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UNSTERBLICHKEIT Die Abschaffung des Sterbens Der Traum vom ewigen Leben ist so alt wie die Menschheit. Zaubertränke, Vitaminpillen, Traubenkernextrakt oder die Heilkraft des Hungers, viele Rezepte versprechen ein langes Leben. Und Alter wird immer mehr als eine Krankheit begriffen, die man heilen kann. Die durchschnittliche Lebenserwartung steigt in Deutschland jedes Jahr um drei Monate. Statistisch werden Frauen inzwischen 81 und Männer immerhin 75 Jahre alt. Aber dies ist eher besserer Hygiene und Ernährung zuzuschreiben als einem wissenschaftlichen Durchbruch auf der Suche nach ewiger Jugend. Und bisher ist es noch keinem Mediziner gelungen, Gebrechlichkeit und Siechtum als Vorboten des Todes aus dem Menschenleben zu verbannen - oder auch nur zu mildern. Volker Corell For ever young:Bob Jones, 74 Unsterblichkeit Die Abschaffung des Sterbens 1. Unsterblichkeit: Die Abschaffung des Sterbens vom 09.12.2006 - 597 Zeichen SPIEGEL ONLINE 2. ALTERN: Der Jahrhundertmensch vom 17.12.2007 - 28216 Zeichen DER SPIEGEL Seite 76 3. MEDIZIN: Heilkraft des Hungerns vom 11.12.2006 - 13312 Zeichen DER SPIEGEL Seite 154 4. IM ALLTAG KLARKOMMEN vom 24.10.2006 - 16218 Zeichen SPIEGEL special Seite 42 5. "Fröhlicher altern" vom 24.10.2006 - 5718 Zeichen SPIEGEL special Seite 52 6. Die fidelen Hundertjährigen vom 13.06.2006 - 19244 Zeichen SPIEGEL special Seite 108 7. ALTERNSFORSCHUNG: Die Abschaffung des Sterbens vom 25.07.2005 - 16526 Zeichen DER SPIEGEL Seite 110 8. Alter ist eine Krankheit, und man kann sie heilen: Aufstand in Gottes Wartezimmer vom 19.07.2004 - 21553 Zeichen DER SPIEGEL Seite 100 9. MEDIZIN: Jagd nach Methusalem-Genen vom 26.04.2004 - 10392 Zeichen DER SPIEGEL Seite 190 10. FORSCHUNG: Wie alt wird der Mensch? vom 20.09.1999 - 12647 Zeichen DER SPIEGEL Seite 162 11. Spiegel des 20. Jahrhunderts: Sisyphus im weißen Kittel vom 19.04.1999 - 11428 Zeichen DER SPIEGEL Seite 182 12. Spiegel des 20. Jahrhunderts: Traum vom ewigen Leben vom 05.04.1999 - 28482 Zeichen DER SPIEGEL Seite 131 13. Molekularbiologie: Harakiri im Zellkern vom 26.07.1993 - 9775 Zeichen DER SPIEGEL Seite 178

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Page 1: Spiegel.dossier Unsterblichkeit.-.Die Abschaffung Des Sterbens

UNSTERBLICHKEIT

Die Abschaffung des Sterbens

Der Traum vom ewigen Leben ist so alt wie die Menschheit. Zaubertränke, Vitaminpillen, Traubenkernextrakt oder die Heilkraft des Hungers, viele Rezepte versprechen ein langes Leben. Und Alter wird immer mehr als eine Krankheit begriffen, die man heilen kann.

Die durchschnittliche Lebenserwartung steigt in Deutschland jedes Jahr um drei Monate. Statistisch werden Frauen inzwischen 81 und Männer immerhin 75 Jahre alt. Aber dies ist eher besserer Hygiene und Ernährung zuzuschreiben als einem wissenschaftlichen Durchbruch auf der Suche nach ewiger Jugend. Und bisher ist es noch keinem Mediziner gelungen, Gebrechlichkeit und Siechtum als Vorboten des Todes aus dem Menschenleben zu verbannen - oder auch nur zu mildern.

Volker Corell

For ever young:Bob Jones, 74 UnsterblichkeitDie Abschaffung des Sterbens 1. Unsterblichkeit: Die Abschaffung des Sterbens vom 09.12.2006

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2. ALTERN: Der Jahrhundertmensch vom 17.12.2007 - 28216 Zeichen

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3. MEDIZIN: Heilkraft des Hungerns vom 11.12.2006 - 13312 Zeichen

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4. IM ALLTAG KLARKOMMEN vom 24.10.2006 - 16218 Zeichen

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5. "Fröhlicher altern" vom 24.10.2006 - 5718 Zeichen

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6. Die fidelen Hundertjährigen vom 13.06.2006 - 19244 Zeichen

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7. ALTERNSFORSCHUNG: Die Abschaffung des Sterbens vom

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8. Alter ist eine Krankheit, und man kann sie heilen: Aufstandin Gottes Wartezimmer vom 19.07.2004 - 21553 Zeichen

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9. MEDIZIN: Jagd nach Methusalem-Genen vom 26.04.2004 - 10392

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10. FORSCHUNG: Wie alt wird der Mensch? vom 20.09.1999 -

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11. Spiegel des 20. Jahrhunderts: Sisyphus im weißen Kittel

vom 19.04.1999 - 11428 Zeichen

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12. Spiegel des 20. Jahrhunderts: Traum vom ewigen Lebenvom 05.04.1999 - 28482 Zeichen

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13. Molekularbiologie: Harakiri im Zellkern vom 26.07.1993 - 9775

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Heinrich Himmler war nicht un-freundlich, er lächelte, er habe sieeine Weile betrachtet, erinnert sich

Lina Haag.Sind Sie Kommunistin?, fragte er, und

Lina Haag antwortete: ja. Aber wir Kom-munisten sind nicht das Gesindel, für dasman uns hält. Wir haben aus Idealismusgekämpft.

Himmler wollte dann wissen, an jenemTag im Januar 1940, ob sie denn mittler-weile eingesehen habe, dass dieser Idealis-mus falsch gewesen sei?

Ich habe immer nur dafür gekämpft, was ich für gut und recht gehalten habe.Auch mein Mann hat nur dafür gekämpft,sagte sie.

Und jetzt?, fragte Himmler, soll ich IhrenMann freigeben?

Sie war damals, vor knapp 68 Jahren, imHauptquartier der Gestapo, im Büro desReichsführers der SS, 33 Jahre alt. Heuteist Lina Haag 100 Jahre alt, sie öffnet dieTür ihres Münchner Reihenhauses, siegrüßt flüchtig, dreht sich um, geht zu-rück in ihr Wohnzimmer, das vollsteht mitBüchern, in Regalen, auf Stapeln, in Kar-tons verpackt. Es sieht nach Einzug ausoder nach Auszug.

Lina Haag lehnt ihren Stock an das Sofa.Als er langsam auf den tiefen Teppichsinkt, grummelt sie ein paar Wörter, dienicht zu verstehen sind.

Sie ist nicht gern 100 Jahre alt. Sie findetvieles anstrengend seit einiger Zeit, seitfünf oder sechs Jahren vielleicht, seit wanngenau, das weiß sie nicht.

Sie weiß nicht, wann es begann, dass sieVeranstaltungen mied, auf denen andereGäste über sie denken könnten: Warum istdie Alte nicht zu Hause geblieben?

Lina Haag möchte nicht, dass sie jemandbemitleidet. Es soll niemand merken, dasssie alt geworden ist, dass ihre Beine nichtmehr richtig funktionieren, dass ihr Kopflangsamer geworden ist. Denn ihr Kopfwar immer auch ihre Waffe, und durchihren Kopf war es ihr möglich, anderenüberlegen zu sein.

Nun, seit einiger Zeit, fehlen ihrem Kopfmanchmal die Ideen, er hat Schwierigkei-ten, Orte und Zeiten und Inhalte zuver-lässig aneinanderzubinden, es fällt ihm zunehmend schwer, immer und immerweiter zu arbeiten, wie ein Motor, der im-

mer lief, aber alt wird irgendwann, derdann stockt und spuckt, der bei Regennicht gleich anspringt.

Lina Haag unterhält sich lieber am Mor-gen als am Abend. Am Morgen ist ihr Kopfnoch verlässlich. Da ist er noch erholt vonder Nacht.

Ab 60 sehen die Menschen schlechter,sagen Wissenschaftler, ab 70 Jahren hörensie schlechter, ab 80 verlieren sie nach undnach den Rest ihrer Sinne. Was alten Men-schen bleibt von der prächtigen Krone ausNervenzellen und Verbindungen in ihremKopf, ist ein lichtes Geäst.

Und trotzdem können sie noch immerviel. Sie sind voller Wissen darüber, wie

sich das Denken verändert, das Fühlen, dieErinnerung, der Schmerz.

Hundertjährige sind die Alterselite, siehaben Seuchen, Krankheiten, persönli-che Krisen, ein kriegerisches 20. Jahrhun-dert überstanden. Ob sie genetisch beson-ders stark sind, ob sie besonders anpas-sungsfähig sind oder welche Faktoren ihrlanges Leben bestimmt haben könnten, beschäftigt Wissenschaftler, weil darin dieAntworten liegen für die Zukunft des Alterns.

Lina Haag ist nicht nur Zeitzeugin, son-dern auch Vorbotin für das, was immermehr Menschen erleben werden.

10000 Menschen leben heute schon inDeutschland, die 100 Jahre alt sind und äl-ter. In den siebziger Jahren waren es rund300; inzwischen ist es so, dass einige Bür-germeister nicht mehr zu den Hundert-jährigen nach Hause kommen, um ihnenzu gratulieren, sondern nur noch zu den105-Jährigen. Die älteste Frau der Welt,eine Französin, wurde 122 Jahre alt. Siehat jeden Tag eine Zigarette geraucht, bissie 119 war, hat immer viel Schokolade gegessen und starb 1997.

Die Menschen leben nicht nur länger,sondern bleiben auch länger gesund. Vor100 Jahren, als Lina Haag geboren wurde,wurden die Menschen im Durchschnittnicht älter als 50, sie starben schon alsBaby oder an Infektionen, an Hunger, imKrieg. Mittlerweile sind die meisten Men-schen in den Industriestaaten gut versorgt,medizinisch vor allem; mittlerweile wirdjedes zweite Mädchen aus einer Kinder-gartengruppe 100 Jahre alt werden, jederzweite Junge 95.

Hundertjährige sind keine Sensationmehr. „100 wird bald jeder“, schreibt dieMax-Planck-Gesellschaft.

Florian Holsboer, Direktor des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in Mün-chen, sagt lange schon, dass man die Ent-stehung alterstypischer Erkrankungen wieDemenz oder chronische Depression drin-gend erforschen müsse, damit die Lebens-jahre, die eine älter werdende Gesellschafthinzugewinnt, gute Jahre sind. Nur habedas lange niemanden interessiert.

Der Wissenschaftler sagt, Lina Haag seiein gutes Beispiel, weil sie so beispielhaftgealtert sei. Sie passe sich dem Alter an.Die Herausforderung, sagt Holsboer, liegedarin, mit weniger Mitteln das Gleiche zuerreichen.

Mittlerweile schaffen es Holsboer undandere Alternsforscher aus den Spalten derFachliteratur in die Illustrierten.

Es verändert sich etwas in der Gesell-schaft, wenn ein wachsender Anteil derMenschen zu den Alten zählt; sie muss ihreBalance finden und ihren Umgang mit Al-ter neu definieren. Sie kann Alter als Be-reicherung empfinden oder als Belastung.

Als Bereicherung, wie zu den Zeiten, alsWissen nicht allseits verfügbar war und Alteals Datenbanken dienten, die anderen ihrWissen weitergaben. Man brauchte sie dafür.

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A L T E R N

Der Jahrhundertmensch10000 über Hundertjährige gibt es in Deutschland, vor 30 Jahren waren es rund 300. Lina Haag

und Hanna Merke gehören zu den Pionieren einer Zukunft, in der immer mehr Menschen ein Drittel ihres Lebens als Senioren verbringen – lohnt sich das? Von Barbara Hardinghaus

Menschliches GehirnPerfektes Organ, um das Alter zu bremsen

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Und als Belastung, weil alte Leute ver-sorgt werden müssen und weil im Schick-sal eines jeden alten Menschen das eigeneSchicksal gespiegelt ist. Jetzt, da es immermehr alte Menschen gibt, da hohes Altersichtbar wird, lässt es sich nicht mehr ver-drängen. Also wird nach Chancen gesucht,und die Wissenschaft hilft.

Alter bedeutet nicht mehr nur Gebre-chen, Armut und Einsamkeit; ein 90-Jäh-riger, sagen Forscher, fühle sich heute zehn Jahre jünger als der 90-Jährige vor 30 Jahren.

Als das Berliner Hotel Adlon 100 Hun-dertjährige zum 100. Geburtstag des Hotels einlud, sei sie als Einzige ohne Stock ge-kommen, sagt Hanna Merke.

Sie trug einen hellen Hosenanzug. IhreLippen waren geschminkt. Ihre Haare, diekinnlang sind und kastanienbraun, die aus-sehen wie eine Perücke und über die sienicht sprechen möchte, waren ordentlichüber ihre schmalen Wangen gelegt. Sie posierte, lächelte für die Fotografen. Eswar wie früher, als sie auf der Bühne standals Tänzerin.

Sie ist am 12. Oktober 100 Jahre alt ge-worden. Ihr Sohn, der Ingenieur wurdeund heute Rentner ist, wollte diesen Tagfeiern und hatte einen Saal gemietet. Han-na Merke wäre viel lieber an die Ostsee gefahren, in ein elegantes Seebad.

Hanna Merke spricht schnell und lachthoch und sagt, dass ausgerechnet sie so altwerden würde, hätte sie niemals gedacht.

„Meine Mutter wurde nur 73 Jahre alt,mein Vater nur 85.“ Jemand wie HannaMerke, die sich erst alt fühlt, seit sie 98 ist, findet es natürlich früh, wenn jemandmit 85 stirbt.

In Umfragen antworten die meistenMenschen, dass sie finden, jemand sei alt,sobald er 60 ist. Hanna Merke hält das fürQuatsch. Mit 60 Jahren, sagt sie, habe siesich erst gefühlt wie mit 40.

Sie dachte nur immer, sie bekommeKrebs. Sie dachte das jedes Mal, wenn ihretwas weh tat. „Aber vielleicht kommt derKrebs noch“, sagt sie, und: „dass dieseAngst aber auch nie aufhört!“

Und so sitzt sie an ihrem Schreibtischund wartet auf den Krebs.

Aber mindestens einmal am Tag geht siehinaus, entweder in das Café an der Ecke,in den Supermarkt, zu Kaisers, oder zumBriefkasten. Jeden Donnerstag nimmt sieihre Klaviernoten und fährt mit der S-Bahn zur Orchesterprobe. Da spielt sieBach und Beethoven und Tanzmusik. Datrifft sie auf 70-Jährige, die schon faul ge-worden seien, sagt sie, weil sie denken, ab60 sei der Mensch alt, es gehe zu Ende.

Wie man altert, hängt auch damit zu-sammen, wie man mit seiner Vergangen-heit lebt. Die Geschichten von Hanna Mer-ke und Lina Haag sind die Geschichtenvon Menschen, die in die erste Schulklas-se gingen, als der Erste Weltkrieg ausbrach,die Teenager waren während der Weima-

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Tänzerin Merke (um 1930), Hundertjährige Merke: Jeden Tag Übungen an der Stange

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rer Zeit und Mütter während des ZweitenWeltkriegs, die nach dem Krieg, in denfünfziger Jahren, auf ihre Männer wartetenund schon zu den Senioren gehörten, alsdie 68er vor ihren Fenstern durch die Stra-ßen zogen.

Wenn Hanna Merke zurückblickt, siehtsie sich tanzen; im Jahr 1940 sieht sie sichan der Deutschen Oper in Duisburg alsBallerina.

Wenn Lina Haag zurückblickt, sieht siesich kämpfen; im Jahr 1940 sieht sie sichimmer wieder in das Hauptquartier derGestapo gehen. Sie wusste, dass sie origi-neller sein musste als die anderen, die zuHimmler kamen und nur bettelten undweinten.

Jedes Mal füllte sie einen Zettel aus, siewolle den Reichsführer SS sprechen, bisdas Wunder passierte, dass ihr jemand half.

„Major Suchanek“, sagt Lina Haag mitihrer jetzt schon kratzigen, aber noch for-schen Stimme, „einer von Himmlers Adju-tanten“, sagt sie. „Suchanek“, wiederholtsie noch einmal. Er sagte, er wolle versu-chen, den Reichsführer für ihren Fall zu in-teressieren.

Kurz darauf stand Lina Haag in Himm-lers Büro und sprach über ihren Mann.

Ein paar Monate später, im Sommer1940, ließ Heinrich Himmler Alfred Haagaus dem KZ frei.

„Hier steht eigentlich alles drin“, sagtsie. Sie zieht jetzt ein Buch aus dem Regal,es heißt „Lina Haag. Eine Hand voll Staub.Widerstand einer Frau, 1933 bis 1945“, eserschien 1947 das erste Mal, es wurde inmehrere Sprachen übersetzt, Kinder lasenes in der Schule.

Sehen Sie noch manchmal in das Buch?„Manchmal schaue ich hinein, um es

neu zu erleben.“Sind die Farben und Gerüche und Töne

noch da? Die Sätze, die Himmler sprach?

„Ja“, sagt sie, „aber ich kann gut damitumgehen.“

Lina Haag hat gelernt, mit dem umzu-gehen, was sie erlebte. In den ersten Jah-ren nach dem Krieg zuckte sie jedes Malzusammen, wenn sie einen Teppich aus rotem Kokos sah, einen, wie Himmler siehatte auf den Korridoren vor seinen Büros.

Und heute?„Heute ist es egal.“Ihr Gehirn hat es geschafft, das Bild vom

roten Teppich, das immer mit viel Schmerzund mit viel Angst verbunden gewesen ist, vom Schmerz zu lösen und von derAngst.

„Frau Haags Erfahrungen“, sagt Hols-boer, der Wissenschaftler, „sind nahezuein Musterbeispiel für die Plastizität desGehirns.“

Diese Plastizität ist der Grund, warumHolsboer nichts hält von formalen Alters-grenzen. Er sagt, wenn alle künftig älterwürden, und das immer gesünder, könnees sich der Staat nicht mehr lange leisten,seine Leute mit 67 Jahren zum Blumen-gießen in den Garten zu schicken.

Holsboer hat eine Formel für erfolgrei-ches Altern entwickelt, aus „Biomarkern“,wie er sagt. Das sind Kombinationen aus Laborwerten, die anzeigen, wozu einMensch im Alter noch in der Lage ist undwovor er sich schützen sollte. Er sagt:Nicht allein die Gene bestimmen, wie altjeder wird, sondern auch, wie er lebt.

Das Gehirn schafft etwas, wozu nur dasGehirn in der Lage ist, etwas, was die Hautnicht kann, weil sie runzelt, oder die Kno-chen nicht, weil sie porös werden. Das Gehirn kann das Altern aufhalten.

Es besitzt eine Art Reservemotor, deranspringt, sobald die Hauptmaschine imKopf schwächer wird. Der Reservemotorist in der Lage, die Verluste zu kompen-sieren, die entstehen, wenn sich die Ner-venzellen weiter zusammenziehen wie einzu heiß gewaschenes T-Shirt und die Kreis-läufe langsamer werden; aber das schafft ernur, wenn das Gehirn fit gemacht wordenist für das hohe Alter. Wenn es über einenlängeren Zeitraum trainiert wurde.

Das ist wie bei der Rente. Es profitiertnur der, der vorher lange eingezahlt hat. Esnützt deshalb nichts, mit 90 anzufangen,sich auf ein Rad zu setzen oder in dieVolkshochschule.

Plastizität, das benennt die Kompen-sationsstrategien des Kopfes, um den Ver-lusten entgegenzuwirken. Plastizität istnichts Stoffliches, sondern etwas, dasfließt, ein Erregungszustand, der sich dar-aus ergibt, dass Nervenzellen, die überSynapsen verbunden sind, miteinanderkommunizieren.

Sie ist einer der Gründe, warum LinaHaag zwar alt ist, aber ihr Kopf noch im-mer gut funktioniert.

Deshalb, sagt Holsboer, seien die Bücherim Wohnzimmer von Lina Haag so wichtig.

„Schauen Sie“, sagt sie und sieht auf ei-nen der Stapel, „das sind alles Bücher, dieich geschenkt bekommen habe. Davon hatmich eigentlich kein einziges interessiert,aber ich habe sie alle gelesen, manche so-gar mehrere Male.“

Henning Mankell, der „Chronist derWinde“? Christa Wolf, „Nachdenken überChrista T.“?

„Das hat mir beides nichts gegeben.“Wolfgang Köppen, „Tauben im Gras“?„Das ist ganz blöd.“Manchmal greife sie noch zu alten

Büchern, sagt sie, die gäben ihr noch et-was.

Zum Beispiel?„Tucholsky. ‚Drei Minuten

Gehör‘.“Sie hat früh gelernt, wie wich-

tig es ist, ihren Kopf zu trainie-ren. Bevor sie bei Himmler um das Lebenihres Mannes kämpfte, hatte sie selbstmehrere Jahre in der Zelle gesessen, da-mals lernte sie Klopfzeichen und das Mor-sen. Im Frauen-KZ auf der Lichtenburg,auf der Elite-Station V, der Politischen,zeichnete sie als Häftling Nummer 719 Il-lustrationen aus Hendrik van Loons „DieGeschichte der Menschheit“ nach, um denVerstand nicht zu verlieren. Dass sie ihrenVerstand nicht verlor, hat ihr das Lebengerettet.

Heute hat ihr Kopf ihren Körper über-lebt, sie sitzt fast nur noch auf dem Sofa,liest, geht selten vor die Tür, alle zwei Wo-chen, wenn sie zum Friseur muss.

„Ich muss es akzeptieren.“Sie zuckt freundlich mit den Achseln.Dass sie lächelt und erkennt, was sie

kann und was nicht, sei wichtig, sagt der

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In der Zelle hat sie Morsen gelernt,um den Verstand nicht zu verlieren.

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Hundertjährige Haag: Der Kopf hat den Körper überlebt

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Wissenschaftler Holsboer, vielleicht dasWichtigste. Jemand, der 85 Jahre alt ist,weiß, dass er andere überlebt hat. Das lässt ihn vieles ertragen.

Lina Haag und Hanna Merke gehörenzu den letzten fünf Prozent ihres Jahr-gangs.

Beide waren selten krank in ihrem Le-ben. Beide sind sie neugierig, beide sehengern Politiksendungen im Fernsehen, bei-de finden den Klimawandel beängstigend,beide trinken, während sie reden, einenSchluck Rotwein.

Sie wohnen zu Hause. Hanna Merkewohnt allein in vier großen Altbau-zimmern, manchmal besucht ihr Sohn sieoder ihre Tochter, die Apothekerin ist. LinaHaag wohnt zusammen mit ihrer Tochter,die 80 ist, die für sie mittags kocht.

Dass die meisten ihrer Freunde sterben,sagt Hanna Merke, das störe sie daran, altzu sein. Und dass Ärzte anfangen, sie nichtmehr ernst zu nehmen, wenn sie zu ihnenkommt und sagt, sie habe Rückenschmer-zen. Nun gehe sie zu keinen Ärzten mehr.

„Als ich in die erste Klasse gekommenwar, bekam ich schon Quäker-Speisung“,sagt sie.

Quäker-Speisung?„Ach, das kennen Sie gar nicht“, sagt sie

und lacht hoch wie ein Mäuschen in einemZeichentrickfilm, „Haferschleim“, sagt sie,„mir war so elend als Kind, ich war magerwie ein Fädchen.“

An was erinnern Sie sich noch?

„Dass meine Mutter mit uns nach Ge-sundbrunnen zog.“

Und sonst?Sonst nichts.Hanna Merke lächelt, so als würde

sie selbst mehr wissen wollen über ihreKindheit.

Sie erinnert sich erst wieder an die Zeitab 13.

„Kaum war ich im Turnverein, ging esmir gut. Ich bewegte mich so wahnsinniggern.“

Nach der Schule lernte sie trotzdem ersteinmal im Büro, danach lernte sie das Tan-zen, Ballett, und wurde eines von zwölf

„Hiller-Girls“, sie fuhr als „Reisendes Bal-lett“ vier Jahre lang durch Europa.

Kurz bevor der Krieg begann, schafftesie es ans Theater in Duisburg, wo sie ihrenMann traf, den ersten, der aber schon baldgeschäftlich nach Holland musste.

„Ich war auf der Bühne eine Wildsau im‚Freischütz‘ oder der Gottfried in ‚Lohen-grin‘“, sagt Hanna Merke. Sie macht denGottfried jetzt vor, tanzt, dann singt sie,„da-di-da-di-da-damm“. Sie sagt, dass sichdas am längsten in ihrem Kopf einpräge,was ihr am meisten nahegegangen sei.

Das ist wie bei Darwin. Das, was amstärksten ist, überlebt.

Wenn das Gehirn älter wird, nur nochdas lichte Geäst bleibt, hat es immer mehrMühe, die Bilder, die eingehen, an derrichtigen Stelle abzulegen. Es gibt neueBilder, die eingehen, es gibt alte Bilder, diesich mit jedem neuen Eindruck, mit jedemneuen Satz, der gesprochen wird, auch er-neuern und auch irgendwo liegen und ab-gespeichert werden müssen. Und weil dasviel Arbeit ist und ein ständiger Prozess,trennt das Gehirn sich vom Unwichtigen.

Der alte Mensch selektiert.Der alte Mensch optimiert auch. Des-

wegen spricht Lina Haag erst, wenn siesicher sitzt.

Der alte Mensch kompensiertden Verlust. Deshalb trägt HannaMerke mehrere Schichten über-einander, trägt unter ihrer Blusenoch einen dicken Pullover und ei-

nen Push-up-BH, wenn sie das Haus ver-lässt. Sie will kräftiger wirken, nicht sodünn. Sie trickst.

Auch das Gehirn trickst, es kompensiert,optimiert, selektiert, zum Beispiel so, dassam Ende nur die schönen und die schreck-lichen Erinnerungen bleiben.

„Es war wunderbar damals! Auf derBühne waren wir Menschen“, sagt HannaMerke.

Draußen war Krieg.Als der Krieg heftiger wurde, musste das

Theater schließen. Sie suchte sich ein neu-es Theater, in Detmold, war Ballettmeis-terin und zog zwei Kinder groß. Und als

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Das alternde Gehirn trickst, es kompensiert, es optimiert.

Wissenschaftler Holsboer, Hirnpräparate: Ein Reservemotor, der anspringt, sobald die Hauptmaschine spuckt

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ihr Mann nicht zurückkam aus Holland,ging sie nach Berlin, wo ihr Vater siebrauchte, wo ihr Jugendfreund 30 Jahrelang auf sie gewartet hatte, wo sie heira-tete, das zweite Mal.

Sie und ihr Mann, das war vor 50 Jah-ren, zogen zusammen in die Wohnung, inder Hanna Merke sitzt.

Nach dem Krieg arbeitete sie als Turn-lehrerin, bis sie 80 war.

In einem der Zimmer ist eine Turnleiterhinter die Tür geschraubt und ein riesigerSpiegel, wie es sie in Ballettsälen gibt.Wenn Hanna Merke am Morgen aufsteht,stellt sie sich an die Stange, streckt sich,hebt die Hand, den Kopf, die Fingerspitzen,geht langsam in die Knie, und am Abendmacht sie ihre Übungen noch einmal.

„Ich musste es jetzt erst wieder lernen“,sagt sie. Denn einen Monat vor ihrem 98.Geburtstag hatte sie sich einen Wirbel ge-brochen, einfach so, beim Umdrehen imBett. Das ist der Grund, warum sie sich altfühlt, seit sie 98 ist.

Sie fühlt sich alt, seit sie ihren Körperspürt, seit sie dauerhaft Schmerzen hatteund auch jetzt noch manchmal Schmerzenhat, seit sie nicht mehr tanzen kann. Bisdahin hat sie gedacht, dass das Leben im-mer so weitergeht.

Dann aber musste sie das Laufen sogarneu lernen, ihr Sohn musste einkaufen fürsie, und das, sagt Hanna Merke, sei die

Zeit gewesen, in der sie zum ersten Mal inihrem Leben daran gedacht hatte, dass esihr nun reiche.

Das Sehen und das Hören, das Gleich-gewicht zu halten kostet den Kopf vielEnergie. Aber auch das Denken und Füh-len und Erinnern kostet viel Energie.

Hanna Merke hat sich, mit 98 Jahren,wieder aufgestellt, jeden Morgen an dieStange. Inzwischen geht sie wieder selbsteinkaufen und beweist, dass körperlichesTraining nicht nur für die Organe hilfreichist, wie die Wissenschaft lange angenom-men hatte und jetzt weiß: Regelmäßiges

Training bis ins hohe Alter hilft, die Koor-dination des Körpers zu verbessern, damitder Geist entlastet ist und für andere Auf-gaben genutzt werden kann.

Aber auch Schlaf hilft, weil sich das Ge-hirn im Schlaf regeneriert, besonders imTiefschlaf.

Seit Hanna Merke wieder besser läuft,schläft sie besser und denkt besser, siekann wieder Fragen beantworten.

Kann man sich mit 100 Jahren noch ändern?

„Ich versuche, großzügiger zu sein, net-ter, und das Interessante ist, dass ich das

jetzt, im hohen Alter, das erste Mal kann.Man wird gelassener, und das ist sehrschön.“

Gibt es andere Vorteile, die das Alterhat?

„Ich kann aufstehen, wann ich will. Ichkann essen, was ich will, denn am liebstenesse ich schöne Wurst und gutgewürztenKäse, ich kann mir im Fernsehen ansehen,was ich möchte, ich habe Kabelfernsehen.Und ich spiele nachts Klavier, sehe fern odersitze hier und schreibe einen Weihnachts-brief auf meiner Schreibmaschine.“

Haben Sie keinen Computer?„Nein. Meinen Sie, ich soll-

te mir einen anschaffen? Ich wollte auch ins Internet ge-hen, aber ich habe den Ein-druck, dass man vom Internet

nicht mehr so viel hat, wenn man alt ist wie ich.“

Lina Haag sagt das auch; und dass siesich schon an das Radio gewöhnt habe, anden Fernseher und an die Waschmaschine,das reiche ihr.

Ab Anfang 70 beginnt der Rückzug zusich selbst, die Abkehr vom Konsum.

Lina Haag fragt, ob sie ihre Botschafteigentlich schon gesagt habe, die mit denFrauen und dem Pazifismus.

Nein.„Die Frauen müssen den Pazifismus

aufrechterhalten“, sagt Lina Haag, „das

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Jedes zweite Mädchen aus einer Kindergartengruppe wird 100 werden.

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ist mein Glaube, und der hält ein Le-ben lang.“

Sie lächelt, fast erleichtert, als habe sienach vielen Stunden Gespräch nun end-lich das gesagt, was das Wichtigste ist für sie.

Es ist der Grund, warum sie so ausdau-ernd vom Krieg erzählt. Sie erzählt nurwenig aus den Jahren nach dem Krieg, alssie Masseurin war und ihr Mann Ver-waltungsangestellter, fast so, als hätte esdiese Jahre für sie nicht gegeben, fast so,als hätte ihr Leben in ihrer Erinnerungeigentlich nur zehn Jahre gedauert.

„Wir haben das Reihenhaus gekauft, undich habe wieder geschaut, dass wir eineFamilie sind, Fred, Kätle, die Kosmetikerinwurde, und ich. 1982 starb Fred.“

Sie weiß kaum noch, was vergangeneWoche war, aber was 1939 im KZ Lich-tenburg gewesen ist, das kann sie er-zählen mit der Präzision eines Drehbuch-autors.

Sie erzählt dann wieder vom Krieg, vomKZ Lichtenburg, wie sie sich, in gewisserWeise, selbst befreite.

Irgendwann, nach einem Jahr in Gefan-genschaft, war Lina Haag zu Schreibarbei-

ten in die Kommandantur gerufen worden,nach ein paar Tagen traf sie den Lager-kommandanten.

Name?, fragte er.Haag.Seit wann hier?Seit zwölf Monaten.Warum?Politisch.Führung?Ohne Beanstandung.So, sagte er und blickte sie prüfend an,

drehte sich um mit den Worten: Kann viel-leicht entlassen werden.

Lina Haag wusste sofort, dass dieserSatz ihre große, vielleicht einzige Chancesein könnte.

Sie war froh über die Bücher, die Bibel,Loons Illustrationen, sie überlegte schnell,sie müsse den Kommandanten in seinerEitelkeit treffen, dachte sie.

Kann vielleicht entlassen werden.Das wird leider nicht gehen, sagte sie.Wieso?Weil meine Heimat-Gestapo in Stuttgart

ist. Und die ist die höhere Instanz.Die Stuttgarter? Die höhere Instanz?Ein paar Wochen später war Lina Haag

frei. Sie fuhr nach Berlin, zu Himmler, umihren Mann zu befreien.

Hatten Sie keine Angst?„Natürlich hatte ich Angst! Ich wusste,

dass das Wahnsinn war. Aber ich musste es

Hauptstadt Berlin (um 1907): Die meisten Menschen wurden nicht älter als 50

AKG

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tun, aus Überzeugung und weil ich meinenMann so liebte.“

Wie verändert sich der Schmerz?„Er vergeht“, sagt sie.„Einiges bleibt.“Wie verändert sich das Denken?„Man überlegt mehr, was man tut. Jetzt

zum Beispiel, im hohen Alter, hat mannicht mehr den Mut zu sagen, ja, da-für muss ich kämpfen. Ich sehe mir al-les an, aber es interessiert mich nicht mehr wie früher, als ich ein junger Mensch war.“

Wie verändert sich das Fühlen? Fühltman als alter Mensch so stark wie als jun-ger Mensch?

„Ja. Oh ja“, sagt sie, „aber die Dinge,über die ich mich freue, verändern sich.Ich freue mich heute darüber, wenn dieSonne scheint, wenn es ein guter Tag istund ich in den Garten kann, wenn ich gutgeschlafen habe.“

Wenn ihre Urenkelin zu Besuch kommt,die viel fragt und erzählt, dass sie Haken-kreuze von Straßen putzt und Rockfesti-vals organisiert gegen rechts.

Wie wichtig ist Geld?„Das, was wir verdient haben, ist immer

gleich draufgegangen. Geld war nie wichtig.Es macht nicht glücklich.“

Was ist das Wichtigste?„Dass man einen Kameraden hat, man

nicht alleine ist.“Hanna Merke sagt es genauso, aber an-

ders. „Jemanden zu haben, der einem zu-

hört. Dass man einen Kaffeeklatsch habenkann.“

Früher ging Hanna Merke oft insSchwimmbad, aber das macht sie seit zehn Jahren nicht mehr.

„Ich traue mich nicht mehr“, sagt sie.Warum?„Ich fühle mich zu hässlich heute. Seit-

dem ich 99 bin, nehme ich nicht mehr zu.Ich bin zu wenig. Ich habe keine Figur mehr.Es sind nur noch Haut und Knochen.“

Die Eitelkeit bleibt?„Ja.“Was ist mit Männern?„Das wäre nur interessant, wenn ich et-

was von einem Mann lernen könnte, wenner mich neugierig machen würde, wenn erProfessor wäre und mich wahnsinnig lie-

ben würde. Und wenn er mich nicht fragenwürde, wann es Mittagessen gibt.“

Hanna Merke sagt, sie würde gern 110werden, jetzt, wo sie wieder laufen könne.

Alternsforscher beobachten, dass beiden ganz Alten das Risiko, den nächstenGeburtstag nicht zu erleben, langsamersteigt als bei denen, die jünger sind als 85.Wie alt Menschen werden können, darüberstreiten die Forscher sich, die einen sagen,bei 130 sei Schluss, die anderen, erst bei180 Jahren.

Warum der eine Mensch älter wird alsder andere, darüber wissen sie mehr. Zu ei-nem Drittel bestimmen die Gene die Le-bensdauer, zu einem Drittel, wie dieSchwangerschaft der Mutter verlaufen ist,und zu einem Drittel, wie das Leben sichentwickelt.

Dabei sei besonders wichtig, sagt derWissenschaftler Holsboer, wie der Menschseine letzten Jahrzehnte noch gestaltenkönne, als Senior.

Wünscht man sich mit 100 noch etwas,Frau Merke?

„Ja, einen Whirlpool.“Hofft man mit 100 noch auf etwas?„Dass alles friedlich bleibt.“Lina Haag hofft auf einen guten Witz

und darauf, dass die Sonne scheint.Kündigt sich der Tod an, Frau

Haag?„Manchmal klopft das Herz

schneller. Dann nehme ich einenSchluck Schnaps, und es ist vorbei.“

Es wird still im Wohnzimmer von LinaHaag, in dem die Regale vollstehen mitihren Büchern, einige liegen auf Stapeln,andere sind nach Autoren sortiert inKartons.

Lina Haag beginnt, ihre Bücher zu ver-schenken. Es sieht nach Auszug aus.

Hanna Merke denkt darüber nach, obNordic Walking nicht etwas für sie sei, siewill demnächst einen Tanzkursus belegen,sie will wissen, ob sie sich noch drehenkann. ™

Gesellschaft

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Senioren-Studentin (an der Universität Hamburg): Es ist wie bei der Rente, im Alter profitiert nur, wer schon lange eingezahlt hat

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Sie hofft auf einen guten Witz unddarauf, dass die Sonne scheint.

Page 9: Spiegel.dossier Unsterblichkeit.-.Die Abschaffung Des Sterbens

Mit hängenden Schultern, müdenAugen und Schmerbauch hängtOwen in seinem Quartier. Nur

wenn er eine Banane sieht, erhebt er sichschwerfällig und streckt seine zittrige Handaus. Aber seine Hinfälligkeit ist verständ-lich: Owen ist ja schon 26 Jahre alt.

Nicht weniger betagt allerdings ist Can-to im Käfig nebenan – aber viel besser imStrumpf: Das schlanke Tier putzt sein Fellund begrüßt Besucher mit gehörigem Tu-mult. Voller Elan schnappt es sich seinetägliche Portion Obst.

Owen und Canto sind Rhesusaffen undbeide Teilnehmer eines einzigartigen Ex-periments. Es hat vor Jahren begonnen undliefert jetzt aufschlussreiche Antworten auf

eine uralte Frage: Was muss man tun, umein langes, gesundes Leben zu leben?

Um das herauszufinden, haben im Jahr1989 Forscher des Wisconsin National Pri-mate Research Center im amerikanischenMadison 30 damals zehnjährige Rhesus-affen in einen fensterlosen Raum gesperrt.15 der Tiere durften fortan so viel futtern,wie sie wollten. Die 15 anderen musstensich mit 30 Prozent weniger Kalorien be-gnügen. Für eine ausreichende Versorgungmit Mineralien und Vitaminen war in bei-den Gruppen gesorgt.

Abgesehen davon, dass Owen und dieanderen Schlemmer-Affen bald Bäuche an-setzten, zeigten sich jahrelang keine Ab-weichungen zwischen den Gruppen.

Doch nun erreichen die Tiere die durch-schnittliche Lebenserwartung der Rhesus-affen – und auf einmal werden allerleiUnterschiede augenfällig: Die Affen, dietüchtig reinhauen durften, haben nicht nur 70 Prozent mehr Fett am Leib. Ihr Fell wird auch früher struppig, sie verlie-ren mehr Haare und haben ein faltigeresGesicht.

Das sei jedoch noch nicht alles, erklärtder Wissenschaftler Richard Weindruch,56, der das Experiment leitet: „Wir be-ginnen jetzt, einen echten Überlebens-vorteil der fastenden Tiere zu sehen.“ Nur 5 der 15 Hungerleider sind bisher ge-storben: also genau ein Drittel. Von den15 Vielfraßen indes hat es schon 8 Exem-

M E D I Z I N

Heilkraft des HungernsStändiges Fasten hält gesund und verlängert das Leben um bis zu 50 Prozent – das scheinen Experimente mit Spinnen, Fischen, Mäusen und Affen zu zeigen. Nun testen Forscher eine

Pille, die den Effekt ganz ohne Hungerkur simuliert. Lassen sich so die Krankheiten des Alters besiegen?

Teilnehmerinnen eines Fitness-Trainings: Uralter Menschheitstraum von der ewigen JugendGETTY IMAGES

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Page 10: Spiegel.dossier Unsterblichkeit.-.Die Abschaffung Des Sterbens

plare dahingerafft und damit mehr als dieHälfte.

Fasten verlängert das Leben – das habenForscher zuvor schon an Hefezellen, Spin-nen, Fliegen, Fischen, Mäusen und Rattengesehen. Sie nennen diese Diät „kalori-sche Restriktion“ und haben es auf einegrobe Formel gebracht: Wer 30 bis 50 Pro-zent weniger frisst, der lebt 30 bis 50 Pro-zent länger. Und wichtiger noch: Krank-heiten wie Diabetes Typ 2, Krebs, Schlag-anfall und Demenz treten unter fastendenTieren viel seltener oder später auf – dasAltwerden geschieht häufig bei besterGesundheit.

Die kalorische Restriktion schaltet of-fenbar einen uralten Überlebensmechanis-mus an; betroffene Organismen lassen esruhiger angehen. Die Körpertemperaturvon Rhesusaffen etwa sinkt um 0,5 GradCelsius; die verbleibenden Kräfte werdendarauf verwendet, Schäden in den Zellenzu reparieren.

Noch fehlen beim Menschen zwar Be-weise für die Heilkraft des Hungerns. Je-doch deuten nicht nur die Affenversuchein Wisconsin darauf hin, auch eine neueUntersuchung legt eine Wirkung der ka-lorischen Restriktion zumindest nahe.Wissenschaftler der Louisiana State Uni-versity setzten 24 Menschen auf Diät: Siedurften nur 75 bis 88 Prozent der Kalorien-menge zu sich nehmen, die sie brauchen,um ihr Gewicht zu halten.

Nach sechs Monaten wurden die Hun-gerkünstler untersucht: Sie hatten günsti-gere Insulinwerte und weniger Schäden imErbgut.

Eine andere Studie wiederum offenbar-te, dass auch schädliche Blutfette vermin-dert werden. „Es erscheint mir deshalbsehr wahrscheinlich“, sagt Weindruch,„dass eine kalorische Restriktion Herz-Kreislauf-Erkrankungen vorbeugt.“

Weltweit schieben zwar bereits Tausen-de Menschen in der Hoffnung auf ein lan-ges Leben Kohldampf, aber als Kur für dieMassen taugt dieser freudlose Verzichtnicht. „Es würde im Grunde bedeuten:Man darf nur noch jeden zweiten Tagessen“, sagt Lenny Guarente, 54, Alterns-

forscher vom Massachusetts Institute ofTechnology (MIT).

Doch jetzt glauben Guarente und ande-re Forscher einen Weg gefunden zu haben,wie sich die Vorteile des Fastens erlangenlassen, ohne dafür leiden zu müssen: Siesind einer Pille auf der Spur, welche die Ef-fekte der kalorischen Restriktion simuliert.

David Sinclair von der Harvard MedicalSchool in Boston meint sie sogar schon ge-funden zu haben. Der 37-jährige Moleku-larbiologe hat in den vergangenen Jahreneine Substanz namens Resveratrol an Fa-denwürmer, Hefezellen, Fliegen und Mäu-se verfüttert. „In jedem bisher getestetenOrganismus hat sie das Leben verlängert.“

Auch scheine die Substanz generell dieGesundheit zu stärken, berichten Sinclairund seine Kollegen in der Fachzeitschrift„Nature“. In der Studie setzten sie Labor-mäusen eine mörderische Diät vor: 60 Pro-zent der Kalorien stammten aus Fett. Nacheinigen Monaten hatten die Mäuse eineFettleber, Anzeichen von Diabetes Typ 2und starben in größerer Zahl – sie hattensich regelrecht zu Tode gefressen.

Anders erging es Tieren in einer Ver-gleichsgruppe: Diese Mäuse wurden ge-

nauso gemästet, bekamen aber mit demFutter hohe Dosen an Resveratrol (jedenTag 22 Milligramm pro Kilogramm Kör-pergewicht). Zwar wurden auch diese Tie-re fett, ihre Blutzuckerwerte und ihre Le-ber jedoch blieben normal, und ihreLebenserwartung war nicht beeinträchtigt– Völlerei ohne Reue.

Dass Resveratrol anscheinend auch daskörperliche Leistungsvermögen erhöht, ha-ben vor kurzem französische Forscher imFachmagazin „Cell“ vermeldet. Eine nor-male Labormaus schafft auf einem Lauf-band ungefähr einen Kilometer, ehe sie er-schöpft zusammenbricht. Doch Exemplare,die im Futter Resveratrol bekamen, rann-ten doppelt so weit. Überdies war ihreHerzfrequenz erniedrigt, und in ihrenMuskelzellen hatten sie eine erhöhte Zahlvon Mitochondrien, jenen Strukturen, dieden Zellen Energie zur Verfügung stellen.

„Resveratrol lässt einen aussehen wieein trainierter Athlet – nur dass man garnicht trainiert hat“, sagt der federführendeForscher Johan Auwerx vom Institut deGénétique et de Biologie Moléculaire etCellulaire im elsässischen Illkirch. DieseVeränderungen haben die Wissenschaftlerallerdings mit extrem hohen Dosen er-kauft. Mit bis zu 400 Milligramm Resve-ratrol pro Kilogramm Körpergewicht wur-den die Tiere jeden Tag gedopt.

Die Vorstellung, das Altwerden einesOrganismus mit einer simplen Pille ma-nipulieren zu können, wurde bisher alsQuacksalberei abgetan. Sollte sich nundoch der uralte Menschheitstraum von derewigen Jugend erfüllen?

Tatsächlich scheint Resveratrol auf einenwichtigen Regelkreis zu wirken. Diese Sub-stanz sei „das erste Beispiel für einenWirkstoff, der offenbar den gesamten Al-terungsprozess beeinflussen kann“, sagt

Wissenschaft

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Versuchsaffen Canto, OwenStruppiges Fell, faltiges Gesicht

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Das Enzym Sirtuin wirddurch Kalorienmangelim Körper aktiviert.

SirtuinHungerstress

Um das Enzym auch ohneFasten zu aktivieren, sollenStoffe wie etwa die Pflanzen-substanz Resveratrolverabreicht werden.

Langsamer altern?

Gabe einesWirkstoffs

VermuteteWirkung vonSirtuin

Resveratrol-Modell

Vermeidung von Erbgutfehlern

verbesserte Reparatur von Körperzellen

Stärkung der Abwehrkraft

höhere Vitalität von Körperzellen

höhere Lebenserwartung als Langzeiteffekt

Page 11: Spiegel.dossier Unsterblichkeit.-.Die Abschaffung Des Sterbens

Felipe Sierra vom National Institute onAging im amerikanischen Bethesda.

Die Grundlage dafür wurde Anfang derneunziger Jahre in Guarentes Labor amMIT geschaffen. Dort studierten die For-scher Hefezellen, die besonders lange leb-ten: aufgrund einer genetischen Verände-rung, wie sich herausstellte.

Der Australier Sinclair stieß 1995 zuGuarentes Forschungsgruppe und ent-deckte alsbald, was dieses ominöse Genmacht: Es stellt ein Enzym her, welchesdas Erbgut schützt und auf diese Weise dieHefezellen länger leben lässt. Guarentewiederum erkannte, dass dieses Enzym

direkt an den Stoffwechsel gekoppelt ist: InZeiten von Nahrungsmangel schaltet derOrganismus das Schutz-Enzym an – undlebt dadurch länger.

Lange hatten Forscher die kalorische Re-striktion für einen rein passiven Prozessgehalten: Während einer Hungerszeit fah-ren Organismen ihren Umsatz herunterund produzieren weniger schädliche Ab-fallprodukte. Nun aber behaupteten Gua-rente und Sinclair, die kalorische Restrik-tion sei eine aktive Antwort auf die Um-welt, eine Stressreaktion: Ein bestimmtesEnzym wird angeschaltet, wenn es keineNahrung gibt.

Das Enzym, auf den Namen „Sirtuin“getauft, findet sich nicht nur in Hefezellen,sondern auch in einer Vielzahl höherer Or-ganismen – offenbar gehören die Sirtuinezur Grundausstattung des Lebens. BeiSäugetieren wurden sogar sieben ver-schiedene Sorten des Enzyms entdeckt.Sie werden nach einigen Stunden ohneMahlzeit angeschaltet und aktivieren ih-rerseits bestimmte Proteine: Eine noch we-nig verstandene Kaskade von Aktionen er-

höht daraufhin Widerstandskraft und Vi-talität der Zelle.

Der nächste Schritt war damit klar: dieSuche nach einem Wirkstoff, der die Sir-tuine gezielt anschaltet. Vor drei Jahrenwurde Sinclair, der zwischenzeitlich vomMIT nach Harvard gewechselt war, fün-dig. Sein Team entdeckte 19 verschiedenepflanzliche Moleküle, welche das Sirtuin inHefezellen aktivieren – unter ihnen auchResveratrol, das in Erdnüssen, aber auchim Rotwein zu finden ist.

Dass diese pflanzlichen Moleküle allemAnschein nach die Lebenserwartung unddas Wohlbefinden von Tieren beeinflus-

sen, ist für Sinclair mehr als bloß Zufall. Ervermutet, dass diese Substanzen auch inPflanzen eine Stressreaktion auslösen: Beizu viel Sonne etwa oder bei Pilzbefall stel-le die Pflanze sie her, um die pflanzen-eigenen Sirtuine zu aktivieren.

Nach eigener Auskunft bekommt Sin-clair jede Woche einen Job angeboten, undzwei hat er schon. Er ist nicht nur Har-vard-Professor, sondern auch Mitgründerder Firma Sirtris Pharmaceuticals, die einpaar Kilometer nördlich von Sinclairs La-bor liegt. 40 Mitarbeiter fahnden hier nachSubstanzen, die noch besser sind als Res-veratrol. Das Unternehmen hat bereits 82 Millionen Dollar Startkapital gesammeltund zählt den Medizin-NobelpreisträgerPhillip Sharp zu seinen Beratern.

Zu Sinclairs Ehrgeiz passt es, dass er dieErgebnisse seiner eigenen Forschung nichtabwarten will. Schon heute nimmt er jedenTag mehrere Resveratrol-Kapseln, die esals Nahrungsergänzungsmittel zu kaufengibt. Amüsiert schaut er seinen Besucheran, während er eine der Pillen mit demKaffee schluckt: „Wenn ich in 100 Jahren

noch hier bin“, sagt er, „werden wir wis-sen, dass es gewirkt hat.“

Den Pillenkonsum des Harvard-Biolo-gen halten einige seiner Kollegen für wenigseriös. Mit Besorgnis haben sie verfolgt,wie rasant der Resveratrol-Umsatz nachoben geschnellt ist, seit sie ihre Ergebnissein „Nature“ veröffentlicht haben. Wer dieSubstanz jeden Tag zu sich nehme, so war-nen sie, riskiere womöglich bedrohlicheNebenwirkungen. Überdies sei eine Wirk-samkeit beim Menschen noch gänzlichunbewiesen. „Die Präparate müssten docherst einmal in klinischen Studien getestetwerden“, urteilt Guarente, der sich einst-weilen durch Sport jung hält.

Auch Christoph Westphal, Medizinerund Chef der von Sinclair mitgegründetenFirma Sirtris Pharmaceuticals, reagiert mitUnverständnis: „Alle unsere Daten deutendarauf hin, dass man mit herkömmlichenResveratrol-Präparaten im menschlichenKörper keine wirksame Konzentration er-reicht.“ Das Unternehmen hat deshalb eineverbesserte Resveratrol-Version entwickeltund testet sie gegenwärtig an mehr als 80 Menschen, die unter Diabetes Typ 2 lei-den. Überdies haben die Mitarbeiter eineSubstanz entdeckt, die das Sirtuin-Enzym1000-mal leichter aktiviert als herkömm-liches Resveratrol. Sie soll im nächsten Jahrerstmals von menschlichen Probanden ge-schluckt werden.

Bei den geplanten Versuchen könnte allerdings auch herauskommen, dass dieFirma aufs falsche Pferd gesetzt hat. Denndie Zusammenhänge des Alterns erschei-nen verwickelter, je genauer die Forscherhinschauen. Die angebliche Zaubersub-stanz Resveratrol ist, was manche Phar-makologen einen „dreckigen“ Wirkstoffnennen: Sie aktiviert nicht nur die Sirtui-ne, sondern zugleich eine große Zahl vonProteinen und biochemischen Regelkrei-sen. „Wir haben noch keine Ahnung, wiedas komplette Bild aussieht“, sagt Geron-tologe Weindruch, der in Madison die hun-gernden Rhesusaffen studiert.

Ohnehin bezweifeln viele Experten, dassman etwas so Vielschichtiges wie das Al-tern mit einem einzigen Wirkstoff zu be-einflussen vermag. Körperzellen verfügenüber Mechanismen, mit denen sie die Wir-kung einer Pille kompensieren können,gibt Donald Ingram vom National Insti-tute on Aging zu bedenken. Zudem müss-ten vermutlich verschiedene Kreisläufegleichzeitig durch unterschiedliche Sub-stanzen beeinflusst werden.

Wem die Überlegungen der Pharma-kologen abschreckend erscheinen, der magim Rotwein Trost suchen – als Gesund-brunnen allerdings taugt der Rebensaft leider nicht. Ein Liter Rotwein enthält maximal 15 Milligramm der vermeint-lichen Zaubersubstanz Resveratrol. Werauf die in den Mäusen erfolgreiche Dosiskommen wollte, müsste jeden Tag mindes-tens 150 Flaschen leeren. Jörg Blech

Wissenschaft

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Alternsforscher Sinclair: „Wenn ich in 100 Jahren noch hier bin, hat es gewirkt“

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Page 12: Spiegel.dossier Unsterblichkeit.-.Die Abschaffung Des Sterbens

Ist bei Ihnen alles in Ordnung?“ „HabenSie etwas gesagt?“

Helge Güldenzophs Patienten sind alt,sehr alt, im Durchschnitt 84 Jahre. Er istder Leiter der Abteilung für Geriatrie. Ge-riatrie (von Griechisch „geron“ = Greis;„iatreia“ = Heilung), das ist „der Zweigder Medizin, der sich mit der Gesundheitim Alter sowie den präventiven, klini-schen, rehabilitativen und sozialen Aspek-ten von Krankheiten beim älteren Men-schen beschäftigt“. So beschreibt die Welt-gesundheitsorganisation die Aufgaben derAltersheilkunde.

Anders als die Gerontologie, die Al-ternsforschung – jene Wissenschaft, diesich mit der Erkundung der Alternsvor-gänge in allen ihren Aspekten befasst –

ist die Geriatrie eine spezielle medizini-sche Disziplin, wie etwa die Chirurgie. Siedarf jedoch nicht mit der Palliativmedizinverwechselt werden, die den Menschenim letzten Stadium einer unheilbarenKrankheit begleitet. Die Geriatrie willdem alten, vor allem auch dem sehr altenMenschen zu einem besseren Leben ver-helfen.

In Deutschland gibt es mehr als 300 sta-tionäre geriatrische Einrichtungen. Knappdie Hälfte sind spezielle Reha-Abteilungenfür Alte, andere, wie die drei Stationen im Bonner Malteser Krankenhaus, soge-nannte Akutgeriatrien.

Dort kommen alte Menschen hin, wennsie etwa nach einer Lungenentzündung,einem Oberschenkelhalsbruch, einer Blut-

42 SPIEGEL SPECIAL 8/2006

WANDEL

IM ALLTAG KLARKOMMENIn der Geriatrie, einer speziellen medizinischen Disziplin,

werden alte Patienten nach schweren Krankheiten oder Operationen wieder fit gemacht für ein möglichst selbständiges Leben.

Chefarzt Güldenzoph, Patientin: „Man braucht schon eine wahnsinnige Geduld“

Der Weg zur täglichen Mittagskonfe-renz ist eigentlich nicht weit fürHelge Güldenzoph, Chefarzt am

Bonner Malteser Krankenhaus. Doch eskann schon mal einige Minuten dauern,bis er die rund 75 Meter von seinem Bürozum Konferenzzimmer zurückgelegt hat.„Guten Tag, Herr Doktor!“, strahlt ihneine Patientin an, die an einem Tisch imStationsflur sitzt. Allerdings hat sie verges-sen, was sie ihn fragen wollte. „Wie geht esIhnen?“, sagt sie stattdessen schließlich.Güldenzoph lächelt. „Gut!“

Eine andere Frau, die sich auf einenGehwagen stützt, hält ihn am Kittel fest.„Haben Sie etwas gesagt, Herr Doktor?“„Nein. Ist denn bei Ihnen alles in Ord-nung?“ „Haben Sie etwas gesagt?“ „Nein.

Page 13: Spiegel.dossier Unsterblichkeit.-.Die Abschaffung Des Sterbens

vergiftung oder einer Operation nicht, wiejüngere Patienten, nach wenigen Tagenoder Wochen problemlos wieder auf dieBeine kommen, sondern dafür besondereUnterstützung brauchen.

„Der Chirurg macht Visite und sagtzum Patienten: ‚Mensch, die Blinddarm-narbe sieht doch prima aus. Na, dann mallos!‘“, erzählt Güldenzoph aus dem Kli-nikalltag. „Aber das kann bei alten Men-schen nicht gutgehen.“ Viel schneller alsbei Jüngeren mache sich bei ihnen zumBeispiel der Muskelabbau bemerkbar, derschon nach 24 Stunden Dauerliegen nacheiner OP einsetzt. „Vielen kann man dannnicht einfach sagen: ‚So, jetzt stehen Siemal auf!‘ Das muss man mit ihnen trai-nieren, und dazu haben die Pfleger aufeiner normalen chirurgischen Station oftschlicht keine Zeit.“

Zudem könne etwa die Narkose einezuvor latente Demenz offensichtlich wer-den lassen. Dann verwechselt der Patientplötzlich links mit rechts, weiß nicht mehr,wo er ist oder was mit ihm geschehen ist.Damit, erläutert Güldenzoph, sei danneine chirurgische Station in der Regelüberfordert.

Und was ist, wenn der operierte gebro-chene Knöchel zwar gut verheilt ist – aberdem Patienten der Rücken so weh tut,

dass er keine gängige Reha-Maßnahmemitmachen kann? „Das kann auf einernormalen Station nichts werden“, sagtGüldenzoph dazu.

Zunächst einmal ist es das Alter an sich,das einen Menschen anfällig macht fürKrankheiten – und das ursächlich dafürist, dass er sich auch nur mühselig wiederdavon erholt. „Die Filtrationsleistung derNieren zum Beispiel“, erklärt ElisabethSteinhagen-Thiessen, Geriatrieprofessorinan der Berliner Charité, „hat bei einem70-Jährigen im Vergleich zu einem 30-Jährigen durchschnittlich bereits um 30 Prozent abgenommen.“ Bei der soge-nannten Vitalkapazität der Lunge seienes rund 40 Prozent, bei der Muskelmasseetwa 20 Prozent und bei der Gehirn-durchblutung ungefähr 20 Prozent.

„Das alles ist zwar an sich keine Krank-heit“, so Steinhagen-Thiessen, „doch klei-nere Zwischenfälle können, weil der Kör-per nicht mehr so flexibel auf sie reagierenkann, dann schnell zu Katastrophen wer-den. Und es ist auch schwieriger, nach ei-ner Krankheit oder einer Operation wie-der zu Kräften zu kommen.“

Zudem leiden viele alte Menschen oh-nehin schon an einer, oft sogar an mehre-ren chronischen Krankheiten; knapp einDrittel der über 70-Jährigen lebt mit fünf

oder mehr Diagnosen. Diese „Multimor-biden“ sind anfällig für weitere akute Pro-bleme wie Stürze und Infektionen, diewiederum zur Verschlimmerung der Aus-gangskrankheiten führen können. Hinzukommt: Wer an Rheuma, Parkinson, Ar-throse oder auch an Demenz leidet, weretwa einen Schlaganfall hinter sich hat,für den ist es besonders mühsam, nach ei-ner schweren Krankheit oder Operationwieder auf die Beine zu kommen.

Der Aufenthalt in der Akutgeriatrie solldiese Probleme und Schwächen überwin-den helfen. Er schließt sich an die Be-handlung in einer normalen Kranken-hausabteilung an. „Wir behandeln dannhier das akute medizinische Problem wei-ter“, erklärt Güldenzoph, „und begleitendwerden die Patienten rehabilitiert.“ DasZiel: ein möglichst selbständiges Leben.Wenn es geht, allein zu Hause. Wenn esnicht geht, muss so viel Pflege organisiertwerden wie nötig.

„Es gibt auf jeden Fall eine gute Nach-richt“, sagt Steinhagen-Thiessen. „Auchalte Menschen können noch ganz vieltrainieren.“ Tatsächlich zeigten wissen-schaftliche Untersuchungen, dass Patien-ten, die nach dem Aufenthalt auf einernormalen auch noch auf einer geriatri-schen Station behandelt wurden, deutlich

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Visite im Bonner Malteser Krankenhaus: Arbeiten im Team

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seltener erneut ins Krankenhaus und auchseltener in ein Pflegeheim mussten.

Rund 900 Patienten behandelt Gülden-zoph in Bonn pro Jahr. Die durchschnitt-liche Verweildauer: 16,3 Tage.

Am Anfang steht dabei das sogenannteAssessment, eine Art erweiterte Ein-gangsuntersuchung, bei der nicht nur diemedizinischen Probleme erfasst werden,sondern auch beurteilt wird, ob und wiestark jemand an einer Demenz leidet; zu-dem stellen die Ärzte die subjektive psy-chische Befindlichkeit und die soziale undökonomische Situation fest. „All das istgerade beim alten Menschen untrennbarmiteinander verbunden“, erklärt Steinha-gen-Thiessen. „Was nutzt es, wenn maneine Lungenentzündung perfekt geheilthat, aber die Patientin danach wiederschwer depressiv und ohne soziale Kon-takte allein in ihrer Wohnung lebt? Dawird sie bestimmt bald wieder krank.“

Auch Güldenzoph meint: „Es reicht inder Geriatrie nie, wie zum Beispiel in derChirurgie, sich nur mit einem Symptom zubeschäftigen.“ Doch man dürfe sich ange-sichts der Vielzahl der gesundheitlichenProbleme, die jeder geriatrische Patientbereits habe, auch nicht verzetteln. Statt-dessen müsse man die Probleme entspre-chend ihrer Wichtigkeit ordnen.

Das wahre Zauberwort der geriatri-schen Behandlung aber heißt „Interdiszi-plinarität“, arbeiten im Team.

In Bonn versammelt sich das Team heu-te wie jeden Tag um 13.15 Uhr im Be-sprechungszimmer: Güldenzoph, die Sta-tionsärztin, die Pfleger und Schwestern,der Krankengymnast, die Ergotherapeu-tin, die Sprachtherapeutin und die Sozial-arbeiterin.

Die Ärztin zieht die erste Akte aus demVisitenwagen. Die Patientin, die nach ei-ner Durchfallattacke unter extremer Aus-trocknung litt, soll am nächsten Tag wie-der entlassen werden. „Spricht etwas da-gegen?“, fragt die Ärztin in die Runde.„Nichts, außer sie selbst!“, erwidert derKrankengymnast. Die anderen lachenkurz auf. Ihnen allen hat die Patientin ihreÄngste vor dem Alleinsein geschildert.„Morgen“, sagt die Sozialarbeiterin, „be-kommt sie noch einen Hausnotrufdienstinstalliert.“ „Nachdem wir alle noch ein-mal bei ihr waren“, beschwichtigt derPfleger, „ist es für sie jetzt auch okay, wie-der nach Hause zu gehen.“

Die nächste Patientin hatte sich bei ei-nem Sturz das Becken gebrochen, dabeiwar sogar ihre Blase abgerissen. „Sie istschon wieder deutlich kräftiger gewor-den“, lobt der Krankengymnast die 90-Jährige. Doch die hat möglicherwei-se nicht nur orthopädische und urologi-sche Probleme. „Ich habe in meinen Testsgroße Defizite im räumlich-visuellen Be-reich festgestellt“, berichtet die Ergothera-peutin. „Es könnte sein, dass ihre rechte

Hirnhälfte geschädigt ist.“ Die Patientinkann also ihre Umwelt nicht mehr ganz-heitlich erfassen. Sie weiß nicht mehrgenau, wo oben und unten, vorn undhinten ist. Möglicherweise ist sie auchnicht mehr in der Lage, eine fremdePerson vor der Haustür richtig einzuord-nen: Ist es ein harmloser Briefträger oderjemand, der sie ausrauben will? Alleinwird die Frau von nun an jedenfalls wohl nicht mehr leben können. „Ich habe aber ein tolles Gespräch mit ihr ge-führt“, erzählt die Sozialarbeiterin. „Siewird jetzt erst einmal in Kurzzeitpflegegehen.“

Die dritte Patientin hatte einen Darm-verschluss. „Sie ist völlig abgemagert undhat überhaupt keine Kraft. Sobald siesteht, fängt sie an zu zittern“, berichtetder Krankengymnast. „Außerdem hat sieschweres Rheuma“, sagt die Ärztin. „ZuHause ist sie immer auf allen vieren dieTreppe raufgekrochen.“ „Der Sohn willjetzt die Pflege organisieren“, teilt dieKrankenschwester mit. „Hat sie dennüberhaupt schon eine Pflegestufe?“, willdie Sozialarbeiterin wissen. „Ich glaube,ich sollte mich mal um sie kümmern.“

Wirklich gesund wird wohl keine dieserPatientinnen mehr. Doch das Ziel der Ge-riater ist auch nicht die absolute, sonderndie sogenannte funktionale und die sub-jektive Gesundheit – es geht darum, dassjemand im Alltag klarkommt und sichmöglichst gut dabei fühlt. „Früher“, sagtGüldenzoph, „haben wir uns immer dar-an orientiert, was der Patient nicht kann.Heute versuchen wir immer zu fragen:Was kann er?“

Nach der Besprechung geht Gülden-zoph wieder in sein Büro, vorbei an denPatienten und Patientinnen, die im Flur anTischen sitzen und Kaffee trinken. „HerrDoktor!“, strahlen sie ihn an. „Herr Dok-tor, haben Sie was gesagt?“

„Ich höre oft: ‚Wie hältst du das über-haupt aus?‘“, erzählt Güldenzoph späterlächelnd. „Nun ja – man braucht schoneine wahnsinnige Geduld.“

Güldenzoph ist seit 1982 am MalteserKrankenhaus. Immer wohnlicher ist dieAbteilung im Laufe der Jahre geworden.An den Wänden hängen farbenfrohe Pos-ter. In einem Käfig im Gang sitzen zweiWellensittiche. Im Aufenthaltsraum derPatienten steht ein Aquarium. Auch zwei

44 SPIEGEL SPECIAL 8/2006

WANDEL

Ergotherapeutin bei Konzentrationstraining: Wo ist oben und unten?

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Page 15: Spiegel.dossier Unsterblichkeit.-.Die Abschaffung Des Sterbens

Hunde kommen regelmäßig unterstützendzur Therapie. Ein Stab von 70 ehrenamt-lichen Helferinnen sorgt jeden Samstagfür Kaffee und Kuchen. Und am Freitagwird gemeinsam klassische Musik gehört.

Das Wichtigste bei der Pflege: Den Pa-tienten wird nichts abgenommen, was sienicht auch selbst erledigen könnten. Be-sonderer Wert wird auf gesunde Ernäh-rung gelegt. „60 bis 80 Prozent unsererPatienten“, weiß Güldenzoph, „sind man-gelernährt.“

Wichtig ist eine altersgerechte Behand-lung mit Arzneimitteln. „So gut wie alleStudien, auf die sich unsere Erkenntnisseüber Medikamente stützen, wurden anrelativ jungen Patienten durchgeführt, diemöglichst nur eine Krankheit haben“, sagtSteinhagen-Thiessen. Ob sich die darausgewonnenen Erkenntnisse eins zu eins auf80- bis 90-jährige multimorbide Menschenübertragen ließen, sei fraglich.

„Es gibt deshalb ein paar Dinge, dieman wissen muss“, sagt Güldenzoph. „Ers-tens, dass sich manche Medikamente imKörper anreichern können, weil die Aus-scheidungsfunktion der Nieren mit demAlter nachlässt.“ Zweitens nimmt im Alterder Fettanteil des Körpers zu, der Was-seranteil hingegen ab. Fettlösliche Medi-kamente, zum Beispiel Valium, brauchenbei alten Menschen deshalb drei- bis vier-mal so lange, ehe sie wieder abgebaut sind;bestimmte Schlafmittel können darum ge-rade bei alten Menschen zu einem gefähr-lichen Restspiegel führen, der die Sturz-gefahr steigen lässt. Andere Substanzenhingegen, die Betablocker, müssen bei al-ten Menschen auch schon mal etwas höherdosiert werden – weil die Dichte der An-dockstellen mit dem Alter abnimmt.

Vor allem aber, so Güldenzoph, müsseman die Gesamtsituation berücksichtigen.„Bei einer 96-Jährigen muss ich in der Re-gel nicht mehr den Cholesterinspiegel sen-ken. Und bei einem 85-jährigen Parkin-son-Patienten kann ich noch so toll mitmeinen Medikamenten jonglieren – wennich nicht weiß, was er sonst noch fürBewegungsprobleme hat, nützt das garnichts. Der Patient wird nur unter den Ne-benwirkungen der Medikamente leiden.“

Für die nahe Zukunft ist im MalteserKrankenhaus eine noch engere Zusam-menarbeit zwischen Geriatrie und Akut-stationen geplant. Wird ein alter Patient inder Chirurgie aufgenommen, soll von An-fang an auch ein Geriater mitbehandeln.Nach der OP soll der Patient so schnellwie möglich in die Geriatrie verlegt unddort noch eine Weile vom Chirurgen wei-terbehandelt werden. „Wir wollen eineenge Verzahnung“, betont Güldenzoph,„eine Geriatrisierung der Medizin.“

Mit Sicherheit wächst künftig die Be-deutung der Geriatrie. Denn es wird nichtnur immer mehr alte Menschen geben.Die immer höhere Lebenserwartung be-

deutet auch ein immer längeres Leben mitKrankheit, meist mit vielen Krankheiten.Zugleich kommen immer mehr alte Men-schen in den Genuss von invasiver High-tech-Medizin: Bypass, Stent, Herzschritt-macher und -klappe, künstliche Hüfte,künstliches Knie oder gar ein Hirnschritt-macher – sobald eine Technik etabliert ist,wird die Indikation auf immer ältere Men-schen ausgedehnt.

Für das schwierigste altersmedizinischeProblem der Zukunft hält Güldenzoph diezu erwartende Zunahme der Demenzen.„Denn eine Demenz ist nicht nur per seschlimm für Betroffene und Angehörige,sondern hat auch Folgen: Knochenbrüche,Mangelernährung, Infektabwehrschwä-che. Wie wir das einmal bewältigen sollen,ist noch völlig offen.“

Ein Forschungsprojekt von ElisabethSteinhagen-Thiessen ist deshalb auch dieEntwicklung und Erprobung eines speziel-len Reha-Programms für Demenzkrankemit einem Oberschenkelhalsbruch. „Wirbekommen in der Geriatrie so viele Patien-ten, die in der Orthopädie eine Operationvom Feinsten bekommen haben – aber siesind so verwirrt, dass sie ständig mit demfalschen Bein aus dem Bett steigen, sich dieHüfte ausrenken und einfach nicht mehrlaufen lernen“, sagt Steinhagen-Thiessen.

Damit sie die Anweisungen der Kran-kengymnasten nicht ständig wieder ver-gaßen, bekamen die Versuchspatientenhäufigere und kürzere Therapieeinheitenals sonst üblich. Zudem wurden die Be-wegungsanweisungen mit einfachen visu-ellen Reizen verknüpft. „Das funktioniertso, wie wir uns leicht merken können,dass wir zum Beispiel bei einem spani-schen Restaurant mit rotem Schild rechtsabbiegen müssen“, erklärt Steinhagen-Thiessen. Auch die Angehörigen wurdensystematisch mit einbezogen. Ob die neueMethode tatsächlich funktioniert, ist al-lerdings noch offen. Die Untersuchung sollnächstes Jahr abgeschlossen werden.

Auch die Telemedizin will Steinhagen-Thiessen noch viel mehr für alte Men-schen nutzbar machen. Die Medizinerinhat sogar schon einmal eine virtuelleSelbsthilfegruppe für vereinsamte Alte perTelekonferenz veranstaltet.

Die Geriatrie erkennt freilich auch ihreGrenzen. „Manchmal“, räumt Gülden-zoph ein, „komme ich schon ins Grübeln,wenn eine Patientin immer wieder zu mirsagt: ‚Herr Doktor, ich will nicht mehr!Warum machen Sie das hier eigentlich al-les noch mit mir?‘“

Auch Steinhagen-Thiessen bekennt: „Esist ein ständiger Spagat.“ Einerseits seiman von dem Gedanken beseelt, die be-tagten Patienten aus der Klinik zu entlas-sen. Andererseits bewege sich die geria-trische Medizin auch immer in Todesnähe:„Man muss auch mal jemanden in Ruhesterben lassen.“ Veronika Hackenbroch

458/2006 SP IEGEL SPECIAL

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SPIEGEL: Frau Zundel, Sie haben imvergangenen Jahr einen Doktortitelin Altersforschung erworben. War-um haben Sie sich mit 75 Jahrennoch diesen Stress angetan?Zundel: Das war für mich kein Stress.Mein Leben zuvor war Stress. Ichwar immer berufstätig, und ich hat-te zwei Kinder zu versorgen, diezehn Jahre auseinander sind, undspäter einen kranken Mann.SPIEGEL: Wann haben Sie angefan-gen zu studieren?Zundel: Ich war genau 60. Ich hatteschon Soziologie studiert, aber kei-nen Abschluss gemacht, weil ichmeinen Mann kennengelernt hatte.Wir Frauen waren ja einmal so: Fürdich ist es wichtiger, dass du einenAbschluss machst, habe ich zu ihmgesagt, ich arbeite und finanzieredie Familie. SPIEGEL: In Ihrer Dissertation ha-ben Sie sich mit neuen Lebensent-würfen älterer Menschen und bür-gerschaftlichem Engagement von Senio-ren beschäftigt*. Wie sind Sie auf diesesThema gestoßen?Zundel: Ich hatte eine Aussteiger-Freun-din, die nach Kaschmir gegangen war undin den Kriegswirren Hals über Kopf nachDeutschland fliehen musste. Da stand sienun, mittellos und allein. Bis sie auf dieseZeittauschbörse stieß, in Singen nahe demBodensee. Dort bot man ihr an, einen vir-tuellen Kredit aufzunehmen: „Wir kön-nen Ihnen dafür jemanden besorgen, derIhnen hilft. Und Sie arbeiten das späterab.“ „Womit denn?“ „Können Sie Kuchenbacken? Kinder hüten? Rollstühle schie-ben?“ Klar konnte sie das! So bekam sieHilfe und lernte nette Menschen kennen.SPIEGEL: Wie funktionieren Zeittausch-börsen?Zundel: Der Tausch wird von einem Vereinüber eine Marktzeitung organisiert. Dortveröffentlicht man Angebote, die anderedann abrufen. Der Phantasie sind da kei-ne Grenzen gesetzt. Man kann praktischjede Art von Dienstleistung tauschen. SPIEGEL: Gibt es viele solcher Börsen inDeutschland?Zundel: Im Jahr 2003 gab es schon 200.Inzwischen sind es bestimmt mehr.

* Ingrid Zundel: „Kommunitarismus in einer alterndenGesellschaft. Neue Lebensentwürfe Älterer in Tausch-systemen“. Centaurus Verlag, Herbolzheim; 292 Seiten;24,90 Euro.

SPIEGEL: Sind Tauschbörsen vor allem fürältere Menschen attraktiv?Zundel: In Zukunft auf jeden Fall. Wenndie Renten geringer ausfallen und die Äl-teren sich Hilfe finanziell kaum noch leis-ten können, ist es wichtig, wenn sich dieMenschen mit solchen Modellen organi-sieren. In Großbritannien beispielsweise,wo die Renten ziemlich niedrig sind, gibtes viel mehr Zeittauschbörsen.SPIEGEL: Was sind das für Tauschgeschäfte?Zundel: In der SeniorengenossenschaftStuttgart-Wiblingen hatten ältere FrauenKontakt aufgenommen mit einem Gym-nasium, weil sie den Umgang mit Com-putern lernen wollten. Der PC-Raum waram Nachmittag frei, und es gab computer-versierte Schüler. Und da haben die Frau-en gefragt: Was können wir für euch tun?Und dann kochten die Frauen mittagsHausmannskost für die Schüler und be-kamen dafür Computerkurse.SPIEGEL: Ganz schön viel Einsatz ...Zundel: ... das ist ja das Gute! Die Altenhaben einen Sinn im Leben, sie sind be-schäftigt. Das fördert sogar die Gesund-heit. Die Älteren konzentrieren sich nichtauf ihre Einschränkungen, sie altern fröh-licher und fallen auch unserem Gesund-heitssystem weniger zur Last. SPIEGEL: Fröhlicher altern?Zundel: Im Alter bricht das Netzwerk weg.Die Freunde werden krank und sterben.

Darum ist es wichtig, dass ältereMenschen viele Kontakte mit jün-geren haben. SPIEGEL: Sie leben in einem Stift,im Augustinum in Heidelberg, undnicht in einem der von Ihnen un-tersuchten alternativen Wohnpro-jekte, etwa für Jung und Alt.Zundel: So ein Wohnprojekt brauchteinen Vorlauf von zehn Jahren. Diehatte ich nicht, weil ich von Berlinnach Heidelberg gezogen bin, in dieNähe meiner Tochter. Wir habenhier die „Oase“, ein Frauenprojekt,das seit Jahren nicht zu Pottekommt. Das sind Studienrätinnen,die unbedingt in der Innenstadt le-ben wollen, und da gibt’s eben kei-ne passenden Wohnungen. Sie sindnicht bereit, an den Stadtrand aus-zuweichen. Wenn man so starrsin-nig ist, muss das Projekt scheitern.SPIEGEL: Frau Doktor Zundel, geistig bleiben Sie jung – und kör-perlich?

Zundel: Ich habe einen kaputten Rücken.Das habe ich den Russen zu verdanken.Ich musste als Jugendliche helfen, denFlugplatz Neuruppin zu asphaltieren. Ichwar unterernährt und musste den Bodenstampfen. Vor ein paar Jahren saß ichschon einmal fünf Monate lang im Roll-stuhl. Aber auch im Rollstuhl kann dasLeben noch lebenswert sein. Ich habenoch eine Idee für ein Buch – Arbeitstitel:„Wie man eine unerhörte Seniorin wird“.SPIEGEL: Sie haben im Juni einen „Ideen-preis“ der Körber-Stiftung gewonnen.Zundel: Ich habe mit 66 Jahren an der Uni-versity of Massachusetts im Gerontologi-schen Institut gearbeitet. Da gab es einenKurzstudiengang Gerontologie für Ehren-amtliche, die sich in der Altenarbeit enga-gieren wollten. Und die Idee für einen sol-chen Studiengang hierzulande habe ich beieinem Wettbewerb eingereicht. SPIEGEL: Geht man in den USA anders mitdem Alter um?Zundel: In Amerika ist es selbstverständ-lich, dass man sich als fitter älterer Menschfür andere engagiert. Wenn man es nichttut, entschuldigt man sich sogar dafür. SPIEGEL: Fühlen Sie sich durch Ihr eigenesAlter belastet?Zundel: Seit ich in Rente bin, geht es mirbesser denn je. Weil ich endlich tun undlassen kann, was ich will.

Interview: Annette Bruhns

52 SPIEGEL SPECIAL 8/2006

WANDEL

„Fröhlicher altern“Die Gerontologin Ingrid Zundel, 76, über ihre späte Promotion, Zeittauschbörsen

und alternative Wohnprojekte

Seniorin Zundel: „Tun und lassen, was ich will“M

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Die fidelen Hundertjährigen Warum leben Sarden länger als andere Menschen? Liegt es am gesunden Essen, an der körperlichen Aktivität? In Deutschland fehlt es genau daran: Alte leiden unter Mangelernährung und Bewegungsdefizit. Das Sportprojekt „Fit für 100“ soll Hochaltrigen Kraft für den Alltag geben.

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Auf dem kleinen Friedhof des sardi-schen Bergdorfs Tiana liegt AntonioTodde begraben. Er starb am 3. Ja-

nuar 2002, knapp drei Wochen vor sei-nem 113. Geburtstag. Bis zu diesem Tagwar der Schafhirte, laut Guinness-Buchder Rekorde, der älteste lebende Mannder Welt. Auch Giovanni Frau, ein Baueraus dem Nachbarort Orroli, war 112 Jah-re alt, als er im Juni 2003 entschlief.

Mit seinen 106 Jahren noch quick-lebendig ist Giovanni Antonio Carta ausMores, gleich nebenan. Wie man so altwird, wird der Greis oft gefragt, und ki-chernd antwortet der: „Das Geheimnis ist,einfach nicht zu sterben.“ Im Ernst sagtCarta, es liege wohl am Essen, am Trinkenund an der Arbeit.

Die Provinz Nuoro im gebirgigen Zen-trum der Mittelmeerinsel gilt als Landstrich

der Langlebigen. Die Chance, älter als 100Jahre zu werden, ist in dieser Region grö-ßer als irgendwo sonst in Europa. Statis-tisch gesehen gibt es hier 135 Hundert-jährige auf eine Million Menschen, auf demübrigen Kontinent sind es gerade mal 80.Und unter den Superalten sind ebenso vie-le Männer wie Frauen – anders als im Restder Welt, wo Frauen die Männer im Durch-schnitt um sechs, sieben Jahre überleben.

Warum gerade Sardinien das demogra-fische Zentrum der Methusalems ist, ver-sucht Luca Deiana, 63, zu ergründen. DerBiochemiker an der Universität von Sas-sari im Norden der Insel erforscht seit 1997das erfolgreiche Altern seiner Landsleute.

Noch kann der Wissenschaftler keineschlüssige Erklärung für das Phänomengeben. Die Männer leben nicht nur länger,sie sind auch bis ins hohe Alter geistig undkörperlich fit. Giovanni Antonio Cartazum Beispiel liebt es, sich mit Bekanntenund Besuchern im Armdrücken zu messen– und er bezwingt manchen, der Jahr-zehnte jünger ist als er.

Womöglich verdankt sich die Robust-heit der Insulaner vor allem einer geneti-schen Veranlagung, die sich in dem welt-abgeschiedenen Bergland unverfälscht er-halten hat. Doch neben einer intaktenUmwelt, einem stressarmen Leben sowiedem Eingebundensein in einen stabilenFamilienverband rechnet Deiana auch„körperliche Aktivität“ und „ausgewoge-ne Ernährung“ zu den entscheidendenFaktoren für ein biblisches Alter.

Selbst die Hochbetagten unter denHochland-Sarden sind noch von früh bisspät auf den Beinen: Sie melken Kühe,hacken Holz, wandern mit ihren Schafen.Und sie ernähren sich hauptsächlich vonObst und Gemüse aus ihrem Garten. Diepflanzliche Kost verringert das Risiko vonHerzerkrankungen und Darmkrebs. Sietrinken Schafsmilch und essen Pecorino-käse, der Proteine und – wie Fisch – wert-volle Omega-3-Fettsäuren enthält.

Auch in Deutschland leben die Men-schen immer länger. So konnte Bundes-präsident Horst Köhler im vergangenenJahr 4360 Bürgern zum 100. Geburtstaggratulieren – Tendenz steigend: Jedes Jahrkommen 300 Jubilare mehr hinzu. Aberdie meisten, die hierzulande dieses hoheAlter erreichen, sind „multimorbid“: vonallen möglichen Krankheiten geplagt undkörperlich hinfällig.

Die moderne Medizin hat ihnen gehol-fen, Erkrankungen zu trotzen, an denensie früher unweigerlich gestorben wären.Gewiss, es gibt die fidelen Hundertjähri-gen, von denen aus Anlass ihres Jubelfes-tes berichtet wird, dass sie noch jeden Tagdie Heimatzeitung lesen. Aber für dasGros der Super-Senioren ist das Lebennur noch ein Dahindämmern.

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Sardischer SchafhirteLandstrich der Langlebigen

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„Das hohe Alter“, weiß der BerlinerAlternsforscher Paul B. Baltes, 66, bringtvor allem einen „dramatischen Anstieg an Demenzen“ mit sich: Von den unter70-jährigen Deutschen leiden weniger als5 Prozent an diagnostizierten Demenzen,bei den 80-Jährigen sind es schon fast 15 Prozent, bei den 90-Jährigen ist es fastjeder Zweite. Vom 80. Lebensjahr an, sagtBaltes, nähmen Wohlempfinden und Geis-tesschärfe stark ab.

Die Gründe für die Gebrechen liegenoffensichtlich gerade im Fehlen jener Ei-genschaften, die sardische Altersgenossenauszeichnen: Die meisten Deutschenbetätigen sich ihr Leben lang zu wenigkörperlich und pflegen ungesunde Ess-gewohnheiten. Das rächt sich im hohenAlter.

„Eine ausgewogene Ernährung schonwährend der aktiven Lebensphase“, un-terstreicht die Hamburger Ernährungs-wissenschaftlerin Ulrike Arens-Azevêdo,„ist die beste Grundlage zur Erreichungeiner hohen Lebenserwartung und einergeringen Krankheitsanfälligkeit im Alter.“

Neuere epidemiologische Untersuchun-gen legen einen Zusammenhang zwischenErnährung und chronischen Erkrankun-gen wie Alzheimer nahe.

Eine Kost mit hohem Anteil an Obstund Gemüse sowie Vollkornproduktenhabe „offensichtlich präventiven Charak-ter“, sagt Arens-Azevêdo. Die VitaminePyridoxin (B6), Cobalamin (B12) und Fol-säure scheinen die Wahrscheinlichkeit, anAlzheimer zu erkranken, deutlich zu min-dern.

Auch Flüssigkeitsmangel macht flau imKopf. Betagte trinken oft zu wenig, weildas Durstgefühl im Alter nachlässt. DerKörper benötigt aber genügend Flüssig-keit, um seine Stoffwechselleistungen auf-rechtzuerhalten.

Eine Faustregel besagt, dass je Kilo-gramm Körpergewicht 30 Milliliter Was-ser am Tag benötigt werden – ein 80 Ki-lo schwerer Mensch braucht also täglich2400 Milliliter Flüssigkeit. Wird dieserWert unterschritten, dickt sich das Blutein, die Thrombosegefahr steigt, die Hautwird überempfindlich, Verstopfungen undHarnwegsinfekte nehmenzu. Durch die mangelhafteBlutzufuhr lässt die Hirn-leistung nach. Verwirrt-heitszustände sind daherdie deutlichste Folge einerzu geringen Flüssigkeits-aufnahme.

Während die Durch-schnittsdeutschen immerdicker werden, weil sie zuviel und zu fett essen, ver-kehrt sich das Übel imAlter oft in sein Gegen-teil: Viele Senioren sind zu schlecht ernährt. Dasliegt vor allem an der oft-

mals freudlosen Lebensweise, die so ganz anders ist als die ihrer von Angehörigenliebevoll umsorgten sardischen Alters-genossen.

„Vereinsamung im Alter“, weiß HerbertLochs, ärztlicher Direktor der Gastroente-rologie an der Berliner Charité und Vize-

präsident der DeutschenGesellschaft für Ernäh-rungsmedizin (DGEM),„ist der Hauptrisikofak-tor für Mangelernährung.“Denn die Singles gehenschludrig mit sich um:„Wer allein lebt“, sagtLochs, „mag sich nichtsFrisches kochen, isst klei-nere Portionen, und eskommt schnell zu einemEiweißmangel.“

Besonders gefährdet,sich unzureichend zu er-nähren, sind nach Lochs’Erkenntnissen außerdem

Menschen, die an mehreren Krankheitenleiden („Je mehr Tabletten, desto schlim-mer die Mangelernährung“), sowie Men-schen mit geringem Bildungsstatus, dieder Bedrohung durch zu geringe Kalorien-aufnahme nicht bewusst gegensteuern.

Zwar sinkt der Kalorienbedarf mit zu-nehmendem Alter leicht, weil die Muskel-masse und damit auch das Körpergewichtabnimmt. Aber auch 80-Jährige brauchenzwischen 1500 und 2000 Kilokalorien amTag. Wer zu wenig isst, warnt Lochs, ver-liert Muskelkraft und Bewegungsfähigkeit– wichtige Voraussetzungen, um selbstän-dig den Alltag zu bewältigen.

So sind es einerseits soziale und ge-sellschaftliche Umstände, die zu Mangel-ernährung bei Senioren führen: Einsa-men Essern fehlt bisweilen der rechteAppetit, Heimbewohner werden oft inöden Speisesälen abgefüttert, und nie-mand kümmert sich, wenn die Mahlzeitzur Hälfte ungegessen zurückgeht, die Ge-richte von Großküchen und Menübring-

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Greis in einem Altenheim, japanische Algensammlerin auf Okinawa: „Pass auf, was du jeden Tag

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diensten werden nicht selten als eintönigempfunden.

Zum andern hat es biologische Grün-de, warum alte Menschen zu wenig es-sen. Das Gehirn kann Hunger und Durstnicht mehr richtig wahrnehmen, die Ge-schmacksknospen auf der Zunge verküm-mern allmählich. Kau- und Schluckbe-schwerden machen das Essen zur Mühsal.Zahnprothesen, die nicht richtig sitzen,verhindern kraftvolles Zubeißen, weshalbdie Betroffenen gern zu Tütensuppen, Ba-bynahrung und Puddingpulver greifen.Wichtige Nährstoffe wie Eiweiß, Vitamineund Mineralien fehlen diesen „Pudding-vegetariern“ jedoch.

Der Ernährungsmediziner Lochs möch-te deren Essverhalten für eine „Strategie“nutzen: Breihersteller wie Hipp und Mi-lupa, meint er, könnten doch speziell die-ser – künftig ohnehin stark wachsenden –Kundschaft „attraktive kleine Snacks“ an-bieten, „schön gefärbt, pudding- oder cre-meartig und mit Proteinen angereichert“.

Denn es besteht dringender Hand-lungsbedarf: Eine aktuelle DGEM-Studieunter 1886 Patienten in 13 Krankenhäu-sern zeigt, dass mehr als die Hälfte derüber 65-Jährigen schon bei der Aufnahmemangelernährt ist.

Geradezu paradox erscheint, dass sichdie Ernährungssituation vieler betagterPatienten während des Klinikaufenthaltsweiter verschlechtert. Der Ernährungs-mediziner Christian Löser, Chefarzt amRotkreuz-Krankenhaus in Kassel, wies ineiner Studie mit rund 2000 Patienten nach,dass drei Viertel von ihnen nach der Ein-weisung weitere 5,4 Prozent ihres Aus-gangsgewichts verloren. In der Folge,mahnt Löser, komme es häufiger zu Kom-plikationen, der gesamte Genesungspro-zess verlaufe schleppender als bei normalErnährten.

Vor allem älteren Patienten müsse beimEssen mehr geholfen werden, fordert Lö-ser. „Aber heute rennt die Schwester mitdem Tablett ins Zimmer und holt es nach

einer Stunde wieder ab. Zeit, um Fleischklein zu schneiden oder Patienten mitKauproblemen zu helfen, ist nicht da“,kritisiert der Internist.

Das gleiche Bild bietet sich in den meis-ten Alten- und Pflegeheimen. Mehr alsdie Hälfte der Bewohner weist einenschlechten Ernährungsstatus auf. „Einenalten Menschen so zu füttern, dass er ge-nug isst, kann 30 Minuten dauern“, sagtder Stuttgarter Ernährungswissenschaft-ler Hans Konrad Biesalski. Der Dienst-plan sieht für die Fütterung aber höchs-tens eine Viertelstunde vor.

Es sei, beklagt Biesalski, zu wenig be-kannt, dass ältere Menschen als direkteoder indirekte Folge von Mangelernährungrascher und schwerer erkrankten.

Bei manchen kommt es beispielsweisezu Verhornungsstörungen der Haut, beianderen zu einer vermehrten Lichtemp-findlichkeit, Haarverlust oder zu Entzün-dungen der Mundschleimhaut. Auch eineschlechte Wundheilung, Bindehautent-

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in deinen Körper eindringen lässt“, raten die Hundertjährigen

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zündungen oder Nachtblindheit könnendie Folge sein, erläutert der Erlanger Ge-riatriker Jürgen Martin Bauer. Selbst De-pressionen und schwere Nervenerkran-kungen seien als Folge mangelhafter Er-nährung möglich.

Ebenfalls eine ernährungsabhängigeKrankheit ist die Osteoporose, bei der sich die Knochenmasse charakteristischverändert. Da weniger Mineralsalze ein-gelagert werden, werden die Knochen po-rös. Es kommt daher häufiger zu Kno-chenbrüchen. Die Knochenmasse kann im Alter nicht mehr neu aufgebaut wer-den. Der Abbau lässt sich jedoch durchaktive und regelmäßige Bewegung ver-langsamen.

Und mit dem Eiweißmangel steigt dasRisiko, dass sich bettlägerige Menschen

wundliegen. Der sogenannte Dekubitusist eine der schlimmsten Krankheiten fürAlte: Die Druckstellen lassen den Körperam lebendigen Leib verwesen.

Nicht einmal 30 Kilo wog eine bettlä-gerige Frau in einem Düsseldorfer Alten-heim, als deren Betreuerin voriges Jahrdie Heimleitung wegen Vernachlässigunganzeigte. Die Ermittlungen wurden aller-dings bald eingestellt. „Die Frau“, sagteder zuständige Oberstaatsanwalt, „kamschon so abgemagert im Altenheim anund wollte einfach nicht essen.“

In Berlin kam es Anfang des Jahres im-merhin zu einem Prozess wegen fahrlässi-ger Körperverletzung, nachdem vor dreiJahren ein völlig unterernährter und ver-nachlässigter 68-jähriger Pflegeheim-Be-wohner fünf Tage nach seiner Einliefe-

rung in ein Krankenhaus gestorben war.Der Mann hatte gerade noch 35 Kilo ge-wogen, und ein Abszess an der Leiste, ausdem große Mengen Eiter quollen, war nie-mandem aufgefallen. Die Heimärztin unddie Pflegedienstleiterin wurden freige-sprochen, die Wohnbereichsleiterin erhielteine milde Geldstrafe.

Nicht minder wichtig als Essen undTrinken ist auch für alte Menschen dieBewegung. Wer rastet, der rostet, weißder Volksmund.

Kraft und Ausdauer nehmen jedoch mitden Jahren ab, die Muskeln ermüdenschneller, der Mensch wird langsamer inseinen Reaktionen. Vom 30. Lebensjahran, erläutert der Bonner Sportwissen-schaftler Heinz Mechling, verliert man,wenn man sich nicht nennenswert kör-

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94-jähriger Adventist in Loma Linda beim täglichen Schwimmen: Die Gläubigen führen in vielerlei Hinsicht ein vorbildliches Leben mit

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perlich betätigt, in jeder Dekade 3,5 bis 5Prozent seiner Muskelkraft. Und ab 60geht es noch schneller bergab.

Doch es gibt auch Hoffnung. DerMensch, sagt Mechling, ist bis ins hoheAlter trainierbar. Die Deutsche Sport-hochschule in Köln und das Institut fürSportwissenschaften und Sport der Uni-versität Bonn haben deshalb im vergan-genen Jahr in neun unterschiedlichen Ein-richtungen der Altenhilfe ein Modellpro-jekt speziell für Menschen des „viertenLebensalters“, jenseits der 80, gestartet.„Fit für 100“ heißt das von der nordrhein-westfälischen Landesregierung geförder-te Forschungsprojekt, das den körper-lichen Verfall der Hochaltrigen bremsenund ihnen den Alltag erleichtern soll(www.ff100.de).

Ansporn für das Projekt ist der zu er-wartende demografische Wandel: Bis 2025sollen nach einer Uno-Prognose 44 200über Hundertjährige in Deutschland le-ben, gut zehnmal so viele wie heute.

Das Programm aus Krafttraining undKoordinationsübungen, sagt Mechling, derwissenschaftliche Leiter des Projekts, sollHochaltrige befähigen, ihren Alltag mög-lichst lange selbständig zu meistern: „Sichallein anzukleiden, ohne fremde Hilfedurch die Wohnung zu gehen, zu duschenund zu baden oder Einkäufe zu erledigen.“

Für das Training werden an den Hand-und Fußgelenken der Probanden des-halb Gewichtsmanschetten angelegt, de-ren Last mittels 250-Gramm-Stäbchen stu-fenweise bis auf 5 Kilogramm erhöht wer-den kann. Die Hochaltrigen stemmenauch kleine Hanteln und heben Gewichts-säckchen, die mit Metallkugeln gefülltsind. Mit dem Krafttraining und zusätzli-chen Anforderungen, sagt Mechling,„werden zugleich auch Koordinationsvor-gänge und das Gedächtnis geschult“ – diealten Leute müssen sich ja die Art undAbfolge der Übungen merken.

„Zwei ganz große Ziele“ verfolgt Mech-ling mit dem Projekt: Das Training soll„Selbstbewusstsein und Wohlbefinden derBetroffenen steigern“ und sie befähigen,„ihren Alltag autonom zu bewältigen, waswiederum das Pflegepersonal entlastet“ –mit dem volkswirtschaftlichen Folgenut-zen, dass nach Mechlings Überzeugungerhebliche Kosten eingespart werdenkönnten.

Dass Bewegung und gesunde Kost dieAussichten auf ein munteres langes Le-ben begünstigen, lässt sich auch anfernöstlichen Statistiken ablesen. Was Sar-dinien in Europa, ist Okinawa in Asien:ein Eiland der glücklichen Greise. Diewerden noch älter als die übrigen Japaner,die ohnehin die höchste Lebenserwartungweltweit haben – 86 Jahre die Frauen, 79Jahre die Männer. In Deutschland wer-den Frauen durchschnittlich 82 Jahre alt,Männer sechs Jahre weniger.

„Pass auf, was du jeden Tag in deinenKörper eindringen lässt“, raten die Hun-dertjährigen auf Okinawa. Zur ihrer täg-lichen Grundnahrung gehören Meeres-algen, hier „Seegras“ genannt, Fische undMeeresfrüchte sowie gebratener Tofu mitallerlei Gemüse – kein Brot, keine Milch-produkte.

Dass die Ernährung wesentlich zum ge-sunden Altern beiträgt, lässt sich an jenendemonstrieren, die ihre hergebrachtenEssgewohnheiten aufgegeben haben. BeiAuswanderern aus Okinawa, die sich inBrasilien niedergelassen haben, ist dieLebenserwartung dramatisch gesunken.Und im Süden der Insel, wo amerikani-sche Burger-Ketten Einzug gehalten ha-ben, werden immer mehr fettleibige Ju-gendliche gesichtet, die wohl kaum so vi-tal bleiben wie ihre Vorfahren.

Die Alten bewegen sich auch mehr,Schrittmesser an ihren Füßen haben esbewiesen. Viele betreiben noch aktivKampfsportarten – Okinawa ist die Hei-mat des Karate. Sie spielen „Torball“, eineArt Krocket. Und sie tanzen zum „San-shin“, der traditionellen Volksmusik.

Lauter gute Prämissen für ein langesLeben, wie sie auch in einer dritten En-klave extrem vieler Hochbetagter herr-schen: In der kalifornischen Ortschaft Lo-ma Linda zwischen Palm Springs und LosAngeles siedeln fromme Adventisten, An-hänger einer Freikirche, die im 19. Jahr-hundert entstand und von Anfang anGesundheit predigte. Ein bekennenderAdventist war der Cornflakes-ProduzentJohn H. Kellogg (1852 bis 1943).

Ihr Glaube verbietet den Adventistendas Rauchen, den Genuss von Alkohol so-wie Speisen, die in der Bibel als unrein be-zeichnet werden. Fettes Essen, koffein-haltige Getränke und „stimulierende“Gewürze sind verpönt.

Weibliche Gemeindemitglieder werdenüber sechs Jahre älter als die Durch-schnittskalifornierin, männliche sogarneuneinhalb Jahre älter als die Vergleichs-personen. In den achtziger Jahren nah-men 34000 Gläubige an einer Alternsstu-die teil, die herausfinden sollte, ob ihreGepflogenheiten ihre Lebenserwartungsowie die Risiken für Herzkrankheitenund Krebs beeinflussten.

Was die Langlebigkeit jedoch konkretverursacht, blieb vage, weil die gottes-fürchtigen Adventisten in vielerlei Hin-sicht ein vorbildliches Leben mit regel-mäßiger körperlicher Ertüchtigung führen.Ist es wirklich der Speiseplan – Bohnen,Sojamilch, Tomaten und Gemüse –, derdas Krebsrisiko mindert? Liegt es wirk-lich am Vollkornbrot, den fünf GläsernWasser pro Tag und den vier PortionenNüsse in der Woche, dass Herzkrankhei-ten seltener sind?

Immerhin weisen die Hundertjährigenauf Sardinien, Okinawa und in Loma Lin-da einige frappierende Gemeinsamkeitenin ihrer Lebensführung auf: Sie rauchennicht, halten die Familie hoch, sie sind ge-sellig, ernähren sich von gesunden Le-bensmitteln und sind bis ins hohe Alterjeden Tag aktiv.

Die Theorie klingt plausibel. Doch esgibt auch irritierende Gegenbeispiele:Menschen, die sich ihr Leben lang an kei-ne Gesundheitsempfehlung gehalten ha-ben und trotzdem steinalt wurden.

Die nachweislich älteste Frau der Welt,die Französin Jeanne Calment, die 1997mit 122 Jahren starb, hatte erst mit 119Jahren aufgehört zu rauchen. Und Gio-vanni Frau, der Sarde, der 112 Jahre altwurde, war bekannt dafür, jeden TagFleisch zu essen und gern Süßes zu na-schen.

Aber vielleicht waren sie ja nur die Aus-nahmen von der Regel. Norbert F. Pötzl

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regelmäßiger körperlicher Ertüchtigung

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Von Insel zu Insel segelte der spani-sche Konquistador Juan Ponce deLéon – es lockte ihn die Verheißung

ewiger Jugend. Als er 1512 von Puerto Ricoaus aufbrach, wähnte er deren Quell fernim Norden. Dort plätschere irgendwo einwahrhaftiger Jungbrunnen, umgeben vonunsäglich prachtvollen Blüten.

Ponce de Léon probierte hier einSchlückchen See, dort ein BecherchenFluss und entdeckte so nebenbei jenenLandstrich, der heute Florida heißt. AmEnde zwangen wütende Ureinwohner undknappe Vorräte den Naturforscher zurRückkehr. Jünger war er nicht geworden.

Im Laufe der folgenden Jahrhundertewechselten die Methoden und Vorstellun-gen – der Jungbrunnen aber blieb einMenschheitstraum. Bislang ein ewig un-erfüllter, denn auch die heutigen For-scher scheinen dem endlos jugendlichenDasein auf Erden kein Stück näher rücken

Dort diskutierten einst James Watson undFrancis Crick ihre Jagd auf das Geheimnisdes Erbmoleküls DNA. Deswegen emp-fängt de Grey gern in der muffigen Knei-pe – als hoffe er, dass die Aura großer Wis-senschaftsrevolution irgendwie konserviertsei in der Patina des Pubs und in die Köp-fe seiner Gesprächspartner diffundiere.

Von seiner Sache ist der 42-jährige For-scher so sehr überzeugt, dass er Sätze zusagen wagt wie: „Ich wusste schon immer,dass Altern im Prinzip reparabel ist.“ Dasfindet er „so offensichtlich wie die Tat-sache, dass der Himmel blau ist“.

Manchmal passiert es de Grey, dass je-mand zweifelt, ob wirklich alle Menschensich die Abschaffung dieses natürlichenProzesses wünschen. Dann schlägt derMann mit seinen weißen, makellosen Den-kerhänden auch mal auf den Tisch: „Natür-lich ist Altern unerwünscht! So wie Lepraunerwünscht ist! Weil es Leute tötet!“ Der

zu können als jener Pionier der Renais-sance.

Einer jedoch glaubt jetzt zu wissen, wiees geht. Ein Mann, der davon überzeugt ist,nicht nur das Leben ein Quäntchen verlän-gern zu können. Das Altern selbst, sagt er,das Verwelken des Körpers als ultimativeTodesursache, ließe sich abschaffen, heilenwie eine lästige Krankheit. Und letzten En-des sogar umkehren: mürbe Haut straffen,schlaffe Brüste heben, neblige Hirne klären.

Der Mann ist Brite, heißt Aubrey deGrey und arbeitet an der University ofCambridge. Jetzt wirbelt der schlaksigeExzentriker die Fachwelt durcheinandermit seinen Verjüngungsthesen, bringt man-che Kollegen aus der Zunft gegen sich aufund einige auf seine Seite.

Der Aufruhr amüsiert den Forscher; einLächeln hebt sacht die Schnurrbartstränge,und er lehnt sich zurück auf der Sitzbankin seinem Lieblingslokal, dem „Eagle“.

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A L T E R N S F O R S C H U N G

Die Abschaffung des SterbensDer Traum vom ewigen Leben ist so alt wie die Menschheit. Jetzt glaubt ein exzentrischer

britischer Forscher herausgefunden zu haben, wie sich das Altern stoppen und irgendwann sogar umkehren lässt. Mit seinen Verjüngungsthesen rührt der Biotheoretiker die Fachwelt auf.

Jungbrunnen-Darstellung (Gemälde von Lucas Cranach, 1546): Mürbe Haut straffen, schlaffe Brüste heben, neblige Hirne klären

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Verfall der Physis, meint er, an dem 100000Menschen täglich sterben, sei „fundamen-tal barbarisch“.

Für seinen Kampf gegen die Barbareihat er jahrelang die Literatur durchforstet,Krebsstudien analysiert, sich in Stamm-zellforschung und Gentherapie schlau ge-macht, über Bodenbakterien gelesen undKrankheiten wie Alzheimer, Diabetes undParkinson in jedem Detail zu verstehenversucht. Am Ende hatte sich de Grey, vonHause aus Informatiker, zum anerkanntenBiologen gemausert. Es folgte der eigent-liche Coup: Er puzzelte all sein Wissen neuzusammen und entwarf daraus die Strate-gie für eine „Verjüngungstherapie“.

Mit deren Hilfe, behauptet er, könntenMenschen bald locker und fidel Tausendevon Jahren leben und dabei in jugendlicherFrische verharren wie Dorian Gray. Wäh-rend er darüber spricht, zwirbelt Aubrey deGrey unablässig die Enden seines Oberlip-penbarts, streicht sein Kinngezausel nachunten und fasst es plötzlich fest zusammen,als wolle er einen Geistesblitz halten.

Dieser Methusalem-Bart, im Nacken derZopf, rotbraun wie sein Lieblings-Ale, auchdie lange, dürre Gestalt – dem Mann ist dasExtrem ein Freund. „Die ersten Menschen,die von der Verjüngungstherapie profitie-ren werden, sind vielleicht längst geboren“,sagt de Grey, hastig, vernuschelt, im Idiomder Upperclass.

Ein Wahnsinniger? Immerhin widmetedas angesehene US-Wissenschaftsmagazin„Technology Review“ ihm jüngst sogar

organisiert, lockt immerhin Forscher vomMIT, von Harvard und Stanford an, dar-unter Größen wie die US-StammzellstarsJose Cibelli und Gerald Schatten, der kürz-lich mit seinem Beitrag zum Klonversuchin Südkorea Aufsehen erregte.

„Der Nachteil ist, dass Aubrey noch niein seinem Leben in einem Labor gearbei-tet hat“, gibt Nir Barzilai zu bedenken, ein Alternsforscher aus New York. „Er er-schafft in seinem Kopf Dinge, die nie-mand überprüfen kann.“ Darin sind sich de Greys Kritiker einig: Die Komplexitätdes Körpers und seiner Prozesse kann nurerfassen, wer jahrelang Fruchtfliegen ge-zählt oder Wachsmottenlarven mit Pilz-sporen infiziert hat.

Richard Miller, Biogerontologe an derUniversity of Michigan, hält de Grey garfür „gefährlich“, weil er „mit seinen Heils-versprechen die Gerontologie in Verrufbringt“. Das Fachgebiet sei anfällig dafür,da es immer schon Scharlatane einlud, die Menschen mit neuen Jungbrunnen-Tinkturen zum Besten zu halten. Die Folge: ein mieser Ruf und knappe For-schungsbudgets.

Dabei könnten die Gerontologen geradeheute mehr Geld gebrauchen. De Grey istnur Teil einer größeren Bewegung: DieForscher haben inzwischen so viel Wissenüber die Grundzüge des Alterns erlangt,dass viele von ihnen nun danach trachten,es nutzbar zu machen – für den Menschen.

„Die Wissenschaftler in unserem Gebietbewegen sich eindeutig hin zu einer ange-

eine Titelgeschichte: „Ob man ihn nun füreinen brillanten und prophetischen Archi-tekten der futuristischen Biologie hält“,heißt es darin, „oder für einen fehlgeleite-ten und verrückten Theoretiker – über dieerstaunliche Größe seines Intellekts kannes keinen Zweifel geben.“

Und die zweite große Gerontologen-Tagung in Cambridge, die de Grey derzeit

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Fitnessübungen am Strand: Locker und fidel Tausende von Jahren leben und dabei in jugendlicher Frische verharren?

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Biotheoretiker de Grey„Altern ist so unerwünscht wie Lepra“

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Altern ade! Die sieben Todbringer des Körpers und ihre Beseitigung nach Aubrey de Grey

PROBLEM LÖSUNG

Zellverlustin Herz, Gehirn, MuskelnFolgen: Funktionsverlust, Gewebeschwund

Wachstumsfaktoren injizierenStammzelltherapie

Vermehrungunerwünschter Zellenz. B. Fettzellen, Alterszellen in denGelenken, bestimmte ImmunzellenFolge: z. B. Diabetes

Fettzellen durch Injektion bestimmterSubstanzen zur SelbstvernichtunganregenImmunsystem zum Abtöten derZellen stimulieren

Erbgut-Veränderung im ZellkernGefährlichste Folge: Krebs

in Stammzellen das Gen für ein Zelltei-lungsenzym eliminieren und damit körper-eigene Stammzellen alle 10 Jahre ersetzen

Erbgut-Veränderung inden MitochondrienFolge: Energieversorgung der Zelle fällt aus

Mitochondriengene kopieren und in denschützenden Zellkern schleusen

Ablagerungen in der ZelleFunktionsverlust betroffener ZellenFolgen: z. B. Arteriosklerose, Blindheit

Gentherapie: Einschleusen bestimmterGene von Bodenbakterien, die Ablage-rungen abbauen können

Ablagerungenaußerhalb der ZelleFolge: Ansammlung von Plaquesim Gehirn wie bei Alzheimer

Impfung mit Substanz, die Immunsystemzur Plaque-Beseitigung anregtkleine Eiweißmoleküle könnenAblagerungen lösen

unerwünschteProteinverbindungenFlexible Gewebe wie Sehnen oder Gefäß-wände erstarren; Folge: z. B. Bluthochdruck

Medikamente, die gezielt solcheVerbindungen lösen, ohne anderezu schädigen

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wandten Alternsforschung“, sagt Barzilai.Und gerade erst hat Peter Gruss, Präsidentder Max-Planck-Gesellschaft, die Alterns-forschung zur Priorität erklärt und denPlan enthüllt, ein neues „Institut für dieBiologie des Alterns“ zu gründen.

Zumindest unter Hightech-Jüngern istes ohnehin schick geworden, die Abschaf-fung des physischen Verfalls für ein reintechnisches Problem zu halten. So ist derbereits als Legende gefeierte US-ErfinderRay Kurzweil überzeugt, dass irgendwannNanoroboter den ungenau arbeitendenVerdauungstrakt ersetzen können. Die Minimaschinchen würden dann exakt dierichtigen Stoffe in der perfekten Mengezum korrekten Gewebe oder Organ trans-portieren.

Bis sich solch ein verbesserter „Mensch-licher Körper, Version 2.0“ basteln ließe,glaubt Kurzweil – nämlich in etwa 20 Jah-ren –, müsse man sich eben behelfen, indemman Sport treibe und sich entsprechendder neuesten medizinischen Erkenntnissehypergesund ernähre. Sein Motto: „Lebelange genug, um für immer zu leben.“

Als erster Anwender seiner Philosophiewirft der 57-jährige Informatiker sich täg-lich 250 Tabletten ein, Stoffe wie Trauben-kernextrakt, Mariendistel oder Ginkgo, erschüttet sich bis zu zehn Gläser alkalischenWassers die Kehle hinunter und zehn Tas-sen grünen Tee. Einmal in der Woche fährtKurzweil in die Klinik, um sich Akupunk-turnadeln in die Haut piksen und sechsVerjüngungswässerchen als Infusion in dieVenen laufen zu lassen.

Immerhin habe er mit dieser Strategiesein gefühltes Alter auf 40 halten können.Sein Ziel: „Sagen wir, ich plane, nicht zusterben.“

Zwar steigt auch ganz ohne Kurzweil-sche Radikalkur seit 160 Jahren die durch-schnittliche Lebenserwartung jedes Jahrum weitere drei Monate. Frauen werden in-zwischen in Deutschland 81 und Männerimmerhin 75 Jahre alt. Aber dies ist eherbesserer Hygiene und Ernährung zuzu-schreiben als einem wissenschaftlichenDurchbruch auf der Suche nach ewiger Ju-gend. Und bisher ist es noch keinem Me-diziner gelungen, Gebrechlichkeit undSiechtum als Vorboten des Todes aus demMenschenleben zu verbannen – oder auchnur zu mildern.

Geforscht wird vor allem an Krebs,Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Diabe-tes – Krankheiten haben eine starke Lob-by, das Altern nicht. Dabei lebte einMensch theoretisch nur 14 Jahre länger,wenn es Medizinern gelänge, jene Haupt-todesursachen auszurotten, rechnet derUS-Biostatistiker Jay Olshansky vor. Ver-hinderte man dagegen das Altern selbst,so die Idee der Biogerontologen, würdendie Menschen gar nicht erst erkranken –oder jedenfalls erst sehr viel später.

Die Forscher erschaffen inzwischenMäuse und Ratten, die nicht nur ein Drit-

Cynthia Kenyon von der University of Ca-lifornia in San Francisco eine Firma na-mens Elixir gegründet, die nach Wirkstof-fen für eine Antialterungspille fahndet.„Die kann jederzeit kommen“, glaubt die Biologin, der es im Labor gelungen ist, dasLeben winziger Fadenwürmer von 20 Ta-gen auf bis zu sechs Monate zu verlängern– der bisherige Rekord bei Tieren. „Und ichwill diese Pille selbst nehmen“, versichertdie Forscherin.

Den Tod um das ein oder andere Jährchen hinauszuzögern erscheint aus de Greys Sicht jedoch als Kinderkram. Erwill die Uhr zurückdrehen. „Damit kehrenSie zurück zu einem jugendlicheren Zu-stand“, erklärt er. „Je nachdem, wie oftund wie gründlich Sie sich der Therapieunterziehen, können Sie die Ewigkeit inIhren Zwanzigern verbringen.“

De Grey hat die Verfallsprozesse desKörpers zu sieben Todbringern zusam-mengefasst und jeweils eine Heilungs-methode dazu erdacht (siehe Grafik) – so,als wäre der Körper eine Maschine und be-dürfte nur der Wartung und gelegentlicherReparatur.

Es müsste zum Beispiel verhindert wer-den, dass sich gefährlicher Müll in den Zel-len ansammelt, unverdauliche Reste großerMoleküle, die den Zellbetrieb stören wieetwa bei der Arteriosklerose. BestimmteBodenbakterien sind dazu in der Lage, solche Stoffe abzubauen. Also, stellt sich de Grey vor, müsste man deren Erbgut viaGentherapie in die Zellen schleusen.

tel länger leben als ihre Artgenossen – sielaufen auch als Hochbetagte noch Rundeum Runde im Rad, Tausende Meter amTag. Ihre Muskeln sind straff, das Herz gesund, ihre Erinnerung intakt.

Und aktuell finanziert das National In-stitute on Aging in Maryland einen Kurz-zeitversuch mit Menschen, deren Alterungdurch reduzierte Kalorienzufuhr beein-flusst werden soll. Rhesusaffen zumindestscheint solche Diät zu schützen gegen Al-tersdiabetes; auch scheinen sie gesündereHerzen zu haben als gewöhnliche Vielfraß-Äffchen.

Auf den Menschen übertragen, bedeu-tete dies: Nordic Walking im Alter von 90– kein Problem. Über einen wie JohannesHeesters würde die Welt sich wundern,weil er mit 100 schon so zittrig auf die Büh-ne tattert. Und die mit 122 verstorbeneFranzösin Jeanne Calment würde alt aus-sehen gegen den künftigen Star der Me-thusalem-Riege, der es leicht auf 140 brin-gen könnte.

Natürlich lassen sich diese Ergebnissenicht eins zu eins auf den Menschen über-tragen. Aber es ist inzwischen klar, dass derProzess des Alterns zumindest bei den Säu-getieren universal ist. Und es ist auch un-umstritten, dass vom Fadenwurm über dieFruchtfliege bis zum Menschen ganz be-stimmte Gene dabei eine Rolle spielen –mögliche Angriffsorte für eine Verjün-gungsmedizin.

Verführt von der scheinbaren Nähe desJungbrunnens, hat die Alternsforscherin

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Und gegen Krebs, schlägt der britischeForscher vor, müsse ein Unsterblicher sichetwa alle zehn Jahre die körpereigenenStammzellen ersetzen lassen durch neue,gentechnisch leicht korrigierte Versionen,die ein bestimmtes, gefährliches Enzymnicht mehr herstellen.

De Grey hat sich auch Strategien ausge-dacht gegen altersmüde Zellen oder dasErstarren einst flexibler Eiweißstoffe; eineImpfung stellt er sich vor gegen die An-sammlung von Müllmolekülen zwischenZellen, die im Gehirn beispielsweise Alzheimer-Kranker gefunden werden.

Der Vorwurf der etablierten Gerontolo-gen: De Greys Ansatz berücksichtige nichtdie ungeheure Komplexität biologischerProzesse. Nein, widerspricht de Grey, dieGerontologen dächten zu kompliziert:„Der glorreiche Fortschritt dabei ist, dasswir unsere Unkenntnis umschiffen kön-nen.“ Denn um einen Schaden zu reparie-ren, müsse man nicht notwendigerweisewissen, wie dieser entstanden ist.

„Jetzt mag er noch nicht recht haben“,sagt Nir Barzilai. „Aber eines Tages schon– das hoffe ich zumindest.“ Dass „einigeder Dinge, die de Grey sagt, wahr seinkönnten“, konstatiert auch James Vaupel,Direktor des Max-Planck-Instituts für de-mografische Forschung in Rostock. „Aber

er ist einfach zu optimistisch, was die Ge-schwindigkeit dieser Entwicklung betrifft.“

Ginge es nach ihm, prognostiziert deGrey nämlich, könne die Welt bereits inzehn Jahren aus den Angeln gehoben wer-den. Dann – angemessene Förderung vor-ausgesetzt – werde sich wie ein Flächen-brand die Nachricht verbreiten, dass esForschern gelungen sei, die verbleibendeLebensspanne einer zweijährigen Maus perde-Greyscher-Therapie zu verdreifachen.

„Schon 15 Jahre nach dem Mausexperi-ment könnten die ersten Menschen vonder Therapie profitieren“, schätzt der Bio-theoretiker. „Es könnten aber auch nurzehn Jahre sein. Jedenfalls nicht mehr alshundert.“

Vor allem aber würde es reichen, wenndie erste funktionierende Therapie die Le-

benserwartung eines 55-Jährigen zum Bei-spiel verdoppeln könnte. „Weil 25, 30 Jah-re eine Ewigkeit in der Wissenschaft sind“,sagt de Grey. Wenn der Körper jenes erstenPatienten in dieser Zeit also wiederumbeim Status eines biologisch 55-Jährigenangelangt sei, stünden entsprechend bes-sere Therapien zur Verfügung, die ihn wei-tertragen zum nächsten Quantensprung inder Verjüngungsforschung. Und immer soweiter.

Bis dann nach 5000 Jahren endgültig alles Wünschen und Hoffen und Liebendes Unsterblichen endloser Gleichgül-tigkeit gewichen sind. So jedenfalls ergehtes dem zum ewigen Leben verdammtenFosca in Simone de Beauvoirs Roman„Alle Menschen sind sterblich“ – und zwar schon nach ein paar hundert Jähr-chen. Es könnte auch sein, dass der Un-sterbliche in unendlichem Frust dahinve-getiert, weil auch der 155. Beruf ihn ir-gendwie nicht befriedigt. Zumal seine 98. Freundin mit einem 200-jährigenJungspund ohne jede Lebenserfahrung abgezogen ist.

Der Alterslose verbrächte seine Tage inunendlicher Furcht vor Unfall, Seuche, Na-turkatastrophe. Und, auch das ist klar:ohne Kinder. Denn auf die wird der, werewig leben will, verzichten müssen. Sonst

bräche die Welt zusammen un-ter der rasch ausufernden Über-bevölkerung. Dieses Problemkann de Grey nicht lösen, aberer vertraut darauf, dass die Ge-sellschaft dies irgendwie durchRegeln in den Griff bekommenwird.

Vielleicht schießt der Unsterb-liche sich am Ende schlicht eineKugel in den Kopf – oder welcheSelbstmordmethode dann auchimmer en vogue sein wird.

Wollen Menschen überhauptewig leben?

„Das ist die falsche Frage“,sagt de Grey. „Fragen Sie maljemanden, ob er in absehbarerZeit sterben will.“

Der Antwort sicher, stellt Aubrey deGrey auf seinem Kreuzzug gegen das Sterben das Menschsein an sich in Frage. Denn wie definiert sich der Mensch in der Welt, wenn nicht dadurch,dass er als einziges Lebewesen seinen Toddenken kann? Kunst, Musik, Literaturspiegeln das Glück und die Verzweiflungim Angesicht jener unvermeidlichenWahrheit, dass alle Menschen sterbenmüssen.

Der Schriftsteller Vladimir Nabokov be-schrieb das Drama einmal als „äußersteHerabsetzung, den Hohn und Horror, in-nerhalb eines endlichen Daseins eine Un-endlichkeit des Empfindens und Denkensentwickelt zu haben“. Würde sich diesertiefe Widerspruch auflösen, wenn Ewigkeitwirklich wird? Rafaela von Bredow

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Alternsforscher Barzilai: Wissen für Menschen nutzen

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Es kam näher, es machte ihm Angst,bereitete ihm Schmerzen. Der Bauchschwappte, die Beine krampften,

Erektionsstörungen, immer öfter das Ge-fühl, im Weg zu sein, zu „den anderen“ zugehören – so war das, als Bob Jones spür-te, welches Schicksal ihn nun erwartete:alt zu werden, zu sterben.

Finde dich ab, dachte er.Aber warum eigentlich?Das war vor neuneinhalb Jahren.Palm Springs, Kalifornien, kurz nach sie-

ben Uhr: Blauer kann ein Himmel unmög-lich sein, als Bob Jones, leise pfeifend, linkseinbiegt in den Palm Canyon Drive. Er fährteinen weißen Lexus mit cremefarbenenLedersitzen. Palmen am Straßenrand, dasrhythmische Zischen der Sprinkleranlagen,die Blumenbeete leuchten. Bougainvillea,Hibiskus, Magnolien, fett und glänzend.

Bob hält sich Richtung Südwesten, SanJacinto Mountains. Er trägt ein helles

Hemd, tailliert, kurzärmelig. Er schiebt dieSchultern zurück, spannt seine gebräun-ten Arme, Bi- und Trizeps, er spreizt seineaustrainierten Rückenmuskeln, Latissimidorsi, ein kleiner Herr, aufgedreht, freund-liche Augen, Eidechsenhaut.

Er lässt das Seitenfenster herab. „Aaaaah! Perfekt, oder? Diese Wüsten-

luft am frühen Morgen, sie ist so sauber, sobelebend, so perfekt … hey, übrigens, fürwie alt würden Sie mich halten?“ Er fährtschnell, er spricht schnell.

Bob Jones: geboren in der KleinstadtPeoria im Bundesstaat Illinois, Kindheitwährend der Depressionsjahre, dann Sol-dat, dann CIA-Dolmetscher. Später Com-puterverkäufer. Wohlhabend. Drei Kinder,sieben Enkel, zwei Scheidungen. Gebiss:tadellos überkront. Haarimplantat: sitztwie eine Kappe, der Übergang zum kasta-nienbraun gefärbten Resthaar ist kaum zuerkennen, bis auf den stumpfen Farbton-

unterschied und die gepunktete Narben-linie am Stirnansatz, die aussieht wie voneiner Nähmaschine.

Sie sehen gut aus, Bob.„Ja? Oh, das ist nett, danke, danke! Hey,

ich zeig Ihnen was …“Greift in die Brusttasche. „Was ist das? Hah! Nur eine stinknor-

male Sonnenbrille. Früher, bevor ich mitdem Programm anfing, da musste ich zumAutofahren eine Brille tragen, und was füreine, eine Brille mit dicken Gläsern – ichsah aus wie ein Frosch, aber ohne Brillehätte ich keinen Fußgänger von einemBriefkasten unterscheiden können…“

Er setzt sich die Sonnenbrille auf. Wirdernst.

„Ich bin 74. Demnächst 75, yes, Sir. Na und? Bei meinem letzten Sehtest habensie mir den Brilleneintrag aus dem Führer-schein gestrichen. Vor allem aber fühle ich mich besser, ich fühle mich stärker,

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Gesellschaft

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Aufstand in Gottes WartezimmerAlter ist eine Krankheit, und man kann sie heilen: Im Rentnerparadies Palm Springs

verpasst ein amerikanischer Arzt Greisen den Hormon-Pegel von Jünglingen – Doping zu neuerLebenslust. Ein Modell für die alternden Gesellschaften des Westens? Von Ralf Hoppe

Jung-Greis Jones: „Hey, für wie alt würden Sie mich halten?“

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schlanker, mutiger als mit 60 oder 50 odersogar 45…“

Bob verstummt. Rechts am Straßenrand sind zwei junge

Frauen, man sieht im grün-goldenen Ge-genlicht ihre Silhouetten, sie haben ihreHaare zurückgebunden, sie laufen weich,gemächlich, elastisch, unter dem straff sit-zenden, weißen Trikotstoff zeichnen sichihre Schenkel ab, ihre Brüste.

Bob geht vom Gas, augenblicklich, ernimmt die Sonnenbrille ab, fährt imSchritttempo vorüber an den beiden Jogge-rinnen. Starrt in den Rückspiegel. Stumm,versunken, verzückt.

Bob?„Perfekt!“ Er räuspert sich. „Frauen,

wow, tut mir Leid, aber ich…kann michnicht satt sehen an ihnen, ich träume vonihnen…es ist auch ein bisschen anstren-gend!“ Verlegenes Lachen. „Das ist ebeneiner der Effekte aus dem Programm!“

Das Programm: Er sagt es andächtig.„Dr. Chein hat – man könnte sagen, er

hat mich, äh…“ Verwandelt? Verzaubert?„Hey, das klingt gut: verzaubert.“Bob lacht, ein letzter Blick in den Rück-

spiegel, die Joggerinnen sind weg. Er gibtGas.

An der La Mirada Road stellt er denWagen ab, holt aus dem Kofferraum einegraue Sporthose, Laufschuhe, zieht sichum. „Ich brauche etwa 40 Minuten, Siekönnen hier warten…“ Und dann trabt erlos, einen steinigen Bergpfad hinauf, mus-kulös, leichtfüßig, Bob Jones, der neueMensch, der verzauberte Greis.

Unterhalb des Joggingpfades liegt PalmSprings: 354 Sonnentage, 47000 gedörrteEinwohner, mehr als 100 Golfplätze, dar-unter die angeblich schönsten der Welt.Palm Springs, die Altersoase, so steht es inden Reiseführern, wer hier lebt, ist entwe-der Millionär und alt oder Mexikaner undjung, also Kellner.

Es ist eine Welt, in der nichts produziertwird außer Sorglosigkeit, in der nichts pas-siert, außer dass die Bougainvillea blühtund die Schwulen der Stadt sich morgenszu einem betulichen Spaziergang treffen,den sie in zärtlicher Übertreibung „GayPower Walk“ nennen.

Palm Springs lebt von den Schwulen undvom Mythos alter Männer. Frank Sinatra,Dean Martin, Bob Hope hatten hier Villen,Chers Ex-Mann Sonny Bono war mal Bür-germeister, Barry Manilow kann man an-geblich beim Joghurtkaufen treffen. Undsonst? Frühstückscafés, Rollstuhlrampen,kleine Hunde und kaum Kinder. In LosAngeles, zwei Autostunden entfernt, nen-nen sie Palm Springs mit neidvoller Ver-achtung das „Wartezimmer Gottes“.

Dabei hat dort unten ein Krieg be-gonnen.

Es ist ein diskreter und doch erbitterterKrieg, den Bob Jones und seine Altersge-nossen gegen das Erschlaffen ihrer Körper

Er weiß es nicht, aber Bob Jones ist einPrototyp.

Dort unten, fünf Autominuten von seinemJoggingpfad, leben sie, die Alten von PalmSprings, die Vorboten einer neuen Epoche.Sie kämpfen gegen die Endlichkeit, mit Golfund Tonnen von Brokkoli, mit Taiji und Trau-benkernextrakten, und die Kühnsten unterihnen haben eine Wunderwaffe: eine Hor-mon-Mixtur, sie nennen sie „das Programm“.

Sie sind etwa 7000 Patienten in den USA,schätzungsweise 20000 weltweit, ein Club,dessen Mitglieder sich neu programmieren

kämpfen. Der sympathische Bob, der mit74 eine Firma gegründet hat, kann gut noch10, 20, 25 Jahre leben – was so erfreulichwäre wie bizarr.

So etwas hat es noch nie gegeben. 99,9Prozent der Zeit, die die Menschheit die-sen Planeten bewohnte, lag die mensch-liche Lebenserwartung bei 30 Jahren; alt zu werden war die Ausnahme. Inzwischenkönnte jedes zweite Kleinkind 95 bis 100Jahre erreichen. In Deutschland leben fast fünfmal so viele 100-Jährige wie vor 18 Jahren.

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Hormon-Patientin Hunzinger: Die Ware Jugend wird immer begehrter

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ließen und die seitdem darauf schwören,auf den Zaubertrank des Anti-Aging.

Und dort unten hat alles angefangen. Am Stadtrand von Palm Springs, Tah-

quitz Way, im Erdgeschoss eines gel-ben Gebäudes mit blauem Dach.

Der Mann ist klein, feist und würdevoll,er legt ein Dokument auf den schwarzen,polierten Schreibtisch. Es trägt die Num-mer 5855920, ausgestellt vom Patentamtder Vereinigten Staaten am 5. Januar 1999,es sind zwölf Seiten voller Zahlen, Tabel-len, Fußnoten, und links oben steht als In-ventor, als Erfinder: Edmund Y. M. Chein.

„Mein Lebenswerk“, sagt er und lächelt. Das „Palm Springs Life Extension Insti-

tute“: Goldlettern auf den Glastüren,strähnchenblonde junge Frauen an der Re-zeption, goldener Prägedruck auf demGlanzkarton der Broschüren. Hier residiert

die Zelle selbst ist dumm, sie weiß nicht, obsie in einem alten oder jungen Körper lebt,keine Ahnung hat sie, und woher soll siedas auch wissen?“

Er lacht.„Hormone sind ein Geschenk des Him-

mels, Gott gibt sie, der Nachteil ist: Gottnimmt sie. Neun Hormone nimmt Gott denMännern, sobald sie die dreißig über-schreiten, neun den Frauen, sobald sie dievierzig überschreiten.“

Chein macht eine Pause, betrachtet sei-ne Manschetten. „Tja, die Frage war“, sagter, „ob ich diese Entscheidung Gottesakzeptieren sollte.“

Er ist 55, sieht wie 45 aus, höchstens.Dr. Chein, wie machen Sie das?

Er springt auf, zieht zwei Bücher ausdem Regal, es sind seine. Eines heißt„Zurück in die Jugend“, das andere „DerJungbrunnen“, Chein hält sie vor die Brust,als würde ein Werbespot gedreht. „Ichbin“, ein 500-Watt-Lächeln, „mein besterPatient, mein eigener Arzt.“

Cheins Branche, die der großen Ver-heißungen, zieht sie alle an, Propheten,Gurus, Quacksalber. Der französische Neu-rologe Charles Edouard Brown-Séquardwar einer der bekanntesten, er spritzte sicheinen Brei aus Hunde- und Meerschwein-chenhoden, Ende des 19. Jahrhunderts.Der Schweizer Chirurg Paul Niehansschwor auf seine Frischzellenkur, bei derman Gewebe ungeborener Lämmer in denHintern injiziert bekam – 1997 wurde dieTherapie in Deutschland, nachdem es zuTodesfällen gekommen war, verboten.

Und Sie, Dr. Chein? Wissen Sie, was Sietun?

Er legt die Bücher hin, rückt an seinerBrille. „Zu 100 Prozent“, sagt er.

Im Jahr 1990 veröffentlichte der Endo-krinologe Daniel Rudman im „New Eng-land Journal of Medicine“ eine Studie überdie Auswirkungen von Wachstumshormo-nen auf ältere Männer. Seine Ergebnissewaren verblüffend.

Sechs Monate lang hatte Rudman zwölfMänner zwischen 61 und 81 Jahren mitdem Wachstumshormon HGH behandelt,dem Human Growth Hormon, das bishernur zur Bekämpfung von drastischerKleinwüchsigkeit bei Kindern verordnetworden war. Unter dem Einfluss des Hor-mons verloren die Männer im Schnitt 14 Prozent Körperfett, sie bauten zwischenneun und zwölf Prozent mehr Muskel-masse auf, ihre Hautdicke nahm zu, bei einigen auch ihr Sexualtrieb. „Sie warenbiologisch plötzlich bis zu 20 Jahre jün-ger“, sagt Chein.

Chein hörte zufällig von der Studie. Erhatte sich bis dahin auf Rehabilitationsme-dizin spezialisiert, schrieb hoch dotierteGutachten für Versicherungen und ver-stand von Hormonen herzlich wenig. Erbesorgte sich Rudmans Telefonnummer,gratulierte und fragte, ob Rudman sichauch selbst und womöglich über einen län-

Cheins Institut zur Lebensverlängerung,das Hauptquartier im Kampf gegen dieSterblichkeit.

Edmund Chein: in Hongkong geboren,in Beverly Hills aufgewachsen, chinesischerAbstammung. Jurist und Mediziner, paus-bäckig, schwarzes Haar, glänzend, zurück-gekämmt. Kammgarnanzug, roséfarbenesHemd, roséfarbene Seidenkrawatte. Cheinist auf ausdruckslose Weise freundlich, einBuddha des Anti-Aging-Jahrhunderts, mitdem fleischigen Selbstbewusstsein einesMannes, der Wahrheiten austeilt.

„Hormone“, sagt er, „sind der Schlüsselzu allem, was in unserem Körper geschieht.Was aber ist ein Hormon? Nicht mehr alsein komplexes Molekül, das Befehle gibt.Es geht zu einer Zelle, loggt sich in den Re-zeptor ein“ – er patscht in die Hände –„und gibt der Zelle Anweisungen. Denn

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Hormon-Therapeut Chein: „Plötzlich ungeheures Verlangen nach Sex“

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geren Zeitraum das HGH gespritzt hätte.Rudman winkte ab. Er fürchtete, durch dasWachstumshormon ein etwaiges Krebslei-den zu beschleunigen.

„Rudmans Einwand“, sagt Chein, „wartheoretisch richtig. Zu viel Östrogen kannBrustkrebs auslösen, zu viel TestosteronProstatakrebs, und das HGH beschleunigtZellwachstum jeder Art, also wiederumKrebs – und trotzdem stimmte da wasnicht. Denn danach müssten junge Leutemit ihrem viel höheren HGH-Pegel viel häufiger an Krebs erkranken als ältere Menschen – was sie nicht tun. Warum?“

Die Eingebung kam ihm ein knappesJahr später, beim Autofahren.

„Ein gesunder Körper, ein Mercedes-Sportwagen – beide sind komplexe Syste-me. Damit sie ihre volle Leistung bringen,müssen alle Teile ständig auf Verschleiß-verluste hin überprüft werden. Man darfalso nicht nur an einer Stelle ansetzen,nicht nur mit einem Hormon arbeiten, nein– der ganze Cocktail muss stimmen, dannkönnten wir theoretisch bis zu 120, 140Jahre alt werden!“

Chein siedelte um nach Palm Springs. Erwar 41, sehr reich und sehr unglücklich. Erhatte Grund dazu: Sein Blutdruck war zuhoch, sein Cholesterinspiegel ein Desaster.Er hatte viel Zeit und vor nichts Angst.

In Palm Springs erprobte Chein seineTheorie an sich selbst: Jeden Morgen, jedenAbend, ein halbes Jahr hindurch, schluck-te und spritzte er sich einen Mix aus neunHormonen, zweimal täglich beamte er sich auf den Hormon-Pegel eines etwa 18-Jährigen.

Er musste injizieren, weil das Wachs-tumshormon, das Chein als Schlüsselhor-mon ansieht, oral eingenommen von derMagensäure zersetzt werden würde.

ader gestoßen zu sein. 1994 eröffnete ersein Institut – Bob Jones wurde einer sei-ner ersten Patienten.

Bob hatte es nötig. Drei Jahre zuvor hat-te er geheiratet, eine Frau namens Marian-ne Hunzinger. Mit ihr wollte er ein neuesLeben beginnen, er brauchte Kraft dazu, erfühlte sich elend.

Es sollte die erste HGH-gesteuerte Eheder Welt werden.

Marianne Hunzinger, geboren in Ober-kirch im Schwarzwald, 66 Jahre alt, ana-nasblond, Kleidergröße 36/38, Inhaberineiner Second-Hand-Boutique in PalmSprings, war 1989 hierher gezogen, zuvorhatte sie in Beverly Hills gewohnt.

Ihr Leben dort, in den späten siebzigerund achtziger Jahren, beschreibt sie als einenicht endende Party, Marianne Hunzinger

muss eine jener vielen schönen Frauen ge-wesen sein, die irgendwie immer mit-schwammen, flirtbereit, eisblaue Augen,amüsant, stets die Freundin von irgendwem.

„Spaß hat’s gemacht, oh, ja“, sie zucktdie Achseln. „Doch als die ersten Weih-nachtsbäume an meinem Rücken auf-tauchten, Sie wissen schon, diese ekelhaf-ten Querfalten, da war es Zeit, sich nie-derzulassen.“

Eine Heirat war nicht vorgesehen, dochda traf sie auf Bob Jones. „Ach je, und erwar so süß, er gab sich solche Mühe, aberich wollte ihn nicht. Er war ein Wrack.Ausgebrannt, bleich unter seiner Sonnen-bräune, wie ein erschöpfter Gebraucht-wagenverkäufer.“

Sie warnte ihn, sie sei nicht für die Ehegeschaffen, schließlich gab sie nach. Diebeiden heirateten im Winter 1991, derAuftakt war nicht grandios: „Ich schät-ze, wir waren sogar zu schlaff, um uns zutrennen.“

Bis Bob Jones in die Werbeveranstal-tung eines gewissen Dr. Edmund Cheingeriet. „Ich glaube, das war in einer Ho-telhalle, und ich saß auf so einem Klapp-stuhl und staunte. Von allem, was ich überAnti-Aging gelesen hatte, war sein Ansatzder radikalste: totale Hormon-Ersatzthe-rapie, keine halben Sachen. Für die hatman keine Zeit, wenn man auf die siebzigzurast…“

„Das Programm“ kostete Bob Jones mo-natlich etwa 1000 Dollar, die Gegenleistungwar ein chemischer Kick, der die Fest-platte neu programmierte, inklusive Ehe.Marianne Hunzinger war mitten in denWechseljahren, sie fühlte sich schwach, wie ausgestopft von einem nachlässigenPräparator.

„Als hätte die Welt keine Farben mehr.Und ich bekam meinen Hintern kaumhoch. Hockte bei allen möglichen Ärzten,

„Mein Blutdruck normalisierte sichrasch, Cholesterin ebenfalls. Nach drei Mo-naten wog ich zehn Kilo weniger, ohnemich dafür besonders angestrengt zu ha-ben. Ich konnte plötzlich Treppen laufen,hoch, puff, runter, puff, zack.“

Er fährt mit der Hand durch die Luft.„Und vorher war ich einsam, verdrossen,lustlos – plötzlich aber hatte ich ungeheu-res Verlangen nach Sex.“

Er lächelt. Ausdruckslos.„Denn was bleibt, wenn Sie Romantik

und Literatur und so weiter beiseite las-sen? Chemie. Das Leben ist Chemie. Ganzsimpel. Zuvor war mein Verlangen redu-ziert, ich war krank, einmal Sex im Monat,das genügte mir, eher seltener. Mit demHormon-Schub, chemisch gesehen, wurdeich zu einem virilen Mann.“

Ist das nicht etwas – un-natürlich?

„Unnatürlich?“ Cheinguckt erstaunt. „Sehen Sie,bis vor kurzem gingen wirdavon aus: Wir altern chro-nologisch, der Hormon-Pegel sinkt, unddarum altern wir biologisch, so dach-te man. Und dass man nichts machen könne. Falsch! Es ist anders: Wir altern,weil der Hormon-Pegel sinkt, Melatonin,Pregnenolon, DHEA, und das lässt sich beheben.“ Er patscht eine Hand in die andere, lächelt ausdruckslos. „Puff, zack.“

Ist es nicht ein Naturgesetz, dass derMensch altert? Dass es eine Abfolge vonGenerationen gibt?

„Einerseits ja. Müssen wir es hinneh-men? Dann müssten wir Pockenimpfungenablehnen. Will Gott, dass wir kein Penicil-lin verwenden? Nein, er überlässt die Ent-scheidung uns…“

Chein hatte nach seinem gelungenenSelbstversuch das Gefühl, auf eine Gold-

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Gesellschaft

Senioren-Unterhaltungsshow in Palm Springs: Vorboten einer neuen Epoche

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Sie sind zu einem Pärchen neuen Typs mutiert: zwei turtelnde

alte Teenager, aufgekratzt und abgeklärt.

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logen wie etwa Christian Strasburger vonder Berliner Charité, immer noch keineklinische Studie, die endgültig und akzep-tabel den Nutzen des Wachstumshormonsbeweise – und jeder Hormon-Einsatz birgtein Krebsrisiko. Außerdem besteht die Ge-fahr, dass Ohren, Kiefer, Hände oder Füßeübermäßig wachsen, so wie man es beiHGH-gedopten Sportlern kennt. Das Hor-mon-System sei noch nicht gründlich ge-nug erforscht. Man dürfe nicht blindlingsdaran manipulieren.

Chein verzichtet auf endgültige Bewei-se. Die wären auch schwer zu erbringen,schon, weil Chein seinen Patienten einenCocktail aus acht bis neun Hormonen ver-passt, weshalb die Wirksamkeit – oder dasKrebsrisiko – eines einzelnen Stoffes kaumnachzuweisen ist. Es gibt die Befunde zwei-er kanadischer Wissenschaftler, die 25 Hor-mon-Studien mit erwachsenen Patientenverglichen haben, und in 24 dieser Test-reihen berichteten die meisten Patientenüber einen Zuwachs an Lebensqualität –allerdings in drei Studien auch bei denPlacebo-Vergleichsgruppen.

Dass HGH-Therapien die individuelleAktivität und das Wohlgefühl steigern, be-streiten jedoch auch Cheins Kritiker nicht.

Aber sollen alte Menschen herumren-nen und sich aufführen wie wild geworde-ne Teenager?

Bob Jones und Marianne Hunzinger, dieProbanden eines neuen Lebensmodells,haben sich inzwischen scheiden lassen.

Sie waren in sieben hormongesteuertenEhejahren zu einem Pärchen neuen Typsmutiert, turtelnd, sexbesessen, er trat inBodybuilding-Shows auf, sie ließ sich liften

und eröffnete ihre Boutique, zwei alte Tee-nies, aufgekratzt und abgeklärt.

„Womöglich waren wir zu jung, viel-leicht haben wir es übertrieben“, sagt Bob.

„Ich hab ihm gleich gesagt, ich bin nichtfür die Ehe geschaffen“, sagt Marianne.

Sie blieben Freunde.Nach der Scheidung stieg Marianne

Hunzinger aus dem Programm aus. Mitder Boutique lief es nicht mehr so groß-artig, die Umsätze gingen zurück, „und ichdachte, na ja, ich könnte das Geld sparen“.

Die Wirkung?„Die Welt wurde schlagartig grau, öde.

Und jede Nacht kamen Alpträume“, sieschüttelt sich. „Das hab ich etwa ein Jahrdurchgehalten, dann ging ich zurück insProgramm, egal, was es kostet.“

Bob Jones, am nächsten Tag beim Salat-Lunch, findet das richtig. „Hormone sindunser Schicksal“, sagt er, „also können wirunser Schicksal ebenso gut in die Handnehmen.“ Die Kellnerin geht vorbei, Bobschaut ihr nach. ™

und Thyroiden zu sich genommen hatte,nahm ihre Knochendichte zu – „zuletzt aufdie Werte einer jungen Frau! Mein Hausarztwollte es gar nicht glauben“.

Dass es Tumorrisiken gibt, dass sie alseine der ersten Patientinnen immer auchVersuchsobjekt war, hat Nancy Zi nicht ge-stört. „Diese Therapie ist etwas Neues, dashat mir Dr. Chein klar erklärt – na und?Wie lange soll man denn warten, wennman auf die siebzig zugeht – und wo gibtes etwas ohne Risiko?“

1996 wurde Chein, aus Rio de Janeirokommend, am Flughafen von Miami ver-haftet, der Haftbefehl, von der „FederalDrug Administration“ er-wirkt, führte Verstöße gegenBundesgesetze in sieben Fäl-len auf. Chein verbrachte einWochenende im Gefängnisvon Miami, in einem orange-farbenen Overall und Badeschlappen undin einer überfüllten 30-Mann-Zelle, bis er sich am darauf folgenden Montag gegenKaution von 5000 Dollar freikaufen konnte.

Danach war er wirklich sauer.Er gab, sagt er, in kurzer Zeit einen

Großteil seines damaligen Vermögens,etwa 500000 Dollar, für Rechtsanwälte aus,später nochmals rund 350000 Dollar. Aberer gewann zwei Musterprozesse, bekamzwei Patente und errichtete ein globalesFranchise-Unternehmen.

Im Rückblick waren die Dollars sinnvollinvestiert, Cheins Ware, die Jugend, wirdimmer begehrter. Auch Rolf Deyle ausStuttgart, ehemaliger Musical-Unterneh-mer, kam 2000 zu Chein – „als ich michsteinalt und ausgebrannt fühlte“. Deyle warso begeistert, dass er ein Jahr später als ei-ner von zwei Partnern eine Lizenzklinikauf Sylt eröffnete.

Schulmediziner beurteilen den brachia-len HGH-Einsatz skeptisch, Einzelfälle hin,Einzelfälle her. Es gebe, sagen Endokrino-

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Chein-Patientin Zi: Mit 75 wieder so ein Kribbeln im Körper

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„Gott gibt uns Hormone, Gott nimmtsie wieder. Die Frage ist nur:

Soll ich Gottes Entscheidung akzeptieren?“

nur, um zu erfahren, dass das ganz normalsei – für eine Frau in meinem Alter.“

Bob Jones hingegen hüpfte morgens aus dem Bett: trällernd, tatendurstig, un-erträglich. Marianne Hunzinger: „Ich fühl-te mich neben ihm wie seine Oma.“

Schwieriger noch verliefen die Nächte.Marianne Hunzinger hatte praktisch keinInteresse mehr an Sex, ihr neuer Ehemannhingegen barst vor Hormonen. „Der armeKerl. Es war eine Verschwendung, wirk-lich, ich dachte schon daran, wie sagt man,to rent him out, ihn zu vermieten.“

Ein Jahr lang zögerte Marianne Hun-zinger. Ihr Instinkt, der sie 20 Party-Jahrehindurch vor Drogenabstürzen bewahrthatte, warnte sie auch jetzt. „Ich dachte, ichsollte mich aus eigener Kraft aus dieserDepression befreien.“

Es gelang ihr nicht. Also machte sie mit.„Ich wollte endlich jung sein wie Bob.“

Was prompt geschah. „Die Weihnachts-bäume verschwanden, meine Hüften wur-den fest, die Schleimhäute feucht. Teilwei-se, na ja, schliefen wir jede Nacht mitein-ander, und das über Wochen!“

Chein quittiert die erotischen Wunder,die seinen Patienten widerfahren, unauf-geregt: eine Folge der hohen Dosis und deskonzertierten Einsatzes der verschiedenenHormone. „Bei Ehepaaren empfehle ichdringend, dass beide Partner ins Programmgehen.“

Für ihn, sagt auch der Juwelier MarkLiddy, ein muskulöser Hüne und Chein-Pa-tient, mache „Sex schätzungsweise 51 Pro-zent der Sache aus“. Auch Nancy Zi ausLos Angeles, 75 Jahre alt, ehemals Opern-sängerin, empfindet wieder „ein Kribbeln,eine Art Teenager-Neugier“, wenn sieeinen hübschen Mann sieht.

Sie ging zu Chein, weil sie an Osteoporoselitt, und als sie den üblichen Cocktail ausWachstumshormonen, Botenstoffen, Östro-gen, Progesteron, Pregnenolon, Melatonin

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Die Ärztin Susanna Nikolaus sam-melt das Blut 100 Jahre alter Deut-scher – und genau deshalb arbeitet

die Zeit für sie.Keine andere Bevölkerungsgruppe

wächst derzeit so rasant wie die der Me-thusalems. Mehr als 5000 von ihnen be-völkern inzwischen das Land.

Gerade weil etliche der Alten sich einerbeneidenswerten Gesundheit erfreuen, wer-den sie jetzt zu einem Fall für die Heilkun-de. Nikolaus, 42, und ihre Mitstreiter vonder Klinik für Allgemeine Innere Medizinder Universität Kiel sind angetreten, denHochbetagten ihr Geheimnis zu entreißen –wie kriegen die es hin, so lange zu leben?

Altenheimen und Einwohnermeldeämternsuchen die Kieler gegenwärtig in ganzDeutschland gezielt nach Menschen, diemindestens 90, besser noch 100 Jahre altsind. Und die Generation Greis lässt sichnicht lange bitten: Jeden Tag bringt derPostbote zehn Umschläge, darin ein ausge-füllter Fragebogen und drei Röhrchen Blut.

Die Genetikerin Almut Nebel, 42, prä-sentiert die aktuelle Postsendung einerDame, die am 29. Dezember 1899 auf dieWelt gekommen ist. „Die Frau hat in dreiJahrhunderten gelebt – unglaublich!“, sagtsie. Mit vier Kolleginnen bedient sie Zen-trifugen, Analyseroboter und Schüttelwas-serbäder, um die Erbsubstanz DNA aus dem

Die Antwort, so vermuten die Kieler,steht in den Genen geschrieben. Das be-jahrte Erbgut unterziehen sie deshalb einerumfassenden Inspektion.

„Es geht nicht darum, die Erbanlagenso zu manipulieren, dass man 150 Jahre altwird“, sagt Nikolaus, eine Internistin, diezwischen Krankenbett und Labor pendelt.„Aber wir wollen jene genetischen Vari-anten entdecken, die es manchen Men-schen erlauben, bei guter Gesundheit stein-alt zu werden.“

Durch Aufrufe in Seniorenblättern undRadioprogrammen, durch Nachfragen in

* Am 10. April bei einer TV-Aufzeichnung in Suhl.

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Wissenschaft

M E D I Z I N

Jagd nach Methusalem-GenenUm das Geheimnis des gesunden Alterns zu ergründen, durchforsten Ärzte und

Biologen das Erbgut von Greisen. Erste Befunde des internationalen Großprojekts legen nahe: Das Immunsystem entscheidet darüber, ob ein Mensch seinen 100. Geburtstag erlebt.

100-jähriger Schauspieler Johannes Heesters*: Biologische Altersbarriere nicht in Sicht JENS-ULRICH KOCH / DDP

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Lesebeispiel:Von den jeweils 80 Jahrezuvor Geborenen lebten

1999 noch 54 Prozent

1980 noch 41 Prozent

1960 noch 31 Prozent

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80Jahre

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Quelle: HMD

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90Mehr vom Leben Überlebensraten der Deutschen in Prozent

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Blut der Alten zu entschlüsseln.2000 Proben lagern bereits in den Schrän-ken. „Eine Riesenaktion“, findet Nebel.

Innerhalb des Mammutprojekts wird daskomplette Erbgut der Hochbetagten ge-scannt. Hinzu kommen Proben andererPersonen, die nur zwischen 60 und 75 Jahre alt sind und in denselben Dörfernund Städten wohnen. Durch den Vergleichder Erbanalysen, erklärt Nebel, „werdenwir erkennen können, welche genetischenVarianten für ein langes Leben bürgen“.

Die Jagd nach den Methusalem-Genenwird von Mai an sogar noch ausgeweitet.Dann nämlich werden die Kieler mit 24Instituten aus zehn weiteren europäischenLändern das bisher größte Forschungspro-jekt zum Altern des Menschen starten.

In dem Programm „Genetik des gesun-den Alterns“ (nach der englischen Über-setzung „Geha“ abgekürzt) wollen die For-scher unter anderem das Erbgut von 2800hochbetagten Geschwisterpaaren entzif-fern und Antworten auf die Frage suchen,ob man mit Arzneien und Therapien dasAltern vom Siechtum befreien kann. Über-dies wird das Institut für Bevölkerungsfor-schung in Peking mit den Europäern pak-tieren und das Erbgut uralter Chinesendurchmustern.

Der Weltbund der Altersforscher kommtzur rechten Zeit. Denn die Menschheit ver-greist in einem dramatischen Ausmaß –und alle wollen beim Altwerden gesundbleiben.

Die durchschnittliche Lebenserwartungsteigt mit jedem Jahr um weitere drei Mo-nate – und das seit 160 Jahren. In Deutsch-

land liegt sie für Frau-en schon bei 81 und beiMännern bereits bei 75Jahren. Als Ursachen geltenvor allem verbesserte Hygieneund gesündere Ernährung.

Dieser Triumph der Zivilisa-tion hat seinen Höhepunkt nochnicht erreicht. „Es gibt nicht die ge-ringsten Anzeichen, dass die Lebens-erwartung auf ein Limit zusteuert“,sagt James Vaupel, 58, Direktor desMax-Planck-Instituts für demografischeForschung in Rostock. „Mehr als die Hälfte aller Mädchen und ein Drittel derJungen, die heute in Deutschland auf die Welt kommen, werden im nächstenJahrhundert ihren 100. Geburtag feiern.“Sogar dass Menschen 120 oder 130 Jahrewerden, könnte dereinst normal sein –eine biologische Barriere ist bisher nicht in Sicht.

Wer weit vor seiner Zeit stirbt, ist häu-fig selbst schuld. „Rauchen, fehlende Be-wegung und üble Ernährung“, so der Altersforscher Tom Perls von der BostonUniversity, seien die gängigsten Abkür-zungen in den Tod.

Für die meisten anderen, die sich amRiemen reißen, ist bisher so rund um dieachtzig Schluss. Doch immerhin einer von25 dieser Senioren schafft bereits das hun-dertste Wiegenfest – vermutlich weil erüber einen genetischen Vorteil verfügt.

Diese Gunst mehrt die Zahl der frohenTage freilich nicht für jeden, hat Tom Perls herausgefunden. An der amerikanischenOstküste studierte der Gerontologe das Befinden Dutzender Hundertjähriger, die er anschließend in drei Gruppen ein-geteilt hat:• Bei 40 Prozent der Veteranen brachen

bereits im Alter von 60 bis 70 Jahrenchronische Krankheiten aus, denen siedann ganze Dekaden trotzen – die„Überlebenskünstler“.

• Die „Hinhaltetaktiker“ (40 Prozent) zö-gern das Ausbrechen chronischer Lei-den hinaus, bis sie Mitte achtzig sind.

• Die verbleibenden 20 Prozent gehörenzu den „Flüchtlingen“ – sie vermeidenalle schweren Krankheiten, bis sie überhundert sind.Naturgemäß sind es die Flüchtlinge, die

das Interesse der Forscher erregen. Einigedieser Fabelmenschen rauchen sogar – einGenetikerin Nebel (3. v. l.), Kolleginnen mit DNA-Proben: Inspektion der Generation Greis

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weiterer Hinweis auf ein angeborenes Anti-Aging-Programm.

Welche Gene bei der Langlebigkeitschalten und walten, haben Biologen bishernur bei Hefen und Tieren ergründen kön-nen. Die Gruppe um Maren Hertweck undRalf Baumeister von der Universität Frei-burg stieß im Erbgut des Fadenwurms „Ca-enorhabditis elegans“, eines millimeter-kurzen Gartenbewohners, soeben auf einGen namens SGK-1, das offenbar die Zell-alterung reguliert. Normalerweise stürbendie Geschöpfe nach etwa 14 Tagen, erläu-tert Baumeister. „Die Würmer, in denenwir das SGK-1-Gen manipuliert haben,sind dagegen auch nach zwei Wochen nochagil wie junge Tiere.“

Verfügen auch Menschen über solch einJungbrunnen-Gen? Die Gruppe um denBostoner Tom Perls hat den ersten Kan-didaten ausgemacht. Im Erbgut von 137hochbetagten Geschwisterpaaren stießendie Forscher auf eine überdurchschnittlichhäufige Variation: Auf dem Chromosom 4befindet sich ein Gen für das mikrosoma-le Transferprotein (MTP), das vermutlichdie Herstellung von Blutfetten reguliert.Im Unterschied zur Durchschnittsbevölke-rung trugen die greisen Geschwister einebestimmte Variante des MTP-Gens häufi-ger – schon suchen Pharmaforscher nacheinem Medikament, das in diesen Kreislaufeingreifen könnte.

menarbeitet, gilt als Pionier der Alters-forschung.

Immer wieder reist der silberhaarigeProfessor von Bologna nach Sardinien. Inden Bergdörfern oberhalb der Ostküste ist er auf eine sagenhafte Dichte Hundert-jähriger gestoßen. Zu Franceschis Stu-dienobjekten zählte auch Antonio Todde(1889 bis 2002) – damals der älteste Mannder Welt.

Im Herzen Sardiniens scheinen die Uh-ren langsamer zu ticken als andernorts.Während sonst fünfmal mehr Frauen 100Jahre alt werden als Männer, ist das Ver-hältnis in manchen Regionen der Mittel-meerinsel beinahe ausgeglichen. Zudemergaben genetische Analysen, dass vieleder steinalten Bergbewohner eng mitein-ander verwandt sind – womöglich eine Fol-ge von Inzucht in den bis heute abge-schotteten Ortschaften.

„Das alles deutet doch stark auf eineshin“, sagt Franceschi und kritzelt dabeiZahlen und Pfeile auf ein Stück Papier:„Gesundes Altern wird zu einem erhebli-chen Maße vererbt.“

Seine Untersuchungen an mittlerweiletausend Hundertjährigen fügen sich zu einem staunenswerten Szenario: Das Alter,so der Italiener, sei eine chronische Ent-zündung.

„Alzheimer, Krebs, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen – bei all diesen

Bestürmt von Arzneimittelherstellernwird gegenwärtig auch Claudio Fran-ceschi, 60, von der Universität in Bologna.Der italienische Arzt, der beim Geha-Projekt mit den Kieler Forschern zusam-

Wissenschaft

Mediziner FranceschiIst das Altern eine chronische Krankheit?

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Leiden spielen Entzündungen eine Rolle“,erklärt Franceschi. „Deshalb sterben Men-schen mit chronischen Entzündungenfrüher als andere.“

Wie stark ein Mensch altere, doziert derForscher weiter, hänge deshalb entschei-dend damit zusammen, was für ein Im-munsystem er von seinen Eltern geerbthabe. Es müsse einerseits stark genug sein,damit Bakterien und Viren in Schach ge-halten werden – andererseits aber dürfe esauch nicht zu stark sein, damit die Im-munzellen sich nicht gegen den eigenenKörper richten und in ihm chronische Ent-zündungen hervorrufen.

„Damit ein Mensch sehr alt wird, musssein Immunsystem sich im Lauf der Jahr-zehnte immer wieder umgestalten und neujustieren“, sagt Franceschi. „Und diese Ba-lance, die wird einem in die Wiege gelegt.“

Dass dem Immunsystem eine entschei-dende Rolle beim Alterungsprozess zu-kommt, glaubt auch Graham Pawelec, 52,vom Zentrum für Medizinische Forschungder Universität Tübingen. Im Blut einigeralter Menschen entdeckten er und seineKollegen Anhäufungen von Immunzellen,die Viren nicht mehr richtig angreifen kön-nen: „Das begünstigt dann eine erhöhteSterblichkeit.“

Stellen die fieberhaft gesuchten Lang-lebigkeitsgene also Proteine des Immun-systems her? Sollte sich die Annahme im

fit macht. Aber auch ganz profane Ent-zündungshemmer wie Aspirin, so speku-liert Franceschi, könnten „die Leute voraltersbedingten Leiden schützen“.

Aber schon jetzt – ohne Methusa-lem-Gen und Anti-Aging-Pillen – kann(fast) jeder sein Leben verlängern. „DasAltwerden ist ein ungemein formbarerVorgang“, betont Demograf Vaupel.„Durch geeignete Umwelteinflüsse kannman ihn auch im Alter noch beträchtlichausdehnen.“

Den wohl eindrücklichsten Beweis dafürlieferte das „natürliche Experiment“ (soVaupel) der deutschen Wiedervereinigungim Jahr 1990. Dank der Wende wurde imOsten die Umwelt sauberer und die medi-zinische Versorgung besser. Allein dadurchstieg die Lebenserwartung der Ostdeut-schen rapide und hat nunmehr das Niveaudes Westens erreicht.

Selbst Menschen, die am Tag der Wie-dervereinigung bereits 80 bis 95 Jahre altwaren, haben noch vom Mauerfall profi-tiert, wie die Demografen verblüfft fest-stellten.

Den stärksten Einfluss auf die Lebens-erwartung habe deshalb, „wie ein Menschheute lebt“, erklärt Vaupel: „Jeder kannseine eigene Lebenserwartung beeinflus-sen, indem er seinen Lebensstil verändert.Dafür ist es selbst im hohen Alter nie zuspät.“ Jörg Blech

Zuge des Geha-Projekts bestätigen, dannlägen Therapien gegen das Altern auf derHand: vorsorgliche Impfungen etwa, mitdenen man das Immunsystem bereits injungen Jahren für die Fährnisse des Alters

Fadenwurm „Caenorhabditis elegans“ Länger leben im Labor

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Als Hitler geboren wurde, war dieFrau schon ein Teenager. Als der deutsche Diktator Selbstmord

beging, lag ihr 70. Geburtstag bereits hin-ter ihr. Als die Berliner Mauer fiel,schmeckten ihr noch die Zigaretten. Als sie schließlich am 4. August 1997 einesnatürlichen Todes starb, hatte Jeanne Cal-ment aus dem südfranzösischen Arles dashöchste bisher zweifelsfrei dokumentierteMenschenalter erreicht: 122 Jahre und 164Tage.

Zwölf Dekaden Menschenleben: einJahrzehnt Kindheit, ein Jahrzehnt Jugend,vier Jahrzehnte mittleres Erwachsenen-alter, sechs Jahrzehnte Senioren- und Grei-senleben.

Als „Queen Mum“ am 4. August diesesJahres ihren 99. Geburtstag feierte, speku-lierten Zeitungen darüber, wie die rüstigeMutter der britischen Königin den Festtagwohl diesmal begehen würde. Bei ihrem98., berichtete der Londoner „Daily Tele-graph“, habe sie nachts bis halb zwei ge-feiert. Gern trinke sie bei solchen Anläs-

* Drei Phasen einer Zellkultur, die durch genetische Manipulation zum schnellen Altern gebracht wurde.

π Lebensverkürzende Leiden, vom Al-tersdiabetes bis zur Leberzirrhose, wer-den zusehends besser behandel- odergar heilbar.

π Das Wissen um eine gesundheitsför-dernde Ernährung und Lebensweise er-reicht mehr und mehr Menschen – sie es-sen weniger, dafür aber gesünder, bewe-gen sich mehr und gehen vorsichtigermit Genussmitteln um.

π Substanzen mit potenziell altersbrem-sender Wirkung wie etwa Wachstums-und Sexualhormone, das schlafregulie-rende Melatonin aus der Zirbeldrüseoder das an den Enden der Chromoso-men aktive Enzym Telomerase, machenBlitzkarrieren – gestern noch Labor-kuriosität, heute schon im Internet alsJungbrunnen angepriesen.

π Grundlegende Einsichten in die geneti-schen und zellulären Ursachen von Al-terungsprozessen eröffnen völlig neueMöglichkeiten, diese günstig zu beein-flussen oder gar aufzuhalten.„Es gibt keinen Grund für die Annah-

me“, sagt der amerikanische AlternsforscherCaleb Finch, „dass eine grundlegende Gren-ze für die Länge unseres Lebens existiert.“

sen ihren Gin and Tonic und verschmäheauch Champagner nicht.

Ein Leben, so lang wie das 20. Jahrhun-dert. Mit 22 Gemahlin des späteren Kö-nigs. Mit 51 Witwe. Bis heute leidenschaft-liche Züchterin von Rennpferden. Werwürde nicht gern so altern wie MadameCalment oder Queen Mum – geistig fit undkörperlich rüstig, ohne Geldsorgen, gesell-schaftlich geachtet?

Millionen, die in die Jahre kommen, hof-fen auf einen langen Lebensabend vonähnlich hoher Qualität. Schließlich lebensie in einer Ära wirtschaftlichen Wohler-gehens, in der Menschen immer älter wer-den und der medizinische Fortschritt kei-ne Grenzen zu kennen scheint. Die Folge:Vielen gilt ein hohes Alter bei guter Ge-sundheit heute nicht mehr als Privileg, son-dern als eine Art Geburtsrecht.

Fakten, die solche Hoffnungen schüren,finden sich zuhauf, nicht zuletzt bei denDemografen, die eine immer weiter wach-sende Lebenserwartung in den Industrie-ländern prognostizieren. Die Zuversichtwird auch geschürt durch die enorm ge-wachsenen Fähigkeiten der Mediziner undBiologen:

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F O R S C H U N G

Wie alt wird der Mensch? Warum Lebewesen altern und sterben, ist immer noch weithin rätselhaft.

Doch die Biologen sind dabei, das Geheimnis aufzuklären: Sie entdeckten eine Reihe von Mechanismen in der Zelle, die das Leben begrenzen.

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LEBENSZEIT GEWINNEN

Gesunde, alternde, abgestorbene Zellen (in 1200facher Vergrößerung)*: „Ein äußerst kompliziertes biologisches Puzzle“

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Senioren im TierreichHöchstalter verschiedenerLebewesen; in Jahren

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Weinberg-schnecke

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SchimpanseStrauß

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Adler Karpfen

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Noch Ende der siebziger Jahre hattenviele Gerontologen genau das Gegenteilgeglaubt: Unsere Körper seien von derEvolution mit einem Selbstmord-Mecha-nismus ausgestattet, der Alter und Tod her-beiführt.

Mit seiner Grenzaufhebung meintFinch allerdings keineswegs, dass nun einbiblisches Alter – Methusalem soll 969Jahre alt geworden sein – oder gar Un-sterblichkeit erreichbar wären. Der Pro-fessor für die Neurobiologie des Alternsan der University of Southern Californiain Los Angeles ist keiner jener großmäu-ligen Propheten, die aus kurzlebigenTrends weit reichende Progno-sen destillieren.

Weder zieht er aus der gestie-genen durchschnittlichen Le-benserwartung den – falschen –Schluss, damit würde automa-tisch auch das maximal erreich-bare Alter für Menschen baldschon auf 150 oder mehr Jahresteigen. Noch empfiehlt er – wiemanche seiner Kollegen – zurallgemeinen Lebensverlänge-rung eine Hungerkur mit einerum 30 oder gar 60 Prozent re-duzierten Kalorienaufnahme(nur weil Labormäuse unter sol-chen experimentellen Bedin-gungen bis zu 50 Prozent längerleben als normal).

Seriöse Alternsforscher wieFinch kennen zu viele Details,auf welchen vertrackten Wegen Umweltund Gene einen Organismus mehr oderweniger schnell altern lassen. Sie kennen zu viele Ausnahmen von den Regeln jener Theorien, die zu erklären versuchen, wie Pflanzen, Tiere und Men-schen altern. Und sie kennen das Dilem-ma der Evolutionsbiologen, die sich mitdem Problem abmühen, warum wir al-tern und weshalb dieser Prozess in man-chen Kreaturen schneller abläuft als in an-deren.

„Wie kommt es“, fragt Finch, „dass einPhänomen wie das Altern im Laufe derEvolution entstehen kann, obwohl dadurchdie Überlebens- und Fortpflanzungsfähig-keit beeinträchtigt werden“ – also die evo-lutionäre Fitness der betroffenen Organis-

che nach einer einheitlichen Theorie desAlterns.

„Keine Alternstheorie ist in der Lage“,resümieren Ricklefs und Finch, „sämtlicheVeränderungen, die man je in den ver-schiedenartigen Organismen beobachtethat, zu erklären.“ So gebe es immer nochkeine befriedigende Erklärung dafür, war-um sich die Lebensspannen der verschie-denen Säuger um das bis zu 30fache un-terscheiden (siehe Grafik).

Probleme bereitet den Wissenschaftlernund Ärzten vor allem, dass es in der Naturdes Alterns liegt, Veränderungen auf allenEbenen der biologischen Organisation her-

vorzubringen: Der Alternspro-zess wirkt auf molekulare Vor-gänge im Stoffwechsel ebensoein wie auf die Funktion der ver-schiedenartigen Zelltypen, dereinzelnen Organe und auch desganzen Organismus.

Kein Wunder, dass Forscherim Lauf des Jahrhunderts alleinein halbes dutzend ernst zu neh-mende Theorien aufgestellt ha-ben, um das Wie des Alterns zuerklären: Wird der Verschleißdurch die Wirkung von Mutatio-nen verursacht oder durch „freieRadikale“? Oder durch die zah-lenmäßige Begrenzung der Zell-teilungen, durch Abnutzung undVerschleiß, geschwächte Ab-wehrkräfte des Körpers oderschwindende Hormonausschüt-

tung, wie etwa während der Wechseljahreder Frau?

Für die „somatische Mutationstheorie“sind Veränderungen der Erbsubstanz DNS(„Mutationen“) in den Körperzellen (dem„Soma“) die entscheidenden Ereignisse desAlternsprozesses.

Auslöser der Mutationen können Rönt-genstrahlen und Radioaktivität sein, aberauch bestimmte Stoffe – wie sie etwa im

men sinkt? „Altern“, bekennen Finch undsein Kollege, der Ökologie-ProfessorRobert Ricklefs, „ist eines der wirklichgroßen Rätsel der Biologie.“

Die beiden amerikanischen Forscher un-terscheiden sorgfältig zwischen den Be-griffen „Altern“ und „Seneszenz“:π Unter Altern verstehen sie „die fort-

schreitenden Veränderungen, die im Er-wachsenenalter auftreten und meis-tens, aber nicht immer, die Lebens-fähigkeit des Individuums verschlech-tern“ (graue Haare beispielsweise ma-chen ihren Träger nicht anfälliger fürKrankheiten).

π Mit dem Begriff Seneszenz bezeichnensie „spezifische Funktionsverluste beiälteren Individuen“ – etwa den allmäh-lichen Verlust an Elastizität alternderBlutgefäße.Altern und Seneszenz, Gene und Um-

welt, Gesundheit und Krankheit, Glückund Pech steuern ungezählte Teilchen zu„einem äußerst komplizierten biologi-schen Puzzle“ bei, wie Ricklefs und Finchbetonen. An dieser Komplexität scheiter-ten die Biologen bislang bei ihrer Su-

* 1995 bei ihrem 120. Geburtstag.

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Greisin Calment*: Höchstes dokumentiertes Menschenalter

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Page 38: Spiegel.dossier Unsterblichkeit.-.Die Abschaffung Des Sterbens

KörpereigeneAbwehrstoffe

Entstehungvon freienRadikalen

Radikale inder Überzahl

Aufnahme vonSauerstoff zurEnergiegewinnung

Verschleiß durch Freie RadikaleIn den Mitochondrien, den „Kraftwerken der

Zelle”, wird durch Oxidation von NährstoffenEnergie gewonnen. Dabei entstehen so genannteRadikale, die von körpereigenen Abwehrstoffen(Antioxidantien) in Schach gehalten werden.

Mit der Zeit nehmen die Radikale überhandund schädigen die Mitochondrien. Es wird immerweniger Energie gebildet – der Mensch wirdschwächer.

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Tabakrauch enthalten sind – und sogar spontane Vorgänge im Erbgut ohne äußeren Anlass.

Für die Anhänger der „Theorie der frei-en Radikale“ sind chemisch aggressiveBruchstücke von Molekülen oder Atomemit wenigstens einem partnerlosen Elek-tron die wichtigste Ursache von Alterns-prozessen.

Solche Partikel, „freie Radikale“ ge-nannt, verbinden sich in Lebewesen vor-wiegend mit Sauerstoff. Dadurch könnenlebenswichtige Moleküle Schaden nehmen– die Erbsubstanz DNS, die aus Eiweiß-stoffen (Proteinen) bestehenden Zell-strukturen sowie die fettähnlichen Bau-steine der Zellmembran (Lipide). Gegenden Angriff der freien Radikale kann sichein gesunder Organismus mit mehrerenEnzymen sowie mit sogenannten Antioxi-dantien, darunter die Vitamine E und C,zur Wehr setzen.

Für die „Theorie der sterblichen Zelle“liegt das Geheimnis des Alterns und Sterbens dagegen in der allmählichschwindenden Fähigkeit des Körpers, ab-genutzte oder beschädigte Zellen zu er-setzen.

Anhänger dieses Erklärungsmodells ver-weisen auf die Tatsache, dass besondersjene Organe im Alter häufig versagen, dieihre Zellen nicht oder nur selten regene-rieren können. Dies betrifft vor allem Herzund Hirn: Nervenzellen und Herzmuskel-zellen werden in der Regel nicht erneuert;sie sind gewöhnlich so alt wie der jeweili-ge Mensch.

* An der UCLA Medical School in Los Angeles.

Telomere nicht die treibende Kraft für denallgemeinen Prozess des Alterns bei Säu-getieren sein kann. Zudem befürchten For-scher, ein Einsatz des Enzyms beim Men-schen könnte Krebswucherungen auslösen.

Jede der verschiedenen Theorien dar-über, wie Organismen altern, hat ihreSchwächen. Hinzu kommt die Rolle derUmwelteinflüsse – Gifte, Nahrungsbe-standteile, Stress – und deren Wechselwir-kung mit der jeweiligen genetischen Kon-stitution des Individuums: ein gordischerKnoten der Wissenschaft, den bislang nochniemand durchschlagen konnte.

Auch wenn es gelänge, Verschleißer-scheinungen immer wieder zu beheben undschädliche Umwelteinflüsse weitgehendauszuschalten, würde jeder Mensch einesTages sterben. Unaufhaltsam wächst imLaufe des Lebens die Zahl der DNS-Muta-tionen, der Fehler im Erbgut, die fortan beijeder Zellteilung weitergereicht werden. Er-reicht ihre Summe eine kritische Grenze,kommt es unweigerlich zum Exitus.

Zwar verfügen alle Lebewesen über ei-nen körpereigenen Wartungsdienst, derDNS-Schäden reparieren kann. Doch die-ser Service ist nicht perfekt; er arbeitet,wie es scheint, sogar vorsätzlich fehlerhaft– weil die Natur es so will.Aber auch andere Gewebe wie Haut und

Knochenmark, die ihre verbrauchten Zel-len bis ins hohe Alter ständig durch neueersetzen und Verletzungen reparieren,scheinen nicht prinzipiell unsterblich zusein.Wie der US-Biologe Leonard Hayflick1961 entdeckte, können sich menschlicheBindegewebszellen („Fibroblasten“) auchunter idealen Laborbedingungen maximal40- bis 60-mal teilen. Ein „Hayflick-Limit“gilt auch für Fibroblasten anderer Tierar-ten: Mäuse-Zellkulturen erreichen ihr Li-mit nach 28, Schildkröten-Zellkulturennach mehr als 100 Verdopplungen.

Rückenwind bekommt diese Theorie, seitein genetischer Mechanismus an den Endender Chromosomen, in denen die Erbsub-stanz DNS aufgeknäult ist, entdeckt wurde:Dort sitzen, Schutzkappen gleich, speziel-le DNS-Stücke. Diese Telomere werden beijeder Zellteilung etwas kürzer und könntensomit, einer Sanduhr ähnlich, das Lebender Zellen begrenzen (siehe Grafik).

In Keimdrüsen – Eierstöcken und Hoden– sowie in Krebszellen regeneriert jedochdas Enzym Telomerase die Schutzkappen.Dies trägt offensichtlich zur nahezu un-endlichen Lebensdauer von Keimdrüsen-zellen sowie von Tumorgewebe bei. Solöste Anfang 1998 die Meldung vom erfolg-reichen Einbau von Telomerase-DNS beiLaborexperimenten mit Zellkulturen inTexas teils euphorische Berichte über das„Unsterblichkeits-Enzym“ aus.

Inzwischen hat sich die Aufregung ge-legt: Mäusearten mit besonders langenTelomeren leben auch nicht länger als sol-che mit kurzen. Heute gehen Wissen-schaftler davon aus, dass die Länge der

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Labormäuse vor, nach Hungerkur*: Um bis zu 50 Prozent verlängertes Leben

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Tod auf RatenZellmechanismen, die zum Alterndes menschlichen Organismusbeitragen

Zelle

Zellkern

Telomere

Helicase

im Zellkern:23 Chromo-somenpaare

Ein Chromosombesteht aus einemStrang von Desoxyribo-nukleinsäuren (DNS),den Trägern des Erbguts.

VerkürzteEndenAn den Enden derChromosomen sitzen wieSchutzkappen die Telomere.Sie verkürzen sich bei jederZellteilung und wirken so wieeine innere Uhr. Wird einekritische Länge derTelomere unterschritten,kann sich die Zellenicht mehrteilen – siealtert undstirbt.

Defekte GeneDas Enzym Helicase öffnet den spiralförmiggedrehten DNS-Strang. So können die Erb-informationen abgelesen und vervielfältigtund dabei entstehende Fehler korrigiert werden.Ist die Helicase defekt, unterbleibt die Fehler-korrektur – die Zelle altert.

Mito-chondrium

Der DNS-Strangist zweiMeterlang.

Warum hält sie so hartnäckig fest anihrem Todesprogramm? Vermutlich weil esfür den Gang der Evolution unentbehrlichist. „Unsere Unfähigkeit, jeden einzelnenFehler in der DNS zu reparieren“, schreibtdie Wissenschaftsautorin Carol Orlock, „istdie Risikoversicherung der Natur.“

Ohne die Vielzahl der Mutationen könn-te sich der Mensch stark veränderten Um-

Individuen womöglich dramatisch ver-längern; die fernere Zukunft der Spe-zies Mensch sähe dann allerdings ehertrübe aus.

So betrachtet, stirbt einstweilen jeder-mann einen Heldentod: Er opfert sein Le-ben für die Erhaltung der genetischen Viel-falt, ohne die der Homo sapiens nie hätteentstehen können. Barbara Ritzert

weltbedingungen biologisch nicht mehr an-passen. Nur mit Hilfe von Veränderungendes Erbguts ist es der Natur gelungen, ei-nige Lebensformen heil durch die Fährnis-se der katastrophenreichen Erdgeschichtezu manövrieren.

Wären Wissenschaftler künftig im Stande, Mutationen stark zu verringern,würden sie das Leben der menschlichen

LEBENSZEIT GEWINNEN

Page 40: Spiegel.dossier Unsterblichkeit.-.Die Abschaffung Des Sterbens

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Das Jahrhundert der Medizin: Die großen SeuchenSpie

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Wenn es soweitist, will ich dashier nicht ge-

schrieben haben. Dannwiderrufe ich zähneklap-pernd, schweißgebadet,mit angstgeweiteten Pu-pillen. Im Notfall, Herr-schaften, Blaulicht mitSirene, Sauerstoff satt,Hubschrauber, Herzmas-

sage und Tropf, Tropf, Tropf gegen dasverrinnende Leben! Auf der Kippe wer-de ich ein Häufchen Elend, das seineletzten Hoffnungen von den Compu-terausdrucken und Digitaldisplays derIntensivstation zusammenklaubt.

Aber solange ich noch halbwegs im Saft stehe, sieht für mich die Sacheanders aus. Da muß ich losmurren und losketzern gegen den brausendenChoral von den unerhörten Fortschrit-ten der Medizin und die verführerischeVision eines schmerzfreien, durchsa-nierten neuen Millenniums.

Was da an frohen Botschaften aufuns einstürmt, sind volltönende Halb-und Viertelwahrheiten, die den Anfäl-ligen in der Illusion wiegen, für ihn wer-de nichts unversucht gelassen.

„Und der Tod wird nicht mehr sein“steht da mit mikrochirurgischer Akku-ratesse geschrieben – ein Satz, der in-zwischen jede zweite Universitätskli-nik, jedes bessere Forschungsinstitutüberstrahlt. Dort teilt er sich den Him-mel mit einer weiteren metaphysischenZusicherung, die allerdings aufflackertund verlischt wie eine überalterteNeonröhre: „Wer an mich glaubt, dersoll nimmermehr sterben.“

Doch trotz der medizinischen Mira-kel von Pockenimpfung über Penicillinund Organtransplantation bis zurselbstherrlichen Verdoppelung vonSchafsköpfen und anderen Klonerienbeträgt die Mortalitätsrate weiterhin100 Prozent, und zwar inklusive derWundertäter selbst. Die Überwindungdes Todes, dieser unwiderstehliche Kö-der einer gigantischen Gesundheitsma-schinerie, entpuppt sich somit alsWunschbild aus der Konkursmasse derabendländischen Religion. Die techno-logisch hochrüstende Heilkunde willdie ewige Seligkeit als neues endloses

Wohlbefinden. Sie hat keinerlei Skru-pel, zu diesem Zweck an vordersterForschungsfront mit den abgehalfter-ten Erlösungsversprechungen von vor-gestern hausieren zu gehen.

Dabei müßte sich für eine solide na-turwissenschaftliche Weltsicht solcheBauernfängerei von selbst verbieten;ja, der Tod dürfte eigentlich keinen ve-hementeren Fürsprecher finden als denaufgeklärten Mediziner. Schließlichweckt schon die EvolutionstheorieHochachtung vor dem pünktlichen Ex-itus, weil nur die regelmäßige Ausmu-sterung von Gattungsexemplaren eineGenerationenfolge und damit das Fort-dauern der Spezies ermöglicht.

Die Ausdehnung unserer Verweil-dauer – von 45 auf durchschnittlich 77 Jahre –, die wir als zivilisatorischeGroßtat herausposaunen, ist mit Vor-sicht zu genießen, denn der immenseGewinn an Lebenszeit dürfte mit ei-nem ebenso immensen Verlust an Le-bensintensität bezahlt worden sein.

Die einzige Möglichkeit, die Le-benserwartung wilder Tiere sprunghaftzu steigern, ist der Zoo. Im Gegensatzzu ihnen haben wir uns unsere Frei-gehege selbst gebaut und nennen sieStädte. Die Spiegelbildlichkeit derbeiden künstlichen Habitate ist er-schreckend. Selbstredend wollen wirdas nicht wahrhaben. Statt dessen tunwir so, als könnte man aus derselbenFlasche Schnaps plötzlich die doppel-te Anzahl von Gläsern abfüllen, ohnedas Destillat zwischenzeitlich zu ver-wässern.

Nur eine Unüberlegtheit verrät un-seren Selbstbetrug: Die rückhaltloseBewunderung, die wir den „Frühvoll-endeten“, jenen hochprozentigen Exi-stenzen, zollen, denen wie einem Mo-zart, einem Büchner, einem van Gogh– vom Paradebeispiel Christus gar nichtzu reden – die klassische Lebensspan-ne von rund 30 Jahren genügte, um ei-nen unauslöschlichen Eindruck zu hin-terlassen. Wenn immer mehr Biogra-phien hinter den properen Fassadenvon Seniorenresidenzen mit einer reinvegetativen Phase enden, was, bitteschön, soll uns dann noch an den inAussicht gestellten Durchschnittswer-ten von 90, 100, 120 Jahren reizen?

Wir wollen doch gar kein langes,stumpfsinnig weiter und weiter her-aufgeschraubtes Leben; was uns vor-schwebt, ist ein dichtes, sinnvolles, er-fülltes Dasein. Das aber und die damiteinhergehende Gewißheit des Ge-braucht- und Verbrauchtwerdens fälltkeinem in den Schoß. Kaum anders alsunsere savannenbewohnenden Vorfah-ren müssen wir diesem Glück nach-stellen und es „erjagen“.Wer uns dabeimit Tranquilizern das Tempo drosseltoder wer uns mit Placebos wie „In die-sem Jahrhundert garantiert 20 Prozentlänger Patient“ ganz von der Jagd ab-hält, der ist nicht unser Wohltäter, derist unser Feind.

Jeder Lebenslauf hat eine Zielgera-de. Die Verheißung, die Runden zu ver-ewigen und damit die Agonie, denSchlußkampf, abzuschaffen, kann dieMedizin nicht einlösen. Um ihr Gesichtzu wahren, hat sie sich folglich daraufspezialisiert, den Skandal Endlichkeitaus unserem Alltag zu verdrängen. Diewestlichen Gesellschaften bestehenheute zum Großteil aus Unwissenden,aus Analphabeten des Sterbens.

Weil das Verröcheln – man merke,schon das einschlägige Vokabular istunanständig geworden – nicht mehrmitten im prallen Leben stattfindet,wissen wir später nicht, wie man esmacht. In unserem Kopf gibt es keineechten Todesbilder und damit auch kei-ne Erinnerung an ein miterlebtes vor-bildliches Sterben mehr, dem mannacheifern könnte.Womit wir statt des-sen herumlaufen, sind Filmeinstellun-gen zuhauf, in denen Leben ausge-knipst werden wie eine Glühbirne.

Dieser „problemlose“ Instant-Tod istlängst das geheime Ideal geworden,dem die Medizin selbst in Sterbehos-pizen hinterhertherapiert. Man soll esden Todeskandidaten nicht ansehen,wie es um sie steht, und sie sollen esselbst kaum merken. Putzmunter bisan den Rand des Grabes, lautet die De-vise, und dann von heute auf morgennicht mehr da.

Wo das bewußte Sterben, das sein na-hes Ende unübersehbar, unüberhörbarmitteilt, als Störfaktor und Zumutungempfunden wird und man den Problem-fall im Krankenhaus zwischenlagert, bis

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Sisyphus im weißen KittelVon Ulrich Horstmann

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er sich erledigt hat, da kann es nichtüberraschen, daß auch die Trauerschnellöslich sein soll. ,,Sie ist eineKrankheit“, schreibt Philippe Arièsin seiner „Geschichte des Todes“,,,wer sie zeigt, legt eine Charakter-schwäche an den Tag. Die Trauer-zeit ist nicht mehr die des Schwei-gens des Leidtragenden in einergehetzten und indiskreten Gesell-schaft, sondern die des Schweigensder Gesellschaft selbst – das Telefonklingelt nicht mehr, die Leute mei-den einen. Der Leidtragende ist ineiner Art Quarantäne.“

Und der Moribunde selbst, die-ses sozial ausgegrenzte und medi-zinisch ausgelieferte Noch-Lebe-wesen? Die Zeiten, als W. H.Audennoch postume Forderungen an-melden konnte wie ,,Wenn ich totbin, will ich Wagners Götterdäm-merung hören, und wehe, zu Hausebleibt ein Auge trocken!“ scheinen un-wiederbringlich dahin. Heute gilt nichtmehr die Etikette des geruhsamen fried-höflichen Zu-Staub-Werdens, sonderndie des eilfertigen Sich-aus-dem-Staub-Machens und möglichst rückstandsfrei-en Verschwindens. Noch bevor sich et-was einbrennen kann in den Herzender Hinterbliebenen, hat das Kremato-rium seine Arbeit schon getan.

Die Erfolgsbilanz der Lebensretterscheint endlos: 1901 Nobelpreis an W.Röntgen, 1902 Lichttherapie, 1903 Elek-trokardiographie, 1904 Erfindung derHöhensonne, Adrenalinsynthese, 1905Entdeckung des Syphiliserregers, Ein-führung des Kaiserschnitts, 1906 Ent-deckung der Hormone, Behandlung derSchlafkrankheit, erste internationaleKrebskonferenz. Wissen breitet sichaus, will doch nur unser Bestes, unsereHeilung, unser Heil. Man wird die ed-len Motive, die Integrität und Aufopfe-rungsbereitschaft von Generationenvon Grundlagenforschern nicht leicht-fertig in Zweifel ziehen. Trotzdem mußdie Frage gestattet bleiben, ob nichtauch der überwältigende Erfolg derMedizin seine Schattenseiten hat undob die Disziplin vielleicht sogar im Be-griff steht, sich totzusiegen.

Jedes Krankenzimmer, jedes Labor,jeder OP, jede andere Arena, in der

Krankheitserreger bekämpft werden,ist auch ein Trainingsgelände, ja eineBrutstation für die robustesten und an-passungsfähigsten unter ihnen. Erdge-schichtlich sind alle diese Mikroben,Vi-ren, Pilze durch die Hölle gegangenund haben Vulkanausbrüche und Me-teoriteneinschläge, Eiszeiten und alleanderen vorstellbaren und unvorstell-baren Naturkatastrophen überlebt.Wasberechtigt uns da zu der Hoffnung, daßsie ausgerechnet vor unseren Reagenz-gläsern und Retorten kapitulieren wer-den? Angesichts ihrer Erfahrungsräu-me sind knapp 150 Jahre Asepsis undein paar Jahrzehnte Antibiotika ein Au-genzwinkern. Vielleicht räkeln sie sichgerade. Vielleicht hat ihre Gegenwehrnoch gar nicht ernsthaft begonnen.Vielleicht bescheren die Pyrrhus-Siegevon Nobelpreisträgern unseren Kin-deskindern Heimsuchungen, gegen diesich die Pest ausnimmt wie eine mit-telprächtige Grippeepidemie.

Aber selbst wenn die Rechnung auf-ginge und der Triumph etwa über dieInfektionskrankheiten von Dauer wäre,blieben dann im Endeffekt die Patien-ten nicht doch die Verlierer? DieKrankheiten, die die Medizin in denGriff bekommen hat, sind jene, die ih-rer Natur gemäß meist auch einen un-

* Gemälde von Hans Baldung Grien (um 1510).

komplizierten, schnellen, „gnä-digen“ Tod im Gefolge hatten.Sie rafften dahin wie die Chole-ra, eine Blutvergiftung oder der„Schlag“.

Genau das aber kristallisiertsich als das gemeinsame Merk-mal der heute noch übriggeblie-benen unheilbaren Leiden her-aus. Was einer avancierten me-dizinischen Praxis Paroli bietet,ist schleichend, heimtückisch undoft nur mit Mitteln nochmals hin-auszuzögern, deren Nebenwir-kungen fast so schlimm sind wiedie Krankheit selbst. Und immermehr Menschen, denen die Heil-kunde die früher üblichen leich-teren Tode erspart, sehen sichstatt dessen zu einer endlosenTortur verurteilt, finden sich ineinem diesseitigen Inferno wie-

der, wo Teufel und Beelzebub Schicht-dienst leisten.

Die Rückkoppelung ist pervers. Ge-rade weil die Medizin so gut funktio-niert, weil die Forschung so erfolgreichist, werden die Krankheitsbilder immervertrackter, rätselhafter, erbarmungs-loser. Im weißen Kittel steckt ein Sisy-phus. Und dieses so bewunderns- wiebedauernswerte Geschöpf muß lichteMomente haben, Augenblicke, in de-nen ihm der Verdacht kommt, daß dasLeiden vielleicht gar nicht zu minimie-ren, sondern nur umzuverteilen ist unddaß jeder, der hier etwas fortnimmt, esdort zurückzuerstatten hat.

Wir leben und sterben in diesem Ge-flecht von Wechselwirkungen, aus demsich selbst die Heilkunde nicht heraus-sezieren kann. Es ist deshalb kein Zu-fall, wenn das Jahrhundert der Medizinzugleich als das Jahrhundert der Welt-kriege in die Geschichte eingehen wirdund Massentötungen die Massenhei-lungen überschatten. Trotz energischerEingriffe findet die Weltverbesserungnicht statt. In einer Gesellschaft, die esbis zur Einrichtung von Tierkliniken ge-bracht hat, trifft man garantiert auchauf Schlachthöfe.

Horstmann, 49, ist Literaturwissen-schaftler und Autor („Das Untier“,„Jeffers-Meditationen“).

Lebensdarstellung*: Sterben als Störfaktor

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DIE THEMENBLÖCKE IN DER ÜBERSICHT: I. DAS JAHRHUNDERT DER IMPERIEN; II. … DER ENTDECKUNGEN; III. … DER KRIEGE; IV. … DER BEFREIUNG; V. DAS JAHRHUNDERT DER MEDIZIN; VI. … DER ELEKTRONIK UNDDER KOMMUNIKATION; VII. … DES GETEILTEN DEUTSCHLAND: 50 JAHRE BUNDESREPUBLIK; VIII. … DES SOZIALEN WANDELS; IX. … DES KAPITALISMUS; X. … DES KOMMUNISMUS; XI. … DES FASCHISMUS; XII. … DES GETEILTEN DEUTSCHLAND: 40 JAHRE DDR; XIII. … DER MASSENKULTUR

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V. Das Jahrhundert der Medizin: 1. Triumphe der Heilkunst (14/1999); 2. Entwicklung der Organtransplantation

(15/1999); 3. Die großen Seuchen (16/1999)

Das Jahrhundert der Medizin

Triumphe der Heilkunst

Dank Chirurgie und Rettungswesen, Antibiotika, Impfungen undHygiene hat die Heilkunst im 20. Jahrhundert mehr

Erfolge errungen als in den Jahrtausenden davor. Im Jahre 2050 wird es 150000 hundertjährige Deutsche geben.

Ärztekolleg in Berlin (1930); Rettungseinsatz; Gehirnoperation in Erlangen (nachgestellt); Demonstration einer Röntgenaufnahme in London (1934)

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Seine akademischen Zeitgenossen hiel-ten den schmalen Medizinmann Ru-dolf Virchow (1821 bis 1902) für einen

„Fürsten im Reich der Gelehrten“, für ein „Rieseningenium“, den „Weltmeister“schlechthin. Der Berliner Professor hattedie Heilkunst vom Kopf auf die Füße ge-stellt, ein noch heute gültiges System, die„Zellularpathologie“, entwickelt, mehr alsein Dutzend Krankheiten entdeckt und gut2000 wissenschaftliche Arbeiten publiziert.

Unermüdlich, auch als Greis noch 16Stunden in Aktion und so flink, als hetzeihn der Weltgeist, stürmte der Medicus, be-kannt auch als liberaler Bismarck-Gegner,durch Berlin. Auf dem Weg zu einem Vor-trag sprang er am 4. Januar 1902 aus derfahrenden Straßenbahn. Er brach sich denOberschenkelhals, kam nie wieder auf dieBeine und starb bald.

Fritz Schaudinn (1871 bis 1906) war vonanderem Geblüt, ein Zwei-Zentner-Mann,schon in der Schule „vom Turnen dispen-siert“. Der gemütliche Regierungsrat imReichsgesundheitsdienst erhielt 1905 diedienstliche Weisung, endlich den Erregerder Lustseuche Syphilis zu finden. DreiWochen später meldete er Erfolg, unterseinem Mikroskop wimmelten im hängen-den Tropfen zarte, lebhaft beweglicheSpirochäten, die lange gesuchten Erregerder mörderischen Geschlechtskrankheit.Die war – wie der Tabak und die Kartoffel– von Seeleuten aus der Neuen Welt Ame-rika mitgebracht worden.

Schaudinns Entdeckung trug ihn hochhinaus. In Lissabon erhob sich der Inter-nationale Medizinische Kongreß zu seinenEhren, denn die Syphilishatte viele Millionen Men-schen getötet, und die Er-kennung der Mikrobe warder erste Schritt zum Sieg über eine furchtbareMenschheitsplage.

Auf der Rückfahrt ginges Schaudinn schlecht, ermußte an Bord notoperiertwerden. Wenige Tage spä-ter öffneten Chirurgen des Eppendorfer Kranken-hauses in Hamburg einenkindskopfgroßen Abszeßim Enddarm. Der Eitervergiftete Schaudinns Blut,er starb an Sepsis.

Weit vor der Zeit ver-lor auch Alois Alzheimer(1864 bis 1915) sein Leben.

cey“ und der „Armenfürsorge“, lösten –erlösten – die Heilkunde aus den Fesselnfrüherer, mystischer Jahrhunderte.

Virchow, Schaudinn und Alzheimer,Leuchten der neuen Zeit, waren sich ganzsicher: „Die Medizin wird eine Wissen-schaft sein, oder sie wird nicht sein.“ Dochdas eigene Leben verloren die drei Ent-decker, weil Hilfe in ihren speziellen Fällennoch weit entfernt war: Penicillin (eine eng-lische Erfindung) gab es für Deutsche erst1946; die künstliche Niere (konstruiert voneinem Holländer in den USA) stand ab1943 zur Verfügung; künstliche Hüftgelen-ke sind seit 1961 im Einsatz.

Das sind drei Beispiele für den Fort-schritt der Medizin im zu Ende gehendenJahrhundert. Sie lassen sich nahezu belie-big vermehren. Bei aller Kritik an der all-täglichen Praxis der Heilkunst – und ander Fixierung der Heilkünstler auf dasGeld – ist unbestreitbar, daß das 20. Jahr-hundert mehr medizinische Fortschritte ge-bracht hat als die ganze Menschheitsge-schichte seit dem Neandertaler.

Die Ergebnisse sind meßbar: als steigen-de Lebenserwartung, als beweisbarer Er-folg vieler ärztlicher Therapien, als indivi-duelle Hilfe beim schmerzfreien Zahnzie-hen, beim grünen und grauen Star, demLeistenbruch, der Blinddarmentzündung.

Das Spektrum der Erfolge reicht vonden Krankheiten, mit denen es sich halb-wegs leben läßt, bis zu den tödlichen Lei-den: Ein unbehandelter Star läßt die Seh-kraft schwinden, doch der Blinde stirbtnicht an seiner Augenkrankheit. Ein ent-zündeter Blinddarm hingegen – genauge-

Der Professor für Psychiatrie hatte 1906, inSchaudinns Todesjahr, eine mysteriöse De-generation des Gehirns beschrieben. Die-ser „Morbus Alzheimer“ erwies sich vielspäter als „die Krankheit des Jahrhun-derts“ („Deutsches Ärzteblatt“), als eine„Epidemie der Verblödung“.

Alzheimer, ein fröhliches Mannsbild ausBayern mit rundem Kopf und rundem Leib,hatte die frühen Zeichen des Nierenver-sagens konsequent mißachtet. In denWochen vor Weihnachten 1915 wurde derPsychiater, 51 Jahre alt, bettlägerig. DieHarnvergiftung trübte sein Bewußtsein.Zuweilen, so berichtet sein Oberarzt (undSchwiegersohn), sei Vater Alzheimer „ganzvon deliranten Erlebnissen ausgefüllt“ ge-wesen. Er starb im Koma.

Die „künstliche Niere“, die Alzheimervor der tödlichen Urämie bewahrt hätte,war noch nicht erfunden. Und den Regie-rungsrat Schaudinn konnte die Heilkunstnicht retten, weil es zu seiner Zeit zwarkühne Operateure gab, aber keine keimtö-tenden Arzneimittel, „Antibiotika“ wie Pe-nicillin. Heute wäre auch Virchows Bein-bruch kein Todesurteil mehr – routi-nemäßig wird den Verunglückten einkünstliches Hüftgelenk, die „Totalendo-prothese“ (TEP), eingesetzt. Damit läuftman dem Tod davon.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, zu Kai-ser Wilhelms Zeiten, galten DeutschlandsMediziner als die besten der Welt. Über-raschende Entwicklungen, etwa aus demSchattenreich der Bakterien, und chirurgi-scher Elan, basierend auf den öffentlichenAnstrengungen der „Medicinischen Poli-

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Das Jahrhundert der Medizin: Triumphe der HeilkunstSpie

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Traum vom ewigen LebenVon Hans Halter

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Forscher Koch, Virchow, Schaudinn: Hundert Jahre beispiellosen Fortschritts

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nommen handelt es sich um den Wurm-fortsatz („Appendix“) des Blinddarms –,der platzt und seinen Eiter in die Bauch-höhle entleert, gefährdet innerhalb vonStunden das (meist junge) Leben. „Unter-leibstyphus“ schrieben die Ärzte im vori-gen Jahrhundert auf den Totenschein.

Addiert man die vielen kleinen und diespektakulären großen Erfolge der Heil-kunst, so ergibt sich, daß die Medizin inden vergangenen 100 Jahren das mensch-liche Leben in den Ländern der Ersten undZweiten Welt mehr beeinflußt hat als allePolitik und Kriege zusammengenommen.Beispiel Deutschland:π Von 100000 Neugeborenen starben 1901

im ersten Lebensjahr 20234, derzeit sindes nur noch rund 400.

π Geburtshilfe und Neugeborenenmedi-zin haben die Müttersterblichkeit nahe-zu auf Null, die Säuglingssterblichkeitauf Werte im Promillebereich gedrückt.

π Die durchschnittliche Lebenserwartungeiner 30jährigen Frau betrug 1901 nur 37 Jahre, die eines gleichaltrigen Mannesnur 35 Jahre; jetzt haben 30jährige Frau-en noch 51 weitere Lebensjahre zu er-warten, 30jährige Männer 45 (siehe Gra-fik Seite 135).

Oberschicht wird zwar überall auf der Weltwestlich orientierte Heilkunst geboten; denArmen in der Dritten Welt, vor allem inden Krisenregionen Afrikas, fehlt es aberimmer noch an Hygiene, Impfstoffen, Me-dikamenten und einer Aufklärung, die derVernunft und den Naturwissenschaftenverpflichtet ist.

Erfolgreiche Medizin kostet ein Heiden-geld. In Deutschland werden für Zweckedes Gesundheitswesens pro Jahr rund 500Milliarden Mark aufgewendet, etwa zehnProzent des Bruttosozialprodukts. Das ist– gemessen an der Kaufkraft – rund 50malsoviel wie am Beginn dieses Jahrhunderts.

Jeder Bürger profitiert davon, die aller-meisten zahlen zwangsweise in Solidar-kassen ein. Aber jeder Deutsche hat aucheine (nahezu) gleiche Chance gegenüberKrankheit und Tod. Feuerwehr und die Pi-loten der Rettungshubschrauber fragennicht nach Einkommen oder Sozialstatus,wenn sie Verunglückte aufsammeln. DieChancen, Herz, Lunge oder Niere trans-plantiert zu bekommen, werden europa-weit von Computern zugeteilt, nicht vonPolitikern, Theologen oder Chefärzten.

Chronisch Kranke kosten die Solidar-gemeinschaft häufig 100 000 Mark oder

π Viele Infektionskrankheiten sind dankImpfungen vollständig (Pocken) oderweitgehend (Diphtherie, Röteln, Teta-nus, Masern) ausgerottet, durch Medi-kamente heilbar (Syphilis, Malaria) oderzumindest zu bessern.

π Den meßbar größten Beitrag zum Fort-schritt der Medizin leistet die Chirurgie:Vergleichsweise harmlose Krankheiten(etwa Knochenbrüche, Prostataver-größerung, Gallenblasenentzündung)sind ebenso erfolgreich chirurgisch zubehandeln wie bösartige Tumoren desGehirns oder die lebensgefährlichenGefäßverschlüsse des Herzens.

π Die Innere Medizin beherrscht auf ihrenIntensivstationen mittlerweile schwer-ste Gesundheitskrisen, die noch vor ei-nigen Jahrzehnten unweigerlich mit demTod des Patienten endeten.Die menschliche Solidarität gegen den

Tod ist erst in diesem Jahrhundert durchaktives und effizientes Tun wirklich vor-angekommen, wenn auch nicht in allen Tei-len der Welt. Die Differenz zwischen denentwickelten, reichen Nationen der ErstenWelt und den ärmsten Ländern der DrittenWelt ist so groß wie zwischen Mittelalterund Neuzeit. Der jeweiligen Mittel- und

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Operationsroboter (in den USA): Hochrüstung im Krankenhaus

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Die Medizin hat in den vergangenen 100 Jahren das menschliche Leben mehr beeinflußt als alle

Politik und Kriege zusammengenommen.

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1948 Das neue Antibiotikum Streptomycin wirkt gegen Tuberkulose-Bazillen und Pesterreger

1954 Erste Herz-Lungen-Maschinen zur Operationam offenen, stillstehenden Herzen

1955 Polio-Schluckimpfung

1957 Erste Ultraschallaufnahmen von Ungeborenen

1958 In Schweden wirdein Herzschrittmacherimplantiert

1960 Die Anti-Baby-Pillekommt auf den Markt

1960 Die Entwicklung derKünstlichen Niere ist abge-schlossen. Die Blutwäsche(„Dialyse“) wird nun klinischangewandt

1921 Frederick Bantingund Charles Best iso-lieren das Insulin

1928 Der Brite Alexan-der Fleming entdeckt„Penicillium notatum“,einen Pilz, der zur Ent-wicklung von Penicillinführt

1929 Der 25jährige Assistenzarzt Werner Forß-mann legt im Selbstversuch den ersten Herzka-theter; die „Eiserne Lunge“ hilft Polio-Krankenzu überleben

1937 Erste Elektroschockbehandlung psychiatrischer Patienten

1900 Erster „Röntgenkongreß“ in Paris über die1895 entdeckte Strahlung

1901 Der Österreicher Karl Landsteiner erforscht die Blutgruppen

1905 Fritz Schaudinn entdeckt den Syphilis-erreger, die Spirochaetapallida

1906 Alois Alzheimerbeschreibt die Degene-ration des Gehirns(„Morbus Alzheimer“)

1910 Paul Ehrlich synthetisiert das erste Syphilismedikament(„Salvarsan“)

Meilensteine der MedizinRevolutionäre Verfahren verlängern das Leben

Meilensteine der MedizinRevolutionäre Verfahren verlängern das Leben

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mehr pro Jahr, zum Beispiel Quer-schnittsgelähmte; mancher Bluterkranke(„Hämophiler“) benötigt Medikamente imWert von mehreren 100000 Mark pro Jahr.Die Mediziner geben auch dann nicht auf,wenn Guillain-Barré-Patienten – sie lei-den an einem lebensbedrohlichen Läh-mungssyndrom – monatelang in der In-tensivstation einer internistischen Univer-sitätsklinik betreut werden müssen; Kostenpro Tag: gut 2500 Mark.

Der erste Direktor der Berliner Charité,heute ein modernes Großkrankenhaus,hatte sich 1730 gewünscht, daß bei den ein-fachen Leuten „die Krankheit bei der Ar-muth nicht möchte gar zu unerträglich fal-len oder daß Kranke aus Dürftigkeit undMangel des Unterhalts nicht möchten ver-wahrloset dahinsterben, da sie doch hättenkönnen erhalten werden“.

Dieser Wunsch ist in Erfüllung gegan-gen. Ein engmaschiges Netz von Kranken-häusern überzieht das Land. Seit den sieb-ziger Jahren sind auch in den entlegenenWinkeln der Republik moderne Klinikenhochgezogen worden, bestückt mit allem,was gut und teuer ist. Jeder Landrat kämpf-te für Intensivstationen, Computertomo-graphen, einen großzügigen Stellenkegelund den Hubschrauberlandeplatz.

Daß dabei für die Patienten auch nochTelefon, TV-Anschluß und die separateNaßzelle abfielen, trieb die Kosten weiterin die Höhe. Uni-Krankenhäuser schlugenalle Rekorde: Das Klinikum in Aachen, einkolossales Betonmonster, verschlang zweiMilliarden Mark; sein oberster Bauherrwar Johannes Rau, damals Wissenschafts-minister, später Ministerpräsident Nord-rhein-Westfalens.

Diese vielkritisierte Hochrüstung derKrankenhäuser schuf die Grundlage fürMillionen kleiner Siege über Krankheitund Leid und für etliche gloriose Erfolge,in den Hochschulkliniken ebenso wie fern-ab in der Provinz. Die Zahl der im Kran-kenhaus tätigen Ärzte vervielfachte sich;

1876 arbeiteten dort 334 Mediziner haupt-beruflich, um 1900 waren es rund 2000,jetzt sind es mehr als 130000.

Wo einst große Krankensäle mit 24, oft-mals sogar 100 Betten eher der Verwah-rung und lindernden Pflege dienten als derintervenierenden Heilkunst, praktizierenheute die Vertreter von mehr als zweiDutzend ärztlichen Spezialdisziplinen. DieInnere Medizin gebar Augen-, Kinder-,Lungen- und Nierenheilkunde, die Kar-diologen, Hämatologen und Nephrologen,um nur einige wichtige Spezialisten zunennen.

Vorbei sind die Zeiten, da sich ein Chir-urg wie Ferdinand Sauerbruch mit seinemSkalpell an alles heranwagte. Heute gibt esUnfall- und Gefäßchirurgen, Urologen,Gynäkologen, HNO- und Mund-, Kiefer-und Gesichtschirurgen, Neurochirurgen

und die diskreten Helfer der plastischenChirurgie.

So riskant die Auffächerung in nunmehr38 Facharztgebiete ist – nicht eingerechnetweitere 22 „Zusatzbezeichnungen“, etwa„Homöopathie“ –, so segensreich kann dasZusammenwirken sein. Selbst der tüchtig-ste Herzchirurg ist verloren, wenn ihmnicht Fachärzte für Anästhesie und Inten-sivmedizin, Internisten und Laborärzte,Transfusionsmediziner und oft sogarHautärzte sowie Psychiater beistehen: DerHautarzt saniert vor der Herztransplanta-tion die Fußpilze, denn die würden sichpostoperativ womöglich zur Zeitbombewandeln; der Psychiater sitzt am Bett,wenn am dritten Tag die Wahnvorstellun-gen das Gemüt des Geretteten verdunkeln.

Je weiter die Spezialisierung der Ärztefortschreitet – neuerdings gibt es sogar ei-

Polio-Patient (1952 in den USA): Rettung durch die Eiserne Lunge

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1995 In Kalifornienoperieren Robotermillimetergenau Hüftgelenke

1996 Geheimnisvolleneue Krankheiten,vor allem BSE, beunruhigen Ärzteund Patienten

1982 Die durch das Retrovirus HIV verursachte tödliche Immun-schwächekrankheit erhält denNamen Aids, der US-Forscher Robert Gallo enträtselt die Struk-tur des Erregers

1990 Mikrochirurgische Verfahren(„Schlüssellochchirurgie“) setzen sich in allen Sparten der Medizin durch

1992 Die Mikrobe Helicobacter pyloriwird, fast hundert Jahre nach ihrer Ent-deckung, als Hauptursache von Magen-schleimhautentzündungen („Gastritis“)und Geschwüren („Ulkus“) erkannt

1961 Erste künstliche Herz-klappe erfolgreich bei einemMenschen implantiert

1964 Erste Dehnung(„Dilatation“) von verengtenHerzkranzgefäßen

1967 Christiaan Barnard ver-pflanzt als erster ein mensch-liches Herz, der Patient über-lebt 18 Tage

1968 Die Knochenmarks-Transplantation wird erfolgreich angewendet

1975 Intensivmedizin (Beatmung, Sonden-ernährung) hält die amerikanische Koma-Patientin Karen Quinlan jahrelang am Leben

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Quelle: Statistisches Bundesamt

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Operationssaal der Zukunft (Virtuelle Projektion)

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nen Facharzt für „Phoniatrie und Pädau-diologie“ (Stimm-Krankheiten und kind-liche Hörstörungen) –, desto größer wirddie Gefahr, daß der Doktor den Patientenals Ganzen aus den Augen verliert und sichsein Handeln statt dessen nur noch an denApparaten orientiert, einerseits. Anderer-seits: Ohne die Geräteindustrie gäbe es kei-nen medizinischen Fortschritt.

Mit seinen fünf Sinnen, dem Hörrohrund einem kleinen Reflexhämmerchenkann der Arzt nur ganz unzureichend dia-gnostizieren. Wie verbreitet Fehldiagno-sen trotz der apparativen Hochrüstungnoch immer sind, zeigt sich bei der Nach-prüfung der Totenscheine: Bis zu 65 Pro-zent der Diagnosen erweisen sich bei derLeichenöffnung als falsch.

Im Alltag der Medizin, wenn es nichtgleich ans Sterben geht, grübeln zumin-dest die Klinik-Internisten oft stundenlangüber Hunderten von Laborwerten. Erst inKombination mit den diversen Röntgen-,Computertomographie-, Ultraschall- undMagnetresonanzbefunden entsteht ein Bildder Krankheit, oder es können wenigstensbestimmte Leiden verläßlich ausgeschlos-sen werden.

Immerhin gibt es rund 20000 verschie-dene Krankheiten, die den Menschen pla-gen – und jedes Jahr kommen ein paarDutzend neu entdeckte Leiden dazu. Dahilft es dem Arzt wenig, wenn er (wie imInternistenwitz) den Klagen der Ratsu-chenden lauscht: „Immer, wenn ich nachtsaufwache, ist mir ganz schwarz vor Au-gen.“ Oder: „Wenn ich richtig gegessenhabe, fehlt mir der Appetit.“

Die Apparatemedizin hat nicht nur dieDiagnostik gewaltig vorangebracht – nochimmer gilt das Wort aus Virchows und Alz-heimers Zeiten: „Vor die Therapie hat derHerrgott die Diagnose gesetzt“ –, die Tech-nik hilft auch therapieren: Für sehr vieleOrganfunktionen gibt es Ersatz aus Edel-stahl, kleinen Batterien oder Plastik (sieheGrafik).

Die „Eiserne Lunge“, 1931 konstruiert,war noch ein Monstrum, voluminös wiezwei Särge. Immerhin verdanken der Ma-schine Tausende von Poliomyelitis-Kin-dern das Überleben. Die Kinderlähmungist inzwischen dank der Schluckimpfungzumindest in den entwickelten Länderneine Rarität.

Impfprogramme standen am Beginn dernaturwissenschaftlichen Medizin. Das Pround das Contra zur Pockenschutzimpfungentzweite im letzten Jahrhundert medizi-nische Laien und Ärzte.

Je mehr die Doktoren über das unsicht-bare Reich der Mikroben herausfanden,desto deutlicher wurde die Rolle der rund50 000 Arten von Mikroorganismen, mitdenen sich das Säugetier Homo sapiens dieErde teilen muß. Bisher ist es dem Men-schen nur gelungen, als einzige Virus-krankheit die Pocken auszurotten (zu „era-dizieren“). Pockenviren gibt es nur noch ineinigen Stahlbehältern, die bakteriologi-sche Kriegführer in Reserve halten. Selbstdie wollen jetzt mit sich reden lassen unddie gefährlichen Viren womöglich ein fürallemal vernichten.

Der mit viel Trara ins Werk gesetzteKampf gegen andere Infektionskrankhei-ten war weltweit noch nicht erfolgreich.Noch immer sind Infektionskrankheitendie häufigste Todesursache des Menschen.Weil weltweit rund drei Milliarden Men-schen keinen Zugang zu sanitären Ein-richtungen haben und die Hygienestan-dards sich kaum von denen der mittel-alterlichen Pestzeiten in Europa unter-scheiden, kehren in vielen WeltgegendenDiphtherie, Gelbfieber, Hirnhautentzün-dung und Cholera zurück.

Der deutsche Medizin-NobelpreisträgerRobert Koch, der im vorigen Jahrhundertnicht nur den Cholerabazillus,sondern auch die Milzbrand-und die Tuberkulose-Erregerentdeckte, hat – fast neun Jahr-zehnte nach seinem Tod – mit

einer kritischen Bemerkung noch immerrecht: „Wenn die Reichen sich abwendenvon der Not der Armen, triumphieren dieMikroben.“

Der Impfschutz gegen die sechs bedroh-lichsten Infektionskrankheiten des Kin-desalters – Diphtherie, Tetanus, Keuch-husten, Kinderlähmung, Tuberkulose undMasern – kostet in den Entwicklungslän-dern pro Kind nur einen Dollar. Der fehltoft, weil er für Kalaschnikows und die Lu-xuskarossen der Staatslenker ausgegebenwird. Deshalb sterben nach den Angabender Weltgesundheitsorganisation (WHO)pro Jahr rund zwei Millionen nichtgeimpf-te Kinder.

Nicht allen infektiösen Kranken kanndurch Arzneimittel geholfen werden. Ge-gen die Viren – kleinste Erreger auf derschmalen Grenze zwischen belebter undunbelebter Natur – ist noch kein Krautgewachsen. Deshalb dauert die Virus-krankheit Schnupfen mit ärztlicher Hilfeeine Woche, ohne fachlichen Beistand sie-ben Tage.

Die wohltönenden Versprechungen,demnächst gebe es gegen HIV und Aidsein Heilmittel, haben sich als leer erwiesen.Die neue Retrovirusseuche, 1982 erkannt,hat seither mindestens 14 Millionen Men-schen getötet, 34 Millionen (oder mehr), imafrikanischen Simbabwe 26 Prozent derBevölkerung, sind infiziert; irgendeinerettende Arznei ist nicht in Sicht.

Ohnehin ist die Bilanz der Arzneimit-telkunde vor allem strahlend, wenn mansich die Gewinnmargen der Pharmafirmenansieht. Die wissenschaftlichen Innovatio-nen der Pharmakologie sind hingegen eherbescheiden: Noch immer ist Acetylsalicyl-säure, 1897 erstmals zusammengerührt, als„Aspirin“ der verträglichste Helfer gegen

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Schmerzen – und wird neuerdings auchgegen Gerinnungsstörungen und derenFolgen Herzinfarkt und Schlaganfall, so-gar gegen Darmkrebs empfohlen. Die Ent-deckung der keimtötenden Antibiotika, diebeileibe nicht allen Mikroben den Garausmachen, datiert von 1928, als ein hilfreicherZufall dem englischen Laborarzt Alexan-der Fleming den Pilz „Penicillium nota-tum“ zuspielte, aus dem später das Peni-cillin gewonnen wurde.

Im gleichen Jahrzehnt fanden die Kana-dier Banting und Best ein Hormon derBauchspeicheldrüse, das „Insulin“. Seitherist die Zuckerkrankheit, das verbreitetsteStoffwechselleiden, kausal behandelbar.Als ähnlich bedeutsam erwies sich die Iso-lation des weiblichen Hormons Östrondurch den deutschen Biochemiker AdolfButenandt (1929).

Im großen und ganzen, so lautet dieFaustregel der Pharmakologen, wird nuralle zehn Jahre ein wirklich wichtiges Me-dikament entdeckt – und dann dauert es inder Regel noch einmal zehn Jahre, bevordie Ärzte die Novität verordnen.

Die weitaus meisten Medikamente, diees in Deutschland – der „Apotheke derWelt“ – zu kaufen gibt, sind teurer Schrott.Niemand, schon gar nicht die staatlicheAufsicht, kennt ihre wahre Zahl. Die ver-läßlichsten Schätzungen gehen von rund80000 Präparaten aus – wirklich gebrauchtwerden, laut WHO, nur 300.

Doch die Mühsamen und Beladenen, dieAlten und die Einsamen, die Hypochonderund die chronisch Kranken hängen nun

mal an den Verheißungen, die jedes Medi-kament transportiert. Vergebens hat derletzte Bundesgesundheitsminister HorstSeehofer der Vernunft eine Gasse schla-

* Im Woman’s College Hospital, Philadelphia.

nalität, die vorgibt, man könne die „Ma-schine Mensch“ warten und reparieren wie ein Auto.

Weil die Medizin alles selbst definiertund kontrolliert – Ausbildung, Forschung,Praxis –, ist es für die „medizinischenLaien“ ohnehin fast unmöglich, die Au-tonomie der Profession zu erschüttern.Nach verbreitetem ärztlichen Selbstver-ständnis ist es gerade noch akzeptabel,daß der Herrgott dem Arzt über die Schul-ter schaut.

Andererseits sind aber auch die er-wachsenen Patienten autonom – rund einDrittel geht gern zum Arzt, das zweiteDrittel nur notgedrungen, während dasletzte Drittel einen Mediziner nur be-wußtlos zu Gesicht bekommt, etwa nacheinem Verkehrsunfall. Der Eigensinn vielersetzt der eigentlich wünschenswerten Vor-beugung („Prävention“) und Früherken-nung von Krankheiten enge Grenzen.

Was immer an Programmen in den ver-gangenen Jahrzehnten aufgelegt wordenist, fand nur schwachen Widerhall, voneher seltenen Ausnahmen abgesehen: DieOberschicht hat sich das Rauchen abge-wöhnt; manche Dicke kasteien den Leib,meist vergebens; die promisken Singlesführen Kondome mit sich.

Doch Krebs und die Zivilisationskrank-heiten, besonders Herz-Kreislauf-Leiden,erweisen sich als resistent gegen alle gutenRatschläge, die stets zahlreiche Nachteilehaben. Sie frusten den Gesunden jahr-zehntelang, ihr Erfolg ist ungewiß – undschließlich: Was gestern als richtig galt,kann heute schon falsch sein, zum Beispielder Salzverzicht.Auch die Heilkunst prak-tiziert stets nur den gegenwärtigen Standdes Irrtums.

An Vorsorge- und Früherkennungsmaß-nahmen beteiligen sich Ärzte deshalb sehrviel seltener als ihre Patienten. Die Me-

gen wollen. Am Ende seiner Amtszeit re-signierte er vor den obskuren „Naturheil-mitteln“, den überteuerten Modedrogenund der Vielgeschäftigkeit („Polypragma-sie“) der Ärzte, Apotheker und Patienten:„Wenn die Menschen das wollen, denBrennesseltee und die Venensalbe – dannbitte sehr, bedienen Sie sich.“

Ob es überhaupt wünschenswert ist, daßder einzelne gegenüber Krankheit und Tod nur der Vernunft folgt? Die Armee derÄrzte und Pfleger – in Deutschland sind

das gegenwärtig rund 4,2 Millionen Men-schen, die sich beruflich um Patientenkümmern – ist auch deshalb so einfluß-reich, weil sie jeden Wunsch bedient, dennach Irrationalität und Mystik ebenso wiedas Begehren nach High-Tech und Ratio-

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Großkrankenhaus Klinikum Aachen: Millionen kleiner Siege über Krankheit und Leid

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Sektion im Hörsaal (1911)*: „Nirgendwo die Seele gefunden“

Das Jahrhundert der Medizin: Triumphe der Heilkunst

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diziner wissen schließlich aus langer Er-fahrung, daß die vielen guten Ratschlä-ge für Gesundheit und ein langes Lebenmeist ökonomische Interessen transpor-tieren, vor allem, wenn es um Essen undTrinken geht.

Hinter der Margarinekampagne – „demHerzen zuliebe“ – steht der Wunsch derKunstfettproduzenten, dem Ersatzstoff einverkaufsförderndes Gesundheitsimage zuverpassen. Wenn Italiener mit EU-Geldernfür ihr gesundes Olivenöl werben, tun siedas sicher nicht aus Sorge um die Deut-schen und deren Leib. Und die englischeEmpfehlung des Herbstes, ein Mann kön-ne guten Gewissens pro Woche 10 LiterBier oder 35 Gläser Wein trinken, dürftevon Dr. Guinness und Professor Beaujolaisstammen.

Verständlicherweise ist der Wunsch, sich„gesundzuessen“, weit verbreitet. Dochscheint es keine Kost zu geben, die demAllesfresser Mensch ein langes Lebengarantiert. Vegetarier werden nicht älterals Rohköstler, wenn deren Diät vor allemaus Beefsteaktatar und rohem Schinkenbesteht. Die einen bekommen Nieren-steine, die anderen Bluthochdruck – viel-leicht, denn Eigentümlichkeiten der Er-nährung zwingen nichts herbei, sie ma-chen nur geneigt. Die Lebenserwartungvon Völkern, die sich ganz unterschiedlichernähren – etwa Japaner und Italiener –differiert kaum.

Auch die Hoffnung, man könne durchreichlich Sport – insonderheit Joggen undAerobic – Krankheit und frühem Tod da-vonsprinten, ist trügerisch. Die Nonnenbeschaulicher Orden, die ruhigen Schrit-tes im Kreuzgang 30 Minuten am Tag be-tend im Kreis gehen, haben die höchsteLebenserwartung.

Ärzte, denen das ganze Potpourri derguten Tips und wissenschaftlichen Er-kenntnisse zur Verfügung steht, habenkeine längere Lebenserwartung als ihrePatienten. Im Gegenteil: Von den Akade-mikern sterben die Mediziner als erste; amältesten werden Lehrer, Pfarrer und diehöheren Beamten.

Ob ein Mensch alt oder gar uralt wird,das ist, jedenfalls statistisch gesehen, vonvielen Faktoren abhängig: dem Geschlecht(in Deutschland leben Frauen sechs Jahrelänger als Männer), dem Beruf (Gastwir-te und Schichtarbeiter sterben als erste),dem Familienstand (Ledige sind früher tot),der Religion (evangelisch ist vorteilhafterals katholisch), der landsmannschaftlichenZugehörigkeit (die Schwaben leben amlängsten).

Doch die mittlere Lebenserwartung –sie ist definiert als die „wahrscheinlicheZahl der Jahre, die ein Neugeborener ent-sprechend den herrschenden Sterbever-hältnissen eines Beobachtungszeitraumsleben wird“ – sagt nichts aus über die Le-bensdauer des einzelnen Menschen. Einverheirateter, evangelischer, schwäbischer

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Lehrer kann schon morgen von einemSchüler erschossen werden, während einlediger, katholischer Gastwirt in Berlin-Neukölln mit seinen Schichtarbeiter-Gä-sten fröhlich und schon tagsüber die Mol-le zischen läßt. Keine noch so genaueStatistik erlaubt die Vorhersage eines Ein-zelschicksals.

Weshalb Frauen soviel älter werden alsMänner, ist vollends rätselhaft. Die Wis-senschaft offeriert ein gutes Dutzend Er-klärungen, von denen die „Logorrhoe“-Theorie besonders apartist: Danach verdankt dasweibliche Geschlecht denVorsprung an Lebenszeitder Neigung, sich verballebhaft auszutauschenund dem Wortfluß („Lo-gorrhoe“) keine Grenzenzu setzen. Das reinige dieSeele und beuge psycho-somatischen Leiden wieBluthochdruck vor.

Daß die Seele überLeben und Sterben mit-bestimmt, scheint gewiß.Die Selbstmordraten ha-ben sich seit Kaisers Zei-ten kaum verändert; of-fenbar ist der Entschlußzum Freitod nicht durchärztliche Intervention undschon gar nicht durch Te-lefonseelsorge nachhaltigzu beeinflussen. „Ich habe bei TausendenSektionen keine Seele gefunden“, pflegteRudolf Virchow stolz seinen Studenten zuerzählen.

Doch dieser bizarr-materialistischeStandpunkt läßt außer acht, daß die See-le das immaterielle Produkt der Nerven-zellen des Gehirns ist, die Seele mithin imSchädel ihre Heimstatt hat.

Je nach Profession wird das Verdienstdaran, daß immer mehr Menschen immerlänger leben, viele bei guter oder dochpassabler Gesundheit, unterschiedlich ge-wertet: Die Schulmediziner – vom Ge-burtshelfer über den Impf- und Kinder-arzt, die Rettungs- und Intensivmedizinerbis zu den Chirurgen aller Fachrichtungen– können mit nachprüfbaren Argumentenbelegen, daß ihr Tun meßbar Lebensjahreaddiert, in diesem Jahrhundert für denDeutschen rund 30 zusätzliche Jahre, Ten-denz steigend.

Selbst wenn der Sieg über die Säuglings-und Kindersterblichkeit unberücksichtigtbleibt, also nur nach der Lebenserwartung

Man verhungert oder verdurstet auch nichtmehr, nur weil man nicht mehr beißen oderschlucken kann oder will – eine perma-nente Magensonde löst das Problem. DiePflegeversicherung tut das übrige. Sie mo-tiviert Angehörige und die Heimleitung derSeniorenstifte gleichermaßen, in demBemühen um Lebensverlängerung nichtnachzulassen.

Ganz unabhängig vom medizinischenFortschritt hat der die besten Chancen, ge-sund alt oder uralt zu werden, der zwei

alte Eltern und möglichstvier uralte Großelternsein eigen nennt. Dennmehr noch als die Heil-kunst bestimmen die er-erbten Gene den Lauf desLebens.

Deshalb konzentriertsich die moderne For-schung auf diese klein-sten Bausteine der Zel-len.Wenn der Traum vomlangen, gesunden, ja viel-leicht sogar vom ewigenLeben im nächsten Jahr-hundert wahr werdenkönnte, dann nur, wenn es gelänge, den menschli-chen Zellen die Unsterb-lichkeit einzuprogram-mieren.

Gentechnologische Dia-gnostik und Therapie er-

wartet das „Deutsche Ärzteblatt“ alswichtigste Neuerungen der kommendenMedizin. Die Halbwertzeit medizini-schen Wissens habe sich inzwischen, no-tiert das Fachblatt „Medical Tribune“, aufdrei bis vier Jahre verkürzt. Das Tempo isthoch, „die Erfolge stellen sich rasch ein“(so das „Deutsche Ärzteblatt“). Erfah-rungsgemäß dauert alles aber viel längerals erhofft, und mit Sicherheit wird es teu-rer als befürchtet.

Immerhin sind schon dreieinhalb Jahr-hunderte vergangen, seit René Descartes,der große französische Philosoph, Mathe-matiker und Naturwissenschaftler, in ei-nem Anfall von Hybris und Allmachts-phantasie voraussah, daß die Medizin„unendlich viele Krankheiten, vielleichtsogar die Altersschwäche loswerden“ kön-ne. Descartes hat nichts davon erlebt. Erstarb in der Fremde, nur 53 Jahre alt.

Hans Halter, 60, ist Arzt und SPIEGEL-Redakteur in Berlin sowie Autor medizi-nischer Bücher.

eines erwachsenen 20jährigen gefragt wird,ergibt sich ein statistischer Zugewinn vonfast 15 Jahren.

Neben Chirurgie, Anästhesie, Impfstof-fen und Antibiotika verbessern, wie derfranzösische Arzt Michel Allard apodik-tisch sagt, auch die modernen „Konser-vierungstechniken für Lebensmittel, dieErfindung der Tiefkühltruhen, die Zen-tralheizung und der allgemeine Ren-tenanspruch“ die Chance, 100 Jahre alt zu werden. Deshalb haben auch Inge-

nieure und sogar Parteipolitiker dabei mitgeholfen.

100 Jahre alt zu werden, für die meistenMenschen ist das ein schöner Traum. InDeutschland leben gegenwärtig 7000 Män-ner und Frauen, die 100 Jahre oder ältersind; im Jahr 1900 waren es 40, für das Jahr2050 erwartet man rund 150000.

Die Sache hat ein paar Haken. Weil, soder Frankfurter Psychiatrie-Professor Kon-rad Maurer, die „Evolution nicht vorge-sehen hat, daß der Mensch so alt wird“,altert vor allem das Gehirn weit vor dem100-Jahre-Limit. Die „Alzheimer-Epide-mie der Verblödung“ beginnt gerade erst,und sie ist nicht so erfolgreich zu kurierenwie ein steifes Hüftgelenk. ChronischeKrankheiten, meist mehrere („Multimor-bidität“), begleiten den alternden Men-schen. Die Medizin kann sie nur lindern,nicht heilen.

Doch wer alt ist, hat gute Aussichten,uralt zu werden. Man stirbt nicht mehr aneiner Lungenentzündung, die früher als„der beste Feind des alten Mannes“ galt.

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Kinderstation (in Malawi): Impfschutz für nur einen Dollar pro Kopf

L I T E R A T U RWOLFGANG U. ECKART: „Geschichte der Medizin“. Sprin-

ger-Verlag, Berlin, Heidelberg, New York 1998; 428Seiten – Gut verständliches, dabei anspruchvollesBuch von den Neandertalern bis zur Herztransplan-tation.

„MSD-Manual der Diagnostik und Therapie“. VerlagUrban & Schwarzenberg, München,Wien, Baltimore1993; 3408 Seiten – Die dickste Bibel der Heilkunst.

PETER O’NEILL: „Gesundheit 2000“. Herausgegeben vonder WHO 1982, Verlagsgesellschaft Gesundheit; 200Seiten – Kritische Prognosen, von denen etliche schoneingetroffen sind, sowie lange Listen ungelöster me-dizinischer Probleme.

ROLF WINAU, HANS PETER ROSEMEIER (Hrsg.): „Tod undSterben“.Walter de Gruyter Verlag, Berlin, New York1984; 448 Seiten – 20 kluge Essays über die letztenStunden des Menschen.

STEFAN WINKLE: „Geißeln der Menschheit. Kulturge-schichte der Seuchen“. Verlag Artemis & Winkler,Düsseldorf, Zürich 1997; 1400 Seiten – SpannendesStandardwerk über die gefährlichsten, todbringendenInfektionskrankheiten.

WALTER KRÄMER: „Die Krankheit des Gesundheitswe-sens“. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1989; 272Seiten – Analyse der Widersprüche und Kosten desdeutschen Medizinbetriebs.

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