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1 D 14288 Informationen und Meinungen zur deutschen Sprache Herausgegeben vom Institut für deutsche Sprache, Mannheim Heft 1/1999 15. Jahrgang IMPRESSUM 2 WAS IST EIGENTLICH EINE HOMEPAGE? Neue Formen der Wissensorganisation im World Wide Web von Angelika Storrer 2 SPRACHE ALS WIRTSCHAFTSFAKTOR Zur Bedeutung von Terminologie von Wolfgang Teubert 9 NACH-GEDACHT Schneider/Schwerte, die Geschichtsschreibung und die Öffentlichkeit von Heidrun Kämper 14 NEUERE ARBEITEN ZUM DEUTSCHEN WÄHREND DER NS-ZEIT Sammelrezension von Michael Kinne 18 GRUPPENSTIL IN ARBEITSMEETINGS von Reinhold Schmitt/Dagmar Brandau/Daniela Heidtmann 20 DIE SPRACHKRITIK LEBT Rezension von Rainer Wimmer 26

Sprachreport 1999-1 - ids-pub.bsz-bw.de · Rezension von Rainer Wimmer 26. 2 Auf der Visitenkarte des postmodernen Menschen darf sie eigentlich schon fast nicht mehr fehlen, die Adresse

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D 14288

Informationenund

Meinungenzur deutschen Sprache

Herausgegebenvom

Institut für deutsche Sprache,Mannheim

Heft 1/1999

15. Jahrgang

IMPRESSUM 2

WAS IST EIGENTLICH EINE HOMEPAGE?Neue Formen der Wissensorganisation im World Wide Webvon Angelika Storrer 2

SPRACHE ALS WIRTSCHAFTSFAKTOR

Zur Bedeutung von Terminologievon Wolfgang Teubert 9

NACH-GEDACHT

Schneider/Schwerte, die Geschichtsschreibung und die Öffentlichkeitvon Heidrun Kämper 14

NEUERE ARBEITEN ZUM DEUTSCHEN WÄHREND DER NS-ZEIT

Sammelrezension von Michael Kinne 18

GRUPPENSTIL IN ARBEITSMEETINGS

von Reinhold Schmitt/Dagmar Brandau/Daniela Heidtmann 20

DIE SPRACHKRITIK LEBT

Rezension von Rainer Wimmer 26

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Auf der Visitenkarte des postmodernen Menschen darf sieeigentlich schon fast nicht mehr fehlen, die Adresse zurHomepage, zur Heimstätte der virtuellen Existenz imInternet. Doch wer wissen will, wie der Plural vonHomepage lautet, ob es »der«, »die« oder »das Home-page« heißt, findet in gedruckten Wörterbüchern zur deut-schen Sprache bislang keinen Rat. Kein Wunder – schließ-lich ist der Ausdruck »Homepage« erst Mitte derNeunzigerjahre bekannt und geläufig geworden, als eng-lisches Lehnwort, bei dem sich noch herausstellen muss,ob man es auf Dauer übernimmt oder als »Leitseite«,»Einstiegsseite«, »Begrüßungs-« oder »Heimatseite«lehnübersetzt.

Die Frage nach dem Genus und nach der Pluralformmacht jedoch kaum jemandem wirklich Kopfzerbrechen:Man übernimmt mit der englischen Aussprache auch denenglischen Plural. »Page« übersetzt man mit »die Seite«,also heißt es »die Homepage«. Schwieriger ist es schon,die Bedeutung des Ausdrucks zu erläutern: Was unter-scheidet die Homepage von anderen »Seiten« im weltweitvernetzten Dokuversum? Wie verhält sie sich zu größerenEinheiten, die als »Dokumente«, »Angebote«, »Sites«,»Webs« oder »Hypertexte« bezeichnet werden? DieSchwierigkeiten des sprachlichen Zugriffs spiegeln dieProbleme von Otto und Ottilie Normalsurfer, die Struktu-ren im World Wide Web zu durchschauen. Softwareher-steller und Webdesigner versuchen zwar, mit Benutzer-metaphern an Bekanntes anzuknüpfen und somit denUmgang mit dem Neuen zu erleichtern. Da diese abermeist nicht alle benötigten Aspekte der komplexen Tech-nik wiedergeben, sind Metaphernbrüche und -mischungenkeine Seltenheit. Der Ausdruck »Homepage« ist beispiels-weise ein Mix aus zwei häufig genutzten Bildbereichen:

– Aus dem Bildbereich der Reise durch einen Hyperspace,Cyberspace oder Dokuversum genannten Informations-raum stammt das Determinans »Home«. Raum-metaphern werden beim Sprechen über das neue Medi-um häufig genutzt und finden sich in Produktnamen wie»Explorer« und »Navigator« wieder.

– Aus der Welt der gedruckten Medien – Bücher, Zeitun-gen und Zeitschriften – stammt das Determinatum»Page«, die »Seite«, die sich generell als Bezeichnungder Grundeinheit des World Wide Web, zur Bezeich-nung der Knoten im Dokumenten-Netzwerk eingebür-gert hat. Aus diesem Bildbereich stammen auch die»Bookmarks«, die Lesezeichen, die ein Internet-Rei-sender auf interessanten Seiten anbringt, um diese künf-tig durch einen einfachen Mausklick wieder auf denBildschirm holen zu können.

Beide Bildbereiche liefern nur bedingt tragfähige Analo-gien. Die metaphorischen Texträume, die mittels einerBrowsersoftware auf selbst gewählten Wegen durchschrit-ten werden, haben recht seltsame Eigenschaften. Dies fälltspätestens dann auf, wenn man sich mal wieder in ihnenverirrt. Zwar können auch die Seiten des WWW ausge-druckt werden; sie verlieren aber dadurch genau die Ei-genschaften, die sie der gedruckten Materialisierungsformvoraus haben.

Ein Blick auf die Handlungsverben, die typischerweisemit dem Ausdruck »Homepage« verbunden werden,macht schnell deutlich, dass im Metaphernmix»Homepage« das Bild der Heimat für ein zusammenge-höriges Informationsangebot dominiert: Homepageswerden nicht geschrieben, sondern eingerichtet und ge-staltet, und zwar als Einstiegspunkte in Informationsan-gebote, die sich üblicherweise in stetem Auf- und Umbaubefinden und mitsamt ihren Bestandteilen auch öfter malumziehen. Man kann eine Homepage aufrufen, auf ihrInformationen abrufen. Weniger gut kann man sie lesen,

WAS IST EIGENTLICH EINE HOMEPAGE?NEUE FORMEN DER WISSENSORGANISATION IM WORLD WIDE WEB1

Von Angelika Storrer

Herausgeber: Institut für deutsche Sprache, Postfach 101621,68016 Mannheim.

Internet: http://www.ids-mannheim.de

Redaktion: Annette Trabold (Leitung), Ulrike Haß-Zumkehr,Dieter Herberg, Heidrun Kämper, Eva Teubert

Redaktionsassistenz: Oliver Stoltz

Satz & Layout: Claus HoffmannBelichtung: LaserSatz Thewalt, 69257 Wiesenbach

Druck: Morawek, 68199 Mannheimgedruckt auf 100% chlorfrei gebleichtem Papier

ISSN 0178-644X

Auflage: 2500, Erscheinungsweise: vierteljährlichJahresabonnement: DM 20,— Einzelheft: DM 6,—

Bezugsadresse: Institut für deutsche Sprache,Postfach 10 16 21, 68016 Mannheim

Tel. 0621/1581-0

In eigener Sache – an die Autoren:Sie sollten Ihre Beiträge möglichst auf Diskette schicken. Bittewählen Sie folgendes Format:

3.5 Zoll-Disketten im DOS-Format, als Textverarbeitungspro-gramm möglichst WINWORD. Wir können aber auch WORD fürDOS oder WORDPERFECT weiterverarbeiten.

NICHT bearbeiten können wir:– 5.25 Zoll-Disketten,– MAC-Disketten.Die Texte sollten nicht mit komplizierten Layouts und nicht miteiner Formatvorlage erstellt sein.Die Formatvorlagen erstellen wir.Der SPRACHREPORT wird mit PageMaker 6.5.erstellt.

IMPRESSUM

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wenn überhaupt kann man etwas auf ihr lesen oder nach-schlagen. Vor allem aber kann und soll eine Homepagebesucht werden, und zwar von möglichst Vielen, möglichsthäufig und immer wieder. Dies zeigen typische Formulie-rungen wie »Willkommen«, »Besuchen Sie uns bald wie-der« und Elemente wie Besucherzähler, die Zugriffszahlenautomatisch registrieren und als Erfolgsbarometer dieAttraktivität des Angebots anzeigen. Viele Homepagesenthalten »Gästebücher«, in denen die Besucher aus ihrerAnonymität herausgelockt und zum Hinterlassen von Bot-schaften, Rückmeldungen u.Ä. veranlasst werden sollen.

Das World Wide Web ist organisiert als Netzwerk von funk-tional und thematisch zusammengehörigen Teilnetzen, dieje nach Größe und Funktion »Webs« oder »Sites« genanntwerden. Homepages dienen als Ein-stiegspunkte in solche Teilnetze, set-zen einen kontextuellen Rahmen, andem sich der »Besucher« orientierenkann und stiften funktionale und the-matische Bezüge zwischen den als»Seiten« bezeichneten Bestandteilen.In dieser Funktion sind sie zwar mitInhaltsverzeichnissen und Einführun-gen im gedruckten Buch verwandt,die elektronische Publikationsformim World Wide Web bringt aber zu-sätzliche Besonderheiten und Anfor-derungen mit sich, die im folgendenAbschnitt weiter ausgeführt werden.Die konkrete Ausgestaltung variiert inAbhängigkeit davon, wie komplexdas Teilnetz strukturiert ist, wozu esdient und welche Typen von Besu-chern angelockt werden sollen. Von prunkvollen Palästenmit aufwändigen Homepages bis zu einfachen 2-4-Seiten-Hütten, die sich durch gastfreundliche Bewirtung undnützliche Reisetips empfehlen, findet man ein breites

Spektrum, dessen wichtigste Typen abschließend kurzskizziert werden.

Die Besonderheiten der neuen TextformDie wesentlichen Unterschiede zwischen Homepages undtraditionellen Mitteln zur Vorstrukturierung lassen sich mitvier Schlagworten umreißen: Hypertext, Multimedia, Inter-aktivität und computergestützte Kommunikation.

Hypertext

Das World Wide Web ist nach dem Hypertextprinzip orga-nisiert, d.h. die »Webs« und »Sites« genannten Teilnetzesind durch computerisierte Verweise, die Hyperlinks, mit-einander verbunden. Homepages sind Knoten solcher Teil-netze, mit denen zwischen Innen und Außen vermitteltwird: Das eigene Teilnetz ist dabei das vertraute, selbstverantwortete Innen, das gegen die außen liegenden Infor-mationsangebote abgegrenzt wird, die sich der eigenenKontrolle weitgehend entziehen. Die Trennung von Innenund Außen zeigt sich auch in der Unterscheidung von in-ternen und externen Hyperlinks: Interne Hyperlinks ver-knüpfen Einheiten desselben Teilnetzes, externe Hyper-links führen den Benutzer aus diesem heraus. Die Abgren-zung zwischen Innen und Außen ist aus zweierlei Gründenwichtig:

– Hypertexte werden am Bildschirm rezipiert, d.h. es gibtim Gegensatz zum Buch oder zur Zeitschrift keine phy-sisch fassbaren und begreifbaren Ganzheiten, an denenman sich orientieren könnte. Größe und Struktur desWebs müssen dem Besucher deshalb auf andere Weisesichtbar gemacht werden. Die Homepage spielt hierbeieine wichtige Rolle.

– Während man Bücher und Zeitschriften auch ohne Kon-sultation des Inhaltsverzeichnisses an beliebiger Stelle

aufschlagen und durchblättern kann,können Webs nur auf den vom Autoroder System vorgegebenen Pfadendurchlaufen werden. Die Homepageliefert dabei die Einstiegspunkte undgibt einen Überblick über mögliche undsinnvolle Rezeptionswege. Es gehörtzu den Grundregeln guter Webge-staltung, von allen Seiten des Teil-netzes aus einen Rücksprung zurHomepage anzubieten; dies macht dieHomepage zum Dreh- und Angelpunktbeim als »Browsing« bezeichnetenHerumstöbern im Informationsange-bot.

Eine Homepage fungiert also als Ein-stieg, Wegweiser und zentralerOrientierungspunkt zu einem Hyper-

text und trägt wesentlich dazu bei, diesen als eigenständigeEinheit zu konstituieren und zu identifizieren. DieHomepage ist die Adresse, mit der in Link-Sammlungenauf Webs und Sites verwiesen wird. Die Funktionen der

Abb. 1: Homepage zu einem digitalen Museumsführer

Abb. 2: Homepage einer Biographie zuNoam Chomsky

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Konstitution und Identifikati-on sind umso wichtiger, als essich bei Hypertexten nicht umstatisch fixierte Gebilde han-delt, die aus einer bestimmtenAnzahl von in festgelegter Ab-folge zusammengebundenenSeiten bestehen. Wichtig fürdie Hypertextidee ist statt des-sen gerade der Wandel, die Ak-tualisierung, die Vorläufigkeitund die Veränderbarkeit derBestandteile. Dies zeigt sich imKleinen an so genannten ani-mierten Graphiken – umher-springende Hündchen, flügel-schwingende Briefe oder Werbebanner mit wechselndenAufschriften – , die viele Web-Seiten zieren. Im Großenwird es sichtbar an Hypertexten, deren Seiten stets andereInformationen enthalten, z.B. aktuelle Börsenkurse oderNachrichtenticker, oder an Angeboten wie dem automati-schen Beschwerdebriefgenerator von Scott Pakin (Cf.Linkliste), deren Seiten erst aus in Datenbanken verwalte-ten Einzelbausteinen zusammengesetzt werden. Wer sol-che Seiten ausdruckt, kann nur schnappschussartig ihrenmomentanen Zustand einfangen. Die dynamischen undinteraktiven Elemente sind im gedruckten Medium nichtabbildbar. Ein Hypertext besteht auch nicht aus einer fe-sten Anzahl von Seiten, sondern befindet sich typischer-weise in stetem Auf- und Umbau. Seiten kommen hinzu,andere werden gelöscht oder umgestaltet – fast jede Iko-nen-Sammlung fürs Web enthält deshalb auch Baustellen-Schilder, mit denen Präsenz und Rührigkeit demonstriertwerden kann. Das Entstehungsdatum und das Datum derletzten Änderung sind wichtige Angaben zu WWW-Seiten.Aktualität ist ein anerkanntes Qualitätsmerkmal für Websund Sites. Die Homepages gehören zu den Seiten, die amhäufigsten umgestaltet werden. Dies liegt natürlich einer-seits an ihrer Wegweiser- und Orientierungsfunktion, diestrukturelle Veränderungen im Hypertext berücksichtigenmuss. Andererseits erweitern und verbessern sich die tech-nischen Möglichkeiten der Webgestaltung kontinuier-lich; die Integration neuer Elemente gilt auch als Zeichendafür, dass man technisch auf dem neuesten Stand ist.Nicht zuletzt ist die sporadische Renovierung Teil einerStrategie, Besucher anzulocken und zur Wiederkehr zuanimieren.

Multimedia

Im World Wide Web wird auf mehreren Kanälen und un-ter Verwendung unterschiedlicher Symbolsysteme kom-muniziert. Die im gedruckten Medium dominante Schriftkann nicht nur um Bilder und Graphiken angereichertwerden, sondern auch um Ton- und Videodokumente.Webgestaltung heißt, sich bewusst für ein- odermehrkanalige Informationsvermittlung, für Schrift, Bild,Ton oder Video zu entscheiden, wobei beim momentanenStand der Übertragungstechnik Schrift und Bild immernoch die zentrale Rolle spielen. Auf Homepages liefernBilder und Graphiken oft wichtige Hinweise zur Struktur

des Web und zu den angebotenenLesewegen: Mit ihnen werden bei-spielsweise auf der in Abb. 1 gezeigtenHomepage die Zugriffswege zu einem»virtuellen Museumsführer« – nachSammlungsthemen, nach Aus-stellungsorten, nach Stichworten –durch verschiedene Fenster visuali-siert. Robert Barsky nutzt für seineelektronische Biographie zu NoamChomsky das Bild eines Karteikarten-Reiters, um den Aufbau des Web zuverdeutlichen und um die einzelnenKapitel zu einem Ganzen zusammen-zubinden (vgl. Abb.2). Der EssenerLinguistik-Server LINSE führt auf sei-

ner Homepage (vgl. Abb.3) ein Logo ein, das auf allenSeiten des LINSE-Angebots wiederkehrt und damit dessenZugehörigkeit zum Ganzen kenntlich macht.

Die drei Beispiele zeigen, dass Bild und Text im WWWein Ensemble bilden, das auf die Rezeption am Bild-schirm und deshalb auf eine ganzheitliche Wahrnehmungals Bild hin ausgelegt ist. Oft spielt auf Homepages dieSchrift nur eine untergeordnete Rolle: Die Schriftzeichensind eingebettet in das graphisch dominierte Gestaltungs-konzept und fungieren darin vornehmlich als Schalt-flächen, die mit der Maus aktiviert werden können, um zudem im Text benannten thematischen Ort zu gelangenoder andere Informationen, z.B. Ton- und Videodoku-mente abzurufen. Ein Beispiel für eine solche Verflech-tung von Text, Bild, Ton und Video ist das Web zur Ge-schichte des Radios, dessen Homepage in Abbildung 4 zusehen ist.

Interaktivität

Der aus der Sozialwissenschaft stammende Begriff der In-teraktion wurde in den Achtzigerjahren auf die Mensch-Computer-Interaktion übertragen. Als »interaktiv« in die-sem Sinne werden Programme bezeichnet, deren Verhal-ten von den Eingaben des Anwenders gesteuert wird. DieFormen der Einflussnahme im WWW reichen dabei voneinfachen Operationen – z.B. Hyperlinks anklicken,Suchbegriffe eingeben oder Elemente aus einer Aus-wahlliste auswählen – bis hin zum Agieren in so genann-te virtuellen Welten. Der Benutzer bahnt sich, gegebenen-falls unterstützt durch elektronische »Guides« oder»Agenten«, seinen eigenen Weg durchs Dokuversum – einVorgang, der mit den Ausdrücken »Navigieren«,»Browsen« oder »Surfen« bezeichnet wird, je nachdemwie planvoll und zielgerichtet er erfolgt. Während beimNavigieren das WWW unter Zuhilfenahme von Suchdien-sten nach einem mehr oder weniger exakt spezifizierbarenSuchziel durchforstet wird, steht das Browsen für ein Her-umstöbern im Informationsangebot, das zwar interesse-geleitet, aber nicht auf klare Zielvorgaben hin ausgerichtetist. Homepages sind wichtige Hilfsmittel, um dasBrowsen und Navigieren zu erleichtern, d.h. den Besu-chern bei der Orientierung und der internen Wegplanungim Web behilflich zu sein. Die Lehnmetapher des »Sur-

Abb. 3: Homepage des Essener Linguistik-ServersLINSE

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fens« leitet sich her von »channel surfing«, der englischenBezeichnung für das Zapping durch Fernsehkanäle. Essteht für das spaßgeleitete Durchstreifen des WWW auf derSuche nach interessanten Angeboten. Ziel der Homepage-Gestaltung ist es, die Surfer mit attraktivem Design undspannenden Inhalten zum Bleiben und zum Wiederkehrenzu animieren.

Computergestützte Kommunikation

Die Stärke des World Wide Web liegt in der Verbindungvon Information und Kommunikation. Mit der für dasWWW entwickelten Zugangssoftware, z.B. der Netscape-Programmfamilie, kann man nicht nur Informationen ab-rufen, sondern auch die Kommunikationsdienste desInternet in Anspruch nehmen, von der elektronische Post(E-Mail) und den Postverteilern (Mailing-Listen) über dieDiskussionsgruppen (Newsgroups) bis hin zu den Online-Konferenzen (Chat). Hyperlinks verknüpfen nicht nurWeb-Seiten miteinander, sondernkönnen E-Brief-Formulare aufrufenoder Chat-Räume eröffnen. Die An-gabe einer E-Mail-Kontaktadresseist ein fast obligatorisches Elementjeder Homepage; der Wunsch nachKontakt mit den Besuchern wirddeutlich durch das Vorhandenseinvon Gästebüchern, durch Bitten umRückmeldung und Hinweise. DieVerflechtung von Information undKommunikation macht das WWWnicht nur zu einem neuenPublikationsmedium, sondern för-dert den raschen und preisgünsti-gen Austausch zwischenInformationsanbietern und Interes-senten. Über das WWW können Personen, die an verschie-denen Ecken der Welt am selben Thema arbeiten, eingemeinsames Web erstellen, Zwischenergebnisse über E-Mail und Diskussionslisten kommentieren sowie in On-line-Konferenzen über Teilaspekte diskutieren. Durch dieunkomplizierte Aktualisierbarkeit und den schnellen undpreisgünstigen Meinungs- und Datenaustausch über-nimmt das WWW nicht nur Funktionen einer virtuellenWeltbibliothek, sondern auch die eines virtuellen Cafés,eines Marktplatzes für informell vorgetragene Ideen, Mei-nungen und halb fertige Informationsprodukte, die zurweiteren Begutachtung feilgeboten werden. DieHomepage fungiert in all diesen kommunikativ orientier-ten Teilnetzen als Anlaufstätte und Informationsverteiler.

Typen von HomepagesDas World Wide Web ist ein enorm vielseitiges Medium,entsprechend unterschiedlich sind die Teilnetze, die mit-tels einer Homepage »zusammengebunden« werden. Ty-pisch ist die Mischung herkömmlicher Textmuster unddas Bemühen, traditionelle Textfunktionen medienge-recht neu zu verpacken. Das unterhaltsame und spieleri-sche Element wird hoch bewertet, unabhängig davon, obman vornehmlich informieren (Infotainment), zum

Wissenserwerb anregen (Edutainment) oder zum Erwerbeines Produkts (Adutainment) verlocken möchte. DieHomepage muss attraktiv und anregend gestaltet sein,wenn man vermeiden möchte, dass die Besucher zu ande-ren aufregenderen Örtlichkeiten im weltweiten Netz ab-wandern. Im Folgenden werden einige wichtige Home-page-Typen unter der Perspektive ihrer kommunikativenFunktion skizziert.

Private Homepages

finden sich meist auf den Servern von Universitäten undInternet-Providern und dienen – wie der Name schon ver-muten lässt – der Selbstdarstellung als Privatmensch undals Teil der »Internet-Gemeinde«. Selbstdarstellung gehtdabei meist einher mit Selbstgemachtem, d.h. die Inhaltesind selbst formuliert, selbst fotografiert, gescannt, WWW-gerecht aufbereitet und zu einem Web zusammen-gewoben. Im Vordergrund steht Autobiographisches, das

sich allerdings nicht in den vomPrintmedium her bekannten Text-mustern präsentiert – der traditio-nelle Lebenslauf findet sich al-lenfalls als Zusatzelement vonStudierenden auf Jobsuche. An-sonsten ist der authentische Aus-druck gefragt, die individuelleGestaltung, die Originalität beider Wahl des Seitenhintergrunds,der verwendeten Ikonen und beider Zusammenstellung derGestaltungs-elemente. Zentral fürdie Auswahl der Inhalte ist dieIdentität als Netzbürger, d.h. mansteckt die Themen ab, mit denenman mit anderen Internet-Nutzern

in Kontakt treten möchte. Man demonstriert die für dasMedium typische Offenheit und Gesprächsbereitschaftund gibt neben der obligatorischen E-Post-Adresse häufignoch andere Kanäle zur Kontaktaufnahme an. Vom eigenenLeben und Treiben außerhalb des Internet, dem so genann-ten »real life«, werden nur die Aspekte herausgegriffen,mit denen man im Netz präsent sein möchte. Für diesprachliche Gestaltung privater Homepages sind Merkma-le charakteristisch, die Peter Sieber2 mit der Metapher des»Parlando« beschrieben hat: Das Bemühen um Authenti-zität und Spontaneität, teilweise zu Lasten von Recht-schreibung, Syntax und Textplanung, die Hinwendungzum Rezipienten, die Orientierung an der mündlichenSprache und an dialogischen Kommunikationsformen.

Private Homepages verbreiten meist ein informelles per-sönliches Ambiente, das von Stolz über das Selbst-gebastelte, der Freude an der Gastgeberschaft und demWunsch nach Ideenaustausch getragen ist. Sie bieten auchdie Möglichkeit, eigene Gedichte, Geschichten, Bilder,Fotos und Kompositionen schnell, unkompliziert undpreisgünstig zu publizieren – eine Chance für jungeKünstlerinnen und Künstler, ihre Arbeiten weltweit verfüg-bar zu machen. Auf den privaten Homepages wirkt auchnoch am ehesten der kooperative Geist aus den Gründer-

Abb. 4: Homepage zur Hypermedia-Anwendung»75 Jahre Radio«

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jahren des Internet, in denen kostenloser Austausch vonErfahrung und Wissen, Meinungsfreiheit, Selbst-organisation und Selbstverantwortlichkeit aller Nutzerhoch bewertet wurden. Zum Teil werden sehr nützlicheProgramme zum kostenlosen »Download«, zum Kopierenauf die eigene Festplatte, angeboten. Wertvolle Ressour-cen sind auch die so genannten »Linklisten«, das sind the-matisch geordnete Sammlungen von Hyperlinks zuHomepages von Webs und Sites, die vom Gastgeber derHomepage gesammelt und als Tips zur Weiterreise bereit-gestellt werden. Wertvoll sind solche Sammlungen vorallem, wenn sie entweder auf große Reichhaltigkeit inBezug auf ein bestimmtes Thema abzielen oder wenn sieversuchen, aus einem riesigen Angebot eine qualitativbegründete Auswahl zu treffen und die angebotenen Linksentsprechend zu kommentieren. Linklisten sind besondersnützlich, wenn die automatisch erstellten thematischen In-dizes im Internet keine befriedigenden Ergebnisse liefern,weil sich der Suchbereich über Suchwörter nicht präziseeingrenzen lässt. Das Suchwort »dictionary« liefert bei-spielsweise mehr Reklamematerial zu Printwörterbüchern

als Links zu lexikalischen online-Ressourcen – die vonRobert Beard gepflegte Sammlung, die Links zu mehr als800 online-Wörterbüchern für 150 Sprachen enthält (cf.Linkliste), ist deshalb für das gezielte Suchen enorm wert-voll.

Persönliche Homepages

dienen dazu, Mitarbeiter von Institutionen und Firmen inden zugehörigen Sites vorzustellen, Funktionen, Kompe-tenzen und Zuständigkeiten abzustecken und die betref-fenden Personen in institutionellen und betrieblichenHierarchien einzuordnen. Im Gegensatz zu den privatenHomepages geht es also nicht um die Identität als Netz-bürger, sondern um die berufliche Rolle im »real life«.Ausschlaggebend für die Gestaltung persönlicherHomepages ist nicht der individuelle Ausdruck, sonderndas konsistente Design, das die institutionelle Site (s.u.)zusammenhält. Im Allgemeinen legen die Betreiber derSite, der Webmaster oder die Webmistress, ein Auf-

baumuster fest und füllen dies mit den Daten der Mitarbei-ter. Dies garantiert nicht nur Einheitlichkeit, sondern vorallem Vollständigkeit – schließlich verfügen viele Men-schen weder über genügend Zeit und Lust, noch über dastechnische Know-how, um die persönliche Homepageselbst zu gestalten. Wer sich über die festgelegten Text-muster hinaus im WWW präsentieren möchte, legt einenHyperlink zur privaten Homepage.

Die Rolle und Funktion in der zugehörigen Institutionbestimmt, welche Informationen zur Person angegebenwerden: Typisch für eine Professorin ist die Angabe vonForschungsschwerpunkten, Informationen zu laufendenund abgeschlossenen Projekten, zu Publikationen undVorträgen und Daten zu Lehrveranstaltungen und Sprech-stunden. Typisch für einen Verwaltungsangestellten sindAngaben zum Zuständigkeitsbereich und zu den Sprech-zeiten. Wichtig in allen Fällen sind Kontaktierungs-möglichkeiten über verschiedene Kanäle: E-Post, gelbePost, Fax und Telefon.

Institutionelle Homepages

organisieren Sites zu Institutionen wie Universitäten undForschungseinrichtungen, zu Behörden, Parteien und an-deren Organisationen des öffentlichen Lebens, zu Stadt-und Regionalinformationen. Institutionelle Sites werdenin der Regel mit konkreten Fragen besucht: WelcheFächerkombinationen kann ich an der Universität Muster-berg studieren, was wird für die Zwischenprüfung ver-langt, wie sieht es mit dem Sportangebot aus, was steht aufdem aktuellen Speiseplan der Mensa? Gibt es für kom-menden Dienstag in Berlin-Charlottenburg noch ein Ein-bettzimmer unter 90 DM und was läuft am betreffendenAbend in der Oper? Wie komme ich am Samstagabend amschnellsten mit der Bahn von Trier nach Paris? Institutio-nelle Homepages müssen so gestaltet sein, dass die Rat-suchenden möglichst schnell zu den gewünschten Infor-mationen finden. Je umfangreicher und komplexer dieSite, desto wichtiger ist es, generelle Navigationshilfenwie Volltextsuche und thematische Indizes anzubieten,potenzielle Nutzerfragen zu antizipieren und durch ent-sprechende Rubriken zu bedienen. Typisch für Organisa-tionen sind z.B. Verzeichnisse der Mitarbeiter, Telefon-und Adresslisten und Wegbeschreibungen zum Ort der In-stitution. Typisch für Stadt- und Regionalinformationensind Hotel- und Gaststättenverzeichnisse, Veranstaltungs-kalender und Informationen zum öffentlichen Nahver-kehr. Der institutionelle Rahmen prägt auch die sprachli-che Gestaltung. Formelle Institutionen vermeiden infor-melle Begrüßungsfloskeln und siezen ihre Besucher,wenn sie diese überhaupt direkt ansprechen. Städte- undRegionalinformationen kommen meist etwas bunter undflotter daher; doch auch bei ihnen überwiegt ein nüchter-ner, geschäftsmäßiger Tonfall, der auf höfliche Begrüßungdes Besuchers und schnelle Abwicklung seines Anliegenshin ausgerichtet ist.

Die Vermittlung zwischen Innen und Außen ist bei insti-tutionellen Homepages oft noch um einen zusätzlichenAspekt erweitert, den der Grenzziehung zwischen Internet

Abb. 5: Erlanger Linksammlung zur Grammatik

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,

und Intranet. In vielen Institutionen wird das WWW näm-lich auch als interner Informationsverteiler genutzt, undnatürlich stehen den Besuchern von außen nicht alle inter-nen Informationen zur Verfügung. Umgekehrt haben ge-rade in großen Institutionen und Behörden nicht alle Mit-arbeiter einen eigenen Internet-Zugang, sondern könnennur auf die Dokumente zugreifen, die auf der eigenen Sitegespeichert sind. Die Homepage muss also im Hinblick auf

externe Besucher die allgemein begehbaren Teile von dennur intern zugänglichen trennen; die reinen Intranet-Nut-zer müssen die externen Verknüpfungen als nicht benutz-bar erkennen können.

Themenbezogene Homepages

organisieren Webs und Sites, die sich als Informations-und Kommunikationszentren zu einem Thema verstehen.Sie werden meist von größeren Sites beheimatet, z.B. vonakademischen Einrichtungen, von Verlagen, Online-Zei-tungen, Rundfunk- und Fernsehanstalten. Qualitäts-merkmale für themenbezogene Sites sind die Verständlich-keit und Attraktivität der Themenabhandlung, die Voll-ständigkeit und Verlässlichkeit derInformationen und deren Aktualität.Gerade die ständige Aktualisier-barkeit prädestiniert das WWW alsPublikationsmedium für viel disku-tierte und rasch sich veränderndeThemenbereiche, wie z.B. die Dis-kussion um die neue Rechtschrei-bung, die das IDS mit einem »Web«begleitet (cf. Linkliste) oder neuereEntwicklungen im Bereich derDokumentenauszeichnungsspra-chen SGML, XML und HTML, überdie eine von Robin Cover gepflegteSite informiert (cf. Linkliste). Da vieleNutzer solche Webs und Sites regel-mäßig besuchen, um sich über dieEntwicklungen auf dem Laufendenzu halten, kommt den zugehörigen

Homepages vor allem die Aufgabe zu, neue und aktuelleInformationsangebote als solche erkennbar zu machen, seies durch eine eigene Rubrik, sei es durch Sortierung derLinks nach dem Publikationsdatum oder durch die Ver-wendung von Etiketten mit Aufschriften wie »neu« oder»aktuell«.

Typischer Bestandteil thematischer Webs sind Sammlun-gen von Links zu themenrelevanten Angeboten im WWW.Viele derartige Webs bestehen überhaupt nur aus geord-neten und kommentierten Linklisten – zwei für Germanis-ten interessante Webs dieser Art sind die am IDS von Kat-rin Freese und Eva Breindl aufgebauten »Quellen zurdeutschen Sprache« (cf. Linkliste) und die Linksammlungzur Germanistik an der Universität Erlangen (vgl. Abb. 5).Da die Betreiber thematischer Webs in der Netzgemeindeals Experten zum Thema ausgewiesen sind, erhalten siehäufig Anfragen zu Informationen, die im Web fehlenoder die von eiligen Besuchern nicht gleich auf Anhiebgefunden wurden. Besonders für letztere ist die RubrikFAQ (= Frequently Asked Questions) gedacht, die sich aufvielen themenbezogenen Homepages findet. Wie derName schon sagt, werden darin häufig gestellte Fragenzum Thema abgehandelt – für die Betreiber der Sites hatdies den Vorteil, dass entsprechende E-Briefe rasch miteinem Hinweis auf die FAQ beantwortet werden können.Ansonsten ist der E-Mail-Kontakt zu den Besuchern sehrgefragt. Besonders Ergänzungen, Hinweise und Rückmel-dungen sind erwünscht und werden oft sogar in eigenenRubriken – Gästebücher, Leserbrief-Ecken etc. – publi-ziert. Werden die Gäste aktiv, bildet sich schnell eine ArtClub heraus. Ein schönes Beispiel ist das von ThomasKemmer initiierte schwäbisch-englische Wörterbuch (vgl.Abb. 6), bei dem es zunächst vornehmlich um Wortschatzund Grammatik des Schwäbischen ging. Über die Jahrehat sich die Site zu einem Treffpunkt für alle amSchwabentum Interessierten entwickelt, die Neuigkeitenund Tipps austauschen – in der Rubrik »Laugebrezleworldwide« u.a. dazu, wo sich der Schwabe in der Frem-de, z.B. in Berlin, in New York oder in Shanghai, mit Lau-genbrezeln versorgen kann. Manche themenbezogene

Webs bieten auch Online-Konferenzenan, bei denen die Besucher über Teilas-pekte des Themas simultan über getipp-te Dialoge am Bildschirm diskutierenkönnen. Die Homepages solcher Webskündigen die virtuellen Zusammenkünf-te rechtzeitig an und weisen den Weg indie entsprechenden Chat-Räume.

Kommerzielle Homepages

organisieren Sites, die das Internet zurWerbung, zur Kundenbetreuung und alselektronisches Warenhaus nutzen. DieFunktion und die Aufmachung solcherHomepages variiert natürlich erheblich,je nachdem welches Produkt vermarktetwird und welches Ziel das Unternehmenmit seinem »Auftritt« im Internet primärverfolgt. Große Konzerne empfangen

Abb. 6: Homepage zu einem schwäbisch-englischenWörterbuch

Abb. 7: Das Tal der lila Kühe

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den Besucher meist auf professionell gestaltetenHomepages, denen anzusehen ist, dass die firmeneigeneSite nicht zuletzt auch ein Prestigeobjekt ist, das vor allemprunkvoll und teuer wirken muss. ProfessionelleBildschirmdesigner gestalten Homepages gerne als Se-quenz von Seiten, als eine Art Begrüßungsritual: Die gra-phisch aufwändige Einstiegsseite enthält den Willkom-mensgruß und das Firmenlogo. Erst dann gelangt man aufdie Leitseite des Angebots, von der aus Links zu den wich-tigsten Rubriken abzweigen – z.B. zu Produkt-informationen, Firmenstruktur, Kontaktadressen, For-schungsaktivi-täten, gegebe-nenfalls zumOnline-Kunden-dienst. Es ist al-lerdings frag-lich, ob poten-zielle Kunden,die zu Hauseüber Modem aufdas WWW zu-greifen, am üppi-gen Design diereine Freude ha-ben. Unbestrit-ten nützlichsind kommerzi-elle Sites vonSoftwareherstellern, die kostenlose Demonstrationsversio-nen ihrer Produkte zum Download bereitstellen und ihreKunden über elektronische Hotlines betreuen. Danebenschafft das WWW auch kleineren und mittelständischenBetrieben eine kostengünstige Plattform, um Dienstlei-stungen anzubieten, über Produkte zu informieren unddiese direkt zu vermarkten.

Es ist nahe liegend, sich im WWW über Hard- und Soft-ware, über neu erschienene CDs oder Bücher zu informie-ren. Nach Schokoladentafeln oder nach Kinderschuhenwürde hingegen kaum jemand suchen. Deshalb versuchenFirmen, die solche so genannten »Low-interest«-Produk-te im WWW vermarkten wollen, spaßhungrige Surferdurch amüsante Angebote auf ihre Sites zu locken und andie entsprechenden Marken zu binden. Die Homepage ei-ner bekannten Schokoladenmarke führt beispielsweise ins»Tal der lila Kühe«, wo man eine Kuh-Patenschaft über-nehmen und Mitglied im »lila Alpenverein« werden kann(vgl. Abb. 7). Über das Gästebuch und in dem auf der»Oberzartinger Alm« eingerichteten Chat-Raum, könnendie Kuhpaten ihre Erfahrungen austauschen. Es gibt einenVerteiler für elektronische Postkarten und einen Service,über den man sich per E-Mail an Geburtstage von Lebens-gefährten, Verwandten und Freunden erinnern lassen kann.Der Schuhhersteller Salamander lässt seinen im gedruck-ten Medium und in gereimter Sprache schon lange promi-nenten Lurch nun auch online und interaktiv hochleben(vgl. Abb. 8). Auf den Homepages zu solchen Adutainment-Sites findet sich die für private Homepages charakteristi-

sche direkte Ansprache wieder, das informelle »Du« und derjugendliche Sprachstil. Die Texte sind jedoch professio-nell formuliert, grammatisch und orthographisch korrektund dienen demselben Ziel wie die »seriösen« kommerzi-ellen Homepages: Die Besucher sollen möglichst langeauf der Site verweilen und dabei zum Kauf des Produktsund zum baldigen Wiederkommen animiert werden. Esverwundert deshalb nicht, dass Verknüpfungen und Link-listen nach außen auf diesen Homepages so gut wie nie zufinden sind.

Linkliste

Beard, Robert: A Web of Online Dictionaries. Online, Internet,gesehen am 22.1.99: http://www.facstaff.bucknell.edu/rbeard/diction.html

Barsky, Robert F.: Noam Chomsky. A life of Dissent. Online,Internet, gesehen am 22.1.99: http://mitpress.mit.edu/e-books/chomsky/

Cover, Robin: The SGML/XML-Homepage. Online, Internet,gesehen am 22.1.99: http://www.oasis-open.org/cover/

Erlanger Liste: Germanistik im Internet. Online, Internet, gese-hen am 22.1.99: http://www.phil.uni-erlangen.de/~p2gerlw/ressourc/liste.html

Freese, Katrin/ Eva Breindl: Quellen zur deutschen Sprache.Online, Internet, gesehen am 22.1.99: http://www.ids-mannheim.de

IDS: Informationen zur neuen Rechtschreibung. Online,Internet, gesehen am 22.1.99: http://www.ids-mannheim.de/reform/

Kemmer, Thomas: Swabian into English. Online, Internet, ge-sehen am 22.1.99: http://www.architektur.uni-stuttgart.de:1200/users/tk/sw/swab.html

LINSE: Essener Linguistik-Server. Online, Internet, gesehen am22.1.99: http://www.linse.uni-essen.de/

MRD: 75 Jahre Radio. Online, Internet, gesehen am 22.1.99:http: //www.ard75jahreradio.de/

Pakin, Scott: The automatic complaint-letter generator. Online,Internet, gesehen am 22.1.99: http://www-csag.cs.uiuc.edu/individual/pakin/complaint

Webmuseen – Ein Online-Museumsführer. Online, Internet, ge-sehen am 22.1.99: http://www.webmuseen.de/

Anmerkungen

1 Für Hinweise und Anregungen bedanke ich mich bei MukdaBuengemoom, Katrin Freese und Sandra Waldenberger. Mit»cf. Linkliste« wird auf die Angabe der Internet-Adressen amEnde des Artikels verwiesen; eine flankierende Web-Seite zudiesem Beitrag mit Links zu den beschriebenen Örtlichkei-ten und WWW-Publikationen zum Thema »Homepage« fin-det sich unter www.ids-mannheim.de/grammis/storrer/home-links.html

2 Sieber, Peter (1998): Parlando in Texten. Zur Veränderung kom-munikativer Grundmuster in der Schriftlichkeit. Tübingen: Nie-meyer.

Die Autorin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für deut-sche Sprache in Mannheim.

Abb. 8: Lurchi online

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Unsere Allgemeinsprache ist in erster Linie ein Kulturgut.Sie ist ein Gegenstand öffentlichen Interesses. Sowohlinnerhalb gesellschaftlicher Gruppen und staatlicher Or-gane als auch in der Öffentlichkeit wird nicht nur über dieRechtschreibung, sondern auch über die Anglisierung desDeutschen und die Vulgarisierung der Mediensprache dis-kutiert. Es ist noch gar nicht so lange her, dass das Insti-tut für deutsche Sprache seine Jahrestagung unter dasThema »Sprachkultur« gestellt hat. Gesamtwirtschaftlichist das Kulturgut Sprache allerdings weniger interessant.Einige wenige Wörterbuch- und Schulbuchverlage verdie-nen vielleicht an der Orthographiereform, und es gibt pri-vate Sprachschulen, die mit dem Deutschunterricht fürAusländer Geld verdienen. Aber das sind marginale Grö-ßen.

Anders sieht es bei den Fachsprachen aus. Fachsprachenunterscheiden sich von Allgemeinsprachen im Wesentli-chen durch ihr Vokabular. Jedes Fachgebiet entwickeltseine eigene Terminologie, und diese Fachwörter ermög-lichen es den Experten zu kommunizieren. Das ist in derImkerei nicht anders als in der Informatik, auch wenn imeinen Fall die Fachwörter deutschstämmig, im andern Fallmeist englischen Ursprungs sind. Das öffentliche Interes-se an Fachsprachen ist gering. Nur selten werden wir ge-wahr, dass Fachsprache, dass Terminologie zu einem im-mer bedeutenderen Wirtschaftsfaktor wird. Auch die uni-versitäre Sprachgermanistik fängt bei uns gerade erst an,die Brisanz von Terminologiearbeit zur Kenntnis zu neh-men. In Frankreich und England ist das Thema seit Jah-ren Teil der Curricula sprachlicher Fächer.

Warum bauen immer mehr große Unternehmen eigeneTerminologieabteilungen auf? Warum gibt es ein rapidesWachstum bei Agenturen, die terminologische Datenban-ken anbieten? Warum fördert die Kommission der Euro-päischen Union massiv den Aufbau einer europäischen In-frastruktur für Terminologiearbeit und die Entwicklungvon Verfahren zur automatischen Terminologieverar-beitung? Was macht Fachwörter so wichtig?

Zunehmende Komplexität und rasanterWandelTechnik bestimmt die moderne Wirtschaft, und zwar eineTechnik, die zunehmend komplexer und das heißt zu-gleich auch weniger anschaulich wird. Um die Imkerei zuerlernen, muss man einem Imker bei seinen Verrichtungenüber die Schulter sehen. So lernt man, was zu tun ist. DieImkerei ist anschaulich. Was zählt, ist die Praxis. Erfah-rung ist der Lehrmeister. Natürlich gibt es auch das Fach-

wissen der Imkerei. Es gibt Lehrbücher und Fachzeitschrif-ten. Aber man kann ein guter Imker sein und bleiben, ohneMonat für Monat die neuesten Fachzeitschriften zu lesen.Der Umgang mit Texten ergänzt die Anschauung. Er kannsie nicht ersetzen.

Anders in der Informatik. Was im Computer geschieht, istder Anschauung nicht zugänglich. Um Informatiker zuwerden, muss man in erster Linie mit Informatikern kom-munizieren, mit ihnen sprechen, ihre Texte lesen. Erstdann mag es sich auch lohnen, ihnen bei der Arbeit überdie Schulter zu schauen. Um neue Software zu imple-mentieren, muss man die Produktbeschreibung, die In-stallationsanleitung und die Benutzeranweisung gelesenhaben. Ohne diese Texte ist jede noch so gute Softwareschlicht unbrauchbar. Je verständlicher die Handbücherfür den Benutzer sind, desto mehr wird er das Potenzialdes Produkts ausschöpfen können. Jeder kennt die Klagenüber unzulängliche Beschreibungen etwa von Textverar-beitungssystemen. Je größer ihr Funktionsumfang, destomehr wird der Benutzer von der Last der Fachwörter er-drückt. Wo der Fachwortschatz der Imkerei mit tausendWörtern auskommen mag, umfasst die Terminologie derInformatik zigtausende Einheiten, und täglich kommenneue hinzu.

Die Begriffe, die die Fachwörter der Imkerei benennen,lassen sich oft durch Illustration anschaulich machen.Dagegen bleibt, bei aller Erfindungsgabe der Autoren, dieTerminologie der Informatik abstrakt, und es bedarf gro-ßer Anstrengungen bei der Definitionsarbeit, die Relatio-nen und Hierarchien zwischen den Begriffen eindeutig,einleuchtend und verständlich zu beschreiben. Eine Ho-nigschleuder kann man zur Not auch bedienen, wenn mandie Gebrauchsanweisung verloren hat. Das Prinzip Ver-such und Irrtum lässt sich jedoch nicht einmal auf die Be-dienung von Videorekordern übertragen, geschweige dennauf Computer. Ohne eine Anleitung, in der die Dinge,Funktionen und Verfahrensschritte eindeutig bezeichnetwerden, hat der Benutzer keine Chance. Es ist allein diesprachliche Vermittlung, die Fächer wie Informatik unddie Computertechnologie, aber auch Nukleartechnik, Bio-chemie, selbst modernen Werkzeugbau überhaupt erstmöglich macht. Die Kommunikation zwischen Entwick-ler und Anwender kann jedoch nur funktionieren, wennTextautor und Textrezipient über eine gemeinsame Termi-nologie verfügen, wenn ein Fachwort also für Autor undLeser genau denselben Begriff bezeichnet. Sprache, vorallem geschriebene Sprache, ist die Voraussetzung fürunsere moderne Technik. Imker kann man werden, ohneTexte zu lesen, Informatiker (oder Automechaniker oder

SPRACHE ALS WIRTSCHAFTSFAKTORZUR BEDEUTUNG VON TERMINOLOGIE

Von Wolfgang Teubert

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Elektroingenieur) nicht. Je komplexer, je weniger anschau-lich ein Fachgebiet ist, desto mehr hängt der Experte vonTexten ab, von Beschreibungen, Handbüchern, Anleitun-gen.

Wortschatz und TerminologieDer Wortschatz der Allgemeinsprache besteht aus Wör-tern, die eine mehr oder weniger klar umrissene Bedeu-tung haben. Ein Tiger ist ein »katzenartiges Raubtier mitgelbrötlicher Färbung und schwarzen Querstreifen«. DenBegriff Tiger werden wir in vielen Sprachen finden, undwir dürfen vermuten, dass die Wörter, mit denen der Be-griff Tiger in diesen Sprachen bezeichnet wird, ziemlichgenau dieselbe Bedeutung haben. Anders verhält es sichbeim Wort Kummer, das eine Art von »Betrübnis über einUnglück oder Leid, das einen betroffen hat«, bezeichnet.Unser Kummer, der sich auf subtile Art von Trauer undGram unterscheidet, hat weder im Französischen noch imEnglischen ein genaues Gegenstück. Wie sollen wir einemNichtmuttersprachler sagen, in welchem Kontext er vonKummer reden kann? Viele Wörter der Allgemeinsprachehaben vage Bedeutungen, die sich kaum befriedigendbeschreiben lassen. Was in den Wörterbüchern steht, istoft nur eine erste Orientierung.

Anders ist die Lage bei Fachwörtern. Bei Fachwörternspricht man nicht von Bedeutung; vielmehr benennenFachwörter einen Begriff, der im Prinzip einzelsprachen-unabhängig definiert ist. Für Tiger trifft das zu; und in derTat ist Tiger nicht nur ein Wort der Allgemeinsprache,sondern zugleich auch ein Fachwort im Gebiet der Zoo-logie. Kummer indessen benennt keinen einzelsprach-abhängig definierten Begriff, folglich handelt es sich beiKummer nicht um ein Fachwort. Anders als Bedeutungs-angaben in Wörterbüchern, die nur Hinweise auf die Be-deutung eines Wortes geben, sind Begriffsdefinitionen inder Regel vollständig. Sie verzeichnen alle essenziellenEigenschaften eines Begriffs. Was nicht bezeichnet ist, istkontingent, beliebig. Der Begriff Tiger sagt beispielsweisenichts darüber aus, ob das Tier männlich oder weiblich ist.Das Fachwort Tiger zeigt uns ein Weiteres: Wie wir allegelernt haben, gibt es ein linnésches System, das Pflan-zen- und Tierwelt in eine eindeutige Ordnung bringt. Esgibt Oberbegriffe wie katzenartige Raubtiere, Unterbe-griffe wie bengalische Tiger und gleichgeordnete Begriffewie Löwen und Leoparden. Ein solches Begriffssystem,auch Ontologie genannt, definiert die Begriffe eines Fach-gebiets hierarchisch. Es verhindert damit, dass in derKommunikation Unklarheiten entstehen.

Arbeitsteiligkeit und KommunikationImker kann man ohne andere Hilfe sein. Ein Flugzeug,einen Computer oder einen simplen Fernseher kann nie-mand allein bauen. Man ist auf die Zusammenarbeit mitanderen, beispielsweise mit Zulieferern angewiesen. Die-se Interaktion setzt Kommunikation voraus. Man brauchtBeschreibungen für Bauteile, die von Dritten bezogenwerden, beispielsweise genaue Dokumentation der Funk-tionsweise von elektronischen Chips, die heute in fast je-

dem Gerät zu finden sind. Denn man sieht es den Chipsnicht an, wie sie funktionieren. In der modernen Techno-logie gibt es den genialen Erfinder als Einzelwesen nichtmehr. Ohne Teamarbeit läuft nichts. Bei komplexerenAufgaben sind es gleich mehrere Teams, verteilt aufmehrere Stellen, oft in mehreren Ländern, die gemeinsaman einer Entwicklung arbeiten. Wenn Schnittstellen nichtsauber definiert werden, kann nichts funktionieren. Mo-derne Technologie ist arbeitsteilig. Je arbeitsteiliger siewird, desto wichtiger wird Sprache, wird Terminologie.

Das Problem des technischen WandelsAuch heute noch dürfte ein Imker, wenn er seine monatli-che Fachzeitschrift liest, mit einem fünfzig Jahre altenGlossar der Imkerei recht gut auskommen. Ein fünfzigJahre altes Fachwörterbuch der Informatik gibt es nicht.Das Fach ist erst vierzig Jahre alt. Doch selbst mit einemzehn Jahre alten Fachwörterbuch wäre heute nur weniganzufangen. Je rasanter die Entwicklung eines Faches ist,desto schneller veraltet die Terminologie.

Technologischer Wandel manifestiert sich in neuen Be-griffen, für die es gilt, Benennungen zu finden. Für jedesFachgebiet muß es eine Infrastruktur für Terminologie-arbeit geben, muss es von der Expertengemeinschaft an-erkannte Verfahren geben, die sicherstellen, dass sich inüberschaubarem Zeitrahmen, wenn es um die Benennungeines neuen Begriffs geht, der bestgeeignete Neologismusals neues Fachwort durchsetzt. Normung ist unerlässlich,damit sich Verfasser und Leser von Verfahrens- undProduktbeschreibungen, von Handbüchern und Anleitun-gen sicher verstehen. Gerade für die durch schnellen Wan-del gekennzeichneten Zukunftstechnologien bedeutet das,dass neue Formen der Terminologiearbeit nötig werden.Man kann heute nicht mehr warten, bis ein zuständigerAusschuss, der sich halbjährlich trifft, erst Vorschläge er-arbeitet, dann Einwendungen diskutiert, Entwürfe über-arbeitet und schließlich die Norm verabschiedet. Es könn-te sein, dass dann der zu normende Begriff schon obsoletgeworden ist. Das bedeutet auch, dass das gedruckte Fach-wörterbuch, das traditionellerweise der Normung der Ter-minologie diente, ausgedient hat. Nur Terminologie-datenbanken können heute halbwegs mit dem technischenWandel Schritt halten.

TerminologienormungNormung muss also nicht nur sicherstellen, dass die Ge-winde von Schrauben und Muttern zueinander passen,sondern auch, dass die Fachwörter, die normierte Dingeund Verfahren bezeichnen (indem sie die entsprechendenBegriffe benennen), von jedem, der mit einer bestimmtenFachsprache zu tun hat, in genau gleicher Weise verstan-den werden. Terminologische Normungsarbeit muss hierselbst zum Gegenstand der Normung werden. Deshalbwurde schon vor Jahrzehnten beim Deutschen Institut fürNormung (DIN) ein Normenausschuss Terminologie(NAT) eingerichtet, in dem Praktiker, Lexikographen,Computerlinguisten, Übersetzungswissenschaftler undSprachwissenschaftler Normen, allgemeine Grundsätze für

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die Terminologiearbeit entwickeln und versuchen, denneuen Herausforderungen unseres technischen Zeitaltersgerecht zu werden. Die Arbeit des NAT ist dabei in die derArbeit des für Terminologie zuständigen Technischen Ko-mitees der International Standardization Organization(TC 37) eingebunden. Neue Normen gewährleisten bei-spielsweise, dass terminologische Daten (d.h. die Benen-nungen sowie die sehr komplex strukturierten Definitio-nen), die normgerecht für eine bestimmte Anwendung,beispielsweise für die Bedienungsanleitung eines neuenAutotyps, erstellt worden sind, automatisch aus der Term-bank des an der Entwicklung beteiligten Teams in einezentrale Terminologiedatenbank für Kraftfahrzeugtechnik(die vielleicht ganz anders strukturiert ist) migriert wer-den können (wobei Datenmigration selbst wieder ein re-lativ neues Fachwort der Datenverarbeitung ist).

Der multilinguale Aspekt der Terminolo-giearbeitNicht erst, seit Globalisierung zum allgegenwärtigenSchlagwort arriviert ist, sind es die Bedürfnisse der Über-setzer, denen sich viele der vorhandenen Terminologie-datenbanken in erster Linie verdanken. Die Übersetzungfachsprachlicher Texte ist hoch bezahlte Spezialisten-arbeit, und oft sind es die Übersetzer, die, wo immer es umneue Begriffe geht, überhaupt erst terminologische Ent-sprechungen in der Sprache, in die sie einen Fachtextübersetzen, finden oder erfinden müssen. Voraussetzungdafür ist eine möglichst umfassende Kenntnis von Fach-texten sowohl der Ausgangssprache als auch der Ziel-sprache, damit sie nicht etwa einen Neologismus da kre-ieren, wo es bereits eine adäquate Übersetzung gibt. DieÜbersetzer sind es, die einen immer größeren Anteil an derAufgabe haben, über die Einheitlichkeit von Terminolo-gien zu wachen.

Mit der Globalisierung geht die Vorherrschaft des Engli-schen einher. Gerade in den innovativen Technologiengibt es vollständig ausgearbeitete Terminologien vielfachnur noch auf Englisch. Immer öfter sind Fachleute gleichwelcher Muttersprache gezwungen, miteinander in einemJargon zu kommunizieren, der dem Englischen näher istals ihrer gemeinsamen Muttersprache. Auch größereRegionalsprachen wie das Spanische, das Französischeoder auch das Deutsche sind auf staatliche Förderung an-gewiesen, wenn sie sich nicht schon mittelfristig um dieMöglichkeit bringen wollen, dass Fachtexte auch in denNationalsprachen geschrieben werden. Der marktwirt-schaftlich vernünftigste Weg wäre es, die Übersetzung re-levanter innovativer Texte aus dem Englischen zu fördernund gleichzeitig die Infrastruktur zu schaffen, die die inden Übersetzungen verwendete Terminologie aus denTexten extrahiert, aufbereitet und vereinheitlicht. Ist durchÜbersetzungen erst einmal eine nationalsprachige Termi-nologie entstanden, werden sich auch Experten zu Wortmelden, die lieber in ihrer Muttersprache schreiben alssich auf den schwankenden Boden einer Fremdsprache zuwagen. Förderung der Terminologiearbeit ist daher zu-gleich auch Förderung von Forschung und Entwicklung,die sich, weit mehr als früher, immer mehr als Dialog voll-

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zieht. Länder, die sich auch weiterhin eine nationale Ter-minologie leisten wollen, müssen also erkennen, dass essich um eine öffentliche Aufgabe handelt. Es ist ein ver-hängnisvoller, wenn auch nicht sonderlich überraschenderTrend, dass gerade die privaten Hochschulen gezielt dazuübergehen, ihre Lehre auf Englisch zu vermitteln.

Der Regelungswut der europäischen Institutionen ist es zuverdanken, dass heute die Produkthersteller gezwungensind, ihren Geräten Bedienungsanleitungen in den natio-nalen Sprachen der europäischen Länder beizufügen, indenen sie verkauft werden, und zwar Bedienungsanleitun-gen, für deren Richtigkeit die Produzenten haften. Solchegesetzgeberischen Initiativen können einen wichtigenBeitrag zur Stützung nationalsprachiger Terminologieleisten.

Terminologie als Standortfaktor»No hi ha poble sensa cultura ni cultura sense llengua«. Esgibt kein Volk ohne Kultur und keine Kultur ohne Sprache.Dieser Aphorismus des Katalanen Benjamin Vautier hatseine Gültigkeit auch für die Terminologie. Erkannt habendas die Länder und Nationen des Ostblocks. Die kleinenbaltischen Staaten sehen die Entwicklung (die großenteilseine Neuschaffung ist) einer nationalen Terminologie alsüberlebenswichtig an. Gerade weil sie erlebt haben, dassder Verzicht auf eine eigene Terminologie wirtschaftlicheAbhängigkeit bedeutet, tun sie heute alles, um zu vermei-den, dass nun die englische an die Stelle der russischenTerminologie tritt.

Wer auf die gezielte Fortentwicklung nationaler Termino-logie verzichtet, verzichtet eben auch auf die aktive Mit-gestaltung an der Weiterentwicklung eines Fachs. Dennwenn auch die internationale Wissenschaftssprache Eng-lisch sein wird, kann an diesem internationalen Diskursnur der glaubwürdig und erfolgreich teilnehmen, der auchauf einen nationalen Diskurs verweisen kann. Die deut-sche Forschung und Entwicklung wird international nurernst genommen, soweit sie sich auch in ihrer Eigenstän-digkeit manifestiert und darstellt, zuerst und vor allemdurch Texte, also sprachlich. Ohne einen nationalen Dis-kurs in Forschung und Technologie verharrt man in Ab-hängigkeit von Fachtexten, über deren Relevanz und Qua-lität nicht hier, sondern anderswo verhandelt wird. Klei-nere europäische Länder wie die baltischen Staaten, aberauch Ungarn, Slowenien oder die skandinavischen Län-der haben sich in ihrer Terminologiearbeit am deutschenVorbild orientiert. Sie hoffen, dass diese Vorbildfunktionauch in unserer gewandelten Welt erhalten bleibt und dassDeutschland beim Aufbau einer europäischen Infrastruk-tur für Terminologie wieder eine Vorreiterrolle über-nimmt. Denn Forschung und Entwicklung lassen sichnicht in der Isolation der akademischen Elfenbeintürmeoder der industriellen Führungsetagen betreiben (wo Eng-lischkenntnisse die Regel sind), sondern sie finden ihreBasis in der praxisnahen Ausbildung und Qualifizierungvon Facharbeitern, Technikern und Ingenieuren, eine Aus-bildung, die auch in Zukunft durch die kulturelle undsprachliche Eigenständigkeit geprägt sein wird. Alles auf

die englische Karte zu setzen, bedeutet, die Wissenschaftvon ihrer Basis in Forschung und Entwicklung abzu-schneiden, mit verheerenden Folgen. Der Wirtschafts-standort Deutschland behauptet sich wesentlich durch dieBindung von Wissenschaft an eine starke Basis, eine Bin-dung, die nur durch einen deutschsprachigen Fachdiskursmöglich gemacht wird. Theorie und Praxis können nur imGespräch, in der Interaktion voneinander lernen. Damitsie sich verstehen können, brauchen sie eine verlässlicheTerminologie.

Präskription oder DeskriptionEs gibt zwei Wege bei der Normierung von Terminologie.Der eine ist es, den richtigen Sprachgebrauch vorzuschrei-ben. Das funktioniert, wenn es eine Instanz gibt, die legi-timiert ist, solche Vorschriften zu machen. Für dieFachwortschätze des Deutschen ist das das DIN. Dort gibtes mit Experten besetzte Ausschüsse, die darüber ent-scheiden, mit welchem Fachwort ein Begriff benanntwird. Das Verfahren dazu ist langwierig. Vom ersten Ent-wurf einer Norm, in der die Terminologie eines Fachge-biets geregelt werden soll, bis zur endgültigen Inkraftset-zung des endgültigen Textes vergehen in der Regel Jahre.Aber dann steht quasi amtlich fest, dass der Schraubenzie-her richtig Schraubendreher heißt. Das ist ein typischesBeispiel für eine präskriptive Norm.

Wer heute ein neues Produkt auf den Markt bringen will,mit Produktbeschreibungen und Gebrauchsanleitungen inallen Nationalsprachen der EU, kann nicht so lange war-ten, bis die Benennung für die neuen Begriffe, die das Pro-dukt kennzeichnen, in dieser Weise genormt sind. Statt-dessen wird es Ziel sein, nach Möglichkeit auf Vorhande-nes zu bauen. Suchen Übersetzer nach einem geeignetenFachwort für einen Begriff, dann suchen sie, ob es in Tex-ten neuesten Datums, vorzugsweise im Internet, bereitsBenennungen gibt, die in Frage kommen. Sie können mitihrer Übersetzung nicht warten, bis im traditionellen Ver-fahren eine Norm präskribiert wird. Sollte, was selten ge-nug der Fall ist, die zu bezeichnende Eigenschaft oder dasMerkmal so neu sein, dass sie noch nie in der Zielspracheauf den Begriff gebracht worden ist, gilt es, das neue Fach-wort in Analogie zu Benennungen zu bilden, die entspre-chende Begriffe bezeichnen. Metaphorisierung ist ein be-vorzugtes Verfahren. So gibt es neben der traditionellenPost, heute gern abfällig snail mail genannt, die elektro-nische Post oder E-Mail. Das Analoge ist die vom Senderzum Empfänger übermittelte Nachricht, das Neue ist, dasszur Übermittlung kein Papier, keine Briefmarke und keinPostbote benötigt werden. Terminologie, die auf der herr-schenden Sprachverwendung aufbaut, ist deskriptive Ter-minologie.

In den modernen, vom Wandel bestimmten Technologi-en geht der Trend zur deskriptiven Terminologie. Somitsteht der Terminologiearbeit ein entscheidenderParadigmenwechsel ins Haus. Denn bisher fehlt es noch aneiner bewährten Methodik für die deskriptive Terminolo-gie. Da ist die Sprachwissenschaft inzwischen weiter. In derneuen Teildisziplin der Korpuslinguistik hat sie ein Instru-

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mentarium entwickelt, das sich auf die deskriptiveTerminologiearbeit übertragen lässt.

KorpuslinguistikWesentliches Ziel der Korpuslinguistik ist es, aus der Ver-wendung der Wörter (oder größeren lexematischen Ein-heiten) in Sätzen, in Texten abzuleiten, was sie bedeuten.Analysieren wir etwa die Kontexte von Schloss in mög-lichst vielen Textbelegen, so stellt sich heraus, dass in ei-nem Teil Adlige und in einem anderen Teil Türen vorkom-men. Es gibt also offensichtlich zwei Verwendungsweisenoder Bedeutungen von Schloss. Die Texte, denen man dieBelege entnimmt, bilden das Korpus. Auf die Terminolo-gie übertragen bedeutet das, dass wir gezielt Fachtextenach Benennungen für neue Begriffe suchen können.Denn diese Begriffe kommen in den Texten nicht isoliertvor. Wenn der Übersetzer nach Entsprechungen für (data)migration sucht, kann er annehmen, im Kontext auf Fach-wörter wie Datei, Datenstruktur, Datenbank, Daten-medium zu stoßen. Es müssen Texte mit einem hohen Sät-tigungsgrad an einschlägiger Terminologie sein. Und esmüssen möglichst neue Texte sein, die den jüngsten tech-nologischen Wandel auch terminologisch reflektieren.Das traditionelle Konzept eines geschlossenen Korpusscheidet daher aus. Das Korpus, das für Terminologie-arbeit geeignet ist, muss dynamisch sein; es muss laufendum Texte erweitert werden, in denen Innovation sprach-lich dokumentiert wird. Solche Korpora nennt manMonitorkorpora. Zu den traditionellen Korpora gedruck-ter Texte tritt zunehmend das Internet als quasi virtuellesKorpus, aus dem mittels thesaurusbasierter Filterungs-verfahren thematisch begrenzte Spezialkorpora zusam-mengestellt und ständig (im Sinne eines Monitorkorpus)aktualisiert werden können.

Durch den Vergleich neuer Texte mit alten kann man Neo-logismen identifizieren, d. h. Wörter (bzw. in unseremFall Benennungen), die bisher nicht belegt waren oder nurin anderen Kontexten belegt waren. Da, wo sie erstmalsauftauchen, sei es überhaupt oder sei es in einem be-stimmten Text, werden sie oft in Form einer Definitioneingeführt: »Wir nennen diese Neuerung ABC in derFolge xyz« oder so ähnlich. Das ist das terminologischeMaterial, das Fachübersetzer, aber auch Verfasser vonFachtexten benötigen, wenn sie wollen, dass man sieversteht, dass ihr Sprachgebrauch dem herrschendenSprachgebrauch entspricht.

Harte und weiche TerminologieWir haben bisher von der »harten« Terminologie gespro-chen, der Terminologie im klassischen Sinn, die den mo-dernen industriellen Produktionsprozess erst möglich ge-macht hat. Genormte Begriffe ermöglichen Arbeitsteilig-keit und Zusammenarbeit in der Produktion, sie gewähr-leisten die Kommunikation zwischen Produzenten undVerbraucher. Sie sorgen unabhängig von Sprache, Verfas-ser und Adressat für die Eindeutigkeit der Information. Indieser »harten« Terminologie benennen Fachwörter festdefinierte Begriffe, die innerhalb fixierter Grenzen statisch,

unwandelbar sind. Genau in diesem normativen Anspruchliegt der Erfolg der klassischen Terminologiearbeit. Sinderst einmal die Entwicklungsarbeiten an einem neuen Pro-dukt oder Verfahren abgeschlossen und haben sie das Sta-dium der endgültigen Definition (z. B. in Patentschriften),der Produktion (Produktbeschreibungen) und Anwen-dung (Benutzerhandbücher) erreicht, dann ist auch dieDefinitionsarbeit am einschlägigen Fachwortschatz abge-schlossen, sei es durch allgemeine Akzeptanz oder durcheinen Akt der Anweisung. An entsprechend ausgewiesenenStellen in Texten der genannten Art sowie in speziellen Ver-zeichnissen sind die relevanten Fachwörter aufgelistet unddie durch sie benannten Begriffe explizit definiert. Sie fin-den nun als genormte Begriffe Eingang in eine verbindli-che Terminologie.

Mit dieser »harten« Terminologie ist Terminologie in denWissenschaften nicht zu vergleichen. Forschung und Ent-wicklung streben nach Innovation und sind prinzipielldynamisch. Was gestern noch galt, mag heute schon über-holt sein. Was in der einen Theorie als wesentliches Merk-mal eines Konzeptes gilt, kann in einer anderen Theorieals kontingente Eigenschaft gesehen werden. So ist heu-te beispielsweise in der Linguistik umstritten, ob zwischenden Elementen einer Kollokation (d.h. einer Wortgruppe,die in Texten öfter als statistisch zu erwarten vorkommt)notwendig eine besondere semantische Beziehung bestehtoder nicht. Der Begriff der Kollokation ist, eben weil erneuerdings viel Aufmerksamkeit auf sich zieht, besondersheftig zwischen Sprachwissenschaftlern verschiedenerSchulen umkämpft. Erst wenn es zu einem konkretenVorhaben, etwa zu einem Kollokationswörterbuchkommt, wird Kollokation für dieses Produkt verbindlichdefiniert, d.h. genormt.

In der wissenschaftlichen Diskussion, wie sie etwa inZeitschriftenartikeln, in Vorträgen und neuerdings ganzmassiv im Internet stattfindet, finden wir dagegen die»weiche« Terminologie. Gerade in Bereichen, in denenbesonders intensiv geforscht wird, gehört zur Weiterent-wicklung von Theorien auch die permanente Definitions-arbeit an den zueinander in Beziehung gesetzten Begrif-fen. Hier finden sich in aller Regel keine verbindlichenDefinitionen, sondern kontextuell eingeschränkte, parti-elle und als vorläufig gekennzeichnete Definitionsansätze,die oft an unvorhersehbaren Stellen in die Texte einge-streut sind. Ein Versuch, »weiche« Terminologie verbind-lich zu normieren, wäre widersinnig, denn er würde mitder wissenschaftlichen Diskussion auch die Forschungerstarren lassen. Wenn heute trotzdem gerade die »wei-che« Terminologie in den Fokus terminologischen Arbei-tens rückt, liegt das daran, dass man erkannt hat, dass dieheute zur Verfügung stehenden korpuslinguistischen Ver-fahren eine ideale Handhabe bieten, durch die Extraktiondefinitionshaltigen Belegmaterials aus einem entspre-chenden Korpus ganz aktuell den Forschungsstand aufeinem bestimmten Gebiet darzustellen. Die Forscher er-fahren so, welche Auffassungen in unterschiedlichenTheorien und Schulen über die relevanten Phänomenekursieren.

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Information retrieval und Wissensex-traktionDie Verfahren der automatischen Informationser-schließung liefern die Belege aus Texten, in denen diegesuchten Elemente in einer zuvor definierten Häufungvorkommen. Wenn die Verfahren mit einem Thesaurusverknüpft sind, finden sie nicht nur die gesuchten Fach-wörter, sondern auch deren Synonyme, gegebenenfallsauch Ober- und Unterbegriffe. Sie finden aber keine Neo-logismen, und sie können auch nicht zwischen verschie-denen Verwendungsweisen »weicher« Fachwörter unter-scheiden. Information retrieval heute kann aus Textennicht die Passagen herausfiltern, in denen neue Ansätzeeingeführt und beschrieben werden. Die Weiterentwick-lung von mechanistischer Informationserschließung zuquasiintelligenter Wissensextraktion soll genau diesenVorteil bringen. Sie soll es Entwicklungsteams ermögli-chen, sich in wirklich überschaubarem Zeitaufwand trotzunübersehbarer Literaturfülle über relevante innovativeAnsätze zu informieren. Die dynamische Aufbereitungwissenschaftlicher Fachwortschätze ist die Voraussetzungdafür. (Teil-)automatische Wissensextraktion ist die Ant-wort auf die exponentiell ansteigende Informationsflut inden Wissenschaften, die sich traditionell, d.h. ohneComputerunterstützung immer weniger bewältigen lässt.Sie filtert gezielt die Textsegmente heraus, in denen Neu-ansätze definiert werden.

Terminologie: Dienstleistung für denMittelstandEine nationale Infrastruktur für Terminologie, die es bei unsglücklicherweise seit langem gibt, ist ein wichtiger Faktor

für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Davon profitie-ren sicher in erster Linie die kleinen und mittleren Unter-nehmen, die sich keine eigene Terminologieabteilungleisten können. Angesichts der Globalisierung muss dienationale Infrastruktur in die europäische und internatio-nale Terminologiearbeit eingebunden werden. Auch hiersind die entscheidenden Weichen gestellt.

Was jetzt Not tut, ist die Entwicklung von zuverlässigenund anerkannten Verfahren für deskriptive, d.h. text-basierte Terminologie, die ebenso wie die traditionellpräskriptive Terminologie die Eindeutigkeit der Kommu-nikation ermöglicht und zugleich dem rasanten technolo-gischen Wandel Rechnung trägt. Diese Verfahren müssengemeinsam von Sprachwissenschaftlern, Terminologenund Informatikern entwickelt werden, und sie müssen mitInternetsuchmaschinen kompatibel sein. Diese Verfahrenkönnen dann für die Wissensextraktion genutzt werden.So ist es auch mittelständischen Unternehmen möglich,sich mit geringem Aufwand global über relevanteEntwicklungstendenzen und Neuansätze zu informieren.Moderne textbasierte Terminologiearbeit wird zu einemwichtigen Wirtschaftsfaktor, wenn sie großenteils auto-matisch, mit überschaubarem Personalaufwand und mitmessbaren Ergebnissen geleistet werden kann. Es wäre ander Zeit, sich auch bei uns dieser Herausforderung zu stel-len.

Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deut-sche Sprache in Mannheim.

Wenn die Germanistik öffentlich wahrgenommen wird,dann ist dies selten von Empathie, gar von Einverständnisgetragen. Das Motiv der Wahrnehmung ist allzu oft undallzu berechtigterweise die Vergangenheit dieser »glanz-losen Disziplin«

1, die sie, wenn nicht als »geheimes Ar-

chiv des Bösen«, so doch als potenziell belastet ausweist.Es sind die von ihr selbst geschaffenen völkisch-rassisti-schen Voraussetzungen, die ihre bequeme Indienststellungzu nationalsozialistischen Zwecken ermöglichte und dieAngehörige dieser Profession immer wieder zu Überprü-fungen, zu (Nach-)Forschungen veranlassen.

Einmal mehr findet sich die Geschichte unserer Wissen-schaft der vergangenen sagen wir siebzig Jahre zusam-mengezogen in einer Biographie, derjenigen Hans Ernst

Schneiders, der sich seit dem Frühjahr 1945 Hans Schwer-te nennt. Er disponiert sich durch die Beschäftigung mitVölkisch-Volkstümlichem, hat sich – solcherart völkischund rassistisch gestimmt – den Nazis angedient, hat sei-nen wissenschaftlich verbrämten Beitrag zum Machter-halt und Machtmissbrauch geleistet, hat im Frühjahr 1945erkannt, dass die eigene Haut nur die Leugnung rettet:Leugnung – zu den typischsten Sprachhandlungen derNachkriegszeit gehört (bis heute) diese. Die wohlextremste Form von Leugnung ist der Identitätswechsel,der dann auffällt, wenn er spät entdeckt wird. Späte Ent-deckung heißt: Deckung, die (zu) lange erfolgreich war.Das hat entsetzt, auch die Genasführten fühlten sich un-behaglich.

NACH-GEDACHTSCHNEIDER/SCHWERTE, DIE GESCHICHTSSCHREIBUNG UND DIE

ÖFFENTLICHKEIT

Von Heidrun Kämper

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Die in Rede stehende Person ist Wissenschaftler. Wir habenes also nicht nur mit Zeitgeschichte, wir haben es auch miteinem Kapitel Wissenschaftsgeschichte zu tun. Diese zurekonstruieren ist Nachgeborenen aufgegeben. Das istgeschehen. Ludwig Jäger (Aachen) hat mit dem »FallSchneider/Schwerte« den »Seitenwechsel« nicht nur die-ses Gelehrten, sondern auch des Fachs dargelegt.2 ClausLeggewie (Gießen) hat versucht, das »ungewöhnliche Le-ben eines Mannes« nachzuerzählen, »der aus der Ge-schichte lernen wollte«.3

Nicht von diesen Büchern ist hier zu sprechen, sondern da-von, wie über diese Bücher und ihre Verfasser in der Pres-se gesprochen wird. Denn: »nicht Hans Schwerte mit sei-ner zweifachen Identität [steht] im Zentrum der Debatte,sondern der Streit um die Aufarbeitung«. Diese empfindetman als überfüllt »mit Beweisstücken, Schlußfolgerungen,Mutmaßungen, Anklagen und Entschuldigungen«.

Die konfligierenden Rezensenten haben in der Presse einGerichtsszenario dargeboten. Sie haben zwei Protagonis-ten die Rolle des Anklägers und des Verteidigers zugewie-sen und sie gegeneinander antreten lassen. Mit ihren Kom-mentaren kämpfen sie um den Platz ihres jeweiligen Hel-den. Das Stück heißt »Bewältigungsgeschichte oder jetztwird das Bewältigen bewältigt«. Es ist eine »skandal-trächtige Geschichte«, sie steht im »grellen Schein derAktualität« und wird zumindest in den Rang einer »(öf-fentlichen) (überaus kontrovers geführten) Debatte« ge-hoben, es wird als »schlagzeilenrelevanter Konflikt« be-wertet, als »Kontroverse«.

Über den Anlass in der Person Schneider/Schwertes urtei-len die Berichterstatter konsensuell. Seine einstige Funk-tion »SS-Mann«, »ehemaliger SS-Hauptsturmführer« –wird nicht nur übereinstimmend interpretiert – »über-zeugter Funktionär der nationalsozialistischen Welt«,

»Kulturfunktionär der nationalsozialistischen SS«, »Welt-anschauungsfachmann der Nazis«, – sondern auch bewer-tet – »Handlanger des Bösen«, »fanatischer Durchhalte-Propagandist«.

Seine Erscheinung nach 1945 wird mit literarisch moti-vierten Formelmustern –

»der alte Professor mit den zwei Biographien«, »Die-ner zweier Herren«, »Mann mit den etwas zu vielenEigenschaften«

– und mit der Vergegenwärtigung der Extreme zur An-schauung gebracht –

»Vom Obersturmführer der SS zum TH-Rektor«,»hochangesehener Literaturwissenschaftler .. der ehe-malige SS-Hauptsturmführer Dr. Hans Ernst Schnei-der«, »Vom SS-Mann zum Ehrensenator«.

Die Epitheta»hochgeachtet«, »hochangesehen, »hochgeschätzt«,»hochgeehrt«

sind hoch frequent und ihre auffallende Wiederholungsowie die Tatsache, dass sie das einstmalige öffentlicheAnsehen der in Rede stehenden nunmehr gefallenen Per-son kennzeichnen, macht deutlich: Hier ist Unmorali-sches, Verwerfliches, Ungeheuerliches geschehen, hierwar ein Betrüger am Werk.

Die Referenten drücken infolgedessen ihre Haltung zu derPerson und deren Tat des Identätswechsels in psychologi-sierenden Formulierungen aus –

»Fall von diachroner Schizophrenie« –,in der Sprache der Kriminalistik –

»Delinquent«, »ein (besonders krasser) Fall von Dop-pelleben« –,

sie dämonisieren den Betreffenden:»Dr. Jekyll and Mr. Hyde von Aachen« .

Sie dokumentieren vor allem aber, dass die Lüge in einerHinsicht besonders verwerflich war: Der Betreffende hättenach 1945 nicht in laut tönender Weise bei dem Versuchmithelfen dürfen, die deutsche Vergangenheit zu »bewäl-tigen«. Er hätte sich nicht derart offensiv auf die Seite derAnkläger schlagen dürfen. Er hätte nicht so überaus ver-nehmlich deutsche Schuld bezeichnen dürfen:

»gab sich als Beförderer einer linksliberalen Aufklä-rung aus«, »der vormalige SS-Ideologe ... zum aufge-klärten und aufklärenden Ideologiekritiker konver-tiert«, »exponierte sich als engagierter Vergangen-heitsbewältiger«, »avancierte zum ›linken‹Hochschulreformer«, »Verwandlung vom aktiven Nazizum linksliberalen Aufklärer«, »entwickelte sich vomdurchaus noch völkisch Empfindenden zum Linksli-beral-Aufklärerischen«.

Übereinstimmung der Kommentatoren besteht also bei derBewertung der Sache, über die zu richten (oder eben auchnicht) sich ihre Protagonisten angeschickt hatten. Manempört sich zu Recht über Infamie, über inszenierte Schi-zophrenie, über die Täuschung eines Schuldigen (undnicht zuletzt natürlich auch über das unbemerkt gebliebe-ne Getäuschtwerden). Man empört sich unisono im mora-lischen Sinn, gibt zu verstehen, dass diese über ein Kon-

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tinuum von fünfzig Jahren fortgesetzte Camouflage eineSchandtat sei, sieht ethische Prinzipien verletzt. All dies,wie gesagt, vollkommen zu Recht.

Nun aber: Sosehr die Kommentatoren in der Bewertungder Sache übereinstimmen, so divergent wird das Handelnder beiden Historiographen bewertet, die sich ihrer ange-nommen haben, Jäger und Leggewie, Ankläger und Vertei-diger. Anlass der Divergenz – sie haben zwei Bücher überden Gegenstand des Stücks verfasst. Die Bezeichnungenihrer – der Bücher – Funktion bleiben moderat:

»macht wahrscheinlich«, »illustriert«, »dokumen-tiert«, »prangert an«, »belegt«, »zeigt auf«, »legt dar«,»liefert Indizien«, »rekonstruiert« (Jäger) vs. »erzähltnach«, »umreißt«, »wägt ab«, »erklärt« (Leggewie) –

solche Handlungs- bzw. Wirkungsbezeichnungen sindmehr oder weniger üblicher Rezensentenstil.

Zu Kontrahenten hingegen werden die beiden Protagoni-sten dadurch, dass ihre Kommentatoren sie und ihre geis-tigen Produkte Bewertungen unterwerfen, positiven undnegativen, je nach dem Anliegen, den jeweils Betreffendenvorteilhaft oder nachteilig zu zeichnen.

Rekonstruieren wir Bewertungen. Der eine:

»moralische Laxheit«, »[kann] im Betrug nur Positi-ves erkennen«, »vergißt die Distanz«, »[der] rasendeReporter unter den Akademikern«, »rasch produzieren-der ... nicht sonderlich seriöser Zeitgenosse«, »schreibtfahrig und schlampig«, »nicht der Mann, seine[Schneider/Schwertes] Geschichte aufzu-schreiben«,»Verlockung zu groß, mit fliegenden Fin-gern etwas zu den großen Fra-gen unserer Zeit beizusteu-ern«, »Eckermann«, »fällt aufden Namensverwechsler reinwie auf einen Heirats-schwindler«.

Sein geistiges Produkt:

»gutgläubig«, »Tonfall for-scher Gemütlichkeit«, »woll-te sich an einer Antwort versu-chen«, »nachlässig geschrie-ben«, »von allen Büchern[des Herbstes 1998] das ärger-lichste«.

Nur sehr wenige Urteile über die-sen Protagonisten – Leggewie –lassen sich als Bezeugungen vonRespekt diesem Wissenschaftlerund seiner Leistung gegenüberdeuten:

»Erst so kann ›Vergangen-heitsbewältigung‹ der Zu-kunftsbewältigung dienen.«

Der andere:

»entläßt [seinen] negativenHelden nie aus seiner Identi-

tät«, »sieht ... ideologische Kontinuitäten schärfer,weil besser mit den Traditionen des Fachs vertraut«,»nimmt Schwerte die Konversion nicht ab«, »entdeckt... den alten, notdürftig umformulierten Ungeist«, »ver-sucht die Nähe der Germanistik zur NS-Ideologie unddie Kontinuität des Faches .. zu exemplifizieren«, »lei-stet wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung des Fachs Ger-manistik«.

Sein geistiges Produkt:

»Minutiös«, »akribisch«, »erschöpfende Detail-genauigkeit«, »der gründlichere und zuverlässigereRechercheur«.

Nur sehr wenige wiederum werten diesen Wissenschaftler– Jäger – und seine Leistung ab:

»These ...gelangt über den Status des Verdachts nichthinaus.«

Nach solchen Prädikaten also zu urteilen stellte sich unsdie Rollenverteilung des Spiels klar vor Augen: Danachwäre die Position Jägers, seine Haltung, sein Anliegen unddas geistige Produkt dieses Anliegens unwiderruflich in-teger, seriös, eigentlich unangreifbar. Danach kämenLeggewie hingegen und sein Buch nicht in Frage, wärenindiskutabel, unredlich.

Dies ist nicht der Fall. Und wenn auch nicht gerade dasGegenteil zutrifft, so können wir doch nicht umhin fest-zustellen, dass Leggewie und sein Buch eine Art heimli-cher Bewunderung, verhaltene Akklamation, leise Billi-gung erfahren, dass Jäger und sein Buch abgeurteilt wer-den. Das liest sich dann so: »[Leggewies Buch] ist dem vonJäger (fast muß man sagen: leider) weit überlegen«.

Was geschieht hier? Warum schei-nen Jäger und sein sorgfältig erarbei-tetes, von humanistischen Anliegenmotiviertes Werk zu unterliegen?Hier soll nicht darüber lamentiertwerden, dass die oftmals belächelteund gescholtene Germanistik in undvon der Öffentlichkeit nicht verstan-den wird, es soll nicht publizistischeLoyalität eingeklagt werden, woLoyalität nicht angebracht ist. DieGermanistik ist allzu oft säumig, wosie ihrer Pflicht zur Aufklärungnachzukommen hätte – Aufklärungbitte im durchaus allgemeinen, so-zusagen gesellschaftlichen Sinn zuverstehen. Das Bild, welches sie bie-tet, ist demnach leider allzu oft zu-treffend in den Medien reflektiert.Sondern es geht um eine Haltung zusolcherart betriebener Wissenschaft,wie sie sich in Jägers Werk darstellt.Es geht um eine Haltung zu einemAnliegen, welches das Epitheton›moralisch‹ trägt.

171/99

Man könnte meinen, dass die Wertschätzung für so be-stimmtes Handeln demjenigen zur Gänze abhanden ge-kommen ist, der formuliert:

»[Jäger erschöpft] sich in moralischer Abwehr«.

So gestimmt schreibende Zeitgenossen verweigern denNachgeborenen das Recht des moralisch begründetenUrteils:

»Sie [die Nachgeborenen] [schmücken] ihr keiner Ver-suchung ausgesetztes Dasein in den gesicherten Ver-hältnissen der Bundesrepublik mit der Gloriole uner-bittlicher Moralität«.

Sie zeihen die Ankläger

»moralisch-politischer Überkorrektheit«.

Sie leisten sich Gemeinplatzartiges:

»Geschichte .. mit deutscher Gründlichkeit erforscht«

und scheuen nicht den Jargon des zweifelnden Staatsan-walts –

»will .. wahrscheinlich machen«, »glaubt zu wissen«.

Und zeitgemäß ist die herablassende Ironisierung der (sollich sagen: sauer?) erarbeiteten Erkenntnis:

»großer Aufwand an archivalischer Nachforschung«,»aktenfleißige Entlarvungsarbeit«, »in Akten .. wüh-len«.

Journalisten ironisieren, machen lächerlich, zweifelnErnsthaftigkeit an. Die Waage des gerechten Urteils ge-rät aus dem Gleichgewicht, eine Schale neigt sich, und esist die Schale der sorgfältig erarbeiteten und von ernstemmoralischen Anliegen getriebenen wissenschaftlichenForschung Jägers, welche von und in der Öffentlichkeitmit nahezu Verachtung ausdrückenden Argumenten ge-füllt wird.

Hier ist nach der geistigen Disposition zu fragen, welchein sprachlichen Bewertungen wie den eben gelesenen ge-rinnen. Wenn das Werk des anderen Protagonisten,Leggewies, mit Prädikaten bedacht wird wie

»spannend zu lesen«, »locker erzählt«,dann erklärt sich mit ihnen die Haltung der Kommentato-ren nur zum Teil. Nur zum Teil beruht das Urteil über Jä-gers bzw. Leggewies Darstellung auf der zeitgemäßenForderung nach bequem und schnell zu habender Infor-mation.

Dem gewichtigeren und zugleich bedenklicheren Motivder Beurteilung – dem ethischen, dem moralischen Argu-ment wird der Zutritt verweigert. Einem Nachgeborenenwird das Recht abgesprochen, von einer rein ethischen,rein moralischen Warte aus zu urteilen – und das umsoentschiedener, je fundierter der ethisch Argumentierendesein Argument stützt, je differenzierter seine Erkenntnissebegründet sind, je wahrhaftiger sein Anliegen ist. Hierwird einem Historiographen vorgeworfen, unverrückba-re absolute Werte zu postulieren. Statt dessen fordert manden Maßstab der Relation, der Abhängigkeit, der Gebun-denheit. Man fordert m.a.W., eben solche unverrückbarenWerte preiszugeben zugunsten einer Reduzierung des his-

torischen Vorfalls auf menschliche Dimensionen.Durchschnittlichkeit, menschliche Fehlbarkeit, Schwächesollen somit der Maßstab der Bewertung sein.

Durchschnittliche menschliche Fehlbarkeit soll dieGrundlage unserer Beurteilung dessen sein, was die Herr-schaft des Nationalsozialismus ermöglichte, sie zwölfJahre sicherte, seine Verbrechen legitimierte?

Die Frage, die sich die Nachgeborenen auch stellen müs-sen, die Frage danach, ob und wie sie sich der Bedingungder nationalsozialistischen totalitären Herrschaft als Zeit-genossen eingepasst hätten, ist unvermeidlich und wohlauch nötig. Allerdings kann die Antwort auf diese Fragedas Geschehene nur erklären, ent-schulden kann sie nicht.

Was ist gewonnen, wenn die Historiographen des Natio-nalsozialismus bekennen müssen ›Ich wäre vermutlichauch dabei gewesen‹? So integer das Bekenntnis anmutet– der Erkenntniswert einer solchen Einsicht ist gering.Begibt sich ein so bekennender Historiograph damitgleichzeitig des Rechts einer moralischen Bewertung? Istes denn die Aufgabe der Historiographie des Nationalso-zialismus, dem Leser zu ermöglichen, »sich selber .. wie-derzuerkennen«? Ist es denn dem Historiographen ver-sagt, in einer Figur des Nationalsozialismus »immer nurden abschreckend Anderen« zu sehen?

Wenn der Historiographie ein moralisches Urteil verwehrtwird, wenn historische, von handelnden Menschen herbei-geführte ethisch-moralische Katastrophen mit dem Maß-stab lediglich des moralischen Durchschnitts erklärt wer-den, wenn nur Zeitgenossenschaft ein moralisches Urteilerlaubt, dann ist das moralische Urteil an sich in Fragegestellt. Dann haben wir keinen Maßstab mehr.

Anmerkungen1 Die jeweiligen Zitate sind stets in doppelten Anführungszeichen

notiert. Sie werden nicht einzeln verifiziert. Der Betrachtung lie-gen Texte aus folgenden Zeitungen bzw. Zeitschriften zugrunde(in chronologischer Reihenfolge): Aachener Zeitung 31.8.1998,Aachener Zeitung 1.9.1998, Süddeutsche Zeitung 2.9.1998,Berliner Zeitung 2.9.1998, Rheinische Post 3.9.1998, Frankfur-ter Rundschau 5.9.1998, Frankfurter Allgemeine Zeitung9.9.1998, Frankfurter Rundschau 12.9.1998, Spiegel 14.9.1998,Aachener Nachrichten 15.9.1998, Zeit 17.9.1998, Woche18.9.1998, Aachener Zeitung 18.9.1998, Rheinischer Merkur18.9.1998, Neue Zürcher Zeitung 28.8.1998, tageszeitung29.9.1998, Deutsche Universitätszeitung 2.10.1998, Süddeut-sche Zeitung 7.10.1998.

2 Jäger, Ludwig (1998): Seitenwechsel. Der Fall Schneider/Schwerte und die Diskretion der Germanistik. München.

3 Leggewie, Claus (1998): Von Schneider zu Schwerte. Das un-gewöhnliche Leben eines Mannes, der aus der Geschichte ler-nen wollte. München.

Die Autorin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut fürdeutsche Sprache in Mannheim.

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Die kritische Auseinandersetzung mit den spezifischen Er-scheinungsformen und Entwicklungen des Deutschenwährend der NS-Zeit war von Anfang an vorrangig an Un-tersuchungen von Wörtern und deren Gebrauch gebun-den. Dafür steht zuerst die ausgesprochen wortmaterial-reiche Arbeit von Victor Klemperer (LTI) aus dem Jahre1947. Der Gedanke, das in den nachfolgenden zehn biszwölf Jahren in vielerlei anderen (nicht immer auch wis-senschaftlichen) Arbeiten zusammengetragene und erläu-terte spezifische NS-Vokabular in einem Wörterbuch zubündeln, wird sich damals vermutlich schnell eingestellthaben.

Erst 1964 allerdings verlegte dann der Verlag Walter deGruyter unter dem Titel »Vom Abstammungsnachweis zumZuchtwart« Cornelia Bernings›Vokabular des Nationalsozia-lismus‹ (so der damalige Unter-titel). Der vergleichsweiseschmale, taschenbuchartigeBand enthielt auf ca. 200 Sei-ten um die 500 Worteinträge.Bernings Arbeit war aus Semi-naren zur NS-Sprache hervor-gegangen, die Walter Betz amGermanistischen Seminar derBonner Universität veranstal-tete – in den Fünfzigerjahrenhatte so etwas in der Bundesre-publik durchaus noch Selten-heitswert. Bernings Wörter-buch hatte bereits 1958 als Dis-sertation vorgelegen und warab 1960 – öffentlichkeitsfern –in Fortsetzungen in der »Zeit-schrift für deutsche Wortfor-schung« erschienen. Was inden Fünfzigerjahren nochnützliche Kärrnerarbeit mitPioniercharakter gewesen war,mochte den lexikographischenAnsprüchen an ein solidesWörterbuch in den fortgeschrit-tenen Sechzigerjahren jedochkaum mehr genügen. So zogsich Bernings Arbeit mancheKritik zu – gleichermaßen zuRecht wie zu Unrecht. Anfechtbar waren Unausge-wogenheiten bei der Wortauswahl und bei der Kommen-tierung der Wörter ebenso wie strukturelle Mängel imWortartikelaufbau.

Trotzdem: Für lange Zeit blieb Bernings Wörterbuch daseinzige seiner Art. Das wohl in weiteren Kreisen verbreiteteund viel diskutierte »Wörterbuch des Unmenschen«(D.Sternberger, G.Storz, W.E.Süskind, als Buch zuerst1957) war als Sammlung von etwa 30 wortmo-nographischen Essays ja bekanntlich kein »echtes« Wör-terbuch gewesen. Erst 25 Jahre nach Bernings Arbeit ge-lang mit dem Wörterbuch von K. Brackmann und R.Birkenhauer (NS-Deutsch, 1988) ein vor allem für Überset-zer konzipiertes solides lexikographisches Unternehmenin Sachen NS-Vokabular. Inzwischen liegen auch einige(natürlich mehr sachgebiets- als sprachorientierte) Spezial-lexika zum Thema »Nationalsozialismus« vor (u.a.W.Benz, H.Graml, H.Weiß 1997), die hier und da durchausauch interessante Informationen zu manchen NS-typischenBezeichnungen und Wortgebräuchen enthalten.

Vermutlich waren sich sowohl Autorin wie Verlag nachdem Erscheinen des »Vokabulars des Nationalsozialis-mus« dessen bewusst, dass aus den Mängeln eines Unter-nehmens auch eine Verpflichtung für Zukünftiges erwach-sen kann. Diese wurde erfreulicherweise jetzt nach mehrals 30 Jahren und zwar in überzeugender Form eingelöst.

Verlag und Autorin (inzwi-schen seit langem: Schmitz-Berning) legen unter dem frü-heren Unter- und neuenHaupttitel »Vokabular desNationalsozialismus« einprofundes 700-seitiges Werkzum NS-Wortgebrauch vor.Die Anzahl der Einträge hatsich gegenüber dem Vor-gängerband nur geringfügiggeändert, manche der frühe-ren Stichwörter wurden ausgutem Grunde getilgt, andereneu aufgenommen. Wesent-lich erweitert – bei insgesamtüberzeugender Wortartikel-struktur – wurden jedoch diesprachbezogenen Angabenund sachlichen Erläuterun-gen, die jedem Stichwort (jenach Stellenwert mehr oderweniger umfangreich) zuge-ordnet sind. Von besonderemWert erscheinen zum einendie wortgeschichtlichen An-gaben, die bei vielen Wörternweit ins 19. Jahrhundert zu-rückführen oder die Veranke-rung im politischen Sprach-gebrauch des ersten Jahr-

hundertdrittels beschreiben. Zum anderen sind die Anga-ben zur Buchung in Wörterbüchern der NS-Zeit sowie vorallem das reiche von der Autorin zusammengestellteBelegmaterial von besonders erhellendem Charakter.

NEUERE ARBEITEN ZUM

DEUTSCHEN WÄHREND

DER NS-ZEIT

SAMMELREZENSION

191/99

Angesichts des Detailreichtums und der Fülle von Anga-ben und Belegungen kann man sich fragen, wie ein sol-ches Einfrau-Unternehmen derzeit – trotz PC und hilfsbe-reitem Partner – überhaupt zu realisieren war. Denn übli-cherweise steht heute hinter einem Unternehmen und Pro-dukt diesen Zuschnitts ein mehrköpfiges Lexikogra-ph(inn)enteam. Schmitz-Berning reiht sich mit ihrem auflexikographischer Solidität wie auf einer Art Bienenfleißgründenden Werk ein in die Reihe bedeutender Einzel-lexikographen vorwiegend früherer Zeiten, derenForschungs- und Arbeitsaufwand im Alleingang für unsinzwischen kaum noch nachvollziehbar ist.

Schade wäre es allerdings, wenn das profunde Opus aufGrund seines für die meisten unerschwinglichen Preisesauf einen nur kleinen Benutzerkreis beschränkt bliebe. Indiesen Zeiten der wieder intensiver gewordenen Diskus-sionen über unsere braune Vergangenheit und den ange-messenen Umgang der Nachgekommenen mit ihr gehörtdieses Wörterbuch in die Hände vieler und nicht nur vonein paar Sprach- und Zeitgeschichtsforschern. Es hat einepreiswerte Taschenbuchausgabe ausgesprochen nötig.Bietet es doch das, was den Reiz eines gelungenenWörterbuchunternehmens ausmacht: Es ist solides Nach-schlagewerk und interessantes Lesebuch in einem.

Abschließend sei eine eingangs getroffene Aussage noch-mals aufgegriffen: Ich hatte darauf verwiesen, dass diekritische Auseinandersetzung mit dem spezifischenSprachgebrauch während der NS-Zeit von Anfang an vor-rangig an Untersuchungen von Wörtern und deren Ge-brauch gebunden war. Vor allem in den letzten zwei Jahr-zehnten nun hat sich das Umfeld der untersuchten Themenspürbar ausgeweitet. Und die Zahl einschlägiger Neuer-scheinungen ist nach wie vor erfreulich groß. Drei vonihnen sollen ihrer Interessantheit und Wichtigkeit wegenhier noch genannt sein:

Christoph Sauer, der sich bereits seit mehr als zehn Jah-ren intensiv mit der (reichsexternen) Rolle der deutschenSprache im »Reichskommissariat« Niederlande befasstund bereits mehrere Untersuchungen zu diesem Themavorgelegt hat, bündelt seine Forschungsergebnisse jetzt indem materialreichen Band »Der aufdringliche Text.Sprachpolitik und NS-Ideologie in der Deutschen Zeitungin den Niederlanden«.

Silvia Hartmann behandelt im Rahmen ihrer auf einer Sie-gener Dissertation beruhenden Untersuchung »Frakturoder Antiqua. Der Schriftstreit von 1881 bis 1941« in zweifaktenreichen Kapiteln (mit ausführlichem Dokumenten-anhang) die Aktivitäten des »Bundes für deutsche Schrift«und die Schriftpolitik während der NS-Zeit, die 1941 be-kanntlich die Einführung der Antiqua als Normalschriftund in deren Gefolge das Verbot der Fraktur durchgesetzthatte.

Schließlich gibt es Neues von Utz Maas, dem seit langemaktiven Forscher und Anreger auf mehreren Gebieten desNS-Sprachthemas. Im wohl kaum durchzuhaltenden Al-leingang hat er sich eines ausgesprochen wichtigen, je-

doch auch diffizilen und sich inzwischen mehr und mehrals schwierig erweisenden Themas angenommen: der Ver-folgung und Auswanderung deutschsprachiger Sprachfor-scher von 1939 bis 1945. Es liegt dazu ein erster Band vor.Dem Vernehmen nach ist die Fortsetzung dieses Unter-nehmens aus mehreren Gründen bedauerlicherweise ge-fährdet. Ob ein Verbund mehrerer universitärer Semina-re mit einschlägig interessiertem Personal und einer Pa-lette von hochschulgebundenen qualifizierten Abschluss-arbeiten hier langfristig den Abbruch des Unternehmensverhindern helfen kann?

Literatur

Schmitz-Berning, Cornelia (1998): Vokabular des Nationalsozia-lismus. Berlin/New York: Walter de Gruyter.

Sauer, Christoph (1998): Der aufdringliche Text. Sprachpolitik undNS-Ideologie in der »Deutschen Zeitung in den Niederlanden«.Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag. (Diss. Amsterdam1990)

Hartmann, Silvia (1998): Fraktur oder Antiqua. Der Schriftstreitvon 1881 bis 1941. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang.( = Theorieund Vermittlung der Sprache, Bd.28) (Diss.Siegen 1998)

Maas, Utz (1996): Verfolgung und Auswanderung deutschspra-chiger Sprachforscher 1993-1945. Band I: Einleitung undbiobibliographische Daten A – F. Osnabrück: secolo Verlag.

Benz, Wolfgang/Hermann Graml/Hermann Weiß (Hgg.)(1997): Enzyklopädie des Nationalsozialismus. Stuttgart:Klett-Cotta.

Michael Kinne

Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deut-sche Sprache in Mannheim.

amades Arbeitspapiere und Materialien

zur deutschen Sprache

Herausgegeben vom Institut für deutsche Sprache

In dieser Reihe, die im Eigenverlag des IDS erscheint, wer-den »Arbeitsberichte und Materialien zur deutschen Sprache«veröffentlicht.

Hoppe, Gabriele: Herausbildung und Integration des Sub-musters ETHNIKA + -(o)phone/-(o)phonie [...] . 1998.

ISBN 3-922641-44-X (Print) – 3-992641-47-4 (Diskette)

Dabrowska, Jarochna: Korpus als Textdatenbank undFreeware-Erschließungssoftware in Ergänzung zu Bd. 17 derReihe SDS.

Hellmann, Manfred W.: Wende-Bibliografie. Literatur undNachschlagewerke zu Sprache und Kommunikation im ge-teilten und vereinigten Deutschland ab Januar 1990 (ersch.März 1999).

Für Bestellungen und Informationen wenden Sie sich bittedirekt an:

amades, c/o Institut für deutsche Sprache, Postfach 10 16 21,

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Zum Kontext

Wir wollen im Folgenden über ein Forschungsprojekt zurinnerbetrieblichen Kommunikation berichten, das seitFrühjahr 1998 als Kooperation zwischen einem großenSoftware-Unternehmen und dem IDS in Mannheimdurchgeführt wird. Die Untersuchung zielt darauf ab,Meetings1 als eine zentrale Form innerbetrieblicher Kom-munikation zu beschreiben und deren Strukturen und Be-sonderheiten aus interaktionistischer Perspektive zu re-konstruieren. Ergänzend und alternativ zu dem, was manbereits aus betriebspsychologischer und soziologischerPerspektive über Meetings weiß, werden so Einsichtenüber Meetings als Kommunikationsereignis mit struktu-rellen Anforderungen und potenziellen Schwierigkeitendeutlich. Die empirisch fundierten Einsichten in die kom-munikative Seite von Meetings sollen zur Entwicklungvon Konzepten für die betriebliche Fortbildung führen.

Das Projekt ist im Institut für deutsche Sprache eingeord-net in einen Forschungszusammenhang, der die »kommu-nikative soziale Stilistik des Deutschen« am Beispielausgewählter gesellschaftlicher Ausschnitte zum Themahat. Es ist Bestandteil des Teilprojekts »Kommunikationin Arbeitsgruppen«, dessen allgemeines Ziel es ist, dieEinflüsse unterschiedlicher Arbeitsbedingungen auf dieHerausbildung von Gruppenstilen zu beschreiben. Fürdiese Untersuchung stehen neben den Meetings aus demSoftware-Unternehmen noch Aufnahmen von Workshopsder Editorinnengruppe einer internationalen Unterneh-mensberatung, Arbeitssitzungen aus verschiedenen wis-senschaftlichen Forschungskontexten sowie Einsatz-besprechungen im Rahmen der Mannheimer Ausstellung»Körperwelten« (Schmitt 1998) zur Verfügung.

Mit unserer Thematik und der anwendungsbezogenenAusrichtung fühlen wir uns der angewandten Gesprächs-forschung verpflichtet, einem eigenständigen Forschungs-ansatz der Diskurs- und Gesprächsanalyse, der sich imLaufe der letzten zehn Jahre in Deutschland etabliert hat.2

Meetings als Arbeitsinstrument undKommunikationsereignisDie Entscheidung, innerbetriebliche Kommunikation amBeispiel von Meetings zu untersuchen, ist forschungs-praktisch und durch die Relevanz von Meetings imArbeitskontext motiviert: Zum einen sind Meetings alsklar begrenzter Ereignistyp relativ einfach zu beobachtenund zu dokumentieren. Zum anderen stellen sie nicht nurin dem Software-Unternehmen, sondern in vielen anderenberuflichen Zusammenhängen eine zentrale Form der Ar-beitsorganisation dar.

In der einschlägigen Literatur werden Meetings u.a. folgen-de Funktionen zugeschrieben: Sie erleichtern die Koordi-nation arbeitsteilig zu bewältigender Aufgaben, machenPlanungsprozesse und Entscheidungsfindungen transpa-rent, regen zur Selbsteinschätzung des eigenen Arbeits-verhaltens an und gewährleisten die Fremdeinschätzungdurch Mitbeteiligte und Führungskräfte. Darüber hinaustragen Meetings dazu bei, innerbetriebliche Wir-Gemein-schaften und die Identifikationen einzelner Mitarbeiterund Mitarbeiterinnen mit dem Gesamtunternehmen zustärken. Sie haben insgesamt gruppendynamische undkonfliktentschärfende Funktionen.

Seit den Fünfzigerjahren beschäftigen sich verschiedeneDisziplinen mit Meetings in Betrieben und Institutionen.Betriebswirtschaftlichen Forschungen verfolgen z.B. dasZiel, praktische Anleitungen für die erfolgreiche Durch-führung von Meetings zu entwickeln (z.B. Kirkpatrick1989, Haynes 1991). Grundlage solcher Ratschläge sindin der Regel eigene Erfahrungen der Autoren, die an Mee-tings teilgenommen oder selbst Meetings geleitet haben.Dabei wird häufig ein aus sprachwissenschaftlicher Sichtvereinfachtes Verständnis von (lehr- und erlernbarer)Kommunikation zugrunde gelegt. Kommunikative Pro-bleme werden an isolierbaren Faktoren wie Führungsstildes Leiters, Organisation des Meetings oder Technikender Gesprächsführung (Stroebe 1985) festgemacht undmit einfachen Rezeptvorschlägen zu lösen versucht.

Soziologische und psychologische Forschungsansätzehingegen betrachten Meetings primär als spezielle Formder Gruppenarbeit und beschäftigen sich z.B. mit derKommunikation in Kleingruppen, indem sie Problem-lösungs- und Entscheidungsprozesse analysieren (z.B.Bales 1950, Cragan/Wright 1990). Das Meeting steht hierselten im Mittelpunkt des Interesses, sondern bildet ledig-lich den Rahmen für die Beobachtung des Gruppen-verhaltens. Durchgeführt werden solche Untersuchungenauf der Grundlage von simulierten Besprechungs-situationen, schriftlichen Befragungen und teilnehmenderBeobachtung. Die Aufzeichnung und Analyse authenti-scher Meetings ist dagegen eher selten.

In letzter Zeit gibt es aber ein zunehmendes ethnographi-sches und gesprächsanalytisches Interesse an der empi-risch fundierten Beschreibung und Analyse innerbetrieb-licher Kommunikationsprozesse. Meetings als eigenstän-digen Untersuchungsgegenstand hat erstmals Schwartz-man (1989) ins Zentrum ihrer Analysen gestellt. Inzwi-schen liegen einzelne konversationsanalytische Arbeitenzu verschiedenen Aspekten von Meetings vor. So unter-sucht Lenz (1989) die Gesprächsorganisation in techni-schen Meetings; Meier (1997) beschreibt Handlungs-formen und Realisierungen, die die Interaktionsstruktur

GRUPPENSTIL IN ARBEITSMEETINGSVon Reinhold Schmitt/Dagmar Brandau/Daniela Heidtmann

211/99

und -dynamik von Arbeitsbesprechungen prägen. Müller(1997) befasst sich mit den steuernden und manipulativenFunktionen sprachlicher Aktivitäten in Arbeitsbespre-chungen, und Dannerer (1998) analysiert Meetings miteinem speziell auf den Fremdsprachenunterricht gerichte-ten Interesse.

Unser ErkenntnisinteresseDas Ziel unserer eigenen Untersuchung, die interaktiveFunktionsweise von Meetings bewusst zu machen, ver-langt einen Zugang, der sich ganz auf das Meeting alsKommunikationsereignis konzentriert. Diskurs- undGesprächsanalyse stellen dafür Verfahren zur Verfügung,mit denen sich Gesprächsverläufe unter sehr verschiede-nen Fragestellungen detailliert untersuchen lassen. Für diegesprächsanalytische Arbeitsweise ist charakteristisch,dass die zu untersuchenden Kommunikationsereignisse inihrer Natürlichkeit und Komplexität erfasst und dokumen-tiert werden. Herangehensweisen, die lediglich mit Beob-achtung und Befragung der Beteiligten arbeiten, erlaubenes nicht, hier neue Erkenntnisse zu gewinnen.

Daher haben wir authentische Meetings auf Video aufge-zeichnet und für die nachfolgende Analyse verschrift-licht. Die dabei entstehenden Transkripte bilden den tat-sächlich gesprochenen Wortlaut ab mit allen Wort-wiederholungen, Abbrüchen, offenen Enden, Pausen, mit»Ähs« und »Mhs«, mit intonatorischen Besonderheitenwie Lautstärke, Sprechtempo und Betonungen.

Unser Blick auf das Geschehen richtet sich zunächst aufgrundlegende Aspekte von Kommunikation in Arbeits-gruppen. Die Suche wird dabei von folgender Annahmegeleitet: Für die Etablierung und Aufrechterhaltung vonArbeitsgruppen gibt es von den inhaltlichen Aufgaben un-abhängige organisatorische Anforderungen, die sich da-rauf beziehen, die Gruppe als Arbeitseinheit zu konstitu-ieren (z.B. interne Ausdifferenzierung und Verdeutlichungder Hierarchie, »Einschwören« des Einzelnen auf dieGruppenziele, Solidarisierung nachinnen und Abgrenzung nach außen).Werden diese nicht – oder nicht an-gemessen – bearbeitet, erschwertdies der Gruppe die Möglichkeit,ihren funktionsbestimmten inhaltli-chen Auftrag zu erfüllen.

Am Anfang steht die Durchsichtunserer Videoaufzeichnungen nachVerhaltensweisen, die auf die Bear-beitung solcher gruppenkonsti-tuierender Anforderungen hinwei-sen. Die Analyse richtet sich darauffestzustellen, mit welchen sprachli-chen Mitteln und mit welchen rheto-rischen Verfahren diese gelöst wer-den. Die untersuchte Gruppe ge-winnt in der Rekonstruktion der Be-arbeitung allgemeiner Konsti-tutionsanforderungen für uns ihr

gruppenstilistisches Profil und wird gleichzeitig mit ande-ren Arbeitsteams vergleichbar. Den Stil einer Arbeitsgrup-pe betrachten wir als Ergebnis einer systematischen Wahlaus einem breiten Spektrum funktional mehr oder weni-ger vergleichbarer Handlungsmöglichkeiten. Die Wahl istinsofern systematisch, als wiederkehrende organisatori-sche Anforderungen und inhaltliche Aufgaben immer aufvergleichbare Art und Weise bearbeitet werden. Die zur Ver-fügung stehenden Wahlmöglichkeiten werden dabeidurch strukturelle Bedingungen mitbestimmt. Die beson-dere Arbeitsweise einer Gruppe zeigt sich also sowohldarin, welche Voraussetzungen sie sich unter den gegebe-nen Bedingungen zur Lösung ihrer inhaltlichen Aufgabenschafft und wie sie dabei allgemeinen gruppen-konstitutiven Anforderungen begegnet. Eine vergleichen-de Analyse mehrerer Meetings über einen längeren Zeit-raum gibt Auskunft darüber, welche sprachlichen Routi-nen in der Gruppe zur Bearbeitung welcher Probleme aus-gebildet worden sind und ob diese für die zielorientierteKommunikation im Meeting effektiv sind.

Die MeetinggruppeDie Meetings, die wir bislang analysiert haben, finden seitlängerer Zeit wöchentlich zu einem festen Termin in ei-ner Entwicklungsabteilung des Software-Hauses statt.Wie für das Unternehmen insgesamt typisch, existiert inder Gruppe, die zur Zeit aus 22 Mitarbeitern besteht, eineflache Hierarchie: Es gibt einen zuständigen und verant-wortlichen Gruppenleiter, den wir Richard3 genannt ha-ben, und seinen Stellvertreter. Ansonsten existieren kei-ne formal festgelegten hierarchischen Strukturen. Die üb-rige für die gemeinsame Arbeit notwendige Organisati-onsstruktur ergibt sich aus der Verteilung der inhaltlichenArbeit. Diese führt zu zeitlich befristeten Untergruppen,in denen sich zwei oder mehrere Mitarbeiter einer ge-meinsamen Aufgabe widmen. Die Gruppe arbeitet aufdem gleichen Stockwerk Tür an Tür, sodass die für die Zu-sammenarbeit notwendigen kurzen Wege garantiert sind.Da sich die Mitarbeiter zu zweit oder zu dritt jeweils ein

Quelle: Corel Corporation

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Büro teilen, ist zudem eine permanente Gesprächs-möglichkeit gegeben.

An den Meetings nehmen in der Regel nicht alle Gruppen-mitglieder teil; meist schwankt die Zahl zwischen 14 und18. Teilweise kommt auch Theodor, der Vorgesetzte vonRichard, zu denTreffen hinzu, wobei er in der Regel nichtdie ganze Zeit über anwesend ist. Die Meetings habeneinen feststehenden Ablauf: Der Bekanntgabe der Tages-ordnungspunkte folgt eine Berichtsrunde, in der Mitarbei-ter relevante Informationen aus anderen Meetings einbrin-gen. Daran schließen sich thematisch fokussierteExpertenpräsentationen an. Dieser Teil dient als Forum fürdie Diskussion von Ergebnissen, Vorschlägen und Ent-würfen, die in Untergruppen zu speziellen Themen erarbei-tet worden sind. Die Dauer der Besprechungen schwanktin Abhängigkeit von der Themenvielfalt und deren Pro-blematik zwischen zwei und vier Stunden.

Aspekte des Arbeitsstils der Meeting-gruppeWir wollen im Folgenden anhand ausgewählter Aspekte,die für den Arbeitsstil der Gruppe charakteristisch sind,einen ersten Einblick in die Strukturen und Besonderhei-ten der von uns untersuchten Meetings geben. Dabei gehtes um Informalität als dominantem Durchführungsmodus,um eine formelle Beteiligungsrolle und deren interaktiveAusgestaltung sowie um die Konzentration auf die Sachebei gleichzeitigem impliziten Beziehungsmanagement.

Informeller Durchführungsmodus

Gemessen an unserer anfänglichen Analyseerwartung undunserem vorgängigen Wissen über Meetings zeigte sichals auffälligstes Merkmal der von uns dokumen-tierten Situationen ihre informelle Durchführung:Es gibt kaum reflexive Bezüge auf die Situation(Thematisierungen oder Kategorisierungen), undauch hierarchische Positionen werden nicht expli-zit als solche verdeutlicht. Gleiches gilt auch fürdie Art, in der die Beteiligten ihre Zusammenar-beit sprachlich organisieren: So fehlen z.B. festge-legte Formen der Sprecherwechselorganisation(Rednerlisten o.Ä.), und die Mitarbeiter nehmen inder Regel nicht explizit auf andere Beiträge Be-zug.

Die Meetings weisen jedoch – obwohl sie primärinformell durchgeführt werden – durchaus auchformelle(re) Phasen auf. Zuweilen werden solcheWechsel von den Beteiligten zur Bearbeitungwichtiger situativer Anforderungen eingesetztund verweisen damit auf relevante Stellen imInteraktionsgeschehen. Wir haben z.B. beobach-tet, dass die Gruppe mit einer Variation ihres kom-munikativen Verhaltens auf den Eintritt von Theo-dor, dem Vorgesetzten von Richard, reagiert. Wäh-rend seiner Anwesenheit realisieren die Beteilig-ten explizite Kontextualisierungen, manifesteFokussierungen (das ist jetzt eine * ergänzung zu

dem was peter bereits ausgeführt hat), ausgebaute Bezug-nahmen auf vorangegangene Ausführungen eines anderen(ich komme jetzt auf das * was peter vorhin gesagt hat)und explizite Rahmungen eigener Beiträge (ich wolltejetzt zu dem punkt noch ne äh frage stellen) sowie Formenexpliziter Fremdwahl bei der Organisation des Sprecher-wechsels (des wollte ich dazu noch sagen * jetzt kannst duwieder weitermachen). Diese Aspekte sind für das Verhal-ten der Beteiligten, wenn sie »unter sich« sind, eher unty-pisch. Die Gruppe signalisiert sich durch diese minimaleVariation, dass sie sich in einer besonderen Situation be-findet und richtet ihr Verhalten dementsprechend aus: Hiersieht man ein interaktiv eingespieltes Ensemble bei der Ar-beit.

Informalität zeigt sich insgesamt in der Art und Weise, wiedie Meetings als besondere soziale Form durchgeführtwerden: Eröffnung, Berichte, inhaltliche Präsentation undDiskussion sowie Beendigung werden in der Regel direkterledigt, ohne dass man ihrer Bearbeitung durch expliziteThematisierung besondere Beachtung schenkt. So wird dieTagesordnung z.B. nicht vorher schriftlich verteilt, sondernRichard schreibt sie – wenn alle Mitarbeiter anwesend sind– an die Tafel. Währenddessen gehen die Unterhaltungenweiter, und niemand scheint so richtig den gleitendenÜbergang von vorgängigem Smalltalk zur Meetinger-öffnung wahrzunehmen. Dennoch setzt der Tafelanschriebdie Suche nach dem zuständigen Protokollanten in Gang,so dass die inhaltliche Bearbeitung der Tagesordnungs-punkte nicht durch die explizite Beschäftigung mit derProtokollfrage aufgehalten wird.

Auch die Kontrolle über die Durchführung des Meetingsund die Reaktion auf Irritationen und Störungen wird inder Gruppe informell gehandhabt. Es finden sich keine für

formelle Durchfüh-rungskontrolle typi-sche Aktivitäten wieOrdnungsrufe, meta-kommunikative The-matisierungen von Re-geln oder Zurechtwei-sung und Ermahnungvon Störenfrieden.Vielmehr zeigt sicheine deutliche Präfe-renz zur nonverbalen,impliziten Bearbei-tung von Vorfällen undStörungen. Richardz.B. reagiert insgesamtsehr spät auf störendeNebenkommunikationund bearbeitet solcheVorfälle zumeist non-verbal, indem er kurzund ohne etwas zu sa-gen Blickkontakt mitden betroffenen Mitar-beitern aufnimmt unddie Störungen so ge-

Quelle: Corel Corporation

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wissermaßen »ausblickt«. Oder er spricht Mitarbeiter, diesich längere Zeit miteinander unterhalten, mit den Wortenfragt ruhig laut direkt an. Er versteckt damit seine Kritikam Verhalten der Mitarbeiter in einer Formulierung, die derNebenkommunikation prinzipielle Relevanz für die ge-meinsame Diskussion unterstellt.

Das bedeutet jedoch nicht, dass Richard nicht als Cheferkennbar wäre oder dass er vorhandene hierarchischeStrukturen verdecken würde. Er symbolisiert vielmehrseinen Status auf indirekte Weise, u.a. dadurch, dass er diean der Stirnseite des Besprechungsraums angebrachteTafel nicht nur als Arbeitsinstrument, sondern auch alsStatusrequisite benutzt.4 Die Tafel ist eine mehr oder we-niger ausschließlich für ihn reservierte, machtvolleRequisite. Sie symbolisiert über die regelmäßige und na-hezu exklusive Benutzung und der damit verbundenensozialen Implikationen (Benutzung der Tafel als Denkhil-fe, Objektivierung kognitiver Anstrengungen, Bewegungim Raum, andere überragen etc.) den herausgehobenenStatus Richards in der Gruppe. Der symbolische Aspektder Tafel ist dabei untrennbar an ihren funktionalen Ein-satz geknüpft; das eine gibt es nicht ohne das andere. Soindirekt, wie Richard in der Benutzung der Tafel seinenStatus symbolisiert, verzichtet er insgesamt darauf, sichin expliziter Weise als Chef darzustellen.

Die informelle Qualität der Meetings ist Ausdruck derBemühungen der Gruppe, sich die für die Bearbeitung dergemeinsamen Aufgaben nötigen Bedingungen zu schaf-fen. Da sich die Gruppe seit längerer Zeit regelmäßig ingleichbleibender Zusammensetzung trifft und die einzel-nen Mitarbeiter auch sonst kontinuierlichen Kontakt mit-einander haben, besteht keine Notwendigkeit, das Mee-ting als besonderes Ereignis formell zu markieren. Auchdie Tatsache, dass die Meetings Teil der inhaltlichen Ar-beit der Gruppe sind, bindet diese Situation sehr stark andas Tagesgeschäft. Bei der ausgeprägt arbeitsteiligen Ver-zahnung der Gruppe und der damit zusammenhängendeninteraktiven Dichte wäre eine formelle Durchführungeher dysfunktional und störend.

Stellt das Meeting jedoch ein besonderes Ereignis mitAusnahmecharakter dar – wie es z.B. bei den Editorinnender Unternehmensberatung der Fall ist, die sich nur vier-teljährlich zu Workshops treffen – wächst auch die Not-wendigkeit, die Situation als besonderes Ereignis in for-meller Weise zu kontextualisieren. Dann ist es erwartbarund funktional, den Ausnahmecharakter zu betonen unddas Treffen dadurch zur sonstigen gewohnten Arbeit durchexplizite Kategorisierungen der Situation kontrastiv inBeziehung zu setzen: unser workshop * is der großestrategieworkshop *1,5* vom editing und da soll es darumgehn * einerseits die: *1,5* unsere * strategie * zu klärn* und andrerseits auch methodisch zu lernen wie sowasgeht.

Interaktive Beteiligungsrollen

Die Entwicklergruppe hat als Reaktion auf externe Bedin-gungen und als Antwort auf ihre spezifischen Aufgabeneine Reihe von Beteiligungsrollen institutionalisiert, die

auch in anderen Arbeitsteams zu finden sind. Dazu zähltneben der Rolle des Moderators, die ausschließlich vonRichard übernommen wird, die des alphabetisch festge-legten Protokollanten und die des Berichterstatters, derüber relevantes Geschehen aus anderen Meetings infor-miert. Als Besonderheit der Gruppe gibt es noch die Rolledes Experten. Seine Aufgabe besteht nicht darin, zu einemallgemeinen Aspekt eine spezifische Perspektive einzu-bringen. Vielmehr präsentieren von Meeting zu Meetingwechselnde Mitarbeiter den Arbeitsstand, Probleme sowieLösungsmöglichkeiten aus verschiedenen Untergruppenund stellen diese in der Gesamtgruppe zur Diskussion. Wirhaben festgestellt, dass diese Rolle sehr unterschiedlichgestaltet wird und verschiedene Interaktionsdynamikenund -verläufe in Gang setzt. Die Arbeitsweise der Grup-pe wird davon unmittelbar betroffen, zumal die Experten-präsentationen und die daran anschließende Diskussion inden Meetings einen großen Raum einnehmen.

Manche Expertenpräsentationen zeichnen sich durch eineklare Strukturierung der Informationsfülle aus, die zusätz-lich durchgängig durch explizite Fokussierungen undKontextualisierungen kommentiert wird. Der Vortragen-de achtet darauf, den anderen Gruppenmitgliedern zu ver-deutlichen, wo er sich in diesem Moment befindet und umwas es gerade geht. Darüber hinaus kontrolliert er die in-teraktive Durchführung seiner Präsentation. Die Möglich-keit, dies zu tun, hängt unmittelbar mit der Strukturierungder Präsentation zusammen. Vorgreifende Verdeutlichun-gen (äh wir haben * dann zwei verschiedene alternativen* gefunden die: jetzt diesen anforderungen genügen diee”rste alternative ist die * dass wir sagen [...] die a”nderealternative war zu sagen [...]) sowie Hinweise darauf, dassauf bestimmte Punkte später noch detailliert eingegangenwird (darauf geh ich gleich nochmal ein), sind ein geeig-netes Mittel, die Sprecherrolle abzusichern. Je strukturier-ter seine Präsentation ist, desto leichter fällt es dem Exper-ten, auf Kommentare, Interventionen und Eingriffe zu rea-gieren und diese ohne erkennbare Störung zu integrieren.Bei so gestalteten Vorträgen kommt es insgesamt seltenerund erst zu einem relativ späten Zeitpunkt zu Nach- undZwischenfragen. Im Idealfall kann der Experte nachAbschluss seiner Ausführungen eine problemorientierteDiskussion eröffnen, die genau auf die von ihm vorgeschla-genen Aspekte reagiert.

Die Art, in der die Expertenrolle konkret ausgefüllt wird,dient auch als Mechanismus, das Verhältnis von Individu-um und Team mitzugestalten. Die institutionalisierteBeteiligungsrolle »Experte« öffnet den Mitgliedern in le-gitimer Weise – ohne dass es zu einer Konkurrenz mit Kol-legen kommt – die Möglichkeit, sich nicht nur als thema-tisch, sondern auch als kommunikativ kompetent zu pro-filieren. Insofern können sich die Betreffenden über dieinhaltliche Informationsfunktion der Expertenrolle impli-zit auch positiv selbst darstellen. Diese Kopplung vonFunktionalität auf der einen Seite und Statussymbo-lisierung auf der anderen Seite ist mit Richards Tafelein-sätzen (s.o.) vergleichbar. Sie macht es möglich, sich in derformal flachen Hierarchie interaktiv und zeitlich begrenzteinen exponierten Status zu sichern.

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Manche Expertenpräsentationen hingegen sind in vielenPunkten das genaue Gegenstück zu den oben dargestell-ten, v.a. auch, was die interaktive Kontrolle der Durchfüh-rung anbetrifft. Solche Vorträge führen zu einer Inter-aktionsdynamik, die bereits zu einem frühen Zeitpunktganze Ketten von Nach- und Zwischenfragen zur Folgehat. Oft kommt es dann zu Nebendiskussionen und Unter-brechungen. Je unstrukturierter die Expertenpräsentationist, desto schneller und umfangreicher übernehmen andereinhaltlich kompetente Mitarbeiter die Aufgaben des Ex-perten und etablieren sich als Co-Experten. Dabei istauffällig, dass die schrittweise und zum Teil sehr weitgehende Substitution des Experten ohne erkennbare Fol-gen für die Beziehungsstruktur bleibt. Die Gruppe vermei-det jegliche sprachliche Reaktion, die dem Experten dasScheitern seiner Präsentation vor Augen führen könnte.Sie konzentriert sich vollständig auf die Sache, um allendie relevanten Informationen zugänglich zu machen.

Alle Beteiligten wissen, dass ihre Aufgaben nur im Teamzu bewältigen sind und sich individuelle Leistungen imabschließenden Produkt nicht objektivieren. Dies fördertKritikfähigkeit und reduziert individualistische Tenden-zen. In anderen Arbeitszusammenhängen, die nicht durchTeamorientierung, sondern durch Individualismus und»Copyright-Ängste« bestimmt sind, wird inhaltliche Kri-tik wesentlich stärker auch als persönliche wahrgenom-men.

Sachorientierung und implizites Beziehungsmanage-

ment

Der Zusammenhang von dominanter Sachorientierungund der impliziten Art der Beziehungsarbeit ist neben derInformalität als Durchführungsmodus und der Institutio-nalisierung der Expertenrolle ein weiteres allgemeinesMerkmal des Gruppenstils. Es charakterisiert die Arbeits-weise der Gruppe in grundlegender Weise derart, dass hin-ter der klaren Problem- oder Sachorientierung die sprach-lich interaktive Bearbeitung beziehungsrelevanter Aspek-te deutlich in den Hintergrund tritt.

Die Konzentration auf die Sache wird bereits durch dieFachsprache der Gruppe symbolisiert, die durch zahlrei-che Anglizismen geprägt ist (es geht doch net drum * aufeinmal=n integer mit nem pointer mit nem float zu über-lagern). Der durchgängige Gebrauch von Fachtermini undeiner entwicklertypischen Spezialsprache garantiereneinerseits eine präzise und differenzierte Kommunikati-on über gruppenspezifische Aufgaben. Hinsichtlich derdurch die Fachsprache symbolisierten technischen Sach-verhalte herrscht andererseits in der Gruppe große Über-einstimmung und weit gehendes Vorverständnis. Proble-me, die sich ergeben, lassen sich in aller Regel durch lo-gische Reflexion lösen und bieten so relativ wenig Raumfür interpretative oder persönliche Vorlieben, dieBeziehungsarbeit nötig machen könnten.

Die Orientierung der Gruppe auf die Sache ist auch alsReaktion auf ein stets knappes Zeitbudget zu sehen undzeigt sich an unterschiedlichen Aspekten des Kommuni-

kationsverhaltens, von denen einige im Zusammenhangmit den Ausführungen zur Informalität bereits deutlichwurden. Zu erwähnen ist hier eine Form der Interaktions-ökonomie, die sich durch einen hochgradigen Pragmatis-mus auszeichnet. Damit ist gemeint, dass systematischwenig Aufwand betrieben wird mit der Beschreibung dersprachlichen Handlungen, die gerade ausgeführt werden.So sind schnelle, unmodalisierte Beiträge, die nicht expli-zit kontextualisiert werden, der Normalfall. Manifestes In-sistieren oder Widerspruch werden in der Regel ebenfallsunmodalisiert vollzogen.

Auch die Beziehungsarbeit, die in anderen Kontexten einegroße Rolle spielt und die nötig ist, um präventiv zu ver-hindern, dass z.B. der Kollege in einer wissenschaftlichenArbeitsgruppe die Kritik an seinem Text als Kritik an sei-ner Person versteht, findet in der Gruppe sprachlich kei-nen Niederschlag. Besonders deutlich wird dieser Aspektin Fällen, in denen Richard bei Ausführungen der Mitar-beiter interveniert, um Dargestelltes zu korrigieren oderzu detaillieren, einen Vortrag zu relevanteren Punkten zu-rückzuführen oder eine Präsentation, in der die für dasVerständnis der Mitarbeiter notwendigen Hintergrundin-formationen fehlen, gänzlich abzubrechen und selbst zuübernehmen.

Letzteres geschieht in einem Fall, bei dem Uwe, der zu-ständige Experte, bereits nach wenigen Sekunden seinerPräsentation von seinen Kollegen durch Zwischenfragenunterbrochen und wenig später von Richard jäh angehal-ten wird: uwe erstmal so=n bisschen den rah”men das hatüberhau”pt nichts spezielles mit funktionsbausteinen odersonst was zu tun. Diese frühe, unmodalisierte Interventi-on Richards ist zum einen eine Reaktion auf das knappeZeitbudget, denn Uwe befindet sich als zweiter vortragen-der Experte in einer zeitlich ungünstigen Situation. Zumanderen reagiert sie darauf, dass die Präsentation bereitsbei ihrer Eröffnung keine klaren Strukturen aufweist undwichtige Kontextinformationen fehlen, sodass sie nichtdie Aufgabe erfüllt, die anderen Mitarbeiter über die re-levanten Inhalte zu informieren. Außerdem kommt esbereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt zu Nachfragen, diedie Präsentation ins Stocken geraten lassen und zu Neben-diskussionen, die den thematischen Punkt insgesamt ge-fährden. Bemerkenswert ist bei diesem Vorfall, dass dermit ihm einhergehende Verlust der Expertenrolle, der inanderen Kontexten sicherlich negative Beziehungs-implikationen hätte, weder von Uwe selbst, noch von denanderen Teilnehmern in erkennbarer Weise bearbeitetwird. Dies lässt sich erklären auf der Grundlage eines ge-meinsamen Gruppenwissens: Kritik ist immer inhaltlicheKritik und bezieht sich nie auf Personen.

Wir konnten in diesem Zusammenhang auch beobachten,dass Richard Kritik, bei der sich ein Mitarbeiter durchausauch persönlich angesprochen fühlen darf, in einem kur-zen Vier-Augengespräch in der Vorphase des Meetingsformuliert. Später schützt er den Experten in der Öffent-lichkeit des Meetings, indem er nur punktuell und inmodalisierter Weise an Stellen eingreift, die klar

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korrekturbedürftig sind, um das Verständnis der anderen zusichern.

SchlussbemerkungDie zuvor dargestellten Aspekte Informalität, Betei-ligungsrollen sowie Sachorientierung und Beziehungs-management sind Bestandteil des Arbeitsstils derEntwicklergruppe. Sie sind zu sehen als Ergebnis eineraktiven Auseinandersetzung mit den für ihre Arbeit gege-benen externen Bedingungen.

Informalität stellt angesichts einer flachen Hierarchie, ei-ner hohen Kontaktdichte und der Tatsache, dass die wö-chentlichen Meetings Teil des Arbeitsalltags sind, den fürdie Aufgaben der Gruppe adäquaten Durchführungs-modus dar. Die Beteiligten haben die Meetings so orga-nisiert, dass optimale Bedingungen für genau die Formvon Kommunikation gegeben sind, die sie zum erfolgrei-chen Arbeiten benötigen. Dabei schafft die informelleDurchführung einen für die gemeinsame interaktive Pro-blemlösung positiven dynamischen Grundrhythmus. DieGruppe verbraucht zudem so gut wie keine Energie für dieexplizite Aufrechterhaltung formaler Strukturen und Hier-archien. Die Etablierung spezifischer Beteiligungsrollen(wie die der Experten) garantiert eine flexible Form derInstitutionalisierung von Kommunikationsstrukturen, diefür die gegebene Funktionalität des Meetings als Arbeits-instrument angemessen sind. Und die dominante Sach-orientierung ermöglicht es den Beteiligten, die Gruppen-aufgaben anzugehen, ohne erkennbaren Reibungsverlustdurch explizite Beziehungsarbeit unter den Bedingungeneines immer knappen Zeitbudgets. Insgesamt präsentiertsich die Entwicklergruppe als eingespieltes »Kommuni-kationsensemble«. Sie pflegt einen Diskussions- und Ar-beitsstil, der sich durchgängig an einer Vorstellung vonzielführender Kooperation ausrichtet und deren Grundla-ge eine starke Teamorientierung darstellt.

Literatur

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Anmerkungen1 Wir benutzen den Begriff »Meeting« als Synonym für die un-

terschiedlichsten Formen von Arbeitssitzungen und -be-sprechungen.

2 Auswirkungen dieser anwendungsbezogenen Orientierung derSprachwissenschaft zeigen sich z.B. auch im Sprachreport,in dem in der letzten Zeit kontinuierlich Beiträge zu diesemThema zu lesen sind (z.B. Becker-Mrotzek/Brünner (1998),Brünner/Fiehler (1998), Liebert/Schmitt (1998)).

3 Alle verwendeten Namen sind maskiert.4 Siehe hierzu Schmitt (i.V.)

Verwendete Transkriptionszeichen

* kurze Pause*3,5* längere Pause mit Zeitangabe in Sekunden= Verschleifung eines Lautes oder mehrerer Laute

zwischen Wörtern (z.B. sa=mer für sagen wir)” auffällige Betonung (z.B. aber ge”rn): auffällige Dehnung (z.B. ich war so: fertig)[...] Auslassungszeichen

Reinhold Schmitt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter, DagmarBrandau und Daniela Heidtmann sind studentische Mitarbeite-rinnen am Institut für deutsche Sprache.

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DIE SPRACHKRITIK

LEBTJürgen Schiewe: »Die Macht der Sprache. Eine Ge-schichte der Sprachkritik von der Antike bis zur Ge-genwart.« München: Verlag C.H. Beck 1998. ISBN 3406- 42695-6, DM 68,-

Jürgen Schiewe hat ein überfälliges Buch geschrieben, einBuch, das der Sprachkritik als Teildisziplin innerhalb dergermanistischen Sprachwissenschaft helfen wird, sichweiterhin zu behaupten. Die Sprachkritik ist ein Unter-nehmen, das sich in diesem Jahrhundert in allen Wissen-schaften etabliert hat, also keineswegs auf die Germani-stik oder gar die germanistische Sprachwissenschaft be-schränkt ist. Das große Thema der Sprachkritik ist das Ver-hältnis von Sprache und Wirklichkeit. Wie erfassen wir imAlltag und in den Wissenschaften die Gegenstände undSachverhalte unserer Wirk-lichkeit mittels Sprache?Dementsprechend habensich die Sprachphilosophie(insbesondere die Erkennt-nistheorie und die Logik),alle Theorien der Naturwis-senschaften, die Sozial-bzw. Geisteswissenschaf-ten, die Kulturwissen-schaften, die Literaturwis-senschaften, die Theorienüber unser Alltagsleben(Sprache in der Öffentlich-keit, in der Politik) undschließlich auch dieMedienwissenschaft mitdiesem Thema befasst. An-gesichts dieser Breite undinneren Vielfalt der Thema-tik musste Schiewe Ein-schränkungen machen,Grenzen ziehen und seinenGegenstand profilieren.Dies ist ihm in glücklicherWeise gelungen. Er baut aufdie Methoden, die in derSprachwissenschaft in den vergangenen Jahrzehnten ent-wickelt worden sind, vor allem auf die Methoden der ger-manistischen und der romanistischen Sprachwissenschaft;er baut auf die allgemeine Sprachwissenschaft und auf Er-kenntnisse der Semiotik insgesamt. Dies führt zu einer ein-geschränkten Perspektive, die aber den Kern des Problemsanvisiert: sprachliche Zeichen und ihr Verhältnis zu Gegen-ständen und Sachverhalten. Eine weitere und wichtigeEinschränkung ist die Konzentration auf die Geschichteder deutschen Sprache. Diese Perspektive macht das Buchzu einem germanistischen Buch: Es geht zum großen Teil

um die Geschichte der deutschen Sprache seit der frühenNeuzeit unter sprachkritischen Gesichtspunkten.

Welche sprachkritischen Gesichtspunkte kommen in denBlick? Schiewe geht hier empirisch und realistisch vor. Sotheoretisch versiert er ist, so fragt er sprachhistorisch dochvor allem nach dem, was tatsächlich an Konzepten undVorstellungen zur Sprachbetrachtung entwickelt wordenist. Im Eingangskapitel unter der Überschrift »Was istSprachkritik?« nennt er Maßstäbe bzw. Parameter: a)Sprachkritik war immer Sprachgebrauchskritik. Dasheißt, die Sprecher waren auch im Visier. b) Sachkritik.Immer wurden auch die Gegenstände und Sachverhalteder Sprachkritik mit untersucht und bewertet. Denn dieWirklichkeit ist eine sprachliche Konstruktion der Wirk-lichkeit. c) Immer hat man sich auf bestimmte Methodenberufen, d.h.: Man suchte nach wissenschaftlichen Fun-dierungen. d) Es gab stets zeitgeistgebundene Interessen;und es gab auch stets persönliche sowie grup-penspezifische Interessen. e) Sprachkritik war meistens

konstruktiv, d.h.: Sie hatte Vor-schläge für besseren Sprachge-brauch und damit für eine bes-sere Wahrnehmung der Wirk-lichkeit. f) Sprachkritik waremanzipatorisch. Das heißt, siehat oft den Sprachgebrauchvon Gruppen vertreten, die sichöffentlich nicht ausreichend re-präsentiert fühlten.

Unter den genannten Gesichts-punkten schreitet Schiewe diewichtigsten Stationen derSprachgeschichte des Deut-schen seit der frühen Neuzeitab. Aber ganz zu Beginn setzter noch Zeichen, indem er aufdie Antike, nämlich PlatonsDialog »Kratylos« über die»Richtigkeit der Namen« zu-rückgreift und den Dialog untermodernen semiotischen Ge-sichtspunkten interpretiert underörtert. Hier geht es um dassprachkritische Grundproblem,das Verhältnis der Wörter in der

Sprache/im Sprechen zu der jeweiligen Wirklichkeit. Sinddie Wörter Bilder wirklicher Gegenstände bzw. Sachverhal-te oder Produkte konventioneller Festsetzungen und Ge-wohnheiten der Menschen, die kaum Rückschlüsse auf dieWirklichkeit zulassen? Zugleich wird hier ein durchgehen-des Thema der Geschichte der westeuropäischen Sprach-kritik gesetzt: Ist Sprachkritik im Grunde Erkenntniskri-tik? Ja, das ist sie, und sie ist es bis heute, wie SchiewesBuch in den folgenden Kapiteln anschaulich vor Augenführt. Der Sprung von der Antike in die Neuzeit gelingt –wie sollte es anders sein – über die Behandlung des

REZENSION

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Universalienstreits im Mittelalter. Mit dem Streit über denRealismus bzw. den Nominalismus (die Konventionalität)der Wortbedeutungen wird die Fragestellung aus der An-tike in die europäische Neuzeit transportiert. Die Fragestel-lung hat sehr viel mit dem Problem zu tun, das die Entwick-lung des Deutschen am Ende des Mittelalters bzw. zuBeginn der Neuzeit entscheidend bestimmt hat: Kannüberkommenes Wissen auch in einer anderen als einerklassischen Sprache (vorzugsweise dem Lateinischen) an-gemessen vermittelt werden? Ist das Deutsche zur Wissens-vermittlung geeignet? Schiewe fragt mit Paracelsus: Kannman einen Kranken in deutscher Sprache kurieren? Mitdieser Frage ist ein weiteres zentrales Thema der Sprach-kritik im Rahmen der Sprachgeschichte des Deutschengesetzt: Inwieweit kann das Deutsche zu einer Spracheentwickelt werden, die in den Wissenschaften und in denherrschenden Institutionen eine ebenbürtige Rolle spielenkann – ebenbürtig im Vergleich zu anderen Sprachen, vorallem zum Lateinischen (später zum Französischen). DasThema ist bis in die Gegenwart virulent, vor allem in denAuseinandersetzungen über das Englische als Linguafranca der Wissenschaften heute und vielleicht als Welt-sprache insgesamt.

Schiewe geht seinen Weg durch die deutsche Sprachge-schichte über die Sprachgesellschaften der Barockzeit ins18. Jahrhundert. Hier liegt ein Schwerpunkt. Denn es gehta) um die Etablierung des Deutschen als Wissenschafts-sprache durch Leibniz, Thomasius und Wolff und b) umdie Etablierung des Deutschen als literaturfähige Hoch-sprache und die Dokumentation des Wortschatzes in denersten großen Wörterbüchern des Deutschen (Adelungund Campe). Der aufklärerische Gedanke, dass mittels derPerfektionierung der Sprache (des Deutschen) die Er-kenntnismöglichkeiten in Bezug auf die Welt und denGeist erweitert und womöglich ausgeschöpft werdenkönnten, bestimmte vor allem die Sprachphilosophie vonLeibniz und Wolff. Schiewe fragt in den Sprach-betrachtungen der Autoren, die er behandelt, stets nachdem Beitrag, den die Sprachkritik als Reflex auf Zeitgeist-strömungen und als Impuls für zukunftsträchtige Überle-gungen spielt. Alle behandelten Autoren des 18. und be-ginnenden 19. Jahrhunderts (außer den genannten:Gottsched, Herder, Hamann, Lichtenberg, Goethe,Jochmann) werden ausführlich mit Texten zitiert und in-terpretiert, die sich auf die deutsche Sprache und ihrenzeitgemäßen Gebrauch beziehen und die Einstellungender Autoren zum Deutschen erkennen lassen.

Das 19. Jahrhundert wird zu Recht unter folgenden domi-nierenden Fragestellungen behandelt: a) Sprache und Öf-fentlichkeit, b) Normierung des Deutschen, c) Sprach-purismus, d) Sprache und Nationalismus, e) Sprach-zweifel in Literatur und Wissenschaft, f) historisch-wis-senschaftliche Betrachtung der Sprache. Schiewe erörtertalle Themen, Tendenzen und »Denkstile« mit dem ihnenzukommenden Gewicht; seine Darstellung hat durchwegÜberblickscharakter und hat hierin einen guten Teil ihrerBedeutung. Aber er setzt auch Schwerpunkte. Ein Schwer-punkt der Betrachtung im 19. Jahrhundert ist Carl GustavJochmann (1789-1830), ein Autor, der in der Zeit der Res-

tauration zu Beginn des Jahrhunderts aufklärerische Idea-le vertritt und den Zustand der deutschen Sprache unterMaßstäben der öffentlichen politischen Kommunikationbeurteilt. Jochmann war ein Mittler zwischen Aufklärungund späterer politisch orientierter Sprachkritik. Dement-sprechend kommt Schiewe im Verlauf seines Werkes im-mer wieder auf ihn und die ihm zuteil gewordene Rezep-tion zurück. Die Rezeption war nicht überwältigend;Schiewes Lehrer Uwe Pörksen und Schiewe selbst habenmit anderen Publikationen dazu beigetragen, Jochmannwiederzuentdecken.

Restauration und deutscher Nationalismus habe im 19.Jahrhundert dazu geführt, dass sich die Meinungsspektrenspalteten: auf der einen Seite die nationalistisch gesinn-ten Sprachreiniger und auf der anderen Seite die Sprach-skeptiker, die die Chancen für eine zivilisatorischelaborierte Sprachkultur schwinden sahen und radikaleProgramme einer individualistisch begründeten Sprach-kritik vertraten. Beide Positionen föderten Sprachverfalls-theorien, die bis in die Gegenwart nachwirken. Schiewezeichnet die sprachpuristischen Tendenzen nach; er wid-met sich aber vor allem den Schriftstellern, die eineSprachkrise spürten und einen politisch korrumpiertenSprachgebrauch anprangerten: Schopenhauer, Nietzsche,Mauthner, Hofmannsthal, Kraus, Tucholsky. Schiewezeigt eindringlich die Kontinuität der Themen und Denk-stile bis ins 20. Jahrhundert. Sprachnationalisten, die inunserem Jahrhundert den Nazis zuarbeiteten, hatten ihrelegitimierenden Vorbilder vor mehr als hundert Jahren;und radikale Sprachkritiker heute können sich auf dieSprachskeptiker der letzten Jahrhundertwende berufen.

Die Sprachkritik im Rahmen der germanistischenLinguistik ist nach dem 2. Weltkrieg angeregt, initiiert undetabliert worden durch die Auseinandersetzung mit demNazi-Sprachgebrauch. Schiewe erörtert die wesentlichenAnstöße, indem er sich auseinandersetzt mit a) VictorKlemperers »LTI« (Lingua tertii imperii) und KlemperersTagebüchern, die in den vergangenen Jahren erschienensind, b) dem »Wörterbuch des Unmenschen« von DolfSternberger, Gerhard Storz und Wilhelm EmanuelSüskind, c) Karl Korns »Sprache in der verwalteten Welt«und d) der germanistisch-strukturalistischen Analyse derNazi-Sprache, die sich in der Rezeption der unter a) bis c)genannten Autoren entwickelt hat. Nach Schiewes Retro-spektive und Auffassung hat der Strukturalismus in derGermanistik die Etablierung der Sprachkritik in der Wis-senschaft, in den Curricula der Universitäten und Schuleneher behindert, indem er die Konstruktion des Sprachsys-tems zum wesentlichen Maßstab der Sprachbetrachtungerhob und die Deskription über die Beurteilung bzw. Be-wertung des Sprachgebrauchs stellte. Die strukturalisti-sche Kritik an den (pragmatisch orientierten) kulturkriti-schen Stellungnahmen von Klemperer, Sternberger, Storz,Süskind und Korn hätte der historisch wohletabliertenSprachkritik »den Boden entzogen« (S. 249). Diese Auf-fassung teile ich nicht. Meines Erachtens musste dieüberkommene Sprachkritik einen Durchgang machendurch den Strukturalismus; sie musste sich verwis-senschaftlichen, und zwar nach den Mustern, die in die-

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Heft 1/1999

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sem Jahrhundert durch die philosophische Logik, durchdie Sprachphilosophie insgesamt und schließlich durchden linguistischen Strukturalismus gesetzt worden sind.Die Sprachkritik kann sich in unserem Wissenschafts- undBildungssystem nur behaupten, wenn sie wissenschaftlichfundiert analysiert und bewertet.

Natürlich plädiert auch Schiewe für eine wissenschaftli-che Fundierung der Sprachkritik, wenn er im Schluss-kapitel seines Werkes »Sprachkritische Themen der Ge-genwart« behandelt. Sprachkritik innerhalb derGermanistik muss sich immer auch der neuesten Metho-den des Faches versichern. Themen, die Schiewe für diegegenwärtigen öffentlichen Auseinandersetzungen überSprache hervorhebt, sind: Verwissenschaftlichung derUmgangssprache (Was versteht der Laie eigentlich noch,wenn ihm heute über die Medien neueste wissenschaftli-che Erkenntnisse präsentiert werden?), Sprache in derPolitik (Warum die Phrasen? Was machen wir mit dem,was uns Politiker heute in ihren öffentlichen Reden prä-sentieren?), feministische Sprachkritik (Wie steht es mitder Rede- und Sprachgerechtigkeit in unserer Gesell-schaft, insbesondere: Wo haben Frauenthemen ihrenPlatz?), internationale Leerformeln in der medialen Ver-mittlung unserer (gesellschaftlichen) Wirklichkeit(»Plastikwörter« (Uwe Pörksen) wie Kommunikation,Wissensgesellschaft, Information, Konsens), Zusammen-hänge zwischen Sprach- und Bildkommunikation in un-serem öffentlichen Leben. Das sind Beispiele für Themen,mit denen sich die Sprachkritik heute auseinanderzuset-

zen hat. Schiewe plädiert vehement dafür, die Sprachkri-tik heute in Wissenschaft und Bildungswesen stärker zuetablieren. Gab es da nicht im schulischen Sprachunter-richt einen Lernbereich »Reflexion über Sprache«? Undwelche Disziplin könnte diesen besser »abdecken« als dieSprachkritik?

Schiewe hat ein spannend zu lesendes Buch geschrieben,nicht nur, weil es ihm immer wieder gelingt, die histori-schen Themen unter heute aktuellen Gesichtspunkten zudiskutieren, sondern vor allem, weil er die Autoren stetsausführlich selbst zu Wort kommen lässt. Durch die ge-schickte Auswahl relevanter Zitate und deren zeitge-schichtliche wie auch aktuelle Interpretation wird dieDarstellung authentisch und diskursiv-argumentativ zu-gleich. Die Leserin/der Leser ist immer gefangen in einemSpiel von Rede und Gegenrede. Es gibt keine isolierte Be-trachtung von Sprache und Sprachgebrauch; immer istSprachgebrauch Sprachhandeln im zeitgeschichtlichenKontext; Sprachkritikgeschichte ist Teil der Sprachge-schichte und der Sozialgeschichte; immer wird die Dis-kussion auf den Punkt gebracht und durch theoretischeÜberlegungen zugespitzt. Es wäre zu wünschen, dass dieDarstellungsform mithilft, dem Gegenstand im Bewusst-sein der in Wissenschaft und Bildung Verantwortlichenmehr Beachtung zu verschaffen.

Rainer Wimmer

Der Autor ist Professor für Germanistische Linguistik an der Uni-versität Trier.