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Sprachlos gemacht in Kita und Familie Nathalie Thomauske Ein deutsch-französischer Vergleich von Sprachpolitiken und -praktiken

Sprachlos gemacht in Kita und Familie · 2016-09-30 · supérieur, et de la Recherche 2002; Bertucci; Corblin 2004, vgl. dazu: Ka-pitel 3 und 5.3). Grund für die unspezifische

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Sprachlos gemachtin Kita und Familie

Nathalie Thomauske

Ein deutsch-französischer Vergleichvon Sprachpolitiken und -praktiken

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Nathalie Thomauske

Sprachlos gemacht in Kita und FamilieEin deutsch-französischer Vergleich von Sprachpolitiken und -praktiken

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Nathalie ThomauskeKöln, Deutschland

ISBN 978-3-658-15835-4 ISBN 978-3-658-15836-1 (eBook)DOI 10.1007/978-3-658-15836-1

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National-bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Co-tutelle Dissertation an der Universität Bielefeld und der Université Paris 13/Nord, 2015

Dr. Nathalie Thomauske war Promotionsstipendiatin der Rosa-Luxemburg- Stiftung in Berlin.

Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa-tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen.

Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier

Springer VS ist Teil von Springer Nature Die eingetragene Gesellschaft ist Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

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Danksagung

Mein herzlicher Dank gilt zunächst Prof. Dr. Isabell Diehm und Prof. Dr.Nacira Guénif-Souilamas, die dieses Promotionsvorhaben jahrelang beglei-tet und durch wertvolle anregende Diskussionen unterstützt haben.

Besonders dankbar bin ich der Bielefelder Forschungswerkstatt, der AGQualitative Methoden der Rosa-Luxemburg-Stiftung, der Berliner Auswer-tungsgruppe und der AG frühkindlicher Arrangements der Hans-Böckler-Stiftung sowie Freund_innen und Kolleg_innen, die mich bei der Planung,dem Zeitmanagement und der gemeinsamen Auswertung bis zu den mühe-vollen Korrekturarbeiten der vorliegenden Arbeit konstruktiv, kritisch undwertschätzend begleitet und unterstützt haben. Ihre wegweisenden undkreativen Ideen haben wesentlich zum Erstellen dieser Arbeit beigetragen.Insbesondere möchte ich in diesem Zusammenhang folgenden Personendanken: Kea Brahms, Catherine Brenot-Thomauske, Patricia Deuser, Chris-tine Hélot, Aki Krishnamurthy, Marlen Löffler, Hanna Mai, Anke Rehbock,Matthias Rehbock, Paul Sebastian Ruppel, Bruno Thomauske und CarolineVierneisel.

Mein Dank geht ebenso an das Forschungsteam des von der Bernhardvan Leer finanzierten Forschungsprojekts „children crossing borders“, dasmir seine Daten zur Analyse zur Verfügung gestellt hat und somit dieseStudie überhaupt erst ermöglicht hat. Insbesondere möchte ich mich dabeibei Christa Preissing, Petra Wagner, Annika Sulzer, Anja Jungen, GillesBrougère und Sylvie Rayna bedanken.

Bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung bedanke ich mich für die finanzielleund ideelle Unterstützung dieser Arbeit.

Nathalie Thomauske Berlin, April 2016

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Inhalt

Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10

Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10

1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111.1 Institutionelle Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 131.2 Dominanzstrukturen in der frühkindlichen Bildung . . . . . 16

1.2.1 Erkenntnisinteresse und Fragestellung . . . . . . . . 181.3 Vorarbeiten im children crossing borders Forschungsprojekt . . 201.4 Eine vergleichende Herangehensweise . . . . . . . . . . . . . 25

1.4.1 Eine Grounded Theory orientierte Studie . . . . . . . 251.4.2 Eine Verortung im Feld der Comparative Education . 27

1.5 Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32

2 Sprachpolitiken und -praktiken dekolonial betrachtet . . . . . . 352.1 Postcolonial, Decolonial und Critical Whiteness Studies . . . . . 39

2.1.1 Postkolonial oder dekolonial? . . . . . . . . . . . . . . 442.2 Das Konzept der hidden agenda . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

3 Sprachpolitik und Sprachideologie(n) . . . . . . . . . . . . . . . 573.1 Sprachpolitik während der Nationenbildung . . . . . . . . . 57

3.1.1 Sprachpolitik Deutschlands . . . . . . . . . . . . . . . 593.1.2 Sprachpolitik Frankreichs . . . . . . . . . . . . . . . . 75

3.2 Das Erbe nationaler und kolonialer Sprachideologien . . . . 873.3 Sprachpolitik in der frühkindlichen Bildung . . . . . . . . . 95

3.3.1 Sprachpolitik in der frühkindlichen Bildung Deutsch-lands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97

3.3.2 Sprachpolitik in der frühkindlichen Bildung Frankreichs102

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8 Inhalt

4 Methodisches Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1074.1 Methoden im Rahmen des CCB-Projekts . . . . . . . . . . . . 107

4.1.1 Sampling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1084.1.2 Die Erstellung der Videoclips als Erhebungsinstrument1094.1.3 Durchführung der Fokusgruppendiskussionen . . . . 1124.1.4 Transkription und Aufnahmen . . . . . . . . . . . . . 116

4.2 Auswertungsmethoden im Rahmen dieser Studie . . . . . . 1174.2.1 Adaption des theoretischen Samplings . . . . . . . . 1194.2.2 Kodierverfahren der Grounded Theory . . . . . . . . 120

5 Konstruktionen von Sprachlosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 1255.1 Sprache(n) als Zugehörigkeits- und Differenzmarker . . . . 126

5.1.1 Sprachgruppenbildung zwischen Integration und Aus-grenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126

5.1.2 Normsprache als „Kitt der Nation“ . . . . . . . . . . 1455.1.3 Anderssprachige Kinder im Spannungsfeld familiärer

und nationaler Zugehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . 1635.1.4 Die Instrumentalisierung der Normsprache als Integra-

tionsförderung oder als Teil eines Sprachregimes . . 1855.1.5 Résumé . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193

5.2 Verstehen oder sich (nicht) verständigen . . . . . . . . . . . . 1965.2.1 Verständnissicherung als Legitimation für Sprachen-

trennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1975.2.2 Kinder schweigen im Kontext der Einrichtung . . . . 2105.2.3 Verständnis oder Verständigung in der Kommunika-

tion mit den Kindern gewährleisten . . . . . . . . . . 2205.2.4 Verstehen oder sich (nicht) verständigen im famili-

ären Lebensbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2285.2.5 Kommunikation zwischen Eltern und pädagogischen

Fach- und Lehrkräften . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2375.2.6 Résumé . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256

5.3 Das Spannungsfeld des Sprach(en)erwerbs . . . . . . . . . . 2585.3.1 Die Normsprache als Zugang zur Dominanzgesellschaft2585.3.2 Spracherwerbslehr- und -lernkonzepte . . . . . . . . 2685.3.3 Die Verwertungslogik bei (Hegemonial-)Sprachen . . 2875.3.4 Explizite Sprachpolitik und Sprachideologien in Be-

zug auf denzweisprachigen Spracherwerb . . . . . . . . . . . . . 297

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Inhalt 9

5.3.5 Berücksichtigung und/oder Ausbau der Mehrspra-chigkeit im Kontext der Einrichtung . . . . . . . . . . 320

5.3.6 Die language awareness-Ansätze für eine machtkriti-sche und mehrsprachliche Bildung . . . . . . . . . . . 337

5.3.7 Résumé . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341

6 Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3456.1 Potential und Limitationen des Zugangs . . . . . . . . . . . . 3456.2 Dimensionen der „Konstruktionen von Sprachlosigkeit“ . . 3496.3 Die Komplexität des Machterhalts und Widerstands . . . . . 352

6.3.1 Implikationen für die pädagogische Praxis und Theo-rieentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358

6.3.2 Eine kritische Pädagogik der frühen Kindheit . . . . 363

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367

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Tabellenverzeichnis

1.1 Vergleich institutioneller Diskriminierung . . . . . . . . . . . 161.2 Differenzierung des CCB-Projekts und der Studie . . . . . . 22

2.1 Differenzlinien der Akteursgruppen . . . . . . . . . . . . . . 36

3.1 Machtverhältnisse von Sprachvarietäten . . . . . . . . . . . . 91

4.1 Notationszeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

5.1 Aufenthaltstitel und erforderliche Deutschkenntnisse . . . . 1895.2 Vergleich institutioneller Diskriminierung . . . . . . . . . . . 343

Abbildungsverzeichnis

1.1 Der Bray und Thomas Cube (1995) . . . . . . . . . . . . . . . 30

2.1 Übersicht über Mechanismen zwischen Ideologie und Praxis 542.2 Zirkularität von Ideologien und Praktiken . . . . . . . . . . . 55

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1 Einleitung

Bereits seit den 1960er Jahren wird die Herausforderung für Bildungssyste-me durch Kinder mit einem sogenannten „Migrationshintergrund“1 im Rah-men wissenschaftlicher Forschung und politischer Debatten in Deutschlandund in Frankreich erörtert (Mecheril 2004; Temime 1999). Ursache hierfür istdie „Gastarbeiterzuwanderung“ nach dem zweiten Weltkrieg nach Deutsch-land bzw. nach der Unabhängigkeit einiger französischer Kolonien nachFrankreich. Ungeachtet der hohen gesellschaftspolitischen Relevanz fehltes in beiden Ländern jedoch an wissenschaftlich fundiertem Wissen überadäquate organisatorische oder curriculare Konzepte in der (frühkindlichen)Bildung. Vor allem seit den Ergebnissen der Vergleichsstudie PISA insbe-sondere der Lesekompetenz (OECD 2000a; OECD 2000b), wird in beidenLändern „Integration“ und der Schlüssel zum Schulerfolg von Kindernmit „Migrationshintergrund“ an Sprachkompetenz gekoppelt (Beauftragteder Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration (BBMFI)2007; Baumert; Klieme; Neubrand; Prenzel; Schiefele; Schneider; Stanat;Tillmann; Weiß 2001; Bertucci; Corblin 2004; Schroeder 2007). Ergebnis derallgemeinen öffentlichen mediatisierten Debatte rund um die PISA-Studie

1 In Deutschland oder Frankreich wird hauptsächlich von Menschen „mit Migrationshin-tergrund“ oder „issus de l’immigration“ gesprochen, um zu bezeichnen, dass sie selbst diedeutsche oder französische Staatsbürger_innenschaft besitzen mögen, ihre Vorfahren (Eltern,Großeltern) jedoch zugewandert sind. Ich halte diese Bezeichnungen aus einer postkolonialenund kritischen Weißseins-Perspektive für problematisch. Ich werde deshalb im Folgendenvon People of Color sprechen bzw. Mutter/Vater oder Kinder of Color, ebenso wie WeißeLehrkraft, um auf ihre Positioniertheit in gesellschaftlichen strukturellen Machtverhältnissenzu verweisen. (vgl. dazu: ausführlicher Kapitel 2.1.). Da in den Debatten, wie auch inder Wissenschaft, mit dieser Bezeichnung „gelabelt“ wird, werde ich diese im folgendenKapitel in Anführungszeichen setzen, um zu markieren, dass ich mich auf diese Bezeichnungbeziehe, aber diese selbst für den Kontext dieser Studie nicht nutze. Ansonsten werde ichentsprechend des Konzeptes des Otherings (Barker 1985) die Bezeichnungen Migrationsanderenutzen und schreibe im Folgenden Anders oder Andere groß und kursiv, um die Konstruktiondes zu-Anderen-gemacht-Werden und nicht-Anders-zu-Sein zu markieren (vgl. dazu: Mecheril1994).

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017N. Thomauske, Sprachlos gemacht in Kita und Familie,DOI 10.1007/978-3-658-15836-1_1

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12 1 Einleitung

war, dass der Druck auf Einrichtungen der frühkindlichen Bildung2 wuchs.Von ihnen wurde erwartet, sprachliche Defizite in der Normsprache3 derKinder so schnell wie möglich zu kompensieren, um sie vor einem künftigen„Schulversagen“ zu „bewahren“. Als Ursache für die geringen Deutsch-und Französischkenntnisse der Kinder wurde in der öffentlichen Debattevorwiegend die fehlende Integrationsbereitschaft von Familien „ausländi-scher Herkunft“ diskutiert. So wurden die als zur Minderheit deklariertenAnderssprachigen für ihre eigene Misere verantwortlich gemacht.

Diese Diskussion führte im deutschen Kontext zu einer Fülle von Ansät-zen zur Sprachförderung, die nicht auf neueren sprachwissenschaftlichenErkenntnissen beruhten, beispielsweise hinsichtlich einer Vorbereitungauf die Anbahnung konzeptueller Mündlich- oder Schriftlichkeit, die inder Schule benötigt wird (Maas 2008, S. 329–388, 627–681; für eine Über-sicht über Sprachförderungskonzepte vgl. dazu: Brockmann 2006; Bainski;Krüger-Potratz 2008). So nutzte man Verfahren, die in der Sonderpädagogikentwickelt wurden (Ehlich; Trautmann 2005, S. 45). In Frankreich wurdeebenfalls dem Normspracherwerb erhöhte Bedeutung zugemessen, jedochnicht expliziert, wie Kinder die Normsprache in der école maternelle ler-nen könnten (Le ministère de l’Education nationale , de l’Enseignementsupérieur, et de la Recherche 2002; Bertucci; Corblin 2004, vgl. dazu: Ka-pitel 3 und 5.3). Grund für die unspezifische Herangehensweise bei derSprachförderung Anderssprachiger ist laut OECD (2004) die fehlende For-schungsbasis, auf die man sich hätte berufen bzw. zurückgreifen können,um angemessen mit den „neuen“ Herausforderungen der Zuwanderungs-gesellschaft umgehen zu können (OECD 2004, S. 67, 71, 76).

Mit Fragen um die institutionellen Rahmenbedingungen in Einrichtun-gen, die die Inklusion von Kindern mit „Migrationshintergrund“ fördern

2 Im Folgenden werden unter der Bezeichnung „Einrichtung“ je nach Kontext frühkindlicheBildungseinrichtungen, sprich Kindertagesstätten (Kita) oder écoles maternelles, verstanden.Sofern es sich um (außer-)schulische Einrichtungen handelt, werden diese als solche präzisiert.3 Ich verwende die Bezeichnungen Normsprachig im Unterschied zu „Deutschsprachig“und „Französischsprachig“, entsprechend dem Hinweis der Sprachwissenschaftler Lüdi;Py: „Wohl setzt erfolgreiche Kommunikation Kenntnisse der Wörter und grammatischenRegeln voraus. Aber das genügt noch nicht. (. . .) Wichtiger noch ist die Kenntnis vonVerhaltensnormen, Regeln der verbalen und non-verbalen Interaktion, die mit dem Gebraucheiner Sprache verbunden sind, ohne daß sie formell in ihr kodiert wären.“ (Lüdi; Py 1984,S. 87). Ebenso verwende ich Anderssprachig als Ersatz für „muttersprachlich“, mehrsprachig,um den Unterschied zwischen den abgewerteten Sprachen Migrationsanderer und den positivkonnotierten Hegemonialsprachen (wie Englisch, Deutsch oder Französisch) zu markieren(vgl. dazu: Kapitel 3.2).

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1.1 Institutionelle Diskriminierung 13

oder behindern und ihrer Relevanz für den Bereich der Migrationspädago-gik und der Pädagogik der frühen Kindheit wird sich Kapitel 1.1 ausein-andersetzen. Die genaue Fragestellung und das Erkenntnisinteresse dieserStudie stelle ich im Anschluss daran vor. Meine Studie stellt eine vertiefendeAnalyse von Daten dar, die im Rahmen des children crossing borders For-schungsprojekts gewonnen wurden. Diesen Zusammenhang erläutere ichim Abschnitt 1.2. Bevor der Aufbau der Arbeit skizziert wird (1.4), begründeich, wie ich diese Forschung im Feld der Comparative Education und derGrounded Theory methodologisch (GTM) verorte (1.3).

1.1 Institutionelle Diskriminierung

Die defizitäre Sichtweise auf Kinder „mit Migrationshintergrund“ und ihrangenommenes bildungsfernes Lebensumfeld sind kein neues Phänomen.Seit Beginn der Einführung der Ausländerpädagogik erhielt das Bildungs-system die Funktion der Kompensation von (sprachlichen) Defiziten, diezwar die Kinder betreffen, wofür aber als Ursache das Elternhaus gese-hen wird. Sie setzt sich in der Bildungspolitik (Bénisti 2004) und auch inBereichen der Wissenschaft bis heute durch (Jampert; Best; Guadatiello;Holler; Zehnbauer 2007; Bartnitzky; Speck-Hamdan 2005, S. 8–18). Im Ge-gensatz zur gängigen Praxis, die Erklärung für das schlechte Abschneidenmehrsprachiger Kinder bei ihnen selbst oder in ihrem Umfeld zu suchen,hinterfragen und problematisieren zahlreiche Studien im Bereich der Schuleoder der frühkindlichen Bildung den Einfluss des Bildungssystems selbst.Die Institution Schule organisiert ihr System nach dem Prinzip der Homoge-nisierung nach dem Alter, der Leistung und der Ethnizität (Diehm; Radtke1999). Die Orientierung an und Normalisierung von einer bestimmten Schü-ler_innen4- und Elternschaft als Weiß, christlich, bildungsnah, Normsprachigund mittelschichtszugehörig trägt zu einer institutionellen Diskriminie-rung von denjenigen bei, die diese Kriterien nicht erfüllen (Büchner 2008;Mecheril 2004, S. 141). So kritisierte auch der UN-SonderberichterstatterVernor Muñoz Villalobos bei seinem Deutschlandbesuch 2006 das deut-sche Bildungssystem für seine institutionelle Diskriminierung, weil es

4 In dieser Studie wird diese Schreibweise (Unterstrich auch als „Gender Gap“ bezeichnet)gewählt, um die maskulin „gegenderte“ Sprache oder die binäre Schreibweise (zum Beispieldie Nennung zweier Geschlechter oder das Binnen-I) nicht zu reproduzieren. Diese Formendiskriminieren Menschen, die sich nicht in die binäre Norm einsortieren (lassen) (Mann oderFrau). Damit werden Menschen inkludiert, die sich weder männlich noch weiblich verorten.

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14 1 Einleitung

auf sozialer Selektion basiert und die Benachteiligung von Kindern mitBehinderung, „mit Migrationshintergrund“ und der von Armut betroffenenKinder verstärkt (Overwien; Prengel 2007, S. 26 f.).

Studien zur institutionellen Diskriminierung bieten demgegenüber ei-ne alternative Sicht, indem sie die exkludierende Organisationslogik derSchule in den Blick nehmen (Gomolla; Radtke 2007; Hormel; Scherr 2004;Hormel 2007; Perroton 2003; Alamartine; Barrou; Contrepois; Debarbieux;Douville; Ernst; Guénif; Morel; Perroton; Rinaudo; Streiff Fenart; Zirotti2006). Darunter wird Folgendes verstanden:

Diskriminierung beinhaltet dabei nicht nur direkte Diskriminierung, also Handlungs-weisen mit diskriminierender Intention, sondern auch indirekte Diskriminierungen,bei denen gerade die Gleichbehandlung zu Benachteiligungen führt. Ein klassischesBeispiel hierfür ist der Schulunterricht in Deutsch für Kinder nicht-deutscher Her-kunftssprache. (Rommelspacher 2002, S. 213)

Im deutschen Kontext sei an dieser Stelle auf die Studie von Gomolla; Radt-ke (2007) verwiesen, die anhand von Übergängen wie der Einschulung undder Übergang von der Sekundarstufe I in die Sekundarstufe II, worunterauch das Sonderschulaufnahmeverfahren fällt, die Selektionspraxis derSchule untersuchen. Das „Sprachdefizit“ fungiert als wichtigstes Kriteriumbzw. dient als Legitimation für die Entscheidung, ein Kind an eine Sonder-schule zu überweisen oder von der Grundschule zurückstellen zu lassen(Gomolla; Radtke 2007, S. 204 f.). Da aber, den Richtlinien entsprechend,Schüler_innen aufgrund von Sprachproblemen nicht an Sonderschulen undHauptschulen empfohlen werden dürfen, wird das Sprachdefizit mit an-deren Deutungen verknüpft, z. B. generellen Entwicklungsverzögerungen,hinderlichem Sozialisationsmilieu, Motivationshinderung und Belastungdurch Migrationserfahrung (ebd., S. 265–282).

Die Debatte in Frankreich ist seit Mitte der 1980er Jahre5 geprägt durchdas Spannungsfeld zwischen der Bevölkerung und dem Respekt gegen-über den universalistischen Idealen der Republik6. Das Bildungssystemignoriert im Namen der Gleichheit Differenzen der Schüler_innen, die sichaufgrund ihrer marginalisierten Position ergeben können, und verschärftdadurch ungleiche Voraussetzungen im Durchlaufen des Schulsystems.

5 Beginn der Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe und Integrationsfragen, daehemalige Kolonisierte oder Nachfahren der Kolonisierten und in Frankreich diskriminiertenMaghrebiner für ihr Recht einstehen als Franzosen und Französinnen gleich behandelt zuwerden (vgl. zum Beispiel die marche des beurs (Demonstration der Maghrebiner)).6 Vgl. die zahlreichen Ausgaben der Zeitschrift Ville-École-Intégration seit 1973, die seit 2004Diversité heißt

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1.1 Institutionelle Diskriminierung 15

Zudem verdrängt in Frankreich die Frage der sozialen Ungleichheit andereDimensionen der Ungleichheit, z. B. aufgrund der Ethnie, „race“ oderder Sprache, wie die Analyse zu Ungleichheit zum Beispiel bei Bautier(2006) zeigt, sodass diese anderen Dimensionen der Ungleichheit in derDebatte nicht zum Tragen kommen. Der blinde Fleck scheint hierbei eineauf Rassismus basierende Ungleichheit darzustellen, wobei der Rassis-mus in Frankreich delegitimiert wird, wie die Debatte um die PostcolonialStudies zeigt (D. Fassin; E. Fassin 2006; Castro Varela; Dhawan 2010; Türk-men 2010, vgl. dazu: Kapitel 2.1). Da keine Statistiken bezüglich einesethnischen Migrationshintergrunds erhoben werden dürfen, kann auchnicht, zumindest nicht quantitativ, untersucht werden, ob und wenn jain welchem Ausmaß dieser eine Rolle im Zugang zu gesellschaftlichenRessourcen, wie z. B. der Bildung, spielt. Qualitative Studien weisen aufeinen „institutionellen Rassismus“ in der Schule hin, der darin besteht, dassdie institutionelle Unzulänglichkeit, mit der Diversität der Schülerschaftumzugehen, stattdessen ihrem Umfeld verantwortet und als ethnischesProblem konstruiert wird: „[D]er institutionelle Rassismus zielt darauf ab,das institutionelle Problem in ein ethnisches Problem zu transformieren“(Übers. d. Verf.; Alamartine; Barrou; Contrepois; Debarbieux; Douville;Ernst; Guénif; Morel; Perroton; Rinaudo; Streiff Fenart; Zirotti 2006, S. 5).Perroton (2003) beleuchtet in diesem Zusammenhang die gängige Praxisund ihre Begründung seitens der Lehrkräfte, vor allem Schüler_innen mit„arabischem Migrationshintergrund“ dazu zu raten, ihre Schullaufbahnnach der Grundschule auf den lycées professionnels7 weiterzuführen (Perro-ton 2003). Den Schüler_innen wird aufgrund ihrer zugeschriebenen odervermuteten ethnischen Herkunft, die durch den Namen, den Wohnort in ei-ner banlieue und/oder ihre Familiensprachen markiert werden, und ihrer inden Augen hegemonialer Sprecher_innen defizitären Französischkenntnis-se, nicht zugetraut, einen Abschluss in einem lycée à l’enseignement général zuabsolvieren. Als Begründung wird angegeben, dass man den Schüler_innenweitere Schwierigkeiten ersparen möchte, und ihnen deswegen dazu anrät,den Weg einer praktischen Ausbildung zu wählen. Damit wird ihnen jedochschon früh der Weg zu einer höheren Bildung erschwert.

In der nachfolgenden Tabelle 1.1 wird die institutionelle Diskriminie-rung innerhalb Frankreichs derjenigen Deutschlands gegenübergestellt.

7 Ähnlich der Berufsschule in Deutschland, wobei ihr Ruf und Prestige nicht so wertvoll istwie die lycée à l’enseignement général.

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16 1 Einleitung

Deutschland FrankreichDirekte institutionelle Diskriminierung:Kinder mit Defiziten in der Normsprachewerden für ein Jahr zurückgestellt, um dieDefizite mithilfe einer „Sprachförderung“(Normsprachförderung) aufzuarbeiten

Indirekte institutionelle Diskriminierung:Kinder of Color (von ehemalsKolonisierten), segregiert in banlieues,die eine Andere Sprache oder eine Varietätdes Französischen wie die langue des citéssprechen werden auf lycées professionnelsverwiesen

Vielzahl an Sprachförderansätzen, zumTeil Anerkennung von Mehr- oderAnderssprachigkeit mit dem Ziel desNormspracherwerbs

Hauptaufgabe der école maternelle:Normspracherwerb, aber Möglichkeitder Einführung von Fremdsprachen

Tabelle 1.1: Vergleich institutioneller Diskriminierung

1.2 Dominanzstrukturen in der frühkindlichen Bildung

Die institutionelle Diskriminierung ist als Teil von gesellschaftlichen und his-torisch etablierten Machtverhältnissen zu verstehen, die sich in allen wichti-gen Institutionen des Staates, wie auch in den Systemen der frühkindlichenBildung, widerspiegeln. Dominanzstrukturen betreffen dabei verschiedeneEbenen der Systeme, wie die strukturelle Klassifizierung innerhalb desgesamten Bildungssystems, die Ausbildung von pädagogischen Fach- undLehrkräften, das professionelle Selbstverständnis und die Lerninhalte selbst(Mac Naughton 2005). Demnach gelten Bildungssysteme als Institutionen,die: „serve to produce and reproduce, as well as distribute, valued resources,and hence which contribute to the production and reproduction of relationsof social difference and social inequality“ (Heller 2006, S. 5). Einige Publika-tionen zum Kontext der Schule weisen darauf hin, dass Bildungsstrukturennicht allein als historische Produkte analysiert werden sollten, sondernauch als Orte, in denen gesellschaftliche Machtverhältnisse hergestellt,artikuliert und transformiert werden (Mecheril 2004; Mac Naughton 2005).Davon ausgehend werden die Strukturen, die Werte und Normen sowiedie Praktiken der Akteure durch gesellschaftliche Diskurse beeinflusstund bringen sie zugleich hervor (Brougère; Guénif-Souilamas; S. Rayna2007, vgl. dazu: Kapitel 1.4). Empirische Untersuchungen verdeutlichendiesbezüglich, dass implizite und explizite Normalitätsvorstellungen überethnisch-kulturelle und sprachliche Differenzen bei Lehrkräften – entgegenihrer Absicht oder gerade im Hinblick auf den Wunsch, Chancengleichheitherzustellen – dazu beitragen, Strukturen sozialer Benachteiligung insbe-

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1.2 Dominanzstrukturen in der frühkindlichen Bildung 17

sondere von Kindern „mit Migrationshintergrund“ zu verstärken (Gomolla;Radtke 2007; Hamburger; Badawia; Hummrich 2005).

Während Forschungsergebnisse zur sozialen, kulturellen, ethnischenoder sprachlichen Benachteiligung von Migrantenkindern im schulischenBereich in Ansätzen bereits zur Verfügung stehen (Gomolla; Radtke 2007;Gogolin; Krüger-Potratz; Kuhs; U. Neumann; Wittek 2005; Gogolin; Helm-chen; Lutz; Schmidt 2003; Hamburger; Badawia; Hummrich 2005; Schiff2004), fehlen diese für den vorschulischen Bereich noch immer weitgehend(Diehm; Panagiotopoulou 2011, S. 17).

Die Frage nach Machtverhältnissen wird im Bereich der Erziehungswis-senschaft unter anderem als Gegenstand der Migrationspädagogik bearbei-tet, die laut Mecheril (2004) wie folgt definiert werden kann:

einen Blickwinkel, unter dem Fragen gestellt und thematisiert werden, die bedeutsamsind für eine Pädagogik unter den Bedingungen einer Migrationsgesellschaft. (. . .) Ge-genstand der Migrationspädagogik sind die durch Migrationsphänomene bestätigtenund hervorgebrachten Zugehörigkeitsordnungen und insbesondere die Frage, wiediese Ordnungen in bildungsinstitutionellen Kontexten wiederholt, produziert undverschoben werden (Mecheril 2004, S. 18 f.).

Im Kontext der Migrationspädagogik geht es demnach vorrangig um natio-ethno-kulturelle Ordnungen. Diese spielen in der vorliegenden Studie abereine den sprachlichen Ordnungen untergeordnete Rolle.

Im relativ neuen Forschungsbereich der frühkindlichen Bildung werdenFragen nach Machtverhältnissen bislang unter folgenden Kategorien derUngleichheit oder Differenz erforscht: der Ethnizität oder des Migrations-hintergrundes (Diehm; Kuhn 2006; Schiff 2004; G. Rayna S. u. B. 2014; Morel2002), die des Genders (Beinzger; Diehm 2003; Faulstich-Wieland 2008), dieder generationalen Ordnung (Alexi 2014; Ntemiris 2011; Honig 1996; Alanen2005), die der Klasse als soziale Ungleichheit (Baader; Cloos; Hundertmark;Volk 2011; Büchner 2008; Bautier 2006) (in Frankreich dominierend) unddie der Behinderung (Kron; Papke 2006; Heimlich; Behr 2009; Gillig 2006;Duvillié 2009).

In Deutschland ist hierzu an erster Stelle das Projekt Kinderwelten zunennen, das aus einer pädagogisch-didaktischen Perspektive zur vorur-teilsbewussten Erziehung arbeitet und veröffentlicht. Basierend auf demAnti-Bias-Ansatz nutzen sie u. a. die Methode der „Persona Dolls“, um mitKindern über diskriminierende Ereignisse und Strukturen ins Gesprächzu kommen und diese in Kooperation mit den Kindern gemeinsam zubearbeiten (Preissing; Wagner 2003; Azun; Enßlin; Henkys; A. Krause;Wagner 2009, vgl. dazu: Kapitel 5.3).

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18 1 Einleitung

Hinsichtlich der Frage, wie die Kategorie der Sprache in ihrer Verwo-benheit mit weiteren Differenzkategorien für die Herstellung von Macht-verhältnissen im Kontext der frühkindlichen Bildung bedeutsam wird, istjedoch zumindest im deutschen und französischen Kontext noch ein For-schungsdesiderat zu konstatieren. Es fehlen bislang Studien, die aus einerkritischen Perspektive einerseits die Machtbeziehungen in der Institutionder Kita/école maternelle zwischen Kindern of Color und Weißen pädagogi-schen Fach- und Lehrkräften oder andererseits die SprachnormierungenAnderssprachiger Kinder und möglicher Konsequenzen in den Blick nehmen.

1.2.1 Erkenntnisinteresse und Fragestellung

Diesem Desiderat widmet sich die vorliegende Studie und fragt danach,welche Bedeutung die Konstruktion von Sprachdefiziten, wie sie für denKontext der Schule verdeutlicht wurde, für frühkindliche Bildungseinrich-tungen hat, und ob und wenn ja wie basierend auf der Kategorie der SpracheMachtverhältnisse hergestellt werden.

Entsprechend den Prinzipien der GTM (Charmaz 2014; Strauss; Corbin1990) und ausgehend von meinen Vorannahmen und Vorkenntnissen, diemich für das Thema sensibilisiert hatten, stellte ich zunächst eher offeneForschungsfragen:

• Wie gehen pädagogische Fach- und Lehrkräfte mit der Mehrsprachig-keit in der Kita/école maternelle um? Wie bewerten sie die Mehrspra-chigkeit von Kindern?

• Welche Sicht/Wahrnehmung haben Eltern auf praktizierte Sprach-politiken der Institution? Was wünschen sie sich für ihre Kinder inBezug auf den Sprach(en)erwerb?

Im Zuge der Analyse und in der Auseinandersetzung mit theoretischenKonzepten und Erkenntnissen wurden die Forschungsfragen sukzessivepräzisiert und adaptiert und zu folgender Fragestellung zusammengefasst:

• Welche hidden agenda8, Diskurse9, Sprachideologien und welches Er-fahrungs- oder Alltagswissen zu Sprachpolitiken und Sprach- oderSprechpraktiken sowohl in der Kita/école maternelle als auch darüberhinaus (im Lebensumfeld der Familie, Öffentlichkeit) spiegeln sich

8 Dieses Konzept entstammt Shohamy (2006) und wird ausführlich im Kapitel 2.2 erläutert.9 Was ich darunter verstehe, erläutere ich im Abschnitt 1.2.

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1.2 Dominanzstrukturen in der frühkindlichen Bildung 19

explizit oder implizit in den Äußerungen pädagogischer Fach- undLehrkräfte sowie der Eltern wider?

Die Studie untersucht empirisch, wie und welche Grundannahmen (Erfah-rungs- oder Alltagswissen), Sprachideologien oder Diskurse die Sprachen-politiken und -praktiken in der frühkindlichen Bildung beeinflussen (kön-nen). Mit welcher Begründung oder Legitimation werden Diskurse undSprachideologien herangezogen oder wann wird auf sie verwiesen? Inwie-fern tragen sie dazu bei, dass Anderssprachige Kinder oder auch deren Eltern(of Color) in den Institutionen der frühkindlichen Bildung ausgegrenzt,diskriminiert oder entmächtigt werden? Unter dem Gesichtspunkt, dassin der frühkindlichen Bildung seit den Ergebnissen von PISA verstärkteine Erziehungs- und Bildungspartnerschaft eingefordert wird und dassEltern mehr in die frühkindliche Bildung mit einbezogen werden sollten(Knappmann 2013, S. 7 f.), scheint es mir wichtig, dabei in der Bearbeitungder Frage sowohl die Perspektiven der pädagogischen Fach- und Lehrkräfteals auch die der Eltern im Hinblick auf die sprachliche Bildung und Erzie-hung der Kinder zu analysieren. Da sich die Arbeit auf Daten stützt, die imForschungsprojekt children crossing borders (Tobin; Adair; Arzubiaga 2013)erhoben wurden, konzentriere ich mich auf diese beiden Akteursgruppen,weise jedoch darauf hin, dass darüber hinaus eine weitergehende Analysedessen, wie Kinder mit den Sprachenpolitiken und -praktiken der päd-agogischen Fach- und Lehrkräfte und Eltern umgehen oder wie sie diesebewerten, sinnvoll wäre (vgl. dazu: Kapitel 6).

Im Zuge der Datenanalyse, orientiert an den Kodierverfahren der GTM10,wende ich mich in Kapitel 2 Theorien zu, die für die gegenwärtige Studierelevant sind. Dabei gehe ich ausführlich auf die Postcolonial, Decolonial undCritical Whiteness Studies und das Konzept der Hidden agenda im Rahmen derCritical Applied Linguistics11 ein. Diese halfen mir dabei, für Machtverhält-nisse, die sich in den Daten abzeichneten, zu sensibilisieren. In Anlehnungan dekoloniale wie postkoloniale Theoretiker_innen wie Guénif-Souilamas(2005), Ha (2003), Mignolo (2000) und Pennycook (2000) gehe ich davonaus, dass sich sowohl in den bildungs-, sprach-, migrationspolitischenund gesellschaftlichen Strukturen als auch in den Sprachideologien und

10 Diese werden im Abschnitt 1.5 und Kapitel 4 erläutert.11 Übersetzt bedeutet das kritische Angewandte Sprachwissenschaft, aber da dieseinternationale Forschungsrichtung, bislang kaum Eingang in Deutschland gefunden hat,verwende ich die englische Bezeichnung. Vertreter_innen der CAL sind: (Moyer; Rojo 2007;Heller 2007; Blackledge 2005; Shohamy 2006; Pennycook 2001; Blommaert 2006; Ricento 2006a;Hornberger 2008).

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20 1 Einleitung

Diskursen koloniale Argumentationen (re-)produzieren in Bezug auf dierassifizierte und geanderte Bevölkerung of Color und ihrer Sprechweisen(Guénif-Souilamas 2005; Ha 2003; Mignolo 2000; Pennycook 2000b, vgl.dazu: Kapitel 2, 3 und 5). Aus diesen machtkritischen Ansätzen speist sichdie Forderung, sich verstärkt mit der (Re-)Produktion und Reaktualisierunggegenwärtiger Machtverhältnisse mittels Sprache auseinanderzusetzen:

Language is being re-cast as a measurable, remunerable skill, alongside old ideologieswhich cast it as a talent or the inherited attribute of an essentialized group. (. . .) Therewill be locally different manifestations, but variations on the theme, not entirely differentsongs. (. . .) But this I think is what a sociolinguistic ethnographic analysis can bring us:an understanding of how things happen, and some sense of why they happen the waythey do. (Heller 2006, S. ix f.)

Bislang konzentrierten sich diese machtkritischen Forschungen in den Berei-chen der Soziologie, der Politik-, Literatur- und Kulturwissenschaft auf dieAnalyse von (historischen) Makrozusammenhängen und die Konstruktionvon Repräsentationen und Bildern in politischen Reden, den Medien undder Literatur (Reuter; Villa 2010; Eggers; Kilomba; Piesche; S. Arndt 2005;Ha; Al-Samarai; Mysorekar 2007; Blackledge 2005) sowie selten auch aufBildungsinstitutionen in Form von ethnographischer Forschung in Schu-len (Hornberger 2008). Der Bereich der frühkindlichen Bildung hingegenscheint von diesen Forschungsansätzen oder -perspektiven bislang wenigin den Blick genommen worden zu sein (Eggers 2008). Für die Analyse unddas Erkenntnisinteresse nach Machtverhältnissen in der Kita im Hinblickauf die Kategorie der Sprache sind diese Ansätze aber sehr fruchtbar. Damitsoll die Studie dazu beitragen, ein Forschungsdesiderat in der Analysesprachlicher Machtverhältnisse in der frühkindlichen Bildung zu füllen.

1.3 Vorarbeiten im children crossing borders Forschungsprojekt

Die vorliegende Studie nutzt Daten, die im Rahmen eines internationalenForschungsprojekts children crossing borders (CCB) (Tobin; Adair; Arzubiaga2013) generiert und aufbereitet wurden. Die Forschung wurde in folgendenLändern durchgeführt: Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italienund den U.S.A. Die Auswahl dieser Länder basierte zum einen auf ihrerÄhnlichkeit hinsichtlich ihrer demokratischen Struktur, zum anderen aberauch auf ihrer Unterschiedlichkeit hinsichtlich ihrer jeweiligen Systeme derfrühkindlichen Bildung und Erziehung und ihrer Herangehensweisen undVorstellungen von Staatsbürger_innenschaft, Nation, Föderalismus undöffentlichen Versorgungsbetriebe. Der Schwerpunkt meiner Studie liegt

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1.3 Vorarbeiten im children crossing borders Forschungsprojekt 21

aufgrund forschungspragmatischer Durchführbarkeit und persönlicherMotivation auf den beiden Ländern: Deutschland und Frankreich. Zumeinen ist es mir nicht möglich, im Rahmen dieser einen Studie fünf Ländermiteinander zu vergleichen, ohne oberflächlich zu werden. Zum anderenfiel die Wahl auf genau diese Länder, weil sie ehemalige Kolonialländerwaren, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß.

Ich selbst bin erst gegen Ende der Datenerhebungsphasen zu demProjekt gekommen. So war ich nicht an der Erstellung des Kodierleitfadensbeteiligt, der für die erste inhaltsanalytische Auswertung genutzt wurde, ha-be aber einen Teil der französischen Daten deduktiv kodiert (Mayring 2003;Mayring; Gläser-Zikuda 2005) und die deutschen Daten inhaltsanalytischausgewertet. Die Tabelle 1.2 gibt einen Überblick über die Projektstruktur.

children crossingborders

Mitarbeit beiCCB

Diese Studie

NationaleKontexte derForschung:

USA,Großbritannien,Italien, Frankreich,Deutschland

Frankreich,Deutschland

Frankreich,Deutschland

Forschungs-interesse:

„Listening to thevoices of immigrantparents“ undpädagogischerFachkräftehinsichtlich derBildung undErziehung derKinder

Vorbereitung derStudie: Umgang mitMehrsprachigkeit

Welche hiddenagendas spiegeln sichin den Äußerungenvon Fach- undLehrkräften/Elternbezüglich ihrerEinstellungengegenüberSprachpolitiken und-praktiken in derKita/école maternellewider?

Sampling,Datenerhe-bung:

SystematischesSampling,Erstellung vonVideoclips,Datener-hebungmittels Fokusgrup-pendiskussionen

Datenerhebung:Fokusgruppe inMarseille

AdaptiertestheoretischesSampling,keine eigeneDatenerhebung

Daten-grundlage:

10 Fokusgruppenmit Eltern und 5Fokusgruppenmit Fach- bzw.Lehrkräften proLand (75 insgesamt)

15 Fokusgruppenin Deutschland,15 Fokusgruppenin Frankreich (30insgesamt)

15 Fokusgruppenin Deutschland,15 Fokusgruppenin Frankreich (30insgesamt)

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22 1 Einleitung

Transkription,Übersetzung:

Transkription/Überse-tzung in Englisch

Transkription derFokusgruppe in

Übersetzung einzel-ner Ausschnitte

Marseille,ÜberprüfungweitererfranzösischerTranskriptionenund englischerÜbersetzungen

auf Deutsch undFranzösisch

Zugang zuden Daten:

1. Phase:Inhaltsanalyse:Erstellung einesKodierleitfadens,Kodierung derDaten mithilfe vonHyperresearch; 2.Phase: InterpretativeZugänge mitder GroundedTheory oder derDiskursanalyse

KodierungfranzösischerFokusgruppendis-kussionen mit demKodierleitfaden,Inhaltsanalyseder deutschenDaten zum Thema:Umgang mitMehrsprachigkeit

Kodierverfahrenorientiert an derGrounded Theory

Tabelle 1.2: Differenzierung des CCB-Projekts und der Studie

Eine systematische Analyse der Daten ist bis dato je nach den nationalenAnschlussfinanzierungen in unterschiedlichem Ausmaß erfolgt. Die Pro-jektdaten wurden zur weiteren und vertiefenden Analyse zur Verfügunggestellt.

Im Rahmen der Auswertungen habe ich mich mit der Herausforderungauseinandergesetzt, dass ich aufgrund des späteren Einstiegs in das childrencrossing borders Projekt nicht von Beginn an die methodologischen undmethodischen Ansätze des Projekts mit denen meiner Studie verknüpfen,abgrenzen oder begründen konnte. Das führte in der Folge zu unterschiedli-chen Schwerpunkten in der Datenbearbeitung: Die erste Phase der Datenbe-arbeitung fand während des laufenden Projekts statt und setzte sich mit derFrage nach dem Umgang mit Mehrsprachigkeit auseinander. Dabei setzteich an dem avisierten methodischen Fahrplan an und führte ihn mithilfeder Kodierverfahren der GTM weiter, wobei sich der Fokus zunehmendauf die Analyse sprachlicher Machtverhältnisse hin ausrichtete. Um dieunterschiedlichen Zielsetzungen und methodologischen und methodischenHerangehensweisen differenzieren zu können, werde ich im folgendenAbschnitt zunächst die Fragestellung und das Forschungsinteresse des CCB-Projekts erläutern (vgl. dazu: Tabelle 1.2, Seite 22). Im 4. Kapitel werden die

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1.3 Vorarbeiten im children crossing borders Forschungsprojekt 23

Erhebungs- und Auswertungsmethoden im Rahmen des CCB-Projekts vondenen dieser Studie abgegrenzt.

Das Forschungsteam bestand aus ca. 20 Personen mit unterschiedlichemprofessionellen Hintergrund und war interdisziplinär mit Vertreter_innenaus der Ethnologie, Psychologie, Soziologie, Pädagogik und Linguistikausgerichtet. Das primäre Ziel von CCB war „listening to the voices ofimmigrant parents“ (Tobin; Adair; Arzubiaga 2013, S. 14). Diese Studiesollte zeigen, wie unterschiedliche Systeme frühkindlicher Bildung undErziehung die Kinder Zugewanderter betreuen und was Eltern mit undohne Migrationshintergrund und pädagogische Fach- und Lehrkräfte sichfür die Kinder in diesen Systemen wünschten. Dabei war es weniger vonInteresse, eine „best-practice“-Lösung für alle Systeme zu finden. Vielmehrsollten andere Beispiele es ermöglichen, die für selbstverständlich genom-menen täglichen Praktiken zu reflektieren, um so eigene blinde Fleckenbesser beleuchten zu können12:

Oder eher den Blickwinkel auf die Kulturen und zugrunde liegenden Werte im Hinblickauf unterschiedliche Praktiken zu verschieben. Der Vergleich war nicht das Ziel an sich,sondern ein Mittel, um eine andere Sichtweise einzunehmen, Evidenzen zu zerschlagen,Selbstverständliches aufzudecken und darüber hinaus, sich mit dem Anderen zukonfrontieren. (Übers. d. Verf.; Brougère; Guénif-Souilamas; S. Rayna 2007, S. 264)

So bestand das Forschungsinteresse darin, herauszuarbeiten, welche impli-ziten und expliziten Grundannahmen die Systeme frühkindlicher Bildungin den fünf Ländern leiten und welche Gemeinsamkeiten und Unterschiedeim Umgang mit „Migrantenkindern“ in den frühkindlichen Systemen vonBildung und Erziehung auszumachen sind.

Darüber hinaus war im Rahmen des Projekts von besonderer Bedeutung,in welcher Weise sich in den Ländern gesamtgesellschaftliche Debatten überethnisch-kulturelle Vielfalt und Integration in der pädagogischen Praxisfrühkindlicher Bildung ausdrücken bzw. diese zu rekonstruieren. In Bezugauf die Fokusgruppendiskussionen wird in Anlehnung an Bakhtin13 (2008)davon ausgegangen, dass darin ein Zugang zu gesellschaftlichen Diskursenund kollektiv geteilten Normen gewonnen werden kann: „each voice is anexpression not only of the thoughts and consciousness of an individual,

12 Vgl. dazu: Abschnitt 1.5 und Kapitel 4.13 Der russische Sprachphilosoph Mikhail Bakhtin wird bislang nur wenig im deutsch-sprachigen Raum rezipiert. Seine kritischen Ansätze und Theorien über das Verhältnis vonSprache(n) in Diskursen, Heteroglossie und Dialogismus halte ich für hilfreich in der Sichtdarauf, wie Menschen sprachlich in ihrer Lebensumwelt agieren. Diese Konzepte werde ich inden jeweiligen Kapiteln diskutieren und erläutern.

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24 1 Einleitung

but also of thoughts and consciousness of a group and a reflection of alarger discourse.“ (Bakhtin 1979, zitiert nach: Tobin; Hsueh; Karasawa 2009,S. 5); (vgl. dazu auch: Macnaghten und Greg 2004, S. 67; Tobin, Adairund Arzubiaga 2013). Aus einer ethnographischen Perspektive entwickelteTobin (1989), der Initiator des Forschungsprojekts children crossing bor-ders, das Konzept der „multivocal ethnography“ (Tobin; Wu; Davidson1989; Tobin; Hsueh; Karasawa 2009; Tobin; Adair; Arzubiaga 2013). DieTheoretisierungen von Clifford (1983) in Kombination mit Bakhtin (2008)helfen zu verstehen, inwiefern einerseits Gespräche mit Fokusgruppenethnographisch aufgefasst werden können, wenn sie über einen Film aus derPraxis reflektieren, und andererseits der Zusammenhang von Individuenund sie umgebende Diskurse besser begriffen werden kann (Clifford 1983;Bakhtin 2008). Diskurse verstehe ich dabei als Produkt, aber auch alsHerstellung diskursiver Praktiken, die sowohl als „socially constitutiveas well as socially conditioned“ (Blackledge 2005, S. 4) gelten. Basierend aufder Konzeption einer stratifizierten und kontextgebundenen Sprache (vgl.dazu: Kapitel 5.1) geht Bakhtin davon aus, dass es keine „neutralen“ Wörtergibt, sondern, dass sie immer diskursiv geprägt sind und hervorgebrachtwerden:

As a result of the work done by all these stratifying forces in language, there are no„neutral“ words and forms; language has been completely taken over, shot throughwith intentions and accents. (. . .) All words have the „taste“ of a profession, a genre, atendency, a party, a particular work, a particular person, a generation, an age group,the day and hour. Each word tastes of the context and contexts in which it has lived itssocially charged life; all words and forms are populated by intentions. (Bakhtin 2008,S. 293)

Diskurse sind somit nicht statisch, sondern befinden sich durch die Sprech-akte oder „diskursiven Praktiken“ (Blackledge 2005, S. 4) der Menschen ineinem fortwährenden Prozess der Entwicklung und Veränderung.

Für meine Fragestellung lieferte die Erhebung der Daten über Fokus-gruppendiskussionen die Möglichkeit, zum einen die Sinnzuschreibungenoder Begründungen der geäußerten und beschriebenen Sprachpraktikenzu analysieren, denn wie Reckwitz (2008) bemerkt, sind „Interviews ‚über‘die Praktiken und ihr Wissen (. . .) eben nicht die Praktiken selbst. Aberdie geäußerte Rede im Rahmen von Interviews kann ein Mittel liefern,um indirekt jene Wissensschemata zu erschließen, welche die Praktikenkonstituieren.“ (Reckwitz 2008, S. 196 f.). Das Konzept der „multivocalethnography“, erstmals 1989 gemeinsam mit anderen Forschenden ent-wickelt (Tobin; Wu; Davidson 1989; Tobin; Hsueh; Karasawa 2009; Tobin;

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1.4 Eine vergleichende Herangehensweise 25

Adair; Arzubiaga 2013), hat zum Ziel, vielstimmige Gespräche und eine Arttranskulturellen Dialog über die Praxis frühkindlicher Bildung auszulösen(Brougère; Guénif-Souilamas; S. Rayna 2007, S. 264).

Zu diesem Zweck wurde jeweils ein 20- bis 30-minütiger Videoclip eines„typischen“ Tagesablaufs in einer frühkindlichen Bildungseinrichtung einge-setzt. Diese Aufnahmen wurden dazu verwendet, Eltern und pädagogischeFach- und Lehrkräfte dazu anzuregen, in Fokusgruppendiskussionen ihreEinstellungen zu dem gezeigten Beispiel aus der Kita-Praxis zu äußern undin der weiteren Diskussion darüber hinaus eigene Vorstellungen, Normenund Wünsche bezüglich dessen, was frühkindliche Bildung im eigenenKontext momentan bedeutet oder leisten soll, zu explizieren (vgl. dazu:Kapitel 4). Die Erhebung aller für die Studie relevanten Daten wurde imRahmen des Projekts children crossing borders abgeschlossen.

1.4 Eine vergleichende Herangehensweise an Sprachpolitiken und-praktiken

In dieser Studie werden Sprachenpolitiken und -praktiken zweier Natio-nen miteinander verglichen, weshalb sie in den Bereich der ComparativeEducation (Cowen; Kazamias 2009; Bray; Adamson; Mason 2007a) oder dervergleichenden Erziehungswissenschaft (Adick 2008) verortet werden kann.Da diese Arbeit in zwei Teile gegliedert ist – zunächst eine theoretische undhistorische Kontextualisierung empirischer Erkenntnisse und anschließendmeine Theoretisierungen der empirischen Analysen – wird das konkretemethodische Vorgehen und die Adaptierungen auf der Grundlage der GTMvor dem empirischen Teil platziert (vgl. dazu: Kapitel 4). Da im zweitenund dritten Kapitel bereits vergleichend gearbeitet wird, skizziere ich andieser Stelle die Herangehensweise an die Studie. Zuerst erläutere ich dasKriterium des ständigen Vergleichs innerhalb der Datenanalyse. Dabeiorientiere ich mich an den Verfahren der GTM nach Charmaz (2014), umanschließend auf die Frage nach der Vergleichsgrundlage im Kontext derComparative Education einzugehen.

1.4.1 Eine Grounded Theory orientierte Studie

Durch die Kombination der Prämissen der GTM mit machtkritischen Per-spektiven erhalte ich ein besseres Verständnis darüber, „wie und warumDinge passieren“, und kann latente Sinnstrukturen und Bedeutungen durch

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26 1 Einleitung

einen detaillierten Analyseprozess, d. h. des Kodierens und Kategorisierensherausarbeiten. Die GTM wurde von Vertretern der Soziologie in den1960er Jahren entwickelt (Glaser; Strauss 1998) und hat zum Ziel, eineneue „middle range“ Theorie, Theorieskizze oder Theoretisierung zu einerSchlüsselkategorie datenbasiert zu erarbeiten14.

Ich beziehe mich in meiner Arbeit hauptsächlich auf die konstruk-tivistische Variante der GTM nach Charmaz (2014) in Abgrenzung zurobjektivistischen oder positivistischen Position Glasers (ebd.). Charmazgeht davon aus, dass Forschende „create codes by defining what we see inthe data. Codes emerge as you scrutinize your data and define meaningswithin it. (. . .) We construct our codes because we are actively namingdata“ (Charmaz 2014, S. 114 f.). Ein wesentliches Prinzip der GTM stelltdie Zirkularität von Datenerhebung und Auswertung dar: „Conduct da-ta collection and analysis simultaneously in an iterative process“ (ebd.,S. 15), d. h. die Phasen der Kodierung, das Bilden von Kategorien unddas Konzeptualisieren sowie Theoretisieren mithilfe von theoretischemHintergrundwissen sind nicht chronologisch oder analytisch abgrenzbar.Zum Zweck der Theorieentwicklung werden Kodierverfahren genutzt,wie das „initial coding“ oder das „focused coding“ (ebd., S. 109-161), mitderen Hilfe die Daten aufgebrochen, der Datenkorpus in Teileinheitengegliedert und Kategorien konstruiert werden. Die vergleichende Heran-gehensweise („constant comparison method“) ist hierin zentrales Elementund „Grundstrategie“ (Mey; Mruck 2010, S. 616) der Theoriegenerierunginnerhalb der GTM (Charmaz 2014, S. 15). Dabei finden „Vergleichsprozesse(. . .) auf der Ebene der Daten, der aus den Daten abgeleiteten Codes undKategorien, der Fallauswahl usw. Anwendung“ (Mey; Mruck 2010, S. 616)mit dem Zweck, bestehende Codes und Kategorien zu verdichten undzu dimensionalisieren. Das bedeutet nach Mey und Mruck (2010), dass„am Ende der Kodierschritte eine Kernkategorie herausgebildet wird, diein zu definierenden Beziehungen zu allen anderen herausgearbeitetenKategorien steht. -– Das so ausgearbeitete relationale Gefüge bildet dieTheorie.“ (ebd., S. 619). Ich erhebe jedoch nicht den Anspruch, mit dieserArbeit eine „neue“ Theorie konstruiert zu haben (Charmaz 2014, S. 230 f.),sondern eine Schlüsselkategorie mit ihren Eigenschaften und Dimensionensystematisch datenbasiert zu erarbeiten, welche Aufschluss über sprachlichstrukturierte Machtverhältnisse in der Gesellschaft – und spezifisch im

14 Die GTM ist gegenwärtig in der qualitativ empirischen Sozialforschung weit verbreitet(Badawia 2002; Kuhn 2013; Scherschel 2006; Mey; Mruck 2010).

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1.4 Eine vergleichende Herangehensweise 27

Kontext der frühkindlichen Bildung – gibt (vgl. dazu: Kapitel 5). Damitkomme ich zu dem Bereich der Comparative Education.

1.4.2 Eine Verortung im Feld der Comparative Education

Da die CCB-Studie mittels eines internationalen Vergleichs etwas überfrühkindliche Bildungssysteme in Erfahrung zu bringen sucht, bewegt siesich in dem Bereich der Comparative Education15.

Dominierend in diesem Feld sind gegenwärtig Studien16, die sich mitdem Einfluss der Globalisierung auf nationale Bildungssysteme beschäf-tigen. Es wird davon ausgegangen, dass nationale Bildungspolitik immermehr von transnationalen Akteuren beeinflusst wird (Parreira do Amaral2006, S. 14).

Aus dieser Logik heraus wird die Frage diskutiert, ob die Nation alsVergleichshorizont überholt sei, da heutzutage nicht davon ausgegangenwerden kann, dass es kulturell oder sprachlich homogene Nationen gebe,die miteinander verglichen werden könnten (Malet 2008, vgl. dazu:). Anderesehen in Zeiten der Globalisierung das Feld der Comparative Education sogarals per se überflüssig an und bezweifeln ihre Relevanz: „Is comparativeeducation as such still needed if educational research and policy are soclosely knitted in an international web?“ (Parreira do Amaral 2006, S. 15f.). Anstatt den nationalen Kontext als Vergleichsgrundlage zu nehmen,können stattdessen bestimmte Lehrmethoden oder Bildungspolitiken imFokus der Analyse stehen, beispielsweise kann in föderalen Systemen einInteresse daran bestehen, einzelne Bundesländer in Bezug zueinander zusetzen (Malet 2008; Bray 2007, S. 22).

Ich halte den nationalen Kontext insofern dennoch für sinnvoll, da er:

1. in den Fokusgruppen als relevant angenommen wird (vgl. dazu:Kapitel 5: in den jeweiligen empirischen Kapiteln wird er in Bezug

15 Einige Autoren sprechen von einer Disziplin der Comparative Education (Meuris 2008). Braystellt jedoch fest, dass die meisten Forschenden sie eher als ein Forschungsfeld betrachten,welches „welcomes scholars who are equipped with tools and perspectives from other arenasbut who choose to focus on educational issues in a comparative context.“ (Bray 2007, S. 35).Die Comparative Education ist in sogenannte Societies gegliedert. Die US-amerikanisch ansässigeComparative & International Education Society war die erste und wurde 1956 gegründet. 1970folgte die Gründung der weltweiten Dachorganisation World Council of Comparative EducationSocieties (WCCES). Forschende der Vergleichenden Erziehungswissenschaft in Deutschlandwerden durch die „Comparative Education Society of Europe 1961“ repräsentiert (ebd., S. 35).16 Diese sind hauptsächlich im globalen Norden angesiedelt.

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auf Unterschiede und Ähnlichkeiten dargestellt)2. die Bildungssysteme gesetzlich und historisch rahmt (Kapitel 3)3. Diskurse und Sprachideologien zwar supranational vergleichbar, aber

dennoch national spezifisch sein können (vgl. dazu: Kapitel 3 und 5).

Darüber hinaus scheint mir der gesellschaftliche (nationale, aber aucheuropäische) Kontext auch aus einer machtkritischen Perspektive relevant(vgl. oben und Kapitel 2). Wie bereits beschrieben zeigen sich auch in derfrühkindlichen Bildung Dominanzstrukturen, die sich auf Bildungsaufträge,wie z. B. den Zugang zum Arbeitsmarkt durch den Normspracherwerb,auswirken.

Machtkritische sowie mikroanalytische Zugänge sind zwar in Rahmendieses Forschungsgegenstands unterrepräsentiert17. Aus genannten Grün-den ist mein Zugang dennoch machtkritisch sensibilisiert und darüberhinaus erziehungswissenschaftlich ausgerichtet (vgl. dazu: Kapitel 2).

Eine weitere das Feld dominierende Form sind sogenannte „Länderstu-dien“, in denen „erfolgreiche“ Bildungsreformen Anderer Länder analysiertwerden sollen, um sie in den „eigenen“ Kontext zu transferieren und somitdie Qualität der eigenen Bildung zu verbessern (Meuris 2008, S. 16, 23)sowie:

sich anzunähern, um besser die pädagogischen Werte zu verstehen, die von anderenSystemen gefördert werden, und dazu führen, den Menschen in ihren eigenen Eigen-schaften zu begegnen. Gleichzeitig eröffnet die vergleichende ErziehungswissenschaftWege des Wissens und des Verständnisses gegenüber anderen in gegenseitigem Respektund kann eine wirklich humanistische Kultur des Vergleichs erteilen. (Übers. d. Verf.;ebd., S. 25)

Diese Vorgehensweise ist der Anthropologie oder Ethnologie sehr ähnlichund hat in dieser Form eine lange Tradition18.

Bei einem Großteil der Forschungen in der Comparative Education (Adick2008; Allemann-Ghionda 1999; Judge 2007) ist es im Hinblick auf dieVergleichsgrundlagen üblich, dass Vergleichskriterien (das „Tertium Com-parationis“) aufgrund statistischer Größen im Vorhinein deduktiv bestimmtwerden. Demgegenüber gehen Cowen; Kazamias (2009) davon aus, dass

17 Wenn beispielsweise von postcolonial die Rede ist, dann beziehe ich mich auf Forschungen,die sich mit den Auswirkungen des Kolonialismus in ehemaligen Kolonialländern beschäftigen(Crossley; Tikly 2004, vgl. Kritik dazu: Kapitel 2.1).18 Das erste bekannt gewordene Werk zur Comparative Education stammt von Marc-AntoineJullien de Paris (1817), in dem es darum geht, erfolgreiche Bildungspolitiken als „best practices“eines Landes zu analysieren „with the intention of copying them elsewhere.“ (Bray; Adamson;Mason 2007b, S. 1).

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1.4 Eine vergleichende Herangehensweise 29

quantitative Faktoren, wie z. B. die Größe einer Stadt oder die Alphabetisie-rungsrate, nur einen bedingten Einfluss auf die Daten haben, bzw. wenn eseinen Einfluss gibt, dieser aus den Daten heraus relevant gemacht werdenmüsste (Cowen; Kazamias 2009). Dies entspricht einem eher induktiven Ver-fahren und damit den Prinzipien der GTM. Forschende in der ComparativeEducation orientieren sich letzterer Logik folgend in der Herausarbeitungdes Tertium Comparationis an der Forschungsfrage, dem Forschungsstandund entwickeln diese im Verlauf des Forschungsprozesses in Anlehnung andie Daten weiter (Rui 2007). Eine erste Vergleichsgrundlage bilden somit dieoffen gehaltenen Erkenntnisinteressen und Fragestellungen, die im Verlaufdes vergleichenden Kodierens mit theoretischen Aufmerksamkeitsrichtun-gen präzisiert werden.

Dementsprechend kodierte ich die Daten (oder zunächst eine Fokus-gruppendiskussion (vgl. dazu: Kapitel 4) im Hinblick auf den Umgangmit und die Einstellungen zu mehrsprachigen Kindern. Entsprechend derKodierverfahren der GTM folgte danach eine vergleichende Analyse derBedeutungszuschreibungen oder Legitimationsargumentationen und derdarin zugrundeliegenden Ideologien und Diskurse in Bezug auf Sprach-politiken und -praktiken. Mit dem Herausarbeiten, Dimensionalisierenund Spezifizieren von Codes und Kategorien erkannte ich, dass es un-angemessen/ungeeignet wäre, der traditionellen Comparative Educationentsprech-end, die Erkenntnisse national zu präsentieren, da sich sukzessivKategorien abzeichneten, die für beide Kontexte Erkenntnisse lieferten undsich lediglich in ihren Dimensionen ausdifferenzierten. Auf eine separate,nach Nationalstaat organisierte Darstellung wurde dementsprechend ver-zichtet. Darin unterscheidet sich diese Arbeit von Studien des Feldes derComparative Education, in denen der Nationalstaat als Vergleichsgrundlagedominiert (Judge 2007; Allemann-Ghionda 1999; Schiffauer; Baumann;Kastoryano; Vertovec 2002; vgl. kritisch dazu: Bray; Adamson; Mason 2007b,S. 7).

In Anbetracht der Forderung, Vergleiche mehrdimensional, vielschichtig,differenziert und spezifisch anzusiedeln, verweise ich auf ein dreidimensio-nales Bezugssystem von Bray und Thomas (1995) (Bray; Adamson; Mason2007b, S. 8 f.), vgl. Abbildung 1.1, Seite 30.

Das Bezugssystem erleichtert es dem/der Lesenden, die Vergleichsebe-nen nachzuvollziehen und in den Kontext der vorliegenden Arbeit einzu-ordnen. Es stellte für mich jedoch keine Schablone dar, die ich im Vorhineinoder während des Analyseprozesses im Rahmen meiner Studie anlegenkonnte, da seine Kategorien für Studien zu Sprachpolitiken im Bereich der

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30 1 Einleitung

Abbildung 1.1: Der Bray und Thomas Cube (1995)

frühkindlichen Bildung nicht ausgelegt sind. Für eine Weiterentwicklungund Adaptierung des Würfels werden im folgenden Abschnitt Ebenen bzw.Bezeichnungen eingeführt, die sich für diese Studie ergeben haben.

Demzufolge lässt sich meine Studie in diesem Bezugssystem retrospek-tiv gesehen auf den nachfolgenden Ebenen verorten.

1. „Geografische/lokale Ebenen“: Level zwei bezieht sich auf Länder,im Falls der vorliegenden Studie Deutschland und Frankreich. Im Rahmenmeiner Studie werden auf diesem Level vor allem die sprachpolitischenEmpfehlungen für die frühkindliche Bildung in den verschiedenen Bundes-ländern/Regionen Deutschlands und Frankreichs analysiert (vgl. Kapitel 3)und unterschiedliche Positionen aufgrund regionaler Bezüge im Rahmender Interpretation der Ergebnisse hervorgehoben (vgl. Kapitel 5). Einerseitsboten sich Frankreich und Deutschland biografisch für einen Vergleich an,da ich selbst in und mit diesen beiden Ländern, Kulturen und Sprachenaufgewachsen bin. In der Forschung und Analyse der Daten verhalfenmir meine eigenen lebensweltlichen und zweisprachigen Erfahrungen zueinem sensibilisierten Verständnis für die Äußerungen der Fokusgrup-penteilnehmenden, dem selbstverständlich auch Grenzen gesetzt waren,

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1.4 Eine vergleichende Herangehensweise 31

die im Laufe des Forschungsprozesses immer bewusster wurden (vgl.dazu: Kapitel 6). Eine weitere Begründung für die Analyse gerade dieserbeiden Länder stellt ihre historische und gegenwärtige Erfahrung mitMigration und Kolonialität sowie ihre Normsprachliche Verfasstheit dar.Die nationale Kontextualisierung wird daher in diversen Kapiteln zumVorschein kommen. Auf dem dritten Level der geografischen/lokalenEbene sind die unterschiedlichen Regionen innerhalb des jeweiligen Landesverortet. Im Rahmen meiner Studie werden auf diesem Level vor allemdie sprachpolitischen Empfehlungen für die frühkindliche Bildung in denverschiedenen Bundesländern/Regionen Deutschlands und Frankreichsanalysiert (vgl. Kapitel 3) und unterschiedliche Positionen aufgrund regio-naler Bezüge im Rahmen der Interpretation der Ergebnisse hervorgehoben(vgl. Kapitel 5).

Die Level fünf, sechs und sieben der geografischen/lokalen Ebenewerden adaptiert, da im Rahmen der Studie nicht einzelne Kitas oderKitagruppen miteinander verglichen werden, sondern diese sich in denempirischen Analysen lediglich implizit widerspiegeln. Denn es geht mirentsprechend der GTM nicht so sehr darum, Individuen oder Räumlichkei-ten in den Vordergrund zu stellen, sondern die sich darin abzeichnendenim Hinblick auf die Fragestellung relevanten Positionen, Situationen oderPraktiken in den Kitas und Kitagruppen zu verdeutlichen.

2. „Standort-ungebundene Ebenen“: Hieraus werden die Bezeichnungen„Ethnic Groups“ und „Entire Population“ für die vorliegende Studie adap-tiert. Mit der Bezeichnung „Ethnic Groups“ könnte einerseits eine Fremd-zuschreibung einhergehen und andererseits eine Minderheit konstruiertwerden, die von der „Entire Population“ abgegrenzt oder differenziert wird.Um dies zu verhindern, werden in dieser Studie Prozesse des ethnisiertenoder rassifizierten Otherings von Migrationsanderen oder People of Colorvs. Weiß und Anderssprachig vs. Normsprachig und deren gesellschaftlichePositionierung genauer in den Blick genommen.

Darüber hinaus interessieren mich die Perspektiven von Eltern undpädagogischen Fach- und Lehrkräften, die sich als Akteur_innen nicht indie auf dem Würfel dargestellten Gruppen einordnen lassen.

3. Pädagogische und gesellschaftliche Ebenen: Sie enthalten Aspekte,wie z. B. die Lehrpläne der Länder oder der Bundesländer („Curriculum“;vgl. dazu: Kapitel 3.3), die Spracherwerbskonzepte, die ich als „TeachingMethods“ verstehe, die organisationalen und strukturellen Rahmenbe-dingungen (vgl. dazu: Kapitel 3.3 und 5.3), mit denen die „ManagementStructures“ gemeint sein könnten, wohingegen die „Educational Finance“