauchen immer wieder auf: die anfängliche Synkopenme-lodie (Takt 1/2) erst wieder als Reminiszenz am Schluß (Takt 72-75), vor allem aber die zentrale melodische Floskel aus Takt 14/15 in der Flöte. Sie wird zum Kristallisa-tionspunkt der Erinnerung. Ihre wörtliche Wiederkehr (Takt 57/58) macht das Repri-senerlebnis aus, ihre variierte mehrfache Wiederholung in der Schlußphase (Takt 75 ff.) erhebt sie im Nachhinein zum melodischen "Hauptgedanken". Dennoch bleibt auch diese Floskel immer im Bereich das Angedeuteten, nur halb Gesagten. Bereits beim ersten Auftauchen wirkt sie wie der "Rest" eines einmal vollständig gewesenen Themas und wird zum Schluß in einem längeren Liquidationsprozess dann immer mehr auf ihre wenigen wesentlichen Intervallfolgen reduziert. Viele Klänge, Formeln, Figurationen kehren immerzu wieder, meist etwas verändert, oft in neuer Umgebung, unerwartet, fast wie "hineinmontiert". Der Harfenklang des Anfangs taucht am Schluß (Takt 72) wieder auf, als wolle die Musik noch einmal von vorne beginnen. Die Flötenfigurationen und die Quintmixturen der Harfe, die diesem Klang am Anfang folgten (Takt 2/3 und Takt 9-12), gehen ihm am Ende in vertausch-ter Reihenfolge voran (Takt 66-71), evozieren ihn, rufen ihn hervor. Assoziation geschieht hier also gleichsam "krebsförmig": Der Anfang wird wieder gesucht und mit Hilfe der von ihm ursprünglich ausgelösten Folgeereignisse neu "zusammenbuchs-tabiert". Figuratives, Formelhaftes, Arabesken – gewiß auch angeregt durch die spezifische Instrumentaltechnik – finden sich auch sonst allenthalben: anfänglich nur in der Flöte (s. o.), dann aber schon bald auch in Viola (Takt 14ff.) und der Harfe (etwa Takt 15) – einem Instrument, das das Figurative geradezu provoziert – und bleibt dann wäh-rend des ganzen weiteren Verlaufs stets gegenwärtig. Das Figurative verunklart die Melodik, nimmt ihr die feste Gestalt. Aus Melodie wird Klang. Kadenzformeln führen immer wieder die Musik zum vollkommenen Stillstand, als sei sie überhaupt nicht daran interessiert, irgendwo hin zu gelangen. Einmal ausgelöst, verliert sie sich in dem, was gerade kommt. Dort wo sie dann tatsächlich einmal über eine längere Strecke in Bewegung gerät (Takt 36ff.), wird sie rasch wieder bremsen-der Statik aufgesogen (Takt 48ff.) und geht schließlich in einem Harfennnebel unter (Takt 52/53). Das Beschwingte, Unbeschwerte des Mittelteils, von Debussy durch Vorschriften wie "joyeux" oder "gracieux" suggeriert, bleibt ein isoliertes Phänomen, ein kurzes Auf-flackern, in der sonst eher melancholisch sich forttastenden musikalischen Stimmung

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des Satzes. Die dort enthaltenen tänzerisch-fröhlichen musikalischen Gestalten kehren nicht wieder, dringen nur einmal zitathaft wie aus einer anderen Welt in das musikalische Geschehen ein. Die Erinnerung an das, was vorher war, ist dadurch getrübt, gleichsam aus dem Konzept gebracht. Wieder wird die Musik dann aus einzelnen Assoziationen zusammengesetzt und findet nur vorübergehend konkreter zum Vergangenen, teilweise gar zu dessen exakter Wiederholung, zurück. Alles andere aber bleibt in ein diffuses Licht getaucht. Auch am Schluß bleibt ein Fragezeichen stehen. Die große Septime in der Flöte, ei-gentlich Leitton zur Tonika F-dur, bleibt unaufgelöst. Die Episoden des Satzes gliedern sich, im Überblick betrachtet, folgendermaßen:

Takt Episode

Lento, dolce rubato 9/8

1-3

4-6

7-9

9-13

14-15

16-17

18-20 7/8

21-25 8/8

Vif et joyeux 18/16

26/27

28-35

36-38

39-47

Einleitung Harfenklang-Flötenfiguren

Viola-Solo Melodie

Aufschwung Flöte – Kadenzen, Rit.

Quintmixturen Harfe-Flötenfiguren-Kadenz

Hauptgedanke, 1. Phrase

Hauptgedanke, verzierte Variante, Rit.

Animando, 1. Phrase, Rit.

Animando, 2. Phrase, Molto rit.- Kadenz

Impulsfiguren – Fermaten (rhythmisch betontes Thema)

Bewegungsaufbau, Variante des Rhythmusthemas (Themenkopf) mit

Quintostinato, ab 33 auslaufend

erneuter Bewegungsaufbau

fließende Bewegung, Variante Rhythmusthema, ab 43 auslaufend

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In Primo Tempo 9/8

48-51

52-53

54-56

57-58

59-60

61-62

63-66

66-69

70-71

72-73

74-79

80-83

Viola – Stillstand – Flöte: Einleitungsmelodie aus Takt 4/5

Auflösung, Rit.

Flöte: variierte Einleitungsmelodie, Rit.

Hauptgedanke, 1. Phrase, = 14-15

Hauptgedanke, verzierte Variante, Rit., = 16-17

weitere Variante, Töne des Harfenklanges aus Takt 1

7/8 Animando, 1. Phrase, Variante von 18, Auflösung, Molto rit. – Ka-

denz

Quintmixturen der Harfe, Flöten-Figuren

Auflösung, Rit.

Harfenklang, Synkopenmelodie aus Takt 1ff.

Harfenklang, Synkopenmelodie aus Takt 1ff., Reminiszenz an den Haupt-

gedanken mit Liquidation – Kadenzen (Rit. – Piu Lento, Cédez)

Schlußakkord, Leitton e bleibt unaufgelöst liegen

Der Energiefluß des Satzes läßt an einen zerstreuten Hörer denken, der über dem ständigen Verirren und Abschweifen der Musik "den Faden verliert". Ins Positive gewendet könnte eine solche "zerstreute" Hörhaltung hier durchaus am Platz sein: sich von der seltsamen Episodenfolge angenehm verwirren lassen, Erinnerungsblitze wahrnehmen und die permutative Folge der Binnenteile verfolgen, die Kraft des in der Mitte sich einmal länger ausbreitenden Energieflusses spüren – der Leser sei dazu angeregt, sich auf solch experimentierende Hörhaltungen beim Hören dieser Musik einzulassen. Im günstigsten Fall kann so theoretische Erkenntnis Grundlage für neue Hörerfahrungen werden, die dann im Experimentierfeld des Hörens auch tatsächlich gemacht werden. Ähnliche Anregungen sollen nun zu einer ganz anderen Art von Musik gegeben werden.

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2. Verwandlung des musikalischen Ichs Claudio Monteverdi: T'amo mia vita (V. Madrigalbuch, 1605) fünfstimmiges Madrigal mit basso continuo Monteverdis V. Madrigalbuch ist nicht zuletzt wegen der mittlerweile sehr häufig diskutierten Artusi-Kontroverse eines seiner bekanntesten Werke. War Monteverdi auch, etwa im Vergleich zum Kreis der Florentiner Camerata um den Grafen Bardi, durchaus kein radikaler Neuerer, so mußte doch seine bewußte Vermischung von altem und neuen Stil ("prima e seconda prattica"), namentlich in den beiden Madri-galbüchern IV und V die Theoretiker mehr irritieren als die Experimente der jungen Oper, für die keine Bezugspunkte in der jüngeren musikhistorischen Vergangenheit auszumachen waren, die hätten überschritten oder verletzt werden können. Es mag Zufall sein, daß gerade die Artusi-Kontroverse in der Monteverdi-Rezeption derart in den Vordergrund getreten ist, immerhin kann man in ihr ein Zeichen dafür sehen, daß Monteverdi um 1600 einen wichtigen Schritt tut, der auf die Zeitgenossen zu-nächst verstörend wirkte und dies sogar innerhalb der Traditionslinie des Madrigals, das stets eine Experimentiergattung war, betrachtet, die sich bis Cypriano de Rore zur Mitte des 16. Jahrhunderts zurückverfolgen läßt. Die immer drastischeren Mittel der Affektdarstellung, freie Dissonanzbehandlung, Chromatik, häufige Moduswechsel sowie die Eingliederung vokaler Improvisations-praktiken in die niedergeschriebene Komposition87 mußten früher oder später den Unwillen der an Zarlinos Regelsystem der "Istitutioni harmoniche" (1558) orientierten Theoretiker erwecken. Die spannende Epochenwende um 1600 ist dadurch jeden-falls sehr lebendig charakterisiert, auch wenn man ähnliche "Dissonanzen" in zahl-reichen anderen Fällen und in anderen Epochen, speziell an deren Rändern und Übergangszonen, stets finden wird. An die öffentliche Diskussion zwischen Nicola Vicentino, dem von der antiken Musiktheorie beeinflussten "Avantgardisten" des 16. Jahrhunderts, und dem Zarlinonahen Lusitano 1551 in Rom sei ebenso erinnert wie an die Polemik des "Critischen Musicus" J. A. Scheibe über das "schwülstige und verworrene Wesen" der Musik eines gewissen Johann Sebastian Bach von 1737, von den unzählbaren Manifesten, Kontroversen und Polemiken des 20. Jahrhunderts ganz zu schweigen.

87Vgl. dazu: Claude V. Palisca: The Artusi-Monteverdi Controversy, in: Denis Arnold/Nigel Fortune

(Hg.): The New Monteverdi Companion, London 1985

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Im V. Madrigalbuch entwickelt Monteverdi einen stark theatralischen Stil, bei dem über lange Strecken die deklamatorische Homophonie, oft in voller Fünfstimmigkeit dominiert. Verständlichkeit und Affektgehalt des Textes – großenteils basierend auf Giovanni Battista Guarinis "Pastor fido", einem der beliebtesten Pastoralspiele der Zeit – sind oberstes Gebot, was gleichzeitig ein starkes Zurücktreten der kontrapunk-tischen Satzweise, insbesondere der Durchimitation mit sich bringt. Im zweiten Teil des Buches führt Monteverdi erstmals den Generalbaß in die Welt des Madrigals ein, nähert es dadurch den Gattungen der Monodie und der Oper an und ermöglicht so vor allem eine noch größere Flexibilität im Wechsel der Besetzungen zwischen Ein- und Fünfstimmigkeit. Waren solche Wechsel bereits in den früheren Madrigalen Monteverdis entscheidende formbildende Mittel gewesen, so werden nun ganze Formkonzeptionen auf diesen Kontrasten aufgebaut. Besonders deutlich wird dies in den beiden Madrigalen "Ahi, come un vago sol" und "T'amo mia vita!", die mittels eines Changierens zwischen Duett, bzw. Solo und Mehrstimmigkeit raffinierte re-frainartige Formentwicklungen erzeugen, die in ihrer Theatralik bereits die Über-schreitung der Gattungsgrenze hin zur szenisch-gestischen Darstellung andeuten, die sich dann 1638 im VIII. Madrigalbuch vollzieht. Die Betrachtung des Formvorganges von "T'amo mia vita!" soll in unserem Zusam-menhang nun prüfen, welcher Art der Energiefluß dieser offensichtlich "Absoluten Form" ist, und ob es angebracht ist, hier Verbindungslinien zu Varèse oder Debussy zu setzen. Die herausragende Bedeutung, die im Madrigal dem Text zukommt, erfordert dabei zunächst eine Betrachtung des zugrundeliegenden Gedichtes von Guarini (hier im italienischen Original mit deutscher Übersetzung): "T'amo mia vita!" "T'amo mia vita!" La mia cara vita dolcemente mi dice, e'n questa sola sì soave parola Par che trasformi i lietamente il core Per farmene signore. "T'amo mia vita." O voce di dolcezz'e di diletto. Prendila tost' Amore; Stampala nel mio petto; Spiri solo per lei, l'anima mia: "T'amo mia vita" ...la mia vita sia. G. B. Guarini: "Rime"

"Ich liebe dich, mein Leben!" "Ich liebe dich, mein Leben!" spricht mein teures Leben sanft zu mir, und mit diesem einen süßen Wort scheint froh mein Herz sie zu verwandeln, macht sie zum König mich. "Ich liebe dich mein Leben." O süße beglückende Stimme! Ergreife schnell sie, Liebe; präg sie ins Herz dir ein; nur ihr lebt meine Seele: "Ich liebe dich, mein Leben" ...sei mein Leben.

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Guarinis Gedicht lebt vor allem von der Doppeldeutigkeit des Wortes "Leben" ("vita"), das hier gleichzeitig Kosename der sprechenden Geliebten und des von ihr ange-sprochenen Geliebten ist. Der Schluß läßt dann die Trennung zwischen den beiden verschwinden, da nicht mehr eindeutig ist, wer von beiden jetzt die Worte "T'amo mia vita" spricht, oder ob gar hier der ganze Ausruf als Anrede für die Geliebte genom-men wird, wonach die letzte Zeile dann sinngemäß bedeuten würde: "Geliebte, sei mein Leben". Diese Mehrdeutigkeit der letzten Zeile, das Changieren der Bedeutung von "vita" und der dreimal mottoartig wiederholte Ausruf "T'amo mia vita!" sind die wichtigsten Charakteristika des Gedichtes, das – ganz in der Tradition der madrigali-schen Dichtung – metrisch und strophisch völlig ungebunden ist; auch die Reimform ist unschematisch: a b a b – b a c b c a a/a. Monteverdis musikalische Ausdeutung des Textes nun ist hochinteressant. Die zu Anfang deutliche syntaktische Trennung zwischen dem solistisch in der Sopranstim-me gesetzten mottoartigen Ausruf der Geliebten und den Worten des lyrischen Ichs (=der Geliebte), die von den drei tiefen Stimmen in deklamierender Homophonie gesungen werden, wird ab der ersten Wiederkehr des Mottos (Takt 9-1188) immer verschwommener. In Takt 11 überlappt der Einsatz der tiefen Stimmen mit dem Schlußton des Sopransolos, in Takt 22 der variierte Beginn des Solos mit dem Schlußakkord der tiefen Stimmen in den Takten 25-28 nähern sich die beiden Ebe-nen in ähnlicher Weise in kürzeren Folgen einander an. Schließlich, bei Erreichen der letzten Gedichtzeile und unter Hinzutreten der bis dahin ganz ausgesparten Quinto-Stimme, greifen die Unterstimmen das Motto auf und treten mit den beiden Oberstimmen in einen im Forte dahinströmenden kontrapunktischen Satz ein, der – über 17 Takte ausgebreitet – das Madrigal beschließt. Die Transformationen, denen dabei beide Ebenen ausgesetzt sind, sind eng mit Stimmung und Affektgehalt des Textes verknüpft. Der bereits im Text angegebene Charakter des Ausrufs "T'amo mia vita!", das das teure Leben "dolcemente" spricht, also süß, sanft, mild, wird musikalisch in die melodische Schlichtheit eines stufen-weise fallenden Quintganges (a-d) übersetzt, die zusammen mit der dreifachen Dehnung der Vokale, der solistischen "Nacktheit" der Linie und der zurückgehaltenen Dynamik auch eine gewisse räumliche Ferne suggeriert (Takt 1ff.). Die Reaktion der tiefen Stimmen greift zunächst diese Atmosphäre auf (pp, tiefe, enge Lage), steigert sich durch die dreimalige Sequenzierung von "La mia cara vita" (zuerst einen Ganz-

88Das behandelte Madrigal ist ebenfalls in der Beilage vollständig und mit Taktzahlen versehen

wiedergegeben.

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ton, dann eine Quarte höher) bis zum dritten "vita" (mf, Takt 7/3), ehe das "dolce-mente" sich wieder der Stimmung und Tonlage des ersten Einsatzes annähert (7/4 bis 9/1). Dabei wird harmonisch die V. Stufe des Grundmodus d erreicht (a-moll), die dann wieder zur I. Stufe zurückführt. Der wichtigste Energiepol in diesem ersten Abschnitt ist das Wort "vita" im Takt 7/3. Vom absoluten Ruhepunkt in Takt 4 ausgehend wird mittels Crescendo bis zum mf, Sequenzierung nach oben und damit verbundener chromatischer Führung des Te-nors bereits zum Anfang des Taktes 7 hin ein hohes Spannungsniveau erzeugt. Durch den Querstand c-cis (Alt-Tenor), die erhöhte rhythmische Aktivität (durchge-hende Achtel statt 4 Achtel/zwei Viertel in den beiden Takten vorher) und das Hinzie-len auf den Grundmodus (dritte Zählzeit in Takt 7) wird dieses Spannungsniveau noch gesteigert und löst sich nach Erreichen dieses Grundmodus und dem nochma-ligen halbtönigen Anstieg der melodieführenden Stimme (e-f, Alt). Die Rückführung in das Energieniveau des Anfangs ist gerafft (7 1/2 Viertel im Vergleich zu 10 1/2 Vierteln Energieaufbau). Hier nun wieder von Suspensions- und Dispersionsfeldern zu sprechen wäre zwar nicht ganz abwegig, aber es soll nicht der Eindruck entstehen, als ginge es hier um die Etikettierung mittels eines neu geschaffenen Terminologie. Wichtig ist allein das Erkennen des Flusses der musikalischen Energie, die Benennung der Phänomene muß immer aus dem Kontext heraus neu erfunden werden. Fachtermini verleiten zur vorschnellen Katalogisieruung von Phänomenen, die dann nicht mehr einfach das sein dürfen, was sie sind, sondern Teil eines vorher errichteten Gedankengebäudes bilden müssen. In diesem Fall schlage ich vor, von Anhäufung (auf einen Energiepol hin gerichtet) und Abfließen (von einem Energiepol sich entfernend) zu sprechen sowie von indifferenten Feldern, die nicht von Polen angezogen oder abgestoßen werden. Im ersten Abschnitt des Madrigals würde sich somit als Energieverlauf ergeben: Takt Energiemuster

1-4

5-7/3

7/3-9/2

Indifferentes Feld

Anhäufung

Abfließen

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Beim zweiten Auftreten des Mottos (Takt 9ff.) ist dessen musikalische Gestalt von vier auf drei Takte verkürzt, was durch eine Kürzung der ersten beiden Vokaldeh-nungen erreicht wird. Die Verkürzung läßt, unterstützt von der leicht angehobenen Dynamik (mp statt p) die Stimme der Geliebten räumlich näher erscheinen als das erste Mal. Die Reaktion ist jetzt auf 12 Takte erweitert und von einem Wechsel zwi-schen Vierer- zum Dreiermetrum geprägt, der allerdings nicht ausnotiert ist. Wieder wird der erste Teil des Textes ("e'n questa sola sì soave parola", im Dreiermetrum) einmal um einen Ganzton nach oben sequenziert, ehe im Takt 18 auf die Worte "trasformi" (trasformire: verwandeln) das Metrum wieder zurück-"transformiert" wird und die Phrase im "königlichen" festen, bestimmten Vierermetrum zu Ende geführt wird ("macht sie zum König mich"). Der Grundmodus d wird im Grunde nie verlas-sen, wie überhaupt die Harmonik dieses Madrigals sehr schlicht gehalten ist, auch wenn einige Wendungen auftreten, die Zarlino gewiß erbost hätten (vgl. etwa Takt 14/1, 16), die aber lediglich die Anfänge eines generalbaßorientierten harmonischen Denkens dokumentieren. Der Energiefluß besteht wie beim ersten Mal aus einer Anhäufung im Laufe der sequenzierten ersten Zeile (14-17/1), danach, ohne Abfließen, folgt ein vom Ener-gieniveau her zurückgenommenes indifferentes Feld (17/2-22). Beim dritten Auftreten (Takt 22ff.) tritt eine stark abgewandelte Variante der Motto-gestalt auf, die mit einem Quartanstieg in Achteln (a-d2) beginnt, der bereits einmal den ganzen Ausruf – vom Piano ins Forte "nach vorne" tretend – bringt, welcher dann auf einem umso stärker gedehnten d2 noch einmal in Anlehnung an die ersten beiden Gestalten wiederholt wird (mit abschließendem Quintfall d2-g und Decre-scendo bis zum Piano). Der Affekt des angesprochenen Geliebten ("O süße, beglü-ckende Stimme!") wird mit einer zart zurückgenommenen harmonischen Rückung (G-dur – E-dur mit chromatischem Schritt im Tenor) ausgedeutet, woraufhin noch einmal die Mottogestalt erscheint, hier wieder unter Verkürzung der Vokaldehnung im mf, einen Ganzton nach oben (e2-a1) transponiert. Die stärkere Einbindung der Mottogestalt in den Energiefluß zeigt nicht zuletzt deren Sequenzierung an, in die-sem Madrigal entscheidendes Mittel der Dramaturgie. Dabei ist im Grunde der ganze Vorgang von 22 bis 28 als Anhäufung zu sehen, die dann auf einer niederigeren Stufe von den tiefen Stimmen fortgeführt wird. Entscheidend ist dabei, zu beachten, daß Anhäufung von Energie nicht immer mit einer Zunahme der Dynamik gekoppelt sein muß. Die Spannung, die der Einwurf "O voce" (25/26) mit seiner starken harmo-nischen Progression und vor allem auch durch seine zurückgenommene Dynamik

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erzeugt, würde in einem Forte eher den Energieaufbau zerstören und zu einem Absinken des Energieniveaus führen. Die folgende Reaktion der tiefen Stimmen besteht aus drei sequenzierten homo-phonen Phrasen, zunächst nur zweistimmig im pp beginnend, was einen Kontrast zur deutlichen Präsenz der Sopranstimme darstellt. Das Motto gewinnt schon hier gewissermaßen die Oberhand, wird zum Magnet, auf das die folgende Entwicklung gerichtet ist und der dann ja auch in aller Breite zum Schluß erreicht wird (Takt 41ff.). Die ersten beiden Sequenzierungen (Takt 28-31 und 31-34) bilden einen Prozeß leichter Anhäufung (Terzenanstieg, Akzentuierung und Verschärfung der Rhythmik), ehe die Worte "Spiri solo per lei" ("nur ihr lebt..."), zwischen zwei Affektpausen ge-setzt, die Energie wieder stark zurücknehmen. Auch die wiederum im Terzanstieg gesetzte Sequenz bringt kaum Energiezunahme und führt dann gänzlich zur Ruhe (tiefe Lage, Kadenz zum Grundmodus). Im plötzlichen Forte setzen nun (Takt 40/3 ff.) kurz hintereinander vier Stimmen mit dem Motto-Ausruf ein, wobei zum ersten Mal im ganzen Stück auch die Quinto-Stimme, die dann bis zum Schluß an den Sopran duettartig gekoppelt bleibt, mit einsetzt. Das rhythmische Modell der ersten Motto-Variante (Takt 9ff.) wird von d2 ausgehend zunächst in vier Stimmen durchimitiert und bereits in Takt 43 ergänzt durch eine neue Variante, einem in Vierteln absteigenden Quintfall auf die Worte der zweiten Hälfte der letzten Gedichtzeile "la mia vita sia", das gleich im darauffolgen-den Takt (Takt 44) auch in der Umkehrung auftaucht (Quintanstieg, Basso) und in Takt 46/47 einmal zum Sextfall erweitert wird (Basso). Die Variante des Mottos wird in Takt 47 abgelöst von der zweiten Variante mit Achtelaufstieg aus Takt 22ff. (Canto und Quinto in Terzen), die in Takt 50 ff. noch einmal variiert wird: statt dem abschlie-ßenden Quintfall steht eine Sopranklausel (Durchimitation Quinto, Alto, Tenore). Schließlich bleibt nur das in Vierteln schreitende Motiv "la mia vita sia" zurück (Takt 53 ff.), das in die (modale) Schlußkadenz mündet. Die Energiedynamik dieses letzten Abschnittes ist eindeutig auf den stärksten Ener-giepol im ganzen Stück: die Schlußkadenz hin gerichtet. Es findet somit eine stufen-weise Anhäufung der musikalischen Energie statt, die sich auch in der Ausparung der vollen Fünfstimmigkeit bis zu den letzten vier Takten äußert (mit Ausnahme der überlappenden Einsätze in 46 und 47). Vom Gestus her entsteht insgesamt das, was Heinrich Besseler sehr treffend den "Stimmstrom", den "dahinströmenden Vollklang"

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genannt hat, ein Gestus, der für die Vokalpolyphonie der Renaissance typisch ist. Bei Monteverdi handelt es sich somit um ein Zurückgreifen auf die "prima prattica". Nicht zuletzt durch die Verwendung der Mottogestalt als generalbaßbegleiteten Sologesang einerseits und als Sogetto eines fünfstimmigen polyphonen Satzes andererseits, wird die Übergangsstellung und die stilistische Offenheit dieser Musik deutlich. Die Kompositionstechniken sind der Dramaturgie, den energetischen Pro-zessen untergeordnet, sind Mittel der Gestaltung und nicht die Erfüllung von Regel-werk. Diese Dramaturgie hat ihr zentrales Moment textlich im Hinzielen auf den affirmativen Ausruf der letzten Gedichtzeile, musikalisch in der Annäherung der Mottogestalt an den Fluß der musikalischen Energie und einer Vereinigung der anfangs getrennten Ebenen Sopran (Geliebte) und tiefe Stimmen (Geliebter) im gemeinsamen abschließenden Stimmstrom. Die Energiedynamik sei zum Abschluß zusammendfassend noch einmal tabellarisch aufgeführt: Takt Energiemuster

1-4

5-7/3

7/3-9/2

9/3-11

11/2-17/1

17/2-22

22-28

28/3-34

34/4-40/2

40/3-54/2

54/3-57

Mottogestalt, Indifferentes Feld (p)

Anhäufung (Sequenzierung)

Abfließen – Kadenz

Mottogestalt, verkürzte Variante, Indifferentes Feld (mp)

Anhäufung (Sequenzierung, 3er-Metrum)

Indifferentes Feld (p, 4er Metrum)

Anhäufung: Mottogestalt, stark variiert, Sequenzierung,

Einwurf der tiefen Stimmen

leichte Anhäufung auf niedrigerem Niveau

Indifferentes Feld (pp), Abfließen – Kadenz

Fünfstimmiger Stimmstrom, Anhäufung auf hohem Niveau

erreichtes Energiezentrum – Schlußkadenz

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Eine Hörhaltung, die die Dynamik dieser Musik nicht nur erleben, sondern auch in einem tieferen Sinn "begreifen" wollte, müßte sich durchaus der Korrespondenz zwischen Text und Musik und der aus ihr hervorgehenden "Verwandlung des musi-kalischen Ichs" bewußt sein. Aber auch allein im Erleben der Verwandlungen und kontrastierenden Einfärbungen der Mottogestalt und ihrer Interaktion mit den sie umgebenden Klangereignissen liegt in diesem Fall ein großes Potential für die expe-rimentierende Hörerfahrung. So wenig spektakulär, ja geradezu außergewöhnlich schlicht die harmonischen Folgen dieses Madrigals auch sein mögen (Artusi hätte sich hier unter Umständen wohler gefühlt als bei den ersten beiden Madrigalen des Buches, gegen die sich seine Kritik hauptsächlich wendete), so abenteuerlich und ungewöhnlich ist die "Geschichte" dieser Musik, ihre Verwandlung und ihre jenseits bloßer Nachzeichnung in jeder Hinsicht kreative Umsetzung der Textvorlage. Ein Miterleben dieser Verwandlung beim Hören scheint mir ein lohnenswerter Weg zu einem intensiveren Zugang zu dieser Musik, andere Möglichkeiten sind denkbar und begrüßenswert, der Leser möge sie – ob aus diesen Betrachtungen abgeleitet oder nicht – mit Freude am Experiment ausprobieren.

* * *

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VI. AUSKLANG UND AUSBLICK – Plädoyer für ein gelassenes und ekstatisches Hören Welche Schlußfolgerungen nun aus diesen umfangreichen Betrachtungen zu ziehen seien, mag der verwirrte Leser jetzt fragen und wird möglicherweise enttäuscht sein, wenn er Regeln, Anleitungen oder Grundsatzerklärungen eines wie immer beschaf-fenen "Neuen Hörens" erwartet haben sollte. Der Vorgang des musikalischen Hörens ist so vielfältig wie die Menschen, die diesen Vorgang erleben, jeder Mensch hört in jeder Situation anders, eine Norm des "guten" oder gar des "richtigen" Hörens gibt es nicht, kann es nie geben. Wozu dann all die Arbeit, mag man verwundert einwenden, wozu die ständige Be-mühung, Hörhaltungen zu erforschen, wenn diese ohnehin nicht übertragbar oder zu verallgemeinern sind? Hat diese Arbeit einerseits versucht, die Mehrdeutigkeit musikalischer Prozesse in den Vordergrund zu stellen und mit ihr unterschiedliche Wege des Hörens anzudeu-ten, so hat sich doch ein Strang durch all diese Vielfalt gezogen: das Bekenntnis zu einer dynamischen Hörhaltung, die über das Erfassen von musikalischen Strukturen hinausgeht und zu einem umfassenden Begreifen des musikalischen Energieflusses gelangt, der der Musik zugrunde liegt. Dabei löst sich die mit dem bürgerlichen Hör-ideal verbundene "Anstrengung" des "Richtighörens" auf in eine neue Gelassenheit der Wahrnehmung, die in ihrer Offenheit auch wieder von Neuem Zustände des Außer-Sich-Geratens, der Ek-Stase ermöglicht, die in den heute vorherrschenden Rezeptionsmechanismen allerhöchstens in stark gebremster und vergeistigter Form vorkommen. Die Frage, wie eine solche Haltung außerhalb des privaten Bereichs in öffentlicher Präsentation von Musik umzusetzen wäre, ist dabei tatsächlich die allerschwierigste. Eine Patentlösung kann es dafür nicht geben, eines jedoch ist sicher: über 200 Jahre alte Rituale, die aus einer von gesellschaftlicher Etikette und Machthierarchien ge-prägten Epoche stammen, sind kaum dazu geeignet, in dieser Hinsicht zu neuen Erfahrungen verhelfen zu können. Der Konzertbetrieb ist allerdings äußerst schwer-fällig und kaum reformierbar, um von der "Opernwelt" zu schweigen. Das Wort von der Musik, deren "angemessene" Rezeption untrennbar mit der ihr "angemessenen" Präsentationsform verknüpft sei, entspricht einem antiquierten Festhalten an nur

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scheinbar objektiven Kriterien der "Werktreue". Will man Wert und Aktualität der Musik der Vergangenheit heute wirklich einer kritischen Prüfung unterziehen, so ist Mut zum Experiment gefordert. Was immer man sich dabei einfallen läßt: ein weite-res Aufbrechen der durch das Konzertritual uns eingeimpften Wahrnehmungsme-chanismen – die schon durch das Hören von Musikkonserven bedeutend erweitert worden sind – ist dabei anzustreben. Ein musealer Gottesdienst, der die Vergangen-heit in ihrer "puren" Form zu erhalten trachtet, ist erstens ein Armutszeugnis für unsere gegenwärtige Kultur und basiert zweitens auf der Illusion historischer Authen-tizität. Die scheinbare Integrität historischer "correctness", die Legitimierung durch das historisch einwandfrei Abgebildete ist die Crux unseres kulturellen Lebens. Soll Kultur neben Archiv und Museum auch noch eine pulsierende Kraft sein, so ist auf dem Gebiet der Musik dringlich zu neuen Experimenten des Hörens, die dann auch solche der Interpretation und Präsentation sein müssen, zu raten. Das Archiv funkti-oniert von selbst, die lebendige Kultur aber muß immer wieder neu erfunden werden.

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Literaturverzeichnis Das Literaturverzeichnis beschränkt sich auf die Angabe der Literatur, die für diese Arbeit unmittelbar

relevant waren. Das umfangreichste Literaturverzeichnis zu Varèse findet sich in der zweiten Auflage

von Fernand Oulette: Edgard Varèse, Paris 1989 sowie in den Musik-Konzepten 6, München 1983.

ADORNO, Theodor W.: Einleitung in die Musiksoziologie , Frankfurt 1962

BERNARD, Jonathan W. : The Music of Edgard Varèse, New Haven/London 1987 BERLIOZ, Hector: Instrumentationslehre. Ergänzt und revidiert von Richard Strauss, Frankfurt/London/New York 1904 BESSELER, Heinrich : Das musikalische Hören der Neuzeit , Berlin 1959

CAGE, John : Silence , Übersetzt von Ernst Jandl, Frankfurt am Main 1987 CHARLES, Daniel : Musik und Vergessen , Berlin 1984, CONELY, James Hannon: An Anaysis of Form in "Arcana" of Edgard Varèse and the Trilogy of Samuel Beckett , Diss. phil., Columbia University, New York 1968 CRANE, David: An Anaysis of Form in Arcana by Edgard Varèse , Diss. phil. Univer-sity of California, Los Angeles 1989 DAHLHAUS, Carl: Analyse und Werturteil, Mainz 1970 DAHLHAUS, Carl und ZIMMERMANN, Michael (Hg.): Musik zur Sprache gebracht , München – Kassel 1984 DANUSER, Hermann: Erinnerter Klang – Musik und Mnemosyne, in: Kunstforum International Bd. 127, September 1994, S. 154-159 DELEUZE, Gilles und GUATTARI, Félix: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophre-nie I , Frankfurt am Main 1968

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DELEUZE, Gilles und GUATTARI, Félix:Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schi-zophrenie, Dt. Ausgabe Berlin 1992 (Merve Verlag) FLECHTNER, Christine (Hg.): Die Schrifen von Edgard Varèse (1883-1965), Lic. phil. Universität Freiburg (Schweiz) 1983 (Ms.) FREUD, Sigmund : Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften, Gesammel-te Werke (S. Fischer Verlag) Band 10442 X FUCHS, Mathias: Total Recall – Erinneren und Vergessen in der Musik, in: Kunstfo-rum International Bd. 127, September 1994, S. 170-176 HIRBOUR, Louise (Hg.) : Edgard Varèse. Écrits , Paris 1983 KHITTL, Christoph: Edgard Varèse – oder die gescheiterte Hoffnung. Seine Musik und Kunstanschauung , Hausarbeit, Hochschule für Musik und darstellende Kunst Wien, Wien 1982 KURTH, Ernst:Romantische Harmonik und ihre Krise in Wagners Tristan , zuerst erschienen 1919, 3. Auflage Berlin 1923 KURTH, Ernst: Bruckner, 2 Bände, Berlin 1925 LALITTE, Philippe: "Arcana" de Varèse. Histoire et Analyse. Mémoire de maîtrise , Université de Paris, Sorbonne, Paris 1984 MÂCHE, Francois-Bernard: Varèse: vingt ans après... , La Revue Musicale, Paris 1985 METZGER, Heinz Klaus und RIEHN, Rainer (Hg.): Edgard Varèse. Rückblick auf die Zukunft, Musik-Konzepte Band 6, 2. Auflage, München 1983 MITSCHERLICH, Alexander und Margarete: Die Unfähigkeit zu trauern , München 1968 DE LA MOTTE-HABER, Helga: Die Musik von Edgard Varèse , Hofheim 1993

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DE LA MOTTE-HABER, Helga (Hg.): Edgard Varèse: Die Befreiung des Klangs , Hofheim 1992 DE LA MOTTE-HABER, Helga und ANGERMANN, Klaus (Hg.): Edgard Varèse 1883-1965. Dokumente zu Leben und Werk , Frankfurt am Main 1990 NIETZSCHE, Friedrich : Vom Nutzen der Historie für das Leben , 1874 OULETTE, Fernand : Edgard Varèse , 2. Auflage, Paris 1989 SOLIE, Ruth Ames: Varèses "Arcana": An Anaysis of Form , M. A. thesis, University of Chicago, Chicago 1966 STENZEL, Jürg: Busonis Sohn: Zur Genese von Varèses Musikästhetik , in: de la Motte-Haber, Helga (Hg.): Edgard Varèse: Die Befreiung des Klangs , Hofheim 1992 VARESE, Lousie: Varèse. A Looking-Glass Diary , London 1972 VIRILLIO, Paul: Rasender Stillstand , Wien 1992

VIVIER, Odile: Varèse , Paris 1973 WATZLAWIK, Paul: Wie wirklich ist die Wirklichkeit. Wahn Täuschung Verstehen , München 1976