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Stadt in der Tiefsee

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ATLAN 89 (90) – Stadt in der Tiefsee

Nr. 89 (90)

Stadt in der Tiefsee von Kurt Mahr

Auf Terra, den Welten des Solaren Imperiums und den Stützpunkten der United Stars Or-ganisation schreibt man Mitte März des Jahres 2842, das voller Gefahren und Überra-schungen ist. Seit dem Verschwinden Lordadmiral Atlans, der bei einem Alleingang entführt wurde und dessen Spur trotz fieberhafter Suche noch nicht entdeckt werden konnte, sind für viele Mitarbeiter der USO und ähnlicher Organisationen des Solaren Imperiums schwere Wo-chen angebrochen. Nicht genug damit, daß die Agenten und Spezialisten die Galaxis nach dem verschwun-denen Lordadmiral durchforschen – sie haben noch eine zweite Aufgabe zu erfüllen: Sie sollen eine Gefahr bannen, die von dem sogenannten »Suddenly-Effekt« ausgeht, einem Phänomen, das die plötzliche Ablagerung riesiger planetarischer Trümmermassen auf an-deren Himmelskörpern bewirkt. Was die Unbekannten, die den Suddenly-Effekt verursachen, dabei für einen Zweck ver-folgen, ist den Verantwortlichen der USO bereits klargeworden. Dennoch tappen sie im dunkeln, was den Aufenthaltsort der oder des mysteriösen Unbekannten angeht. Nur Baggo Arnvill, der ehemalige Detektiv und USO-Spezialist, findet mehr heraus – er entdeckt die STADT IN DER TIEFSEE ...

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Die Hauptpersonen des Romans: Baggo Arnvill – Der ehemalige Privatde-tektiv kämpft gegen die Häscher des »Grauen«. Tregiro – Arnvills siebenjähriger Sohn. Altyrn Massocka und Organest Schernk – Zwei USO-Spezialisten, die Ih-ren Kollegen Arnvill im Auge behalten sol-len. Dr. Fritz Reinheimer und Meiden – Arn-vills Helfer bei einer Tiefsee-Expedition. Der »Graue« – Arnvills Gegenspieler.

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1.

Als Baggo Arnvill das rote, breitflächige

Gesicht zum zweitenmal sah, wußte er, daß der Feind seine Spur gefunden hatte. Er war erfahren in solchen Dingen und besaß einen Instinkt, der ihn befähigte, Gefahren früher als ändere zu erkennen. Wenn er in einer ziel-los umherirrenden Menge ein Gesicht mehr als einmal in unmittelbarer Nähe bemerkte, dann wußte er, daß es seinem Besitzer darauf ankam, ihn nicht aus den Augen zu verlieren.

Auf den ersten Blick war es kein unange-nehmes Gesicht. Es war das Gesicht eines Durchschnittsbürgers, und die Rötung der Haut wies darauf hin, daß der Mann, dem das Gesicht gehörte, unter Kreislaufbeschwerden litt. Er schien ein Büromensch zu sein, echter Durchschnitt. Aber Baggo Arnvill, wie ge-sagt, hatte Erfahrung. Die unerbittliche Härte des Blicks, die tödliche Kälte der kleinen, beweglichen Augen verrieten den Rotgesich-tigen. Er war kein Büromensch. Er war ein Häscher.

Also hatte der Graue seine Spur gefunden. Baggo Arnvill registrierte es ohne Bedauern. Bedauern war eine Emotion, die er nicht mehr kannte. Haß und Rachsucht hatten sie hin-weggefegt. Genauso, wie er in ein paar Minu-ten den Mann mit dem roten Gesicht hinweg-fegen würde. Er sah sich um. Die landende Raumfähre, die auf einem Park-Orbit hoch über der Erde die Passagiere des Großraumers HYAS-SETT übernommen hatte, entlud ein Gewirr von mehreren tausend Menschen in die weite, hohe Halle des Empfangsgebäudes, zumeist Touristen von Siedlerwellen, die sich im Getriebe des Raumhafens Terrania-City nicht auskannten, verzweifelt nach ihren Rei-seleitern suchten und wohl auch der Zusage nicht so recht trauten, daß ihr Gepäck ganz automatisch an die von ihnen bezeichneten Hotels geliefert würde. Einige hatten sich mutig dazu entschlossen, dem hilflosen Ge-wimmel einfach den Rücken zu kehren, und verließen die Halle. Ihnen schloß Baggo Arn-vill sich an.

In seiner kräftigen Hand ruhte die Hand seines Sohnes Tregiro, dem man das geringe Alter von sieben Jahren kaum anmerkte, so weltmännisch gelangweilt ließ er den Trubel

ringsum von sich abprallen. Als Arnvill sich dem hohen Portal näherte, das unmittelbar ins Freie führte, hatte er sich umgesehen und da-bei zum zweitenmal das rötliche Gesicht in unmittelbarer Nähe bemerkt. Da wußte er, daß es jetzt zu handeln galt. Er durfte den Rotgesichtigen nicht weit kommen lassen. Je rascher er ihn ausschaltete, desto besser war es für ihn.

Vor dem Empfangsgebäude lag ein weitläu-figer Park, in den hier und da Mietwagenhal-testellen eingebaut waren. Jenseits des Portals wandte Baggo Arnvill sich nach rechts. Tregi-ro folgte ihm willig. Ohne, daß der Vater es ihm hätte erklären müssen, wußte er, daß et-was Wichtiges bevorstand. Er war ein weit über sein Alter hinaus gereifter Junge, ein Produkt des Wirrwarrs von bedrohlichen Ein-drücken, die seit dem Tod seiner Mutter und der Abreise von Fee III auf ihn eingestürmt waren. Er wußte, daß das Überleben keine Selbstverständlichkeit war, daß man sich an-strengen mußte, um zu überleben.

Seitwärts an das Empfangsgebäude schlos-sen sich eine Reihe niedriger, schmuckloser Gebäude an, die Büros und Kontore zu ent-halten schienen. Eines davon befand sich im Bau oder Umbau. Arnvill eilte an der Vorder-seite der Gebäude entlang. Er sah sich nicht um. Er wußte, daß der Rotgesichtige ihm folgte. Zwischen zweien der flachen Bauwer-ke bog er nach rechts ab. Der Zwischenraum zwischen den beiden benachbarten Gebäuden betrug fünf bis sechs Meter. Arnvill fing an zu rennen. So schnell Tregiro laufen konnte, hetzte er um die Ecke, die zur Rückseite der linken Baracke führte. Erst dort blieb er ste-hen und blickte vorsichtig um die Gebäude-kante. Nach wenigen Sekunden sah er den Verfolger auftauchen. Er blickte in den Zwi-schenraum zwischen den beiden Baracken. Die Sache schien ihm bedenklich vorzukom-men. Erst nach einigem Zögern setzte er sich wieder in Bewegung.

Baggo Arnvill hielt seinen Vorsprung. Als der Rotgesichtige zwischen den Baracken hervorkam, hatte er schon das Gebäude betre-ten, an dem gebaut wurde. Er stand mit Tregi-ro in einem weiten, kahlen Raum und beo-bachtete den Verfolger durch eine leere Fens-terhöhle. Der Mann mit dem roten Gesicht

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war offenbar verwirrt. Er wußte nicht, wohin sein Opfer sich gewandt hatte. Er sah sich um. Bisher war noch nirgendwo in der Nähe ein Mensch zu sehen gewesen. Vielleicht wurde hier heute nicht gearbeitet. Auf jeden Fall schien der Rotgesichtige ziemlich sicher zu sein, daß er nicht beobachtet wurde. Er zog den kleinen, handlichen Blaster aus der Ta-sche und machte ihn schußbereit.

Dann begann er mit der Suche. Er unter-suchte eine Tür nach der anderen, fand sie allesamt verriegelt und näherte sich allmäh-lich der Baracke, in der Arnvill wartete. Mitt-lerweile mußte er den Eindruck gewonnen haben, daß es seinem Opfer um nichts anderes ging, als ihn von sich abzuschütteln. Die Zeit drängte daher. Wenn er bei der Suche zu lan-ge brauchte, war Arnvill längst über alle Ber-ge.

Er musterte die im Bau befindliche Baracke von außen. Er blickte durch die Fensterhöhle herein, durch die Arnvill ihn noch vor weni-gen Augenblicken beobachtet hatte. Mittler-weile jedoch hatte Arnvill sich und seinen Sohn in einer dunklen Ecke versteckt. Der Rotgesichtige wandte sich ab und betrat durch eine leere Türöffnung das Innere des Gebäu-des. Darauf hatte Arnvill gewartet. Er gab Tregiro durch einen Druck auf die Schulter zu verstehen, daß er sich nicht rühren solle. Dann huschte er seitwärts an der Wand entlang, bis er schräg hinter den Rotgesichtigen zu stehen kam, der den weiten, öden Raum aufmerksam musterte.

»Laß die Waffe fallen!« sagte Arnvill. Der Rotgesichtige hatte sich in der Gewalt.

Er zuckte nicht einmal. Zögernd öffnete sich die rechte Hand. Der kleine Blaster fiel klap-pernd zu Boden.

»Jetzt dreh dich langsam um!« befahl Arn-vill.

Auch dieser Befehl wurde befolgt. Schein-bar unbewegt musterte der Mann mit dem roten Gesicht den Gejagten, aus dem so un-erwartet ein Jäger geworden war.

»Grüß mir den Grauen, wenn du ihn in der Hölle triffst!« sagte Arnvill mit eisiger Stim-me und hob die eigene Waffe.

Entsetzen stand plötzlich im Gesicht des Häschers. Er griff mit der Rechten in die Brusttasche und schrie:

»Nein, nicht ...! Ich ...« »So seid ihr alle«, schnitt Arnvill ihm ver-

ächtlich das Wort ab: »Hart im Geben, und weich im Nehmen!«

Er drückte auf den Auslöser. Die fauchende Entladung des Strahlers fällte den Agenten, noch bevor dieser den kleinen Nadler völlig gezogen hatte. Ohne den Toten auch nur mit einem Blick zu beachten, kehrte Arnvill dort-hin zurück, wo er Tregiro in Deckung ge-bracht hatte. Er nahm ihn bei der Hand und verließ die Baracke. Zwei Minuten später saßen sie beide in einem Mietwagen und wa-ren auf dem Weg in die Stadt.

*

Für einen Oberst wirkte der Mann erstaun-

lich jung. Jedesmal, wenn er sprach, lächelte er. Die breitflächigen Pockennarben gaben seinem Gesicht eher eine zusätzliche Nuance der Männlichkeit, als daß sie es verunzierten.

Ronald Tekener, Oberst der USO, und in diesen Tagen der Verwirrung Stellvertreter des Lordadmirals, von dem niemand wußte, wo er verschollen war und ob er überhaupt noch lebte.

»Ich habe Sie rufen lassen«, lächelte Teke-ner, »um Ihrer neuen Auftrag mit Ihnen durchzusprechen. Die Einzelheiten erfahren Sie selbstverständlich durch Psi-Schulung. Ich will hier nur die Grundzüge umreißen.«

Die Männer, denen diese Worte galten, konnten gegensätzlicher kaum gedacht wer-den. Altyrn Massocka, Major der USO, war der typische Bärbeißer, mit mürrischem, har-tem Gesicht, starkknochigem Körperbau und einem verkrüppelten rechten Ohrläppchen. Gegen ihn wirkte Organest Schernk, Leutnant der USO, ausgesprochen geziert. Er war mit-telgroß, schlank und trug sein glattes Haar sorgfältig gepflegt.

»Zunächst die Hintergründe«, fuhr Tekener fort. »Sie haben von dem Suddenly- und dem Redbone-Effekt gehört. Sie sind komplemen-tär. Beim Redbone-Effekt werden der Sub-stanz eines Planeten gewaltige Fels- und Bo-denmassen entrissen. Das geschieht mit Hilfe eines Situationstransmitters, der unmittelbar auf die Oberfläche des Planeten gelegt wird. Am anderen Ende der Transmitterstrecke re-

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materialisiert das Gestein, gewöhnlich auf der Oberfläche eines erdähnlichen Planeten. Wir haben Anlaß zu glauben, daß dieser letztere Effekt, der Suddenly-Effekt, unbeabsichtigt ist. Aber das tut nichts zur Sache. Es ist hier eine unbekannte Macht am Werke, die ein bestimmtes Ziel dabei verfolgt, wenn sie Bil-lionen und Trillionen Tonnen von planetari-schem Urgestein durch ihre Transmitter jagt.

Wir glauben, dieses Ziel zu kennen. Vor fünfzigtausend Jahren, als der milchstraßen-weite Krieg zwischen den Lemurern und den Halutern tobte, schützten die Lemurer einige ihrer wichtigsten Welten, indem sie die Sub-stanz der Planeten mit Psi-Materie sozusagen impften. Ich will hier nicht darauf eingehen, was Psi-Materie ist. Es gibt Leute, die be-haupten, Psi-Materie sei der Stoff, aus dem die Seele des Menschen gefertigt ist. Ich weiß nicht, ob man das so formulieren kann, aber es gibt da sicherlich einen Zusammenhang. Psi-Materie, in der Kruste eines Planeten ver-borgen, erzeugt in der Umgebung des Him-melskörpers einen psionischen Strahlungsgür-tel, der in diesem speziellen Fall halutische Angreifer völlig apathisch machte und ihnen den Angriffswillen raubte.

Es gab viele dieser »geimpften« Planeten. Wir nennen sie Psi-Bastionen oder PsiBas. Sie blieben infolge der psionischen Strah-lungsgürtel von den Halutern verschont. Die Einschlüsse an Psi-Materie befinden sich auch heute noch in den Krusten dieser Planeten, jedoch ist ihre Wirkung im Laufe der Jahrtau-sende schwächer geworden und heute kaum mehr nachzuweisen. Immerhin gibt es einen Unbekannten, der sich für die alte Psi-Materie interessiert. Es muß angenommen werden, daß er damit finstere Pläne verfolgt, aber vor-läufig wissen wir noch nicht, worauf sie ab-zielen. Er hat eine Methode entwickelt, die mit dem Gestein der Planetenkruste vermisch-te Psi-Materie zu isolieren, abzusondern und zu extrahieren. Wir kennen auch diese Me-thode nicht; aber wir wissen, daß zu diesem Zweck das Gestein durch einen Situati-onstransmitter geschickt werden muß. Im Au-genblick des Durchtritts durch das Transmit-terfeld wird die Psi-Materie extrahiert. Der Unbekannte scheint ursprünglich beabsichtigt zu haben, daß das tote Gestein, also die von

der Psi-Materie befreiten Felsmassen, nach dem Durchgang durch den Transmitter im Hyperraum verbleiben und niemals wieder zum Vorschein kommen wird. Dabei hat es jedoch anscheinend eine Panne gegeben. Die Felsmassen rematerialisieren im Normalraum, und zwar vorzugsweise auf erdähnlichen Sau-erstoffwelten.«

Er musterte die beiden Offiziere lächelnd. »Sie fragen sich, was das alles mit Ihrem

Auftrag zu tun hat, nicht wahr? Nur Geduld! Wir werden schon noch zur Sache kommen. Also – ein Mann, der bis zum Jahre dreiund-dreißig, als er in der Versenkung verschwand, als USO-Spezialist arbeitete, glaubt zu wis-sen, um wen es sich bei dem geheimnisvollen Unbekannten handelt. Er kennt seine Identität nicht – und weiß auch nicht, wo er sich auf-hält. Aber er weiß, wie er von seinen Leuten genannt wird: der Graue.

Dieser Graue ist im Besitz einer höchst wichtigen Information. Er kennt die Lage vieler lemurischer PsiBas. Er bezieht diese Kenntnis aus einem alten lemurischen Kunst-werk, das man allgemein den Kriegskalender nennt. Allerdings besitzt er nur ein Bruch-stück dieses Kalenders. Andere Bruchstücke befinden sich, wenn sie überhaupt noch vor-handen sind, wahrscheinlich in einer der un-terseeischen Städte der Lemurer, die vor kur-zem in der Gegend des pazifischen Ozeans entdeckt wurden. Das Kalenderbruchstück, das sich im Besitz des Grauen befindet, wurde vor neun Jahren aus einem irdischen Museum gestohlen. Ich bin sicher, daß der Graue sich aktiv damit befaßt, weitere Kalenderbruchstü-cke in die Hände zu bekommen. Je mehr Psi-Bas er kennt, desto mehr Psi-Materie kann er einsammeln.

Diese Erkenntnis macht sich der Mann zu-nutze, von dem ich vorhin sprach. Baggo Arnvill, trotz seines neunjährigen Verschwin-dens nach wie vor Mitglied unserer Organisa-tion, ist dem Grauen auf der Spur. Dabei spielt eine Rolle, daß Arnvill schon vor neun Jahren mit den Leuten des Grauen aneinan-dergeriet. Der Graue verfolgte ihn und sorgte schließlich dafür, daß Arnvills Frau ermordet und sein siebenjähriger Junge entführt wurde. Den Jungen hat Arnvill inzwischen zurück; aber den Tod seiner Frau kann er nicht ver-

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winden. Er sucht nach dem Grauen nicht in erster Linie aus Pflichtbewußtsein, sondern aus Rachsucht. Er stand vor kurzer Zeit hier vor mir. Er bat um Urlaub. Ich gewährte ihn. Jetzt jedoch kommt mir meine Entscheidung nicht mehr so sonderlich klug vor. Ich fürchte, daß Arnvill sich in Dinge einlassen wird, de-nen er alleine nicht gewachsen ist. Dabei steht zu erwarten, daß der Graue zu erhöhter Vor-sicht veranlaßt und daher auch für uns schwe-rer zu schnappen sein wird. Darauf zu achten, daß es nicht soweit kommt, ist Ihre Aufgabe, meine Herren.«

Er schwieg. Auch Major Massocka schwieg. Er hielt nicht viel vom Reden. Leut-nant Schernk jedoch hatte tausend Fragen. Die Neugierde ließ ihn nicht zur Ruhe kom-men.

»Wenn Sie gestatten, Sir«, sagte er mit ge-zierter, nasaler Stimme, die der Eitelkeit sei-ner äußeren Erscheinung durchaus entsprach, »möchte ich einige Fragen stellen.«

»Fragen Sie immer zu!« lächelte Tekener. »Dieser Mann Arnvill, Sir – wie beabsich-

tigt er, sich an den Grauen heranzumachen?« »Darüber hat Arnvill mich nicht im einzel-

nen aufgeklärt«, antwortete der Oberst. »Be-denken Sie, daß er sich auf Urlaub befindet und nicht im Dienst. Er ist mir also keine Er-klärungen schuldig. Immerhin entnahm ich einigen Andeutungen, daß er beabsichtigt, die Gruppe der lemurischen Städte, die unter der Oberfläche des Pazifiks entdeckt wurden und in der man das einzige bisher bekannte Bruchstück des Kriegskalenders fand, mit einer kleinen Expedition zu durchsuchen. Er hofft, dabei weitere Bruchstücke des Kalen-ders zu finden und den Grauen für seinen Fund zu interessieren.«

»Wir wären also darauf angewiesen, Sir«, meinte Leutnant Schernk, »uns ebenfalls in die Tiefsee zu begeben, um Arnvill nicht aus den Augen zu verlieren.«

»Das ist richtig. Allerdings haben Sie dabei keine großen Schwierigkeiten zu erwarten. Noch heute geht ohnehin eine Gruppe von rund dreihundert Mann als Sonderkommando zur Erde. Nicht nur der Graue, auch die USO ist an weiteren Kalenderbruchstücken interes-siert. Das Kommando wird die Fundstelle durchsuchen. Sie haben also stets einen

Rückhalt, wenn es auch geraten erscheint, daß Sie Ihre Verbindung mit der USO möglichst geheimhalten.«

»Verstanden, Sir.« Wenige Minuten später befanden sich Mas-

socka und Schernk in einem der vielen Schu-lungsräume von Quinto-Center und verleibten auf hypnotischem Wege weitere Detailkennt-nisse der Sachlage ihrem Bewußtsein ein.

*

Baggo Arnvill und sein Sohn Tregiro ver-

brachten vierundzwanzig Stunden in einem zweitklassigen Hotel der Hauptstadt des Sola-ren Imperiums. Das Auftauchen des Rotge-sichtigen hatte Arnvill zunächst einen Strich durch die Rechnung gemacht. Er hatte nicht damit gerechnet, daß der Graue seine Spur so rasch finden würde.

Bei seinen weiteren Überlegungen mußte er davon ausgehen, daß der Mann, den er drau-ßen am Raumhafen erschossen hatte, nicht alleine gewesen sein konnte. Der Graue war kein Anfänger. Wenn er jemand beschatten ließ, dann tat er es mit einer ganzen Gruppe von Agenten – ganz einfach schon deswegen, weil auf diese Weise die Häscher sich gegen-seitig ablösen konnten und es dadurch ver-mieden wurde, daß ein bestimmter Mann sich dauernd in der Nähe des Verfolgten aufhielt und diesem nach kurzer Zeit auffallen mußte.

Baggo Arnvill rechnete damit, daß er auch in diesem Augenblick noch unter Beobach-tung stand. Bevor er seinen nächsten Schritt tat, würde er die Verfolger abschütteln müs-sen. Denn sein nächster Schritt war, Tregiro in Sicherheit zu bringen, so daß er selbst Handlungsfreiheit erhielt. Und dabei konnte er keine Zeugen brauchen.

Mit zärtlichem Blick bedachte er den Sie-benjährigen, der halb in den Falten des Visko-sebetts verschwunden war und fest schlief. Seitdem er seine Frau Amjana verloren hatte, war Tregiro sein ein und alles. Noch wichti-ger als die Rache an dem Grauen, auf dessen Konto Amjanas Tod ging, war Tregiros Si-cherheit.

Baggo Arnvill trat vor den Spiegel, der den größten Teil der einen Seitenwand einnahm, und betrachtete sich nachdenklich. Er tat das

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in letzter Zeit des öfteren und glaubte, von Mal zu Mal die Konturen eines neuen Wesens sich entwickeln zu sehen. Vor neun Jahren hatte er als Frauenheld gegolten. Er sprach gespreizt, fuhr teure Wagen und trug sich nach der neuesten Mode. Nur ein Teil davon, bekannte er sich selbst gegenüber, war Maske gewesen; der Rest war er selbst. Er hatte ein weiches – um nicht zu sagen: verweichlichtes – Gesicht, und er war fett geworden. Damals betrieb er auf der Erde eine Detektei, die ihm einen Deckmantel für seine Tätigkeit als Spe-zialist der USO bot. Mit den Kenntnissen, die die USO und die auf dem Asteroiden Satisfy beheimatete »Unabhängige Hilfsinstitution für Bedrängte« ihm verschafften, war es ihm gelungen, manchen Fall zu knacken, an dem sich erfahrenere Detektive die Zähne ausge-bissen hatten. Als Gegenleistung übermittelte er die Informationen, die er im Verlaufe der Lösung seiner vielen Kriminalfälle sammelte, an die Datenbanken der USO. Er hatte ein flottes Leben geführt – damals, vor neun Jah-ren.

Jetzt war von dem fetten, weichlichen Playboy nichts mehr übrig. Die neun Jahre auf Fee III hatten seine Muskeln gestrafft und das überschüssige Fett abgebaut. Er war hager geworden, doch breit in den Schultern. Und das Leid hatte die Züge seines Gesichts ge-kennzeichnet. Die Wangen waren eingefallen, die Lippen ein schmaler Strich, und die Au-gen schimmerten kalt und hart. Für jemand, der Baggo Arnvill vor neun Jahren zum letz-tenmal gesehen hatte, würde es schwer sein, ihn heute wiederzuerkennen. Arnvill war achtundvierzig Jahre alt gewesen, als er in der Versenkung verschwand und sich auf Fee III ansiedelte. Heute war er siebenundfünfzig, immer noch ein junger Mann nach den Maß-stäben der Zeit, aber ein Mann mit Erfahrung.

Mit viel bitterer Erfahrung ... Er weckte den Jungen. Er tat es behutsam

und zärtlich. »Wir müssen gehen«, sagte er. Sein Plan stand fest. Es war ein harter, er-

barmungsloser Plan. Aber auf andere Weise konnte man dem Grauen und seinen Leuten nicht begegnen. So gut wie unbemerkt verlie-ßen der Mann und der Junge das Hotel. Die Zeche war schon am Vortag beglichen wor-

den, und großes Gepäck gab es keines, da Arnvill seine Habseligkeiten an eine Voraus-adresse hatte ausliefern lassen. Unter dem Hotel gab es eine Haltestelle der städtischen Röhrenbahn. Auf dem Bahnsteig sah Baggo Arnvill sich um und musterte die Menschen, die gleich ihm auf den nächsten Zug warteten. Das war eine Vorbeugungsmaßnahme. Hier konnte er noch nicht erkennen, wer die Leute waren, die sich auf seine Spur geheftet hatten. Aber indem er sich die Gesichter einprägte, die er ringsum sah, schuf er die Bedingung dafür, sie wiederzuerkennen, wenn sie ein zweites und ein drittes Mal in seiner Nähe auftauchten.

Sie fuhren nur zwei Haltestellen weit. Dort, wo sie ausstiegen, führte eine Gleittreppe hin-auf zu dem auf ebener Erde gelegenen Kontor einer der größten Leihwagenfirmen der Stadt. Es gab da eine riesige Halle mit über einhun-dert Schaltern, an denen stationär eingebaute Roboter die Wünsche der Kunden entgegen-nahmen, sie berieten und Leihverträge ab-schlossen. Baggo und Tregiro traten an einen freien Schalter heran.

»Was kann ich für Sie tun?« fragte die Wand, in die der Robot eingebaut war.

»Ich brauche einen schnellen, leistungsstar-ken Wagen für eine Überlandfahrt« sagte Baggo.

»In diesem Fall würde ich zu einem Monte-zuma-3 raten, Sir. Spitze bei eintausendun-dachtzig, vollklimatisiert, Luftkissen und An-tigravantrieb, gedacht für maximal acht Per-sonen.«

»Kommt der Montezuma-3 mit Antigrav als Standardausstattung?« wollte Baggo Arn-vill wissen.

»Keineswegs, Sir. Der Antigrav ist ein Zu-satz, der auf Wunsch eingebaut wird. Das Fahrzeug, das ich Ihnen empfehle, besitzt ihn jedoch.«

»Gut. Ich nehme den Wagen.« »Ihr Reiseziel, Sir?« »Vorläufig unbekannt.« »Bei welcher Dienststelle werden Sie das

Fahrzeug zurückgeben, Sir?« »Das weiß ich auch nicht.« »Ich darf Sie darauf aufmerksam machen,

Sir, daß Sie sich damit die teuersten Vertrags-bedingungen einhandeln. Sie kämen etwa

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vierzig Prozent billiger weg, wenn Sie wüß-ten, an welchem Tag und wo Sie das Fahr-zeug zurückgeben werden.«

»Ich weiß das«, antwortete Arnvill. »Aber es läßt sich leider nicht ändern.«

Er wußte nicht, wieviel Möglichkeiten sich einem Unbefugten boten, den Robot nach den Reisezielen seiner Kunden auszuforschen. Aber er wollte kein Risiko eingehen. Die Ver-folger durften nicht erfahren, wohin er sich zu wenden gedachte. Darauf, daß sie ständig hinter ihm sein würden, fußte sein Plan.

Er bezahlte für fünf Tage im voraus. Der Robot gab ihm zu verstehen, daß der Wagen ihm sieben Tage lang zur Verfügung stehen werde. Sollte er ihn länger brauchen, so muß-te er zuvor bei einer örtlichen Dienststelle der Leihfirma haltmachen und eine weitere Ge-bühr entrichten, sonst würde einfach das Triebwerk versagen. Baggo Arnvill, der bis-lang noch kein irdisches Bankkonto besaß, bezahlte mit bunten Münzmarken. Er erhielt eine Ablichtung des Leihvertrages und eine Bestätigung, daß er siebenhundertfünfund-sechzig Solar berappt habe.

Der Wagen stand in einer Tiefgarage. Er war von kräftiger, gelber Farbe und hatte eine schnittige Form, die Arnvill gefiel. Wie unab-sichtlich sah er sich um. Er war seiner Sache nicht völlig sicher; aber einen der Kunden, die sich in der Nähe angelegentlich für ein ande-res Leihfahrzeug interessierten, glaubte er, schon auf dem Röhrenbahnhof gesehen zu haben. Die Sache klappte also.

Er bettete Tregiro auf einen der rückwärti-gen Sitze und riet ihm, den unterbrochenen Schlaf fortzusetzen. Tregiro hatte sich ange-wöhnt, für weise zu halten, was der Vater ihm riet. In wenigen Minuten war er wieder einge-schlafen. Arnvill wählte die Kodeadresse der Stadt Noyon Suma, einer der Wohnvorstädte von Terrania-City, in den Adressenspeicher des Autopiloten und lehnte sich bequem zu-rück, als das Fahrzeug selbständig seinen Weg die Rampe hinauf und in das nachmit-tägliche Gewühl des großstädtischen Ver-kehrs fand.

Später beschäftigte er sich eingehend mit seinem einzigen Gepäckstück, einem Diplo-matenkoffer. Er entnahm ihm einige teils aus Metall, teils aus Metallplastik bestehenden

Gegenstände, deren Funktion erst klar wurde, wenn man sie zusammensetzte. Dann bildeten sie einen mittelschweren Blaster. Arnvill jus-tierte die Waffe auf schwache Fächerwirkung und prüfte die Anzeige des Magazins, um sich zu vergewissern, daß die Ladung für seine Zwecke ausreichte.

Erst dann begann er, sich um den Verkehr zu kümmern, der mit ihm in dieselbe Rich-tung floß. Innerhalb der Grenzen der Haupt-stadt war zur Sicherung des Verkehrs absolute Funksteuerung Vorschrift. Niemand steuerte sein Fahrzeug selbst. Das besorgten der Auto-pilot und das städtische Adreßsystem. Arnvill grinste, als er sich auszumalen versuchte, welche Mühe seine Verfolger hatten, ihm auf den Fersen zu bleiben. Wahrscheinlich mut-maßten sie aus seiner Fahrtrichtung eine Ad-resse, die sie dem Autopiloten einfütterten. Sie würden sie sofort wieder ändern müssen, wenn er die Richtung wechselte. Das machte Mühe und erforderte einen wachen Geist. Er hatte eine niedrige Geschwindigkeit gewählt, um es den Leuten leichter zu machen. Denn jetzt und auf so billige Weise wollte er sie noch nicht abschütteln. Sie hätten ihn doch in ein paar Stunden spätestens wiederaufgespürt.

Allmählich wurde der Verkehr dünner. Sie erreichten die breite nordöstliche Ausfallstra-ße. Die Sonne sank, als sie die Grenze der Stadt überquerten und durch Noyon Suma hindurchglitten. Seit einiger Zeit hatte Arnvill den Rückspiegel nicht aus den Augen gelas-sen. Hinter ihm fuhren fünf Fahrzeuge, darun-ter drei, von denen er sicher war, daß er sie schon in der Innenstadt gesehen hatte. Nord-östlich von Noyon Suma gabelte sich die Ü-berlandstraße. Der linke Zweig der Gabel führte in nördlicher Richtung über Seberey Suma, die äußerste der Vorstädte von Terra-nia-City, hinauf nach Irkutsk. Der nordöstli-che Zweig ging über Dalan Dzadagad nach Ulan Bator, der Hauptstadt der Provinz Mon-golei. Bei der Ausfahrt von Noyon Suma hat-te Arnvill das Steuer des Gleiters selbst über-nommen. Er bog nach rechts ein, also auf die Straße, die nach Ulan Bator führte. Von den fünf Wagen, die vor kurzem noch hinter ihm gewesen waren, hatten drei Noyon Suma als Ziel gehabt. Ein vierter nahm die Straße nach Irkutsk, und in dem letzten, der Arnvill noch

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folgte, erkannte er eines der Fahrzeuge wie-der, die er schon in der Innenstadt bemerkt hatte. Es war ein großer, klobiger Wagen mit hochragender Karosserie, die in bunten Strei-fen bemalt war. Es mußte den Häschern des Grauen darauf angekommen sein, sich unver-züglich ihm an die Fersen zu heften, sonst hätten sie sich wohl die Zeit genommen, ein unauffälligeres Fahrzeug zu finden. Arnvill war sicher, daß der bunte Wagen über ein Antigrav-Triebwerk verfügte. Das würde ihm die Arbeit erleichtern. Auf diese Weise hatte er größere Auswahl unter den Geländetypen, auf denen er seinen Hinterhalt legen wollte.

Es war Nacht, als aus der Finsternis vorab die Umrisse des Gurban-Sayhan-Gebirge auf-tauchten. Die Straße führte durch eine fünf-hundert Meter breite Schneise, die mitten durch die Berge getrieben worden war. Arn-vill wandte sich um und sah die Lichter des Verfolgers etwa achthundert bis eintausend Meter hinter sich.

Was dann kam, geschah so blitzschnell, als säße hinter dem Steuer des Montezuma-3 ein Akrobat, der sich sein Geld damit verdient, daß er seinen Wagen Kunststückchen machen läßt. Arnvill hatte von Luftkissen- auf An-tigravantrieb umgeschaltet. Jetzt riß er das Fahrzeug steil nach oben und ließ es nord-wärts auf die Berge zuschießen. Er sah in die Tiefe und bemerkte voller Genugtuung, wie der Wagen der Verfolger noch ein ganzes Stück weiter raste, über die Stelle hinaus, an der er von der Straße abgehoben hatte, bevor er ebenfalls auf Antigrav schaltete und die Verfolgung von neuem aufnahm.

Damit hatte Baggo Arnvill den Vorsprung gewonnen, den er brauchte. Die Berge waren schroff und zerklüftet, fast vegetationslos. Im Montezuma-3 brannten nur noch die Positi-onslampen. Auf dem kleinen Radarschirm sah Arnvill die Umrisse spitzer Gipfel und tief eingeschnittener Schluchten. Er drehte sich um. Von den Verfolgern sah er nichts, und als er die erste Bergkuppe hinter sich gelassen hatte, war er wahrscheinlich auch ihnen aus den Augen entschwunden.

Behutsam, ohne schädliche Hast, suchte er den Ort, an dem er sich der Hascher entledi-gen wollte. Er fand ihn schließlich: einen stei-len Berghang, der auf halber Höhe ein nicht

allzu breites Plateau bildete. Der Hang stieg aus einer scharf eingeschnittenen, jedoch nicht besonders tiefen Schlucht auf, die sich ideal für Arnvills Zwecke eignete. Er setzte den Gleiter auf dem Plateau ab, öffnete das Luk und schaltete den Motor aus. Die uner-wartete Stille weckte den Jungen. Arnvill schickte ihn nach draußen. Dann begann er, am Armaturenbrett zu hantieren. Er löste die Verkleidung und suchte unter den Hunderten von Drähten und Druckschaltungen nach dem Mechanismus, der automatisch von Luftkis-sen auf Antigravantrieb umschaltete, wenn das Fahrzeug den festen Boden unter sich verlor. Er kannte sich mit Gleitern aus. Nach wenigen Minuten hatte er die Schaltung ge-funden und sie unbrauchbar gemacht.

Er schaltete den Motor wieder ein. Die Ma-schine arbeitete jetzt mit Luftkissenantrieb. Arnvill brachte den Koffer und die Waffe ins Freie. Der Gleiter stand so, daß der Bug auf die Schlucht zeigte. Arnvill beugte sich durch das Luk und schaltete den Vorwärtsantrieb ein. Der Wagen setzte sich langsam in Bewe-gung. Er glitt über den Rand des Plateaus hin-aus und kippte in die Tiefe. Polternd stürzte er in die Schlucht. Ein Blitz zuckte auf, und der Donner einer, mächtigen Explosion rollte durch die nächtliche Bergwelt.

Arnvill hockte am Rand des Plateaus und wartete. Der Krach mußte meilenweit zu hö-ren gewesen sein. Bald würden sie kommen. Er war gewappnet.

2.

Ronald Tekener machte sich Sorgen. Die Lage wurde allmählich kritisch. Atlan

war und blieb verschwunden. Aus den Tiefen der Galaxis kam ein ums andere Mal die Nachricht, daß erneut eine wertvolle Sauer-stoffwelt von dem heimtückischen Suddenly-Effekt überfallen und ruiniert worden sei. In den meisten Fällen gelang es, den Großteil der Siedler zu evakuieren. Die Solare Flotte und die Flotte der USO standen Tag und Nacht bereit, um auf den ersten Notruf hin einzugreifen. Die Kosten der bisherigen Ret-tungsaktionen näherten sich der Billionen-grenze.

Trotz des Einsatzes der Flotten war es je-

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doch auf den befallenen Welten zu großen Opfern unter der Bevölkerung gekommen. An Orten, an denen die fremden Felsmassen re-materialisierten, erlosch von einer Sekunde zur anderen alles Leben. Die Zahl der Todes-opfer hatte die Millionengrenze längst über-schritten, und noch immer war kein Ende der fürchterlichen Verwüstungen abzusehen. Die Einsicht, daß es sich bei diesen Vorgängen nicht um eine Naturkatastrophe, sondern um das gezielte Wirken intelligenter Wesen han-delte, erfüllte nicht nur Ronald Tekener mit einer kalten Wut, die durch die Erkenntnis der eigenen Hilflosigkeit noch gesteigert wurde.

Ober den Grauen, der nach Baggo Arnvills Auskünften hinter der Sache stand, wußte man so gut wie nichts. Arnvill war ihm nie-mals nahe gekommen. Auch das Motiv, das den Grauen zu derart monströsem Handeln bewegte, war unbekannt. Man wußte ledig-lich, daß es dem Unbekannten darum ging, die letzten Überreste der Psi-Materie in die Hand zu bekommen, die im Urgestein der alten lemurischen Psiba-Planeten verborgen waren. Die Rücksichtslosigkeit seiner Vorge-hensweise legte den Schluß nahe, daß der Graue seine Psi-Beute benutzen wolle, um damit auf Eroberung auszugehen und einen Machtanspruch durchzusetzen. Wen er dabei als seinen Feind betrachtete, wußte jedoch niemand.

Seit Arnvills Aufenthalt auf dem Planeten Formar wußte man auf Quinto-Center, daß die Rematerialisierung der durch den Transmitter geschleuderten Felsmassen ein unerwarteter, von dem Grauen nicht geplanter Effekt war. Nicht aus Rücksichtnahme, sondern um sein Vorhaben länger geheim zu halten, wäre dem Unbekannten daran gelegen gewesen, die von Psi-Materie befreiten Gesteinsmengen für immer im Hyperraum verschwinden zu las-sen. Daß es damit nicht geklappt hatte, berei-tete dem Grauen sicher einiges Kopfzerbre-chen. Der Umstand, daß die Felsmassen bis-lang ausschließlich auf erdähnlichen Sauer-stoffwelten rematerialisiert waren, wurde von zwei Schulen der USO-Wissenschaftler auf unterschiedliche Weise erklärt. Eine Denk-weise behauptete, die Rematerialisierung ge-schehe auch auf nicht-erdähnlichen Planeten, ja sogar im freien Raum, nur habe man sie

dort noch nicht bemerkt, weil eben auf nicht-erdähnlichen Welten und im freien Weltall keine Siedler lebten, die beim ersten Anzei-chen des Suddenly-Effekts sofort um Hilfe riefen. Die andere Schule jedoch sah einen Zusammenhang zwischen den Restspuren von Psi-Materie in den rematerialisierenden Ge-steinsmassen und der Anwesenheit von Psi-Substanz in den Körpern der Siedler, die auf den befallenen Welten lebten. Es bestehe, behaupteten die Anhänger dieser Schule, eine Affinität zwischen den Restspuren der Psi-Materie und der Psi-Substanz in den organi-schen Lebewesen der Siedlerwelten, die die Gesteinsmassen dazu veranlasse, ausgerech-net auf erdähnlichen Sauerstoffwelten zu re-materialisieren.

Von den beiden Erklärungen hielt Ronald Tekener die letztere für die bedrohlichere. Denn während die Erde, der am dichtesten bevölkerte Planet der Milchstraße, nach den Argumenten der ersten Schule nur eine von mehreren Milliarden Welten war, die als Re-materialisierungspunkt in Frage kamen, bilde-te sie nach der Denkweise der zweiten Schule einen besonders gefährdeten Punkt, da auf ihr Psi-Substanz in besonders hoher Konzentrati-on existierte.

Die USO, unterstützt von der Solaren Ab-wehr und technisch-wissenschaftlichen Ein-heiten der Solaren Flotte, hatte sich nicht auf Evakuierungsmaßnahmen zur Rettung be-drohter Siedler beschränkt. Sie bemühte sich aktiv auch in anderer Richtung. Von dem Bruchstück des Kriegskalenders, das aus dem irdischen Lemuria-Museum gestohlen worden war und sich jetzt wahrscheinlich in den Hän-den des Grauen befand, waren seinerzeit Hunderte von photographischen Aufnahmen angefertigt worden. Diese Aufnahmen hatte Tekener dem solaren Riesenrechner Nathan vorgelegt und die Maschine aufgefordert, den lemurischen Kode zu entschlüsseln und ihm die galaktischen Positionsdaten der lemuri-schen PsiBas bekanntzugeben. Sobald er die-se Information besaß, würde er mit Hilfe der Solaren Flotte sämtliche bekannten Psiba-Planeten besetzen lassen und damit verhin-dern, daß der Graue in seinem grausigen Wir-ken fortfahren konnte.

Gleichzeitig war ein Sonderkommando er-

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stellt und zur Erde gesandt worden, um dort die Gegend der beiden lemurischen Städte zu durchsuchen, die vor nicht allzu langer Zeit südwestlich der Ellice-lnseln in rund dreitau-send Metern Wassertiefe gefunden worden waren. Aus einer der beiden Städte stammte das Bruchstück des Kriegskalenders, das aus dem Lemuria-Museum entwendet worden war. Aufgabe des Sonderkommandos war es, weitere Bruchstücke ausfindig zu machen, so daß man sich auch von dieser Seite her an die Lösung des Problems machen konnte.

Allerdings verlangte das Warten auf die Resultate der beiden Aktionen von den Ver-antwortlichen nahezu übermenschliche Ge-duld. Eines Tages würde Nathan den Kalen-der entziffert haben und die Positionen der lemurischen PsiBas bekanntgeben. Eines Ta-ges würde das Sonderkommando weitere Bruchstücke des Kalenders finden und sie ebenfalls, durch Nathan auswerten lassen.

Die Frage war nur, wieviel Menschen bis dahin noch sterben mußten.

*

Die Nacht war unheimlich still. Die große

Straße, über die auch in diesen späten Stun-den noch der Verkehr flutete, lag weit ent-fernt. Ihre Geräusche erstarben, lange bevor sie die Einsamkeit der Felswildnis erreichten. Baggo Arnvill und Tregiro hatten sich in den Schutz eines übermannshohen Felsens zu-rückgezogen. Aus der Tiefe der Schlucht geis-terte ab und zu fahler Flammenschein. Der Gleiter brannte aus.

Da – ein Geräusch! Arnvill fuhr halb in die Höhe. Das Summen eines Motors war zu hö-ren. Die Verfolger näherten sich! Von den unzähligen Sternen am schwarzen Firmament schienen zwei plötzlich in Bewegung geraten zu sein. Ein grüner und ein roter, die Positi-onslampen des feindlichen Fahrzeugs. Arnvill duckte sich erneut in den Schatten des Fel-sens. Die Häscher des Grauen waren gewitzt. Sie wußten, daß er nicht mit sich spaßen ließ. Sie würden die Möglichkeit in Erwägung zie-hen, daß ihnen hier eine Falle gestellt werden sollte. Er durfte sich nicht sehen lassen. Auf dem Radarschirm gab auch die Gestalt eines Menschen einen deutlichen Reflex ab.

Wie auch Arnvill, flogen die Verfolger oh-ne Scheinwerfer. Sie schienen das brennende Wrack bemerkt zu haben, denn das Summen des Motors wurde leiser und gleichzeitig dumpfer. Jetzt erst wagte Arnvill sich hinter der Deckung hervor und kroch bis zum Rand des Plateaus. Er sah den Gleiter der Verfolger etwa fünfzehn Meter unter sich. Das Fahrzeug schwebte schräg über dem brennenden Wrack. Die Insassen waren anscheinend im-mer noch mißtrauisch. Ein Scheinwerfer leuchtete auf und tauchte die Umgebung des zerstörten Fahrzeugs in grelles Licht. Erst als die Verfolger sich überzeugt hatten, daß sich niemand hinter den Felsen auf dem Boden der Schlucht versteckt hielt, setzten sie ihren Wa-gen zu Boden und stiegen aus, um das Wrack zu untersuchen.

Der entscheidende Augenblick war ge-kommen. In wenigen Sekunden würden sie wissen, daß das zerstörte Fahrzeug leer, war. Jetzt mußte Baggo Arnvill handeln.

Es waren insgesamt vier Männer. Vorsich-tig über die Felsen balancierend, näherten sie sich dem Wrack. Die Flammen waren niedri-ger geworden. Das Feuer hatte den Großteil des brennbaren Materials bereits verzehrt. Arnvill sah, wie der erste der Häscher so dicht an den brandgeschwärzten Fahrzeug-körper herantrat, wie es die Hitze ihm erlaub-te. Er beugte sich vornüber, um einen Blick ins Innere des Wagens werfen zu können.

Mit einem überraschten Schrei fuhr er wie-der in die Höhe. Arnvill hörte, wie er seinen Genossen zurief:

»Vorsicht! Da ist niemand drin!« »Verdammt!« schrie ein zweiter. »Also

doch eine Falle! Arnvill richtete sich auf. »Ganz richtig!« rief er mit dröhnender

Stimme in die Schlucht hinab. Im nächsten Augenblick begann der Blaster

zu fauchen. Der Feind war so überrascht, daß er nicht mehr dazu kam, das Feuer zu erwi-dern. Zum Schluß vernichtete Baggo Arnvill auch den hochbeinigen, bunt lackierten Glei-ter. Das Fahrzeug nützte ihm nichts. Es war zu auffällig. Er bearbeitete mit dem Energie-strahl des Blasters den Triebwerkskasten, bis er den Wasserstofftank erreichte. Es gab eine donnernde Knallgasexplosion, die den Gleiter

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zerriß.

Unbewegt kehrte Baggo Arnvill der flam-menden Szene den Rücken und schritt zu dem Felsen, in dessen Schutz er Tregiro zurückge-lassen hatte. Ohne sonderliche Hast nahm er die schwere Waffe auseinander und barg die Einzelteile in dem Koffer. Dann nahm er sei-nen Sohn bei der Hand und sagte:

»Komm, mein Junge! Wir haben einen be-schwerlichen Marsch vor uns. Aber fürs erste, glaube ich, haben wir eine Zeitlang Ruhe.«

*

Der kleine Raum war vollgepfropft mit e-

lektronischem und positronischem Gerät. Es summte und klickte. Der hagere kleine Mann mit den flinken Augen und dem kurzgeschnit-tenen, grauen Haar sah auf und verkündete mit klagender Stimme:

»Chef, ich kriege keine Verbindung mehr!« Der Chef war ein grobschlächtiger, stierna-

ckiger Mensch, der die ganze Zeit über in einer Ecke auf einem Stuhl gesessen und un-geduldig gewartet hatte, bis der kleine Grau-haarige die Verbindung zustande brachte, von der er jetzt behauptete, daß sie nicht mehr zu kriegen sei.

»Was heißt das, keine Verbindung«, knurr-te der Stiernackige.

Der Kleine warf die Arme in die Luft. »Ich weiß es nicht. Ich greife einfach ins

Leere. Am anderen Ende gibt es keinen Emp-fänger mehr, der auf dieser Frequenz arbeitet und auf unseren Kode reagiert.«

Der Chef brummte etwas Unflätiges vor sich hin, dann stand er auf.

»Spiff, du bist ein Nichtskönner!«, grollte er. »Gib mir Hangaj!«

Spiff, der kleine Grauhaarige, griff zu ei-nem Bildsprechgerät und drückte einen fünf-stelligen Rufkode in die Tastatur. Der Bild-schirm leuchtete auf und zeigte das von mon-golischen Zügen geprägte Gesicht eines Man-nes von etwa fünfzig Jahren.

»Hangaj, der Chef will dich sprechen«, sag-te Spiff.

»Wir haben keine Verbindung zu unserem Wagen mehr«, verkündete der Stiernackige. »Von dem, was Spiff sagt, verstehe ich, daß mit dem Empfänger etwas nicht stimmt. Viel-

leicht sogar mit dem ganzen Wagen. Ich möchte, daß du dich umsiehst. Dieser Arnvill ist ein schlauer Knabe. Womöglich hat er den Leuten eine Falle gestellt!«

»Ich bin sofort unterwegs«, erklärte Hangaj bereitwillig, »wenn Sie mir sagen, wo ich zu suchen anfangen soll.«

Der Blick des Chefs fiel auf eine handge-schriebene Notiz, die Spiff vor einer halben Stunde angefertigt hatte.

»Die letzte Meldung kommt von der Fern-straße nach Ulan Bator«, las es. »Etwa Kilo-meter dreihundertundzehn. Arnvill hob plötz-lich von der Straße ab und verschwand in den Bergen. Unsere Leute folgten ihm.«

»Ich mache mich auf den Weg, Chef, ver-sprach Hangaj.

»Nimm dich in acht!« warnte ihn der Stier-nackige. »Und halte Verbindung mit uns!«

»Wird gemacht«, riet Hangaj. Dann brach die Verbindung ab. Der Chef

setzte sich wieder auf den Stuhl. Nach weni-gen Minuten sprach der Bildsprech von neu-em an. Hangaj meldete sich. Er war bereits unterwegs. Er fuhr einen sportlichen Hoch-leistungsgleiter, der eine Fahrtgeschwindig-keit von über eintausend Kilometern pro Stunde erzielte.

Inzwischen versuchte Spiff von neuem, die Verbindung herzustellen, die der Chef ur-sprünglich gewünscht hatte. Aber da war ab-solut nichts zu machen. Hangaj hingegen meldete sich in regelmäßigen Abständen. Nach knapp zwanzig Minuten hob er von der Fernstraße ab und hielt sich nordwärts in die Berge. Dann war es eine Zeitlang still.

Etwa vierzig Minuten mochten vergangen sein, seitdem Spiff den Mongolen zum ers-tenmal ans Bildsprech geholt hatte, da leuch-tete der Bildschirm auf, und Hangaj verkünde-te aufgeregt:

»Ich habe sie gefunden, Chef! Du hast recht: Arnvill hat sie erwischt. Den Gleiter hat's in tausend Fetzen zerrissen, aber auch Arnvills Fahrzeug ist hin!«

»Verflucht!« entfuhr es dem Stiernackigen. »Irgendeine Spur von ihm?«

»Nichts, Chef.« »Wohin wird er sich gewendet haben?« »Auf jeden Fall zur Straße zurück«, meinte

der Mongole. »Er hat einen Wagen angehal-

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ten und ist entweder, nach Dalan Dzadagad oder nach Terrania-City zurückgefahren.«

»Hast du deine Leute zur Hand?« wollte der Chef wissen.

»Innerhalb von ein paar Minuten«, antwor-tete Hangaj.

»Du übernimmst Dzadagad. ich kümmere mich um Terrania-City! Wir müssen den Kerl auf jeden Fall aufspüren, sonst macht uns der Graue fertig!«

*

Es waren sechs Stunden beschwerlicher

Fußmarsch bis nach Hurmeiin. Die kleine Stadt war eine alte mongolische Siedlung mit-ten in der Wüstensteppe. Mit der Zivilisation war sie nur durch eine Stichstraße verbunden, die einige Kilometer nördlich in die Fernstra-ße von Terrania-City nach Ulan Bator münde-te.

Baggo Arnvill hatte diesen Weg gewählt, weil er sich ausmalen konnte, wie der Gegner sich seine Flucht vorstellte. Man würde ihn in Dalan Dzadagad oder in Terrania-City suchen – oder in einer der anderen Städte und Städt-chen, die an der Fernstraße lagen. Daß er es auf sich genommen hatte, mit einem sieben-jährigen Jungen sechs Stunden lang durch die Wüste zu wandern, auf diese Idee würde so rasch niemand kommen.

Die Sonne ging auf, als sie die alte Mongo-lensiedlung betraten. Es gab hier einen Stadt-direktor, der sein Büro im einzigen öffentli-chen Gebäude des Städtchens hatte, in dem auch die Post- und Kommunikationsdienst-stelle unter gebracht war. Es war noch nicht ganz sechs Uhr in der Frühe. Die staubige Straße war menschenleer und das Gebäude des Stadtdirektors verschlossen. Erst nachdem Arnvill mehrere Minuten lang einen Summer betätigt hatte, unter dem die Aufschrift prang-te FÜR DRINGENDE POST- UND KOM-MUNIKATIONSANGELEGENHEITEN, öffnete sich die Tür und enthüllte einen brei-ten, halbdunklen Gang sowie einen mürri-schen Beamten, der soeben dem Bett entkro-chen zu sein schien.

»Was wünschen Sie?« fragte er unfreund-lich.

»Ich wünsche, ein dringendes Bildsprech-

gespräch zu führen«, erklärte Arnvill. »Das Amt ist noch nicht geöffnet«, belehrte

ihn der Mürrische. »Kommen Sie um acht Uhr wieder!

»Das Amt hat überhaupt nicht geschlossen zu sein«, konterte Arnvill. »Die Verfassung garantiert jedem Bürger freien Zugang zu den öffentlichen Kommunikationsmitteln, vier-undzwanzig Stunden am Tag!«

Der mürrische Beamte musterte ihn ver-blüfft. Die Verfassung war ihm wahrschein-lich noch nie zitiert worden.

»Kommen Sie«, brummte er und schlurfte Arnvill voraus den Gang entlang.

Es schoß Baggo Arnvill durch den Kopf, daß dieser Mann ihn wahrscheinlich so rasch nicht vergessen würde. Wenn es den Hä-schern des Grauen jemals einfiel, nach Hur-meiin zu kommen, würden sie vermutlich ohne Schwierigkeit herausfinden. daß er hier gewesen war. Er konnte nur hoffen, daß sie lange brauchten, bis sie auf diese Idee kamen.

Beim Anrufen bediente er sich eines alten Notizbüchlein, das noch aus der Zeit stammte, als er im Dienste der USO sich als Privatde-tektiv betätigt hatte. Die Anschlußkodes, die er hier eingetragen hatte, waren allesamt neun oder mehr Jahre alt. Die ersten zwei Versuche schlugen fehl. Der eine Anschluß existierte nicht mehr, und bei dem zweiten meldete sich jemand, den Arnvill nicht kannte. Erst beim drittenmal hatte er Erfolg. Der Anruf ging nach Bagdad. Dort war es jetzt zwei Uhr morgens. Ein bärtiges Gesicht erschien.

»Was soll das?« grunzte der Besitzer des feuerroten Bartes. »Mitten in der Nacht!«

»Mach die Augen auf«, grinste Arnvill, »und sieh mich an!«

Der Bärtige gehorchte, verblüfft. Der Klang der Stimme schien ihn an etwas zu erinnern. Er rieb sich die verschlafenen Augen und starrte auf den Bildschirm. Die Erinnerung schien sich nur zögernd einzustellen.

»Das ist doch nicht ... Sie sind doch nicht ...«, stotterte er verwirrt.

»Versuch's. Klinker!« nickte Arnvill ihm zu. »Immer raus mit dem Namen!«

»Baggo?« staunte der Bärtige. »Baggo Arnvill?«

»Derselbe«, bestätigte der Gefragte. »Mensch, Arnvill!« strahlte Klinker, jetzt

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hellwach. »Wo kommst du her? Die ganze Welt hielt dich für verschwunden, tot, ausge-löscht. Wie kommt's, daß du ...«

Arnvill unterbrach ihn mit einem Wink. »Ich erzähle dir die ganze wilde Geschich-

te«, versprach er. »Aber zuerst mußt du mir einen Gefallen tun.«

»Was?« »Hast du noch deinen Luftfrachtverkehr?« Klinker warf sich in die Brust. »Na klar!« strahlte er. »Mit vierzehn Filia-

len erdweit, und zwei neuen Zweigstellen auf Venus und Mars.«

Arnvill zeigte sich beeindruckt. »Du fliegst noch selbst?« »Nur zum Privatvergnügen. Geschäftliche

Flüge überlasse ich meinen Piloten.« »Gut«, sagte Arnvill. »Ich möchte, daß du

mich hier abholst.« »Wo ist hier?« »Hurmeiin.« »Hur – was?!« »Provinz Mongolei, knapp dreihundert Ki-

lometer nordöstlich von Terrania-City. Ich hab's eilig, Klinker. Wie schnell kannst du hier sein?«

Klinker überlegte kurz. »Anderthalb Stunden, wenn ich mich an-

strenge.« Arnvill atmete auf. »Streng dich ein bißchen mehr an«, forderte

er den alten Freund auf. »Mir zuliebe. Dann schaffst du's in einer Stunde.«

»Toi-toi-toi«, grinste Klinker. Arnvill bezeichnete ihm die genaue Lage

der kleinen Stadt; dann legte er auf. Bei dem Beamten, der inzwischen weniger verschla-fen, aber immer noch genauso mürrisch war, berappte er die Gebühren für die Gespräche und hinterließ außerdem ein beachtliches Trinkgeld in der Hoffnung, die Erinnerung des Mannes an seinen frühmorgendlichen Besucher etwas freundlicher zu gestalten. Um sechs Uhr dreißig ließen Baggo Arnvill und sein Sohn Tregiro die kleine Stadt Hurmeiin hinter sich und wanderten südwärts in die Steppe hinaus. Es würde ein heißer Tag wer-den. Der Himmel war wolkenlos blau, und die Sonne verriet schon jetzt ein wenig von der unbarmherzigen Glut, mit der sie von Mittag an das Land übergießen würde.

Klinker war vor zehn Jahren ein junger, un-ternehmungslustiger Mann gewesen, der so-eben sein eigenes Luftfrachtkontor eröffnet hatte. Er besaß zwei ausgediente Feldfähren und hatte Zugang zu zwei moderneren Fahr-zeugen, die er von einem Freund billig char-tern konnte. Der Beginn seines Unternehmens hatte unter einem bösen Stern gestanden. Bei der ersten größeren Fuhre explodierte einer seiner beiden alten Fähren und wenige Wo-chen danach die zweite. Die Versicherungen kündigten Klinker die Freundschaft. Er mußte tief in die eigene Tasche greifen, um die ge-schädigten Kunden wenigstens halbwegs zu befriedigen. Klinker jedoch vermutete einen Schwindel hinter der ganzen Sache und wand-te sich an den berühmten Detektiv Baggo Arnvill, von dem ihm ein Freund berichtet hatte. Arnvill ging der Sache auf die Spur und kam ohne sonderliche Mühe dahinter, daß beide Transporte wertvolle Güter ein und des-selben Kunden an Bord gehabt hatten. Der Kunde hatte über die Versicherung hinaus, zu der Klinker als Frachtunternehmer gesetzlich verpflichtet war, noch eigene Policen in der Höhe von mehreren Millionen Solar abge-schlossen. Arnvill konnte ihm nachweisen, daß er selbst kleine Fissionsbomben in seiner Ware versteckt hatte, um die Fähren in die Luft zu sprengen und in den Besitz der hohen Versicherungssummen zu kommen. Klinker war rehabilitiert. Der betrügerische Kunde mußte den Schaden, den er angerichtet hatte, wiedergutmachen und wanderte obendrein ins Zwangsarbeitslager. Klinker und den Detektiv jedoch verband seit dieser Zeit eine echte Freundschaft. Allerdings hatte sie sich nicht lange bewähren können. Ein Jahr später war Baggo Arnvill in der Versenkung verschwun-den.

Er kannte eine Menge Leute auf der Erde, dachte Baggo Arnvill. Viele in hohen, ver-antwortlichen Positionen, denen er in seiner Eigenschaft als Privatdetektiv den einen oder anderen Dienst erwiesen hatte. Manche waren seine Freunde geworden, andere waren immer nur Kunden geblieben. An viele von ihnen würde er sich wenden müssen. Sie mußten ihm helfen. Viele würde er sich mit seinem Anliegen zu Feinden machen. Aber dem ließ sich nicht abhelfen.

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Um den Grauen zu finden und sich an ihm

zu rächen, war Baggo Arnvill kein Opfer zu groß. Schließlich ging es ja nicht nur um die gerechte Strafe für Amjanas Ermordung. Es ging um das Wohl und Wehe vieler Millionen von Siedlern, die draußen in der Galaxis von einem Tag zum nächsten bangten, ob ihre Welt wohl auch zum Opfer des grauenhaften Suddenly-Effekts werden würde.

Um sieben Uhr vierzehn landete Klinker mit einem kleinen Luftboot drei Kilometer südlich von Hurmeiin. Er hatte kaum mehr als eine Stunde für die Strecke von Bagdad bis in die Mongolei gebraucht. Die beiden Freunde fielen einander in die Arme. Klinker ließ sich Tregiro vorstellen und wunderte sich, ohne darüber zu sprechen, über die zurückhaltende, ernste Art des Jungen. Das Boot hatte ausrei-chend Platz für die drei Passagiere. Klinker setzte sich von neuem ans Steuer und ging auf Westkurs. Unterwegs erzählte Baggo Arnvill soviel von seiner Geschichte, wie Klinker wissen durfte. Der Graue blieb unerwähnt. Arnvill behauptete, er hätte nach Amjanas Tod von der Hetze und dem Verfolgtwerden genug. Er wolle Tregiro in Sicherheit bringen und sich dann irgendwo auf der Erde nieder-lassen. Solange der Graue dem Jungen nichts anhaben konnte, sagte Arnvill, sei es ihm gleichgültig, ob er ihn selbst eines Tages fin-de und seine Rache vollende.

Klinker bot ihm eine Stellung in seinem Frachtunternehmen an; aber Arnvill lehnte ab. Er habe etwas Geruhsameres im Sinn, be-hauptete er. Es schmerzte ihn, den Freund so anlügen zu müssen; aber es mußte sein. Es war besser nicht nur für ihn, sondern auch für Klinker selbst, wenn der die Zusammenhänge nicht kannte, an denen die Häscher des Grau-en interessiert sein mochten. Baggo Arnvill und sein Sohn verbrachten zwei geruhsame Tage in Klinkers weitläufigem Landhaus in der Nähe von Bagdad. Danach machte Arnvill sich auf die Beine und rief von einem öffent-lichen Bildsprechanschluß einen zweiten Freund aus den Tagen seiner Detektivtätigkeit an, auch dieser inzwischen ein wohlhabender Mann und Besitzer eines Privatflugbootes. Es wurde vereinbart, daß der Freund Arnvill und seinen Sohn noch am Abend desselben Tages von einem Ort einige Kilometer südlich der

Stadt Mossul abholen solle. Arnvill verab-schiedete sich von Klinker, lieh sich einen Wagen und fuhr mit Tregiro nach Mossul. Der Freund holte ihn pünktlich ab und brachte ihn in die Nähe von Oslo im Bezirk Westeu-ropa. Von dort setzte Arnvill seine Reise nach kurzer Ruhepause fort und gelangte über Nordwestafrika und die Provinz Mexiko schließlich in den Bezirk Südamerika. Er hat-te sich unterwegs oft umgesehen. Er war so gut wie sicher, daß die Häscher des Grauen seine Spur verloren hatten. Als er in Recife aus der Feldfähre stieg, wußte er, daß er da-rangehen konnte, den ersten Schritt seines Planes zu verwirklichen: Tregiro in Sicherheit zu bringen. Anstatt wiederum ein öffentliches Verkehrsmittel zu benützen, lieh er sich einen Wagen und fuhr nach Brasilia, der größten Stadt des Kontinents, im Innern der Provinz Brasilien gelegen. Dort hatte er entfernte Verwandte, bei denen Tregiro sicher aufge-hoben sein würde.

*

»Der Kerl ist uns glatt durch die Lappen

gegangen«, näselte Leutnant Schernk. »Uns und den Leuten des Grauen«, bestätigte Major Massocka mit grollendem Unterton.

Vor wenigen Stunden waren die beiden Männer, von Quinto-Center kommend, auf dem Raumhafen Terrania gelandet. Bis hier-her war Baggo Arnvills Spur leicht zu verfol-gen gewesen. Hier jedoch – oder zumindest in der Umgebung der Hauptstadt, verlor sie sich. Massocka und Schernk hatten zunächst auf eigene Faust nach Arnvill geforscht, waren jedoch rasch zu dem Schluß gekommen, daß das zu nichts führen würde. Offenbar hatte Arnvill alles getan, um seine Spuren zu ver-wischen. Die beiden USO-Spezialisten hatten sich daraufhin an das Hauptquartier der Sola-ren Abwehr gewandt und von dort Unterstüt-zung angefordert. Mit den Hilfsmitteln der SolAb war leicht in Erfahrung zu bringen, daß Arnvill einen Tag in einem Hotel zweiter Ka-tegorie verbracht hatte. Danach hatte er sich einen teuren Leihwagen für eine Reise nach einem unbestimmten Ziel gemietet, von der er bislang noch nicht zurückgekehrt war. Inzwi-schen jedoch hatte die Polizei der Provinz

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Mongolei von der Auffindung zweier Fahr-zeugwracks in den Sayhan-Bergen berichtet. Beide Fahrzeuge waren explodiert, das eine infolge Absturzes, das andere, weil jemand den Treibstofftank mit einem Blaster beschos-sen hatte. In unmittelbarer Nähe des zweiten Gleiters waren vier Leichen gefunden wor-den. Das erste Fahrzeug war jedoch leer. Ü-berdies war das erste Fahrzeug identisch mit dem Gleiter, den Baggo Arnvill sich ausgelie-hen hatte.

Damit waren Massocka und Schernk am Ende. Nicht einmal die SolAb konnte ihnen weiterhelfen. Es schien festzustehen, daß Arnvill dem Massaker in den Sayhan-Bergen mitsamt seinem Sohn entkommen war. Zu-mindest war seine Leiche nirgendwo zu fin-den. Wohin er sich jedoch von dort aus ge-wendet hatte, das würde man in mühseliger Kleinarbeit eines Tages zwar ermitteln kön-nen, aber im Augenblick ließ sich gar nichts sagen.

Altyrn Massocka faßte einen Entschluß. Als der Ranghöhere von beiden stand es ihm zu, Entschlüsse zu fassen, und er machte von diesem Vorrecht Gebrauch.

»Wir wissen nicht, wo Arnvill im Augen-blick steckt«, erklärte er dem Leutnant. »Aber wir wissen, wo er in Kürze auftauchen wird. Nämlich im Pazifik. Irgendwo im Gebiet der Ellice-Inseln. Da schlagen wir unser Quartier auf.« Er lächelte ein wenig, eine seltene Ge-mütsäußerung an Major Massocka. »Ich habe mir sagen lassen«, fügte er hinzu, »daß es sich in der Südsee recht gut leben läßt.«

3.

Gegen Mittag mußte der Chef eingestehen,

daß Baggo Arnvill ihm durch die Lappen ge-gangen war. Weder in Terrania-City, noch in Dalan Dzadagad war seine Spur gefunden worden. Die Wüste hatte ihn verschluckt.

»Eine Verbindung mit dem Hauptquartier!« knurrte er Spiff an.

Spiff, der Funker, bearbeitete die Tastatur des Radiokoms und stellte die gewünschte Verbindung her. Als das Rufzeichen erschien, packte der Chef den alten Mann bei den Schultern und schob ihn unsanft zur Tür hin-aus. Die Veränderung, die mit dem Stierna-

ckigen vor sich ging, als er nun alleine war und darauf wartete, daß jemand auf sein Ruf-zeichen antwortete, war erstaunlich. Die klo-bigen Schultern sanken nach vorne, die Arme baumelten ungelenk und hilflos herab, und der mächtige Schädel neigte sich in einer Ges-te der Unterwürfigkeit, so daß der speckige Nacken noch deutlicher zum Vorschein kam.

Das bunte Rufzeichen wurde durch das Abbild eines hageren Mannes ersetzt, eines asketischen Typs mit eingefallenen Wangen und dem Feuer des Eiferers in den Augen.

»Ich habe versagt!« verkündete der Chef. »Inwiefern?« fragte der Hagere ungerührt. »Baggo Arnvill ist mir durch die Lappen

gegangen.« Der Asket schien aufzuhorchen. »Und der Junge?« »Der auch«, murmelte der Chef und knickte

noch ein wenig weiter ein. Der Hagere schwieg – nicht aus Überra-

schung, sondern um das, was er zu sagen hat-te, besser wirken zu lassen.

»Du hast Strafe verdient!« erklärte er mit durchdringender Stimme, deren eisige Kälte der Stiernackige körperlich zu spüren glaubte. »Die Strafe wird dich beizeiten treffen, Char-ron.«

Der Bullige richtete sich ein wenig auf. Beizeiten? Das klang nicht so, als wollte man ihm gleich den Hals umdrehen.

»Inzwischen jedoch erwartet dich eine an-dere Aufgabe«, fuhr der Mann auf dem Bild-schirm fort. »Du mußt Arnvills Spur von neu-em finden. Wir glauben zu wissen, wo Arnvill in Kürze auftauchen wird. Dort mußt du mit der Suche beginnen.«

Stück für Stuck kehrte Charrons Selbstver-trauen zurück.

»Ich werde mein Bestes tun!« versprach er. »Diesmal entgeht Arnvill mir nicht.

»Das will ich dir raten, Charron«, antworte-te der Asket. »Ein zweites Versagen wäre dein Untergang. Der Faktor duldet keine Ver-sager!«

Ein Schauder glitt Charron über die Haut. Nur der Hagere benutzte diesen Namen, um das mächtige Wesen zu bezeichnen, das den anderen als »der Graue« bekannt war. Nur der Hagere, der engste Mitarbeiter des Grauen, kannte die Bedeutung, die sich hinter diesem Namen verbarg. Den anderen blieb sie ein

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Geheimnis.

»Ich bitte um Anweisungen«, sagte Char-ron.

»Details kann ich dir nicht geben«, antwor-tete der Asket. »Wir nehmen an, daß Arnvill in kurzer Zeit im Gebiet der Ellice-, Fidschi- und Samoa-lnseln auftauchen wird. Wir ver-muten, daß er dort eine unterseeische Expedi-tion ausrüsten will. In dieser Gegend mußt du ansetzen.«

»Ich werde es sofort tun!« gelobte Charron, der Stiernackige.

Gleich nach Beendigung des Gesprächs rief er Hangaj an.

»Pack die Sachen!« befahl er dem Genos-sen. »Wir fahren in die Südsee!«

*

Falconer Singmans Arbeitszimmer war ein

Prunkstück der modernen Innenarchitektur. Es war ohne Rücksicht auf Kosten eingerich-tet worden, aber nicht, wie man so oft findet, mit verschwenderischem, kitschigem Prunk, sondern mit zielsicherem Geschmack. Der mächtige Raum hatte eine Größe von acht mal fünfzehn Metern, und eine Seitenwand wurde fast völlig von einem riesigen Fenster einge-nommen, durch das Singmans Blick ungehin-dert auf das faszinierende Häusergewirr von Rio de Janeiro und die blauen Wasser der Bucht von Guanabara fiel. Daß das Fenster auf der Außenseite durch ein energetisches Schirmfeld geschützt wurde, war nicht zu sehen. Falconer Singman war ein wichtiger Mann, ein Finanzexperte der ersten Kategorie. Er hatte, wie jeder wichtige Mann, Feinde, gegen die er sich sichern mußte.

Ein Summer ertönte. Singman sagte: »Ja ...?«

Auf dieses akustische Kommando hin schaltete sich der Interkom von selbst ein. Die junge Dame auf dem Bildschirm meldete:

»Ein Herr wünscht Sie zu sprechen, Sir.« »Name?« knurrte Singman. »Wird nicht angegeben«, antwortete die

junge Dame. Singman wurde aufmerksam. »Was stellt der Kerl sich vor?« entrüstete er

sich. »Bei Singman vorsprechen, ohne den Namen anzugeben? Zeigen Sie mir den

Mann!« »Sofort, Sir.« Die Sekretärin sprach mit jemand, der sich

vorläufig noch außerhalb des Sichtbereiches befand, jedoch auf die Aufforderung der Da-me hin vor die Kamera trat. Singman musterte ihn mißmutig. Der Mann war nicht sonderlich groß, hager und hatte ein Gesicht, das Härte ausstrahlte. Der Finanzier durchsuchte sein Gedächtnis. Irgendwann, meinte er, müsse er dieses Gesicht schon einmal gesehen haben. Es fiel ihm jedoch nicht ein, wo und in wel-chem Zusammenhang.

»Kenne ich nicht«, brummte er. »Will ihn auch nicht kennenlernen.«

Damit war die Sache für ihn abgetan. Der unbekannte Besucher schien jedoch anders zu empfinden.

»MacKenna!« sagte er halblaut. Singman fuhr auf, als hätte ihn ein Skorpi-

on gestochen. »Was?!« keifte er. »Was sagen Sie da?« »Ich sagte: MacKenna«, antwortete der

fremde Besucher ruhig. Singman schluckte. Das unangenehme Ge-

fühl ergriff von ihm Besitz, daß er es nicht vermeiden könne, sich mit dem Fremden ab-zugeben und daß dabei Dinge zur Sprache kommen würden, über die seit zwölf Jahren nicht mehr gesprochen worden war und die auch weiterhin hätten ruhen sollen. Aber noch immer gelang es ihm nicht, sich daran zu er-innern, wo er mit dem Fremden schon einmal zusammengetroffen war.

»Was wollen Sie?« fragte er mit einer Stimme, die vor Angst heiser geworden war.

»Das«, lächelte der Fremde, »möchte ich lieber in der Abgeschiedenheit Ihres Büros mit Ihnen besprechen.«

Singman nickte. Er war geschlagen. »Schicken Sie den Mann rein!« Als sich die Tür öffnete und der fremde Be-

sucher eintrat, unterdrückte Singman mit Mü-he den Impuls, den in die Decke eingebauten Strahler zu betätigen und den unangenehmen Gast einfach in ein Häufchen Asche zu ver-wandeln. Zuerst mußte er erfuhren, wieviel er wußte und was er wollte. Zur Gewaltanwen-dung war später noch Zeit.

Außerdem geschah noch etwas: Als der Mann durch die Tür trat, lüftete sich mit ei-

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nem Ruck der Schleier, der bislang über Singmans Erinnerung gelegen hätte. Er er-kannte seinen Besucher. Baggo Arnvill, der Privatdetektiv, dem er seinen kometenhaften Aufstieg in die höchsten Ränge der interstel-laren Finanzwelt verdankte.

Baggo Arnvill hatte sich, ohne dazu aufge-fordert zu sein, einen bequemen Sessel ge-sucht, von dem aus er Singmans mächtigen Schreibtisch schräg vor sich hatte. Falconer Singman war ein kleiner, schmächtiger Mann mit einem faltigen, verdrossenen Gesicht. Er gab sich keine Mühe, seine Kleinheit zu ver-bergen oder durch kosmetische Mittel weni-ger sichtbar zu machen. Sie diente ihm viel-mehr als Waffe. Die großen Menschen, denen er tagtäglich begegnete, hielten ihn für einen Schwächling und gaben sich durch diese Un-terschätzung seiner Person Blößen, die Falco-ner Singman geschickt nutzte.

Arnvill hatte eine Hand in der Tasche. Die Finger umspannten den Lauf des kleinen Blaster. Der ehemalige Detektiv gehörte nicht zu den Leuten, die Falconer Singman unter-schätzten. Er wußte, wie gefährlich der Mann war. Er hatte fast ein Jahr lang mit ihm zu-sammengearbeitet.

»Sie sind Arnvill, nicht wahr?« fragte Singman.

»Sie haben's erraten!« grinste der Detektiv. »Und ein wenig mehr Freundlichkeit konnten Sie obendrein zeigen. Schließlich habe ich nicht schlecht an Ihnen gehandelt.«

Singman ging nicht darauf ein. »Was wollen Sie?« knurrte er. »Geld«, antwortete Arnvill einfach. Singman kniff die buschigen Brauen ärger-

lich zusammen. »Ich schulde Ihnen nichts. Sie erhielten Ihr

Honorar – ein fünfstelliges!« Arnvill winkte ab. »Es geht nicht um Honorare«, wies er den

Vorwurf zurück. »Lassen Sie mich Ihnen den Fall MacKenna in kurzen Worten noch ein-mal beschreiben, sozusagen ins Gedächtnis zurückrufen. Und falls Sie irgendein Auf-nahmegerät laufen haben, schalten Sie's am besten jetzt aus. Denn die Aufzeichnung könnte in falsche Hände geraten, und dann wären Sie geliefert.«

Tatsächlich machte Singman hinter der

Kante des Schreibtischs eine Bewegung mit dem rechten Arm. Arnvill glaubte, das leise Knacken eines Schalters zu hören.

»Also«, nahm er den Faden wieder auf, »das Jahr war dreißig. Sie und Ihr Partner MacKenna etablierten sich in London als Börsenmakler. Eines Tages wurden aus Ihrem Safe Aktien im Wert von achtzig Millionen Solar gestohlen. Aktien, die Ihren Kunden gehörten. Zwar wurde der Dieb kurze Zeit später gefaßt, jedoch fand die Polizei in sei-nem Besitz nur noch zwei Millionen Solar, an Aktien. Der Rest war verschwunden, meinte die Polizei. Die Versicherung kam für den Großteil des Schadens auf, den Rest bezahlte MacKenna aus eigener Tasche, da Sie über keine nennenswerten Finanzmittel verfügten. Die Kunden waren also materiell zufriedenge-stellt, nur hatten sie das Vertrauen in das Haus MacKenna und Singman verloren. Die Firma machte Pleite. MacKenna überlebte das Un-glück nicht, sondern beging Selbstmord.«

Arnvill schwieg. »Ein bedauerlicher Fall«, bemerkte Sing-

man salbungsvoll, »der mir noch deutlich in Erinnerung ist. Ich weiß jedoch nicht ...«

»Erinnern Sie sich weiterhin«, unterbrach ihn Arnvill, »des Privatdetektivs, den Sie per-sönlich mit der Aufklärung des Falles betrau-ten und der das Versteck des Diebes entdeck-te, bevor dieser von der Polizei geschnappt wurde. Achtundsiebzig Millionen Solar in Aktien! Der Detektiv übergab das Paket ord-nungsgemäß an seinen Auftraggeber, also an Sie! Anstelle einer Quittung erhielt er die Zu-sicherung, daß sein Honorar verdoppelt wer-de. Diese Zusicherung wurde eingehalten. Das kann Ihnen nicht sonderlich schwer ge-fallen sein, Singman. Sie haben die gestohle-nen Aktien auf dem außerirdischen Schwarz-markt verhökert und dabei zwischen zwanzig und dreißig Prozent des Aktien-Kurswertes kassiert. Zwischen fünfzehn und zweiund-zwanzig Millionen Solar, Singman, die Sie benutzten, um ein neues Geschäft aufzubauen und sich in der Finanzwelt einen Namen zu verschaffen. Der Detektiv war ich! Erinnern Sie sich daran, Singman?«

Das faltige Gesicht des Finanziers blieb reglos.

»Ich weiß nichts von diesem Schwindel«,

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antwortete er. »Wenn die Dinge so verlaufen wären, wie Sie sie beschreiben, warum hätte sich der Detektiv nicht sofort an die Ord-nungsorgane gewandt, um die Sache aufzu-klären?«

»Weil er erstens keine Quittung hatte und zweitens überaus beschäftigt war. Ich kam erst im Laufe der Jahre dazu, mich um diese Sache zu kümmern. Jetzt weiß ich genau, woran ich bin, und habe die Wahl, die Infor-mation entweder für mich zu behalten, oder sie an die Polizei weiterzuleiten.«

»Also Erpressung«, konstatierte Singman. »Richtig. Jedoch zum Wohle der Mensch-

heit«, lächelte Arnvill. »Ich handle nicht aus Eigennutz.«

»Wieviel verlangen Sie?« »Zehn Millionen.« »Sie sind verrückt!« »Ich muß eine Expedition ausrüsten.« Singman wand sich, aber sein Widerstand

war vergebens. »Ich habe soviel Geld nicht verfügbar«,

versuchte er ein letztes Mal, der Forderung auszuweichen.

Arnvill sah auf die Uhr. »Es ist jetzt zehn Uhr«, bemerkte er. »Ich

gebe Ihnen zehn Stunden Zeit. In zehn Stun-den komme ich, um mir das Geld von Ihnen abzuholen. In bar. Scheine und Münzmarken, gemischt, wie Sie wollen.«

Singman gab klein bei. Das geschah, wie es Arnvill erschien, ein wenig zu rasch.

»Ich warne Sie«, sagte er, indem er sich er-hob. »Meine Informationen sind sicher hinter-legt und werden automatisch ans Tageslicht kommen, wenn Sie mir eine Falle stellen.«

»Vergessen Sie nur nicht«, knurrte Sing-man, »diese automatischen Informationen mitzubringen, wenn Sie heute abend das Geld holen.«

*

»Sind Sie Reinheimer?« fragte der knochig

gebaute Mann, der sich soeben an den Tisch gesetzt hatte, an dem ein alter, grauhaariger Mann mit zittrigen Händen eine frugale Mit-tagsmahlzeit einnahm.

»Was geht Sie das an?« beantwortete der Zittrige die Frage mürrisch mit einer Gegen-

frage. »Viel«, bekannte der Knochige. »Mein

Name ist Massocka, und ich interessiere mich für lemurische Altertümer.«

Der Zittrige überlegte eine Weile, bevor er den nächsten Löffel Suppe in den Mund schob.

»Das tun viele«, murmelte er. »Massocka? Hm, kenne ich nicht. Kein Wissenschaftler, wie?«

»Nein, Privatmann. Also, wie steht's? Sind Sie Reinheimer?«

»Doktor Reinheimer«, berichtigte ihn der Zittrige.

Eine sanfte Brise wehte durch den Speise-raum des anspruchslosen Restaurants. Es war nach typischer Südsee-Architektur ausgeführt: Eckpfosten, keine Wände, ein leicht abge-schrägtes Dach aus Streben und Palmfasern. Auf Funafuti schien die Zeit stehengeblieben zu sein. Robotbedienung und Servierautoma-tiken gab es nicht. Die Bedienung wurde von Wahinis besorgt, die sich noch ebenso kleide-ten und ebenso aussahen wie ihre Ahnfrauen, die von Gauguin gemalt worden waren.

»Also schön, Doktor Reinheimer«, nahm Massocka das Gespräch wieder auf. »Sie sind mir als einer der hervorragendsten Kenner des lemurischen Altertums geschildert worden.«

Reinheimer nickte und schmatzte dazu. »Das mag wohl sein«, antwortete er. »Ich

bilde mir ein, einiges über Lemuria zu wissen. »Das ist ausgezeichnet«, begeisterte sich

Massocka. »Ich bin gekommen, um Sie für die Teilnahme an einer unterseeischen Expe-dition zu den zwei lemurischen Städten zu interessieren.«

Reinheimer wiegte den grau behaarten Kopf.

»Ich weiß nicht, ob Ihnen das gelingen wird«, meinte er, ohne dabei den Blick von der Suppenschüssel zu heben. »Ich bin ein-hundertdrei Jahre alt und liebe meine Ruhe. Eine Tiefsee-Expedition, wer weiß, was das an Härten, Entbehrungen und körperlichen Strapazen bedeutet!«

»Aber bedenken Sie die Funde, die dort zu machen sind«, drängte Massocka. »Bedenken Sie den Ruhm, den Sie ernten werden!«

Reinheimer wiegte immer noch den Kopf. »Ich weiß nicht«, jammerte er mit kräch-

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zender Stimme, »ich weiß wirklich nicht. Sie müssen mir Zeit geben zu überlegen. Wo kann ich Sie erreichen?«

Massocka wußte, wann er aufgeben mußte. Es hätte ihm keinen Nutzen gebracht, den alten Mann weiter zu drängen.

»Ich bin ziemlich beweglich«, antwortete er auf Reinheimers letzte Frage. »Ich gebe Ihnen vierundzwanzig Stunden Bedenkzeit. Sind Sie morgen wieder hier?«

»Ich esse hier stets zu Mittag, immer um dieselbe Zeit«, bestätigte Reinheimer.

»Ich werde Sie aufsuchen«, sagte Masso-cka. Dann spielte er seinen stärksten Trumpf aus: »Für den Fall, daß Sie sich zu einer Mit-arbeit entschließen können, winkt Ihnen eine Sonderprämie von zwanzigtausend Solar.«

Er verließ das Restaurant, ohne zu erkun-den, welchen Eindruck seine letzte Äußerung auf den Wissenschaftler machte. Am Strand entlang wanderte er zu der Bungalow-Siedlung, in der Schernk und er sich eine kleine Unterkunft gemietet hatten. Es war kurz vor dreizehn Uhr. Schernk pflegte den Morgen damit zu verbringen, daß er sich auf dem Archipel umsah. Sie hatten sich einen Hochleistungsgleiter gemietet, der ihnen ein Höchstmaß an Beweglichkeit vermittelte.

Schernk war zu Hause. »Wie steht's?« fragte der Major. »Ziemlich ruhig«, näselte der Leutnant.

»Nur oben auf Nui ist der Teufel los.« »In welcher Hinsicht?« »USO, dreihundert Mann, gut getarnt. Habe

einige der Burschen aber trotzdem erkannt.« »Tekeners Expedition«, erinnerte sich Mas-

socka. »Wie weit sind die Vorbereitungen gediehen?«

»Ich schätze«, antwortete Schernk ge-spreizt, »daß sie morgen, spätestens übermor-gen früh abtauchen werden.« Er besah ange-legentlich seine Fingernägel und fragte: »Wie steht's mit Reinheimer?«

Massocka hob die Schultern. »Weiß nicht. Der Mann ist nicht sehr

entschlußfreudig. Er weiß nicht, ob er soll oder nicht.«

»Wir brauchen ihn aber«, meinte Schernk. »Wir müssen ihn Arnvill zuschieben und ihn als Verbindungsmann benützen. Ohne die Teilnahme eines bekannten Archäologen be-

kommt Arnvill niemals die Lizenz, die er braucht, um im Gebiet der beiden lemurischen Städte Untersuchungen und Ausgrabungen durchzuführen.«

»Das weiß ich«, knurrte Massocka. der sich ungern an unerledigte Dinge erinnern ließ. »Ich habe versucht, ihm mit einer Sonderprä-mie den Mund wäßrig zu machen. Ob das geholfen hat, werden wir morgen sehen.«

Er hielt einen Becher unter den Getränke-spender und ließ einen Drittelliter schäumen-des Bier einfließen.

»Außer der Aktivität auf Nui haben Sie nichts Besonderes bemerkt?« fragte er, nach-dem er einen tiefen Schluck genommen und sich den Schaum von der Lippe geleckt hatte.

»Nur en passant«, antwortete der Leutnant. »Auf Nanumanga begegnete ich zwei Kerlen, die überhaupt nicht in die Gegend zu passen schienen. Aber sie waren nur Durchreisende. Kamen mit einem Flugboot und flogen gegen elf Uhr wieder ab. Wenn sie des öfteren hier auftauchten, würde ich mir Sorgen machen, so aber nicht.«

»Wie sahen sie aus?« wollte Massocka wis-sen.

»Ein grobschlächtiger Bulle mit einem un-geheuren Stiernacken und ein schlanker, muskulöser Mann von mongolischer Her-kunft«, antwortete Schernk halb gelangweilt.

*

Falconer Singman war der dritte und letzte

»Fall«, den Baggo Arnvill in Angriff genom-men hatte, seitdem er seinen Sohn Tregiro in Sicherheit wußte. Seine Philosophie war ein-fach und stand jenseits der Grenzen, die die Gesetze vorschrieben. Im engen Kontakt mit seinen Kunden hatte er viele Dinge erfahren, die einen Schatten auf das Image manch hochgestellten Mannes warfen, für den er einst gearbeitet hatte. Diese Dinge waren wertvoll. Auf dem Wege der Erpressung konnte man sie in Geld umwandeln. Geld aber war das, was er dringend benötigte.

Er besaß Fachwissen genug, um zu erken-nen, daß selbst die primitivste Expedition in die Tiefen der Südsee wenigstens zwei Milli-onen Solar an Ausrüstung brauchte. Nun hatte er jedoch nicht die Absicht, sein Unternehmen

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mit primitiven Mitteln auszustatten; denn Primitivität führt zu Langsamkeit, wohinge-gen er so schnell wie möglich zum Ziele kommen wollte. Geld und Zeit, das waren die Stoffe, von denen er am wenigsten hatte. Er schätzte die Kosten einer Expedition, so, wie sie ihm vorschwebte, auf zwölf bis fünfzehn Millionen Solar. Wenn er zwanzig Millionen zusammenbekam, dann hatte er noch ein ge-wisses Ausweichkapital als Rückendeckung.

Die Serie seiner Erpressungen hatte in Dja-karta begonnen, wo er einen alten Kunden dazu überredete, vier Millionen Solar in ba-rem Geld dafür zu zahlen, daß er das Ge-heimnis eines noch nicht verjährten Steuer-vergehens auch weiterhin für sich behielt. Der Mann war billig weggekommen. Wäre er ge-faßt worden, hätte er wenigstens das Fünffa-che an Steuernachzahlungen leisten müssen, und obendrein wäre er seiner Freiheit mindes-tens für fünf Jahre beraubt worden.

Das zweite Unternehmen spielte sich in Kapstadt ab, wo ein weiterer ehemaliger Kunde sich ohne Schwierigkeit bereit fand, sieben Millionen Solar dafür zu berappen, daß seine Verwicklung in einen Fall großmaßstäb-licher Industriespionage der Öffentlichkeit auch weiterhin unbekannt blieb. Auch hier handelte es sich um einen Fall, in dem der Erpreßte weitaus weniger bezahlte, als ihm seine Tätigkeit auf dem Gebiet der Industrie-Spionage eingebracht hatte.

Und nun war Falconer Singman an der Rei-he. Seit jenen Ereignissen im Jahre 2830 hatte Arnvill Singman unter all den nicht ganz »ge-raden« Kunden, die ihm untergekommen wa-ren, als den schäbigsten betrachtet. Es hatte ihn in den Fingern gejuckt, den Fall sofort zur Anzeige zu bringen. Sein Status als USO-Agent hielt ihn jedoch davon ab. Er war in die Rolle eines Privatdetektivs gesteckt worden, um Informationen zu sammeln – nicht, um der Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhel-fen. Es gab eine Ausnahme: Wenn er auf die Spur eines Gewaltverbrechers kam, mußte er seine Kenntnisse den irdischen Ordnungsor-ganen zur Verfügung stellen. In den übrigen Fällen behielt sich die USO die Entschei-dungsgewalt darüber vor, was mit den von Arnvill gelieferten Informationen zu tun sei. Sie mochte sich dafür entscheiden, Unregel-

mäßigkeiten sofort von den zuständigen Poli-zeibehörden verfolgen zu lassen oder auf die Verfolgung vorläufig zu verzichten. Die Ar-gumente, die zu dem einen oder anderen Entschluß führten, kannte Baggo Arnvill nicht. Sie blieben den Gremien der höchsten Offiziere vorbehalten.

Auf jeden Fall hatte man von einer Verfol-gung Singmans abgesehen. Arnvill wußte nicht warum, aber er war es zufrieden. Auf diese Weise bot sich ihm die Möglichkeit, zehn Millionen Solar mit einem Schlag zu erbeuten. Wenn ihn jemand gefragt hätte, ob er seine Handlungsweise für richtig halte, dann wäre es ihm wahrscheinlich schwerge-fallen, darauf zu antworten. Er wußte, daß er außerhalb der Gesetze stand. Aber sein Vor-gehen traf solche, die sich selbst gegen die Gesetze vergangen hatten. Außerdem handel-te er nicht aus persönlicher Gewinnsucht. Ihm ging es darum, den Grauen zu finden. Und wenn er ihn faßte und unschädlich machte, erwies er damit nicht auch der Menschheit einen unschätzbaren Dienst – einen Dienst, für den drei Schurken mit dem Bruchteil ihres unrechtmäßig erworbenen Reichtums bezahlt hatten? Baggo Arnvill war nicht sicher, ob sein Tun nach den Gesetzen der inneren Mo-ral als richtig bezeichnet werden konnte. Aber er war frei von Gewissensbissen.

Er hatte Falconer Singmans weitläufiges Anwesen auf dem Osthang der Sierra da Ca-rioca scheinbar in Richtung der Stadt verlas-sen. Sobald er jedoch außer Sicht war, hatte er den Gleiter von der Straße abgelenkt und war tiefer in die Berge geflogen, bis er einen Punkt fand, von dem aus er mit Hilfe eines Fernglases Singmans Landhaus bequem beo-bachten konnte. Er hatte den Gleiter in den Felsen versteckt und sich in einer kleinen Felsnische postiert, in der er von Singmans Anwesen aus selbst für ein Teleskop unsicht-bar war. Er hatte Geduld. Er wußte, daß Singman gefährlich war, weitaus gefährlicher als die beiden Männer, die er in Kapstadt und Djakarta um einen Teil ihres Vermögens er-leichtert hatte, und daß er nicht die Absicht hatte, zehn Millionen Solar ohne weiteren Widerstand herzugeben.

Von seinem Spähposten aus sah Arnvill, wie Singman etwa eine halbe Stunde nach

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seinem Besuch in eine feudale Karosse stieg und sich in die Stadt bringen ließ. Knapp zwei Stunden später kehrte er zurück. In seiner Begleitung befanden sich zwei Männer, von denen jeder einen kleinen Koffer trug. Später wurde es dort unten noch lebendiger. Im Zeit-raum von einer Stunde fuhren vor dem Haus vier Gleiter auf, die jeweils mit vier Mann besetzt waren. Es war unverkennbar, daß man große Sorgfalt darauf verwendete, die Fahr-zeuge an unübersichtlichen Stellen zu parken und zu verstecken, so daß niemand, der das Grundstück unversehens betrat, von ihrer Anwesenheit etwas ahnte.

Singmans Leibwache bestand also nun aus achtzehn Mann – das Personal nicht gerech-net, das er im Haus haben mochte. Er beab-sichtigte also, sich ernsthaft zur Wehr, zu set-zen. Der Drohung, daß die Informationen, die Arnvill besaß, automatisch bekannt werden würden, wenn Arnvill etwas zustieß, schien er nicht sonderlich ernst zu nehmen. Vielleicht beabsichtigte er, psychologische Zwangsmit-tel anzuwenden, sobald er des Detektivs hab-haft geworden war, um ihn zur Zurücknahme seiner Drohung zu zwingen.

Wie dem auch sein mochte: Baggo Arnvill war ziemlich sicher, daß bei Einbruch der Dunkelheit das gesamte Grundstück herme-tisch abgeriegelt sein würde, so daß er keine Chance mehr hatte, das Haus unbemerkt zu erreichen. Er mußte also jetzt schon handeln. Vorsichtig holte er den Gleiter aus seinem Versteck, und bugsierte ihn den Hang hinun-ter zu einer Stelle, die nur noch wenige hun-dert Meter von der Grenze des Grundstücks entfernt lag. Man konnte das Haus von hier zwar nicht sehen, dafür war jedoch das Fahr-zeug um so sicherer. Singmans Anwesen stieß im Norden an eine nahezu senkrecht anstei-gende Felswand. Dorthin wandte sich Arnvill. Er war sicher, daß die Grenzen des Grund-stücks außer von dem mannshohen Zaun aus Plastikgeflecht auch noch von einer elektroni-schen Schutzvorrichtung gesichert waren. Ebenso sicher war er jedoch, daß man die Felswand ausgespart hatte, denn sie war so unzugänglich, daß sich kaum jemand getrauen würde, auf diesem Wege Zutritt zu Singmans Anwesen zu suchen.

Baggo Arnvill jedoch bildete eine Ausnah-

me. Weit außerhalb des Zaunes fand er eine Stelle, an der, er leicht in die Wand einsteigen konnte. Er entdeckte überdies eine Felsleiste, die etwa fünf Meter über dem Boden verlief und sich bis über den Zaun hinwegzog. Die-ses Wagnis hätte ihm so schnell niemand nachgemacht. Aber Arnvill hatte in den neun Jahren auf Fee III gelernt, seine Muskeln zu gebrauchen und zu beherrschen. Fuß um Fuß schob er sich auf der schmalen Leiste vor-wärts, manchmal ohne eine Stelle zu finden. an der die Hände sich festhalten konnten. Die ganze Zeit über ließ er das parkähnliche Grundstück, in dessen Mitte Falconer Sing-mans Landhaus gebettet war, nicht aus den Augen. Das Haus selbst war von hier aus nicht zu sehen, ebensowenig konnte er von dorther wahrgenommen werden. Und der Park war menschenleer. Es gab niemand, der ihn beobachtete. So früh am Tag erwartete Singman seinen gefährlichen Besucher noch nicht.

Schließlich befand Arnvill sich innerhalb des Zaunes. Er fand keinen brauchbaren Ab-stieg, also drehte er sich auf der schmalen Leiste vorsichtig um und sprang. Der Boden war weich. Arnvill federte beim Aufprall in den Knien, wie er es gelernt hatte, und trug trotz der Höhe des Sprunges keinerlei Scha-den davon.

Als nächstes suchte er sich ein Versteck. Er fand ein kreisförmiges Beet, das mit jungen Sago-Palmen besetzt worden war, von denen die größte kaum sechzig Zentimeter in die Höhe ragte. Die Palmwedel waren hart und stachlig, aber nachdem er sich einmal darun-tergeschoben hatte, war er völlig in Sicher-heit. Niemand würde unter dem niedrigen Dach der dornigen Wedel einen Eindringling vermuten. Er dagegen hatte, wenn er das Ge-sicht auf den feuchten Boden preßte, zwi-schen den knorrigen, dicken Stämmen hin-durch einen freien Ausblick in Richtung des Hauses, von dem hinter einem Dickicht von Kokospalmen gerade das Dach zu sehen war.

Von jetzt an verging die Zeit nur langsam. Arnvill nahm wahr, wie die Sonne sich all-mählich senkte und im Westen hinter den Gipfeln der Sierra dos Tres Rios verschwand. Dunkle Schatten fielen über Falconer Sing-mans weitläufiges Grundstück, und in der

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Nahe des Hauses wurde es lebendig. Baggo Arnvill sah auf seinen Zeitmesser. Es ging auf achtzehn Uhr. Noch mehr als zwei Stunden bis zu seiner Verabredung mit Singman. Eine Gruppe von drei Männern kam an seinem Versteck vorbei. Arnvill hörte sie reden.

»Dem Alten müssen ganz schön die Knie zittern«, spottete einer, »wenn er wegen eines Mannes soviel Aufwand betreibt.«

»Ich weiß nicht«, antwortete der zweite. »Bislang kam mir Singman stets wie ein Mann vor, der genau wußte, was er tat. Wo-möglich ist das auch heute so.«

»Wegen eines einzigen Mannes außer der elektronischen Absperrung noch achtzehn Mann Besatzung hierher legen?« zweifelte der dritte. »Das scheint mir doch ...«

Dann waren sie vorbei, und Arnvill konnte nichts mehr hören. Wenn er sich zur Seite wandte, konnte er sehen, daß die Männer sich entlang der Felswand postierten, über die er eingestiegen war. Einer nahm die Mitte, die beiden anderen pflanzten sich dort auf, wo der Zaun rechts und links gegen den Fels stieß. Arnvill merkte sich die Positionen.

Aus den Schatten wurde Nacht. Es war neunzehn Uhr. Auf dem Grundstück war es still bis auf die Geräusche der Tiere und einen gelegentlichen Ruf eines der Wachtposten. Nach neunzehn Uhr hörten jedoch auch diese Rufe auf. Man wollte den Mann, der sich für zwanzig Uhr angemeldet hatte, nicht unnötig verscheuchen, falls er zu früh kam. Baggo Arnvills Plan stand fest. Er war sicher, daß Falconer Singman sich bei Einbruch der Dun-kelheit in sein Arbeitszimmer zurückgezogen hatte. Das war seine Befehlszentrale. Von dort aus stand er mit den achtzehn Wachtpos-ten in Verbindung, die rings um die Grenzen des Grundstücks postiert waren. Wahrschein-lich rechnete Singman damit, daß sein Besu-cher das Grundstück nicht auf dem üblichen Wege betreten würde. Offenbar traute er ihm sogar zu, daß er es verstand, die elektronische Sicherung unwirksam zu machen. Vermutlich waren die Wachtposten instruiert, den Mann unbemerkt passieren zu lassen und ihn erst dann festzunehmen, wenn er mit dem Geld das Haus verlassen wollte.

Baggo Arnvill befand sich schon auf dem Grundstück. Es würde ihm leicht fallen, die

Wachen zu umgehen und durch den Haupt-eingang in das Haus einzudringen. Aber er hatte heute morgen die kleine Öffnung in der Decke gesehen, in Singmans Arbeitszimmer, unmittelbar jenseits der Tür – und er vermute-te, daß sich hinter dem Loch eine starr einge-baute Waffe befand, die auf die Türöffnung gerichtet war und die Singman von seinem Schreibtisch aus bedienen konnte. Wenn er den Raum auf diesem Wege betrat, ohne daß die Wachtposten seine Ankunft zuvor gemel-det hatten, war zu erwarten, daß Singman panisch reagierte und auf den Auslöser drück-te. Er mußte also einen anderen Weg wählen, und seine Wahl war auf das große Fenster gefallen, durch das Singman tagsüber den wundervollen Ausblick über die Stadt und die Bucht genoß. Er nahm an, daß das Fenster zusätzlich durch einen Feldschirm gesichert war; aber solche Dinge ließen sich beseitigen, wenn man sich auskannte.

Und Baggo Arnvill kannte sich aus. Um zwanzig vor zwanzig Uhr begann er,

unter dem Sago-Gestrüpp hervorzukriechen. Er hatte den Wachtposten gegenüber, die Fal-coner Singman hier aufgestellt hatte, einen bedeutenden Vorteil: In den neun Jahren auf Fee III, unter dem Schein einer rötlichen Son-ne, hatte sein Gesichtssinn bis zu einem ge-wissen Grade die Fähigkeit erlangt, im Be-reich des hochfrequenten Infrarot zu sehen. Er war nachtsichtig geworden wie eine Katze.

Er wandte sich schräg nach links. Dort stand einer von den drei Posten, die ein paar Stunden zuvor an ihm vorbeigegangen waren. Er durfte sich dem Mann nicht direkt nähern. Die Nacht war zwar mondlos, aber die Sterne schienen hell. Er mußte ihn ablenken. Er nahm seine Zuflucht zu einem der ältesten Tricks der Weltgeschichte. Als er sich bis auf zwanzig Meter an den Mann herangeschli-chen hatte, nahm er einen kleinen Stein vom Boden auf und schleuderte ihn, so daß er hoch oben gegen die Felswand traf und mit kli-ckendem Geräusch davon abprallte. Mit nachtgewohnten Augen sah Arnvill, wie der Mann herumfuhr und die Waffe in die Höhe riß. Arnvill sprang auf und hastete zehn, fünf-zehn Schritte weiter. Er hatte Deckung hinter einem Busch gefunden. Nachdem der Wacht-posten sich davon überzeugt hatte, daß nach

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wie vor alles in Ordnung sei, versuchte er denselben Trick noch einmal. Der Mann dreh-te sich von neuem um. Diesmal hatte Baggo Arnvill es nicht mehr weit. Er sprang den Verdutzten an, legte ihm den linken Arm um den Hals und schnürte ihm die Luft ab, bis er die Waffe fallen ließ.

Sorgfältig und vorsichtig ließ er ihn zu Bo-den gleiten. Das Licht der Sterne spiegelte sich im Lauf des Blasters.

»Solange du tust, was ich dir sage«, flüster-te Arnvill, »geschieht dir nichts.«

Der Mann war bei Bewußtsein. Arnvill sah, wie er aus angstvoll geweiteten Augen zu ihm aufstarrte.

»Wieviel Leute hat Singman im Innern des Gebäudes?« wollte der Detektiv wissen.

»Kei... keinen«, ächzte der Überfallene. Arnvill hob die Waffe auf, die dem Wacht-

posten entfallen war, und steckte sie in die Tasche.

»Ihr steht mit ihm in Verbindung«, stellte er fest. »Wodurch?«

Der ehemalige Wachtposten deutete stumm auf einer kleinen Radiokom, den er am Hand-gelenk befestigt hatte.

»Steh auf!« befahl ihm Arnvill. Der Mann gehorchte. Als er bei der An-

strengung vernehmlich zu ächzen begann, stieß Arnvill ihm den Lauf des Blasters in die Seite; daraufhin war er sofort still.

»Wir gehen jetzt auf das Haus zu«, sagte der Detektiv. »Ich halte mich hinter dir. Wenn uns jemand anspricht, ist es deine Sache, eine Antwort zu geben, die alle Komplikationen von uns fernhält. Ich verspreche dir: Wenn der Fall eintritt, daß ich mich wehren muß, schieße ich zuerst dich über den Haufen, um die Hände frei zu haben.«

Er bohrte dem Wächter die Mündung des Blasterlaufs in den Rücken und trieb ihn in Richtung des Hauses. Sie begegneten nie-mand. Alle Wachtposten waren an der Peri-pherie des Grundstücks postiert. Sie erreich-ten das große Fenster. Licht fiel heraus. An-gesichts der massiven Bewachung hatte Fal-coner Singman es nicht für nötig gehalten, die Scheibe zu verdunkeln. Er war deutlich zu sehen, hinter dem Schreibtisch sitzend und mit den Fingern ungeduldig auf die Tischplat-te trommelnd. Niemand sonst schien sich in

seinem Arbeitszimmer zu befinden. Arnvill befahl seinem Gefangenen, sich

flach auf den Boden zu legen. Während er in dieser Position verharrte, suchte Arnvill den Fensterrahmen ab. Dort fand er zwar nichts, aber als er den Blick zu Boden richtete, da entdeckte er eine Stelle, an der ein fingerdi-ckes Kabel aus der Wand des Hauses zum Vorschein trat und in der Erde verschwand. Er grinste vor sich hin. Falconer Singman war ein schlauer Mann, aber von der Elektronik verstand er nichts. Da der Feldschirm von außen vor dem Fenster lag, war es billiger gewesen, auch den Feldprojektor außerhalb des Gebäudes zu installieren. Singman hatte Geld sparen wollen und sich dafür, ohne es zu wissen, eines Teils seiner persönlichen Si-cherheit begeben.

Arnvill sah sich um. Es war still in der Runde. Der Gefangene lag immer noch auf dem Boden, Arme und Beine gespreizt, das Gesicht gegen die Erde gepreßt. Von ihm drohte keine Gefahr. Arnvill richtete die Mündung des Blasters auf das Kabel, das aus der Wand hervorkam. Er drückte ab und schloß gleichzeitig die Augen. Es gab einen grellen Blitz, dessen Lichtfülle sogar die Haut der Lider durchdrang. Ein kurzes, helles Sir-ren war zu hören. Das Schirmfeld vor dem Fenster existierte nicht mehr.

Arnvill hob die Waffe ein zweites Mal. Blitzschnell fraß der nadelscharfe Strahl des Blasters einen Kreis in die weite Fläche der Glassitscheibe. Ein kreisförmiges Stück Glas-sit polterte zu Boden. Arnvill schwang sich behende durch die Öffnung. Mit gezogener, schußbereiter Waffe trat er auf den Schreib-tisch zu, hinter dem Falconer Singman sich in den Tiefen seines gepolsterten Gliedersessels verkriechen wollte.

Der Überfall hatte ihn vollkommen ver-stört. Arnvills Aktion war so rasch gewesen, daß er nicht einmal einen Finger hatte krüm-men können, bevor der unerwartete Eindring-ling vor seinen Schreibtisch trat. Arnvill sah, wie die Angst sich auf seinem bleichen Ge-sicht abzeichnete.

»Stehen Sie auf!« befahl er ihm. Singman gehorchte. Er schlotterte. »Kommen Sie hinter dem Schreibtisch her-

vor.«

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Singman tat auch das. Er bot ein Bild des

Jammers. Der Schock war ihm in die Glieder gefahren. Er war förmlich hypnotisiert von der Gefahr, der er sich so plötzlich gegenü-bersah. Arnvill blickte auf die Uhr.

»Es tut mir leid, daß ich mich um ein paar Minuten verspätet habe«, bemerkte er. »Aber das entspricht den Umständen. Sie haben mir den Zugang zu Ihrem Grundstück aufs äu-ßerste erschwert.«

Singman nickte nur. Es war nicht ein Zei-chen der Zustimmung, es war ein Reflex der angespannten Muskeln.

»Wo ist das Geld?« verlangte der Detektiv zu wissen.

Singman deutete stumm auf zwei Koffer, die an der dem Fenster abgewandten Seiten-wand standen. Es waren dieselben Koffer, die Arnvill am vergangenen Nachmittag die zwei Männer ins Innere des Gebäudes hatte tragen sehen. Er wies Singman an, sich mit ausge-streckten Armen an die Wand zu lehnen und einen Schritt zurückzutreten, so daß das Hauptgewicht des Körpers auf den Armen ruhte. Auf diese Weise war er hilflos. Erst dann untersuchte er den Inhalt der Koffer. Er bestand aus Banknoten und Münzmarken, und Arnvill war bereit zu glauben, daß die beiden Behältnisse annähernd zehn Millionen Solar enthielten.

»Sie begleiten mich nach draußen«, sagte Arnvill. »Sie garantieren mir dafür, daß Ihre Leute mich in Ruhe lassen.«

Singman löste sich aus seiner unbequemen Position. Im selben Augenblick sprach der Radiokom quäkend an.

»Chef, hier ist einer, von unseren Leuten, der behauptet, von einem Fremden überfallen worden zu sein«, sagte eine unpersönliche Stimme.

Arnvill nickte in Richtung des Schreibti-sches.

»Antworten Sie«, befahl er Singman. »Aber tun Sie es klug!

Singman verstand, was die Stunde geschla-gen hatte. Er ging zum Schreibtisch, wobei Arnvill ihm folgte, und nahm das Mikrophon zur Hand.

»Alle herhören!« rief er mit einer Stimme, die alles andere als forsch klang. »Die Gefahr ist vorüber. Ihr geht alle nach Hause, und

zwar sofort.« Einen Augenblick war Stille am anderen

Ende. Dann kam eine erstaunte Stimme: »Aber, Chef! Was ist denn ...« »Sofort, sagte ich!« schrie Singman. »Hört

ihr mich?« »Ja, Chef.« Arnvill wartete. Durch das lädierte Fenster

sah er, wie ein Gleiter nach dem anderen aus dem Versteck geholt wurde und das Grund-stück auf dem üblichen Weg verließ. Er zählte vier Fahrzeuge.

»Wo sind die beiden Leute, die heute nachmittag mit Ihnen aus der Stadt kamen?« verlangte Arnvill zu wissen.

»Sind mit dabei«, behauptete Singman. »Das hoffe ich!« sagte Arnvill mit Nach-

druck. »Und zwar in Ihrem eigenen Interes-se.«

Singman leistete keinen Widerstand, als Arnvill ihm auftrug, die beiden Koffer aufzu-nehmen und vor ihm her das Haus zu verlas-sen. Unangefochten passierten sie das Tor der Einfahrt und wandten sich rechts um den Zaun herum in Richtung des Verstecks, in dem Arnvill sein Fahrzeug abgestellt hatte. Er lud die beiden Koffer ein, vergewisserte sich nochmals, daß Singman waffenlos war und schwang sich schließlich hinter das Steuer.

»Ich weiß, daß dieser Verlust Ihren Stolz schwer ankommt«, sagte er durch das offene Luk zu dem Finanzier. »Aber seien Sie versi-chert, daß ich Sie von nun an nicht mehr be-helligen werde.«

Das Luk klappte zu, und der Gleiter schoß mit singendem Triebwerk in die Höhe. Eine Zeitlang kurvte das Fahrzeug zwischen den Berggipfeln hin und her, um etwaige Verfol-ger irrezuleiten. Dann ging. Arnvill auf Süd-westkurs. Kurze Zeit später erreichte er Sao Paulo. Er gab den Wagen zurück, deponierte sein Bargeld bei einer Bank und nahm die nächste Feldfähre nach Australien.

Er war jetzt ein wohlhabender Mann. Nach diesem Vorspiel stand seiner Absicht, den Grauen zu stellen, nichts mehr im Wege.

4.

Am Strand von Nurakita, der südlichsten

der Ellice-Inseln, hatte Charron, der Chef,

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sein vorläufiges Hauptquartier aufgeschlagen. Es bestand aus mehreren Zelten, die in aller Eile errichtet worden waren, da Charron nicht wußte, wo er endgültig werde Posten bezie-hen müssen, um Baggo Arnvills habhaft zu werden.

Der Stiernackige stand am Strand und beo-bachtete das Flugboot, wie es elegant gegen den Wind vom Ozean hereinstrich und unweit der Zeltgruppe auf dem weißen Sand aufsetz-te. Hangaj kletterte heraus und kam auf Char-ron zu. Er wirkte müde und abgespannt. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal in einem Bett gelegen und anständig ge-schlafen hatte.

»Nun ...?« Charrons ganze Ungeduld lag in diesem ei-

nen Wort. Hangaj schüttelte verdrossen den Kopf.

»Nichts. Im Umkreis von fünfhundert Ki-lometern keine Spur von Arnvill.

Der Chef zerbiß einen Fluch. Er schwankte zwischen den beiden Möglichkeiten, seine Ungeduld weiter zu bezähmen und weiter auf Arnvill zu warten, oder das Hauptquartier anzurufen und weitere Instruktionen zu erbit-ten. Das letztere fiel ihm schwer. Er hatte eine eingefleischte Furcht vor dem Hageren und seiner zynischen Art, unfähige Untergebene zu behandeln. Lieber wartete er noch einen Tag oder zwei. Schließlich war Hangaj nicht der einzige Späher, den er ausgeschickt hatte. Vielleicht brachten die anderen eine bessere Nachricht.

»Hast du dich auf Nui noch einmal umge-sehen?« fragte er den Mongolen.

»Natürlich.« »Und ...?« »Was, und?« gab Hangaj mürrisch zurück.

»Dreihundert Mann rüsten sich zu einer Tief-see-Expedition. Nui ist nur ein Vorbereitungs-lager. Die Leute selbst sagen nichts, aber man hört gerüchteweise, daß sie entweder von Ro-tuma oder von Cherry Island aus in die Ge-gend der beiden Städte abtauchen werden. Das Lager auf Nui ist hermetisch gegen die Außenwelt abgeschlossen. Die Leute behaup-ten, sie führten teures Gerät mit und hätten Angst, daß es ihnen sonst gestohlen würde.«

»Und Arnvill?« Hangaj bedachte den Chef mit einem über-

raschten Blick. »Glauben Sie wirklich. Arnvill würde,

wenn er hierher kommt, eine Meute von drei-hundert Mann zusammentrommeln, um mög-lichst bald aufzufallen?«

»Quatsch«, brummte der Stiernackige. »Ich meine, er könnte sich unter den dreihundert Mann befinden. Als Teilnehmer der Expediti-on.«

Der Mongole hob die Schultern. »Das kann ich nicht beantworten. Möglich

wäre es schon. Aber, wie gesagt, das Lager ist abgesperrt. Man kommt nicht ran!«

Der Chef überlegte. »Irgendwie müssen wir es trotzdem schaf-

fen, und zwar bevor die Leute nach Rotuma oder Cherry Island umziehen. Arnvill ist uns einmal durch die Lappen gegangen, und er darf es kein zweites Mal tun.«

Hangaj verstand. Er wußte, daß Charron mit dem Hageren gesprochen hatte, der der Stellvertreter des Grauen war. Die Organisa-tion des Grauen war eine streng hierarchische: Für ein Versagen wurde jeweils der höchst-rangige Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen, niemand sonst. Charron stand unter Druck. Die Rüge konnte er zwar nicht an sei-ne Leute weiterleiten, aber den Druck konnte er weiterreichen.

Hangaj begann zu überlegen, wie dem Ex-peditionslager auf Nui beizukommen sei. Da stieß Charron plötzlich einen überraschten Ruf aus. Der Mongole blickte auf – gerade rechtzeitig, um den Schatten eines großen Flugboots über den Strand gleiten zu sehen. Er legte den Kopf in den Nacken und sah das Boot, einen Zwanzig-Sitzer, über dem Zeltla-ger kreisen. Schließlich sank es in die Tiefe und setzte einige Meter von Hangajs kleine-rem Boot entfernt auf. Das Luk öffnete sich. Ein kleiner, schmaler Mann kletterte heraus: Spiff.

»Was, zum Teufel ...!« entfuhr es Charron. Spiff grinste. »Gute Nachricht!« rief er schon von wei-

tem. »Was hast du hier zu suchen?« schrie ihn

der Chef an. »Ihr sollt drüben in Australien die Augen offenhalten. Noch dazu mit dem größten Boot ...!

»Ich dachte«, sagte Spiff ungerührt. »Sie

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würden mitsamt Ihren Leuten sofort aufbre-chen wollen, wenn Sie meine Nachricht hör-ten Deswegen brachte ich das große Boot.«

»Spuck's schon aus!« drängte der Stierna-ckige.

»Arnvill ist aufgetaucht«, erklärte Spiff, der anscheinend die Absicht hatte, sich seine Weisheit Stück um Stück abkaufen zu lassen.

»Wo, zum Donnerwetter?!« schrie Charron ungeduldig.

»Nordostküste, Cairns.« Charron fuhr auf dem Absatz herum und

wandte sich an den Mongolen. »Ruf die Leute zusammen! Ein paar Mann

und die Fahrzeuge bleiben hier. Der Rest geht nach Australien!«

Er stapfte auf sein Zelt zu. In der Erregung bemerkte er das kleine Flugboot nicht, daß vor kurzem von Westen her hereingeschwebt war und eine Zeitlang reglos hoch über dem Strand gestanden hatte. Jetzt nahm es wieder Fahrt auf und entfernte sich in nordwestlicher Richtung.

*

Reinheimer saß am selben Tisch und

schlürfte seine Suppe genauso unmanierlich wie am Tag zuvor. Als Massocka sich zu ihm setzte, sah der alte Wissenschaftler blinzelnd auf und schien eine Weile nachdenken zu müssen, bevor er Massocka erkannte.

»Na, wie steht's?« erkundigte sich der Ma-jor.

Reinheimer mißverstand ihn. »Wie soll's stehen? Immer derselbe Mist.

Aufstehen, arbeiten, essen, arbeiten, schlafen ...«

»Das meine ich nicht«, antwortete Masso-cka gereizt. Er bekam allmählich den Ein-druck, daß der Alte ihn auf den Arm nehmen wollte. »Erinnern Sie sich an unser gestriges Gespräch?«

Reinheimer fuhr fort zu löffeln. »Ach, das!« quetschte er aus einem Mund-

voll Suppe hervor. »Ja, natürlich, ich erinnere mich daran.«

»Wie lautet Ihre Entscheidung?« Reinheimer legte schließlich den Löffel

beiseite. Aus hellen, wäßrigen Augen sah er sein Gegenüber ernst an.

»Hören Sie, junger Mann, das ist eine ge-wichtige Sache, die man nicht überstürzen darf. Ich kann nicht innerhalb von vierund-zwanzig Stunden entscheiden, ob ich ...«

»Sie werden müssen«, fuhr Massocka ihm grob in die Parade. »Jetzt und hier. Entweder ja oder nein. Entweder zwanzigtausend Solar oder keinen! Klar?«

Reinheimer nickte. »Sprachen Sie nicht gestern von fünfund-

zwanzigtausend?« erkundigte er sich. Massocka stand kurz vor der Explosion.

Aber er beherrschte sich. »Wenn es daran liegt«, knurrte er, »sollen

Sie meinetwegen auch fünfundzwanzigtau-send nahen.«

»Oder dreißig ...?« lauerte Reinheimer. »Nein!« Massocka schrie es laut und hieb dabei mit

der Faust auf den Tisch, daß die Teller hüpf-ten. Man wurde aufmerksam. Köpfe drehten sich. Erstaunte Blicke musterten die beiden Streithähne.

»Sie belästigen die Kundschaft mit Ihrem Geschrei«, tadelte der Wissenschaftler.

Massocka stand auf. »Sie können mich mal ...«, knurrte er und

schickte sich an, das Restaurant zu verlassen. Aber Reinheimer rief ihm nach: »Halt! Wo eilen Sie denn hin? Sie müssen

mir doch weitere Instruktionen geben!« Verblüfft kehrte der Major wieder um. »Heißt das, daß Sie mitmachen wollen?« »Für fünfundzwanzigtausend Solar, ja-

wohl«, bekannte Reinheimer mit glitzernden Äuglein.

»Gut! Kommen Sie heute nachmittag fünf-zehn Uhr in meinen Bungalow«, forderte Massocka ihn auf. Er beschrieb die Lage des Häuschens und fügte hinzu: »Wir werden einen Vertrag aufsetzen, und Sie erhalten die Hälfte der Sonderprämie im voraus.«

Als er nach Hause zurückkehrte, war Schernk schon zur Stelle. Er hatte seine übli-che Morgenroutine absolviert und den ganzen Archipel abgeflogen. Er blickte sorgenvoll drein.

»Was ist Ihnen denn über die Leber gelau-fen?« erkundigte sich Massocka. dessen Zorn über das Theater, das Reinheimer mit ihm gespielt hatte, noch nicht ganz verraucht war.

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»Erinnern Sie sich an den Stiernackigen

und den Mongolen, von denen ich Ihnen ges-tern erzählte?« fragte Schernk.

»Natürlich.« »Sie sind wieder da. Nicht alleine, sondern

mit wenigstens zehn Mann Begleitung und vier Fahrzeugen, darunter einem Flugboot. Auf Nurakita haben sie sich am Strand ein Lager gebaut.«

»Sie sind absolut sicher, daß die Leute et-was mit Arnvill zu tun haben?«

»Nicht mit Arnvill. Hinter dem sind sie her. Mit dem Grauen haben sie etwas zu tun!«

»Woher wissen Sie das?« »Ich weiß es nicht. Mein Instinkt verrät es

mir.« Massocka brummte mißmutig und überleg-

te, was er vom Instinkt des Leutnants halten solle. Da fuhr Schernk fort:

»Ich beobachtete sie gerade, da kam aus westlicher Richtung, wahrscheinlich von Australien her, ein größeres Boot angeflogen. Es landete. Der Pilot stieg aus und unterhielt sich mit dem Stiernackigen und dem Mongo-len. Es sah so aus, als wollten alle zusammen bald aufbrechen.«

Massocka wußte nicht, was er davon halten sollte.

»Und? Was schlagen Sie jetzt vor?« »Ich finde, wir sollten uns bei einigen

Dienststellen in Australien erkundigen, ob Arnvill dort gesehen worden ist. Ich weiß, daß wir, alleine den Auftrag erhalten haben, uns um Arnvills Sicherheit zu kümmern. Aber zumindest zur Hilfestellung ist die SolAb verpflichtet, meinen Sie nicht?«

Massocka meinte es auch.

* Es war Nacht, als Baggo Arnvill in Brisba-

ne aus der Fähre stieg. Er mietete ein kleines Flugboot und flog weiter nach Nordwesten. Um drei Uhr erreichte er Cairns. Er mietete sich in einem kleinen Hotel in Strandnähe ein und schlief ein paar Stunden. Nach dem Frühstück sprach er mit dem Manager des Hotels. Er trug ihm sein Anliegen vor.

»Ich suche einen Mann, der sich in der Technik von Tiefsee-Expeditionen auskennt.«

Der Manager war zunächst ratlos. Arnvill

mußte ihm auseinandersetzen, daß er beab-sichtige, in der Nähe des Atolls Tuabi-Mengo zu tauchen.

»Das ist Sperrgebiet« erklärte der Manager mit hochgezogenen Brauen. »Da läßt Sie kei-ner rein!«

Arnvill versicherte ihm, daß er Beziehun-gen habe und es ihm ein leichtes sein werde, die nötige Lizenz zu beschaffen.

»Dann halten Sie sich am besten an Man-tun«, meinte der Manager.

»Mantun ... wie weiter?« »Nur Mantun. Ob das ein Vor- oder ein

Nachname ist, weiß ich nicht. Wir haben ihn immer so gerufen.«

»Wo finde ich ihn?« Der Manager sah auf die Uhr. »Um diese Zeit hockt er gewöhnlich unten

am Strand und starrt aufs Meer hinaus. Sie können ihn jedoch nicht verfehlen. Stellen Sie sich den zwielichtigsten, verwahrlosestesten Gesellen vor, den Ihre Phantasie sich ausma-len kann. Ballonbrust, niedrige Stirn, tücki-sche Augen und ein knallroter Poncho. Das ist Mantun!«

Es mußte an Arnvills zweifelndem Gesicht zu erkennen sein, daß ihm die Beschreibung nicht gefiel.

»Oh, stören Sie sich nicht an seinen Ausse-hen!« lachte der Manager. »Mantun ist ehrlich und verläßlich. Außerdem versteht er viel von Tiefsee-Expeditionen. Er war schon ein paarmal unten bei den lemurischen Städten.«

Arnvill machte sich auf die Suche. Unter-wegs lief ihm ein kleiner Mann mit maus-grauem, kurzem Haar und tückischen Knopf-augen über den Weg. Er starrte Arnvill an, als wäre er das achte Weltwunder. Der Detektiv wunderte sich darüber, schenkte der Begeg-nung jedoch keine weitere Beachtung. Er wanderte den Strand entlang und fand Mantun auf einem hölzernen alten Landesteg sitzend. Der Manager hatte recht: Der Mann war nicht zu verfehlen. Mantun sah nicht einmal auf, als Arnvill unmittelbar neben ihm stand.

»Sie sind Mantun, nicht wahr?« »Wer will das wissen«, antwortete der

Mann im roten Poncho. Für seine Körpergrö-ße hatte er eine unnatürlich hohe, quietschen-de Stimme.

»Das werden Sie vielleicht noch erfahren«,

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sagte Arnvill. »Man hat mich an Sie verwie-sen. Sie verstehen etwas von Tiefsee-Expeditionen. Ich will eine solche Expedition zusammenstellen und im Gebiet der beiden Lemuria-Städte tauchen. Ich brauche einen technischen Experten für die Sache. Die Ex-pedition wird klein sein, aber gut ausgerüstet. Außerdem zahle ich erstklassige Honorare.«

Jetzt erst drehte sich Mantun um und mus-terte den Mann, der sich neben ihm aufgestellt hatte. Es war nicht zu erkennen, wie die Mus-terung ausfiel.

»Wieviel?« fragte er. »Das kommt auf Sie an«, antwortete Arn-

vill. »Ich bezahle nach Leistung.« Mantun stand auf. Er war um einen halben

Kopf größer als der Detektiv. Mit seiner nied-rigen Stirn und den kleinen Augen bot er das Bild eines Menschen, der bei der Austeilung der Intelligenz erheblich zu kurz gekommen war.

»Hört sich interessant an«, gab er zu. »Was haben Sie im Sinn?«

Arnvill erklärte ihm sein Anliegen. Mantun staunte.

»Eine Luxus-Expedition also«, meinte er. »Haben Sie eine Lizenz?«

»Noch nicht«, antwortete Arnvill. »Aber ich habe Beziehungen, und da wird es sich machen lassen ...«

»Wenn wir Reinheimer gewinnen könn-ten«, murmelte Mantun nachdenklich und störte sich nicht daran, daß er dem Detektiv ins Wort fiel.

»Wer ist Reinheimer?« Mantun starrte ihn verwundert an. »Sie betreiben Lemuria-Forschung und

wissen nicht, wer Reinheimer ist? Doktor Fritz Reinheimer, aus dem Bezirk Westeuro-pa, ein verschrobener Bursche, aber eine an-erkannte Autorität der lemurischen Archäolo-gie. Wer ihn als Aushängeschild benutzen kann, dem wird die Lizenz praktisch nachge-worfen.«

»Um den Mann sollten wir uns kümmern«, schlug Arnvill vor. »Wo sitzt er?

»Auf Funafuti.« »Kennen Sie ihn persönlich?« »Klar«, grinste Mantun. »Ich war wenigs-

tens viermal mit ihm unten.« Mantun begleitete Arnvill ins Hotel. Sie ar-

beiteten einen Vertrag aus. Die Expedition sollte aus drei Personen bestehen: einem Ge-samtleiter, dessen Rolle Arnvill als Geldgeber übernahm, einem technischen Sachverständi-gen, der in der Person Mantuns bereits gefun-den war, und schließlich einem Experten der Archäologie. Für diesen Posten wurde Rein-heimer vorläufig ins Auge gefaßt. Man mußte erst sehen, ob er sich zur Teilnahme bereit finden würde.

Etwas komplizierter war die Beschaffung des technischen Geräts. Als wichtigsten Be-standteil betrachtete Arnvill einen Feld-schirm-Generator mit Projektor, der kräftig genug war, um gegen mehr als dreitausend Meter Wasserdruck einen schirmfeldgesicher-ten Hohlraum zu erzeugen, in dem die Aus-grabungen vorgenommen werden konnten. Das Schirmfeld sollte mit einem chemischen Sauerstoff-Extraktor gekoppelt werden, der dem ungebundenen Meerwasser den in ihm gelösten Sauerstoff entzog und ihn ins Innere des Schirmfelds pumpte, so daß dort eine a-tembare Atmosphäre entstand. Auf diese Weise würden sich die Teilnehmer der Expe-dition im Innern des Feldes frei bewegen und ihre Arbeit wesentlich wirksamer als unter den sonst üblichen Bedingungen verrichten können. Und das war es schließlich, worauf es Arnvill in erster Linie ankam: Schnelligkeit.

Die Besorgung des Generators und der Zu-satzgeräte würde Arnvill selbst übernehmen. Alles andere Gerät hatte Mantun zu besorgen, weil er mehr davon verstand. Der Generator, befürchtete Mantun, werde in Cairns nicht zu haben sein. Arnvill hängte sich an den Bildsprech und erfuhr, daß es in Brisbane eine Firma gebe, die solcherart Gerät vertrieb. Für den Besitzer eines Flugboots waren die rund fünfzehnhundert Kilometer von Cairns nach Brisbane eine Kleinigkeit. Er wollte noch an diesem Tag aufbrechen. Mantun dagegen soll-te sich, noch bevor er mit der Beschaffung der übrigen Ausrüstung begann, mit Reinheimer, notfalls persönlich, in Verbindung setzen und ihn zur Teilnahme an der Expedition bewe-gen.

Im Verlauf der Verhandlungen gewann Baggo Arnvill den Eindruck, daß er in Man-tun tatsächlich einen höchst brauchbaren Mit-arbeiter gefunden hatte. Er machte keinen

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Hehl daraus, daß er nach Bruchstücken des lemurischen Kriegskalenders suchte, ver-schwieg jedoch sein eigentliches Motiv. Man-tun hatte sich sofort für diese Idee begeistert und machte ein paar Vorschläge, wo man mit der Suche ansetzen solle.

Zum erstenmal, seitdem er Fee III verlassen hatte, empfand Baggo Arnvill so etwas wie Zuversicht. Wenn es Mantun gelang, Rein-heimer zu gewinnen, dann hatte er eine Expe-dition beisammen, der sich der Erfolg einfach nicht versagen konnte.

Und dann ging es dem Grauen an den Kra-gen ...!

*

»Sehen Sie mal, wer da kommt!« näselte

Leutnant Schernk. Massocka blickte auf. Auf dem Kamm ei-

ner Düne war die kleine Gestalt des europäi-schen Archäologen erschienen. Er sah die beiden Männer, im Schatten ihres Bungalows hocken und kam rasch auf sie zu.

»Es geht glatter, als wir erwartet hatten!« krähte er. »Der Fisch hat schon angebissen und hängt an der Angel.«

Massocka sagte nichts. Er sah ihn nur fra-gend an.

»Ich bekam einen Anruf«, erklärte Rein-heimer. »Aus Cairns. Von Mantun, dem zer-lumptesten Individuum des ganzen Pazifik. Tüchtiger Techniker allerdings. Hat den Auf-trag erhalten, eine Expedition zusammenzu-stellen. Bat mich um Teilnahme. Der Leiter der Expedition heißt Arnvill.« Reinheimer kicherte. »Ich sagte natürlich sofort zu.«

Es hatte fünf Stunden gedauert, bis Rein-heimer am gestrigen Tag verstanden hatte, was Massocka und Schernk eigentlich von ihm wollten. Er hatte alleine zwei Stunden gebraucht, um zu begreifen, daß es nicht die Expedition seiner beiden Auftraggeber war, der er sich anschließen sollte, sondern eine andere. Sein ganzes Leben war bislang so eingleisig, in der Bahn wissenschaftlichen Denkens verlaufen, daß es ihm fast unmöglich war zu verstehen, daß jemand von ihm erwar-tete, er solle Spitzeldienste leisten. Er sollte sich der Expedition eines Mannes namens Arnvill anschließen und seine Auftraggeber

ständig darüber auf dem laufenden halten, was der Mann tat, wo er sich befand, und wie es um seine Sicherheit stand. Um dies auch unter Wasser tun zu können, würde er mit technischem Spezialgerät ausgerüstet werden, in dessen Handhabung er wahrscheinlich in einer weiteren tagelangen Sitzung erst mühse-lig instruiert werden mußte.

Reinheimer hatte sich gegen ein derartiges Ansinnen zunächst energisch gewehrt. Eine Erhöhung der Sonderprämie auf dreißigtau-send Solar und die Versicherung, daß es Mas-socka und Schernk wirklich nur um Arnvills Sicherheit gehe, hatte ihn nach langem Drän-gen und Reden schließlich dazu bewegt, das Angebot doch anzunehmen, obwohl es, wie er sagte, seinem Wesen zutiefst zuwider sei. Daß er sich hüten müsse, Arnvill von seiner Dop-pelrolle erfahren zu lassen, hatte er zunächst nicht einsehen können. Warum sollte der Mann nicht wissen, daß er beschützt wurde? Daraufhin hatte Schernk sich eine Geschichte ausgedacht, die so verworren und langatmig war, daß Reinheimer schließlich verzweifelt ausrief, er wolle lieber nach Vorschrift han-deln, ohne die Vorschrift zu verstehen, als sich Schernks Monstergespinst auch nur eine Minute länger anzuhören.

Die Ausführlichkeit, mit der man Reinhei-mer alles erklärt hatte, trug ihre Früchte. Er war, wenn auch nicht an solcherart Denken gewöhnt, trotz allem ein heller Kopf. Er wuß-te genau, was er zu tun hatte, und sein Gewis-sen schien sich inzwischen ebenfalls beruhigt zu haben.

»Sie haben hoffentlich nicht zu schnell zu-gesagt«, brummte Massocka mißtrauisch. »Ich könnte mir denken, daß Sie im ganzen Pazifik als ein höchst unentschlossener Mensch verschrien sind.«

»Was heißt verschrien?« plusterte Rein-heimer sich auf. »Bekannt vielleicht.« Er leg-te den Zeigefinger an die Nase und dachte nach. »Nun ja, wenn ich es richtig bedenke, war Mantun einigermaßen überrascht. Aber das spielt keine Rolle. Seine Begeisterung war viel größer als seine Überraschung.«

»Sie werden uns noch die ganze Sache vermasseln«, tadelte Schernk.

»Ach was«, rief Reinheimer ärgerlich. »Ich vermassele nichts. Ich handele genau nach

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Absprache, und morgen früh reise ich nach Cairns, um mich an den Vorbereitungen für die Expedition zu beteiligen.«

»Morgen früh erst?« »Nun – früher geht es doch nicht!« »Warum nicht?« »Sie müssen mir doch erst den ganzen

Krimskrams erklären, den ich mitnehmen soll, um mit Ihnen Verbindung zu haben.

Schernk stand auf und kratzte sich am Kopf.

»Manchmal«, murmelte er, »frage ich mich, ob es klug von uns war, Sie als Ver-bündeten zu wählen.«

5.

Charrons Unterabteilung in der Organisati-

on des Grauen bestand aus insgesamt acht-undzwanzig Mann und dem dazugehörigen Gerät. Diesmal, hatte Charron sich geschwo-ren, würde er keinen Fehler machen und sich Arnvill nicht wieder durch die Lappen gehen lassen. Während er daher die Suche nach dem Verschwundenen in der Hauptsache auf das Gebiet der Ellice-Inseln konzentrierte, hatte er es doch nicht versäumt, auch in den umlie-genden Bezirken Beobachter einzusetzen und sie mit einer Beweglichkeit auszustatten, die es ihnen ermöglichte, ein großes Gebiet ohne besondere Schwierigkeit zu überwachen. So hatte Spiff, der Funker, mit einer Gruppe von drei Mann die nordöstliche australische Küste übernommen. Daß er Arnvill so rasch ent-deckt hatte, war allerdings weder Spiffs Fin-digkeit, noch der hohen Qualität seiner tech-nischen Ausstattung zu verdanken, sondern alleine dem Zufall.

Es war neun Uhr Cairns-Ortszeit gewesen, als Spiff dem Gesuchten zufällig über den Weg lief. Eine Stunde später, um dreizehn Uhr Funafuti-Ortszeit, traf er auf Nurakita ein und berichtete Charron von seiner Entde-ckung. Abermals zwei Stunden später, um zwölf Uhr Cairns-Ortszeit, trafen Charron, Hangaj, Spiff und weitere sieben Mann an Bord des großen Flugboots auf dem australi-schen Festland ein und bezogen in Mareeba, einem kleinen, erbärmlichen Nest ein paar Kilometer landeinwärts von Cairns, vorläufig Quartier.

Einer der beiden Männer, die Spiff zurück-gelassen hatte, erstattete Bericht. Er war bis vor kurzem in Cairns gewesen und hatte Arn-vill, soweit das möglich war, nicht aus den Augen gelassen.

»Er sprach eine Zeitlang mit Mantun. Man-tun wirkte deutlich interessiert. Beide zu-sammen zogen dann ins Hotel und hielten sich dort bis vor kurzem auf. Mantun wohnt in Strandnähe in einer alten Hütte. Als er das Hotel verließ, ging er dorthin und kam vorläu-fig nicht wieder zum Vorschein. Arnvill da-gegen fuhr hinaus zum Lufthafen und flog mit seinem Flugboot nach Süden davon. Ich alar-mierte Skurri, der sofort die Verfolgung auf-nahm. Wir müßten in Kürze von ihm hören.«

Der Stiernackige war guter Laune. Er hatte Arnvill wiedergefunden. Sobald Skurri sich meldete, konnte man daran gehen, einen Schlachtplan zu schmieden. In zwanzig Stun-den, schätzte Charron, war Arnvill nicht mehr am Leben, und er würde seine Erfolgsmel-dung an den Hageren abfassen können.

Gegen drei Uhr nachmittags meldete sich Skurri.

»Arnvill ist in Brisbane«, berichtete er. »Ich konnte nicht herausfinden, was er dort will. Dazu hätte ich mich ihm dicht auf die Fersen heften müssen, und dafür ist mir der Kerl zu schlau. Ich warte jedoch außerhalb der Stadt auf ihn. Irgendwann wird er ja zu-rückfliegen. Wenn Sie ihn haben wollen, Chef, kann ich Ihnen ein Gelände empfehlen, das sich vorzüglich für einen Hinterhalt eig-net.«

»Wo?!« bellte Charron. »Clark Range, ein Berggelände nordwest-

lich von Mackay. Ziemlich unübersichtlich. Sie können da eine ganze Armee von Flug-booten verstecken, ohne daß Arnvill sie sehen kann. Er flog auf dem Herweg unmittelbar über die Berge, also wird er es wahrscheinlich auch auf dem Rückweg tun.«

»Du bist ein kluger Junge«, lobte der Chef. »Halt uns weiter auf dem laufenden. Wir ma-chen uns sofort auf den Weg!«

Außer dem großen Flugboot standen Char-ron in dieser Gegend nur drei weitere zur Ver-fügung, von denen Skurri eines für die Ver-folgung Arnvills benutzte. Das große Boot wollte der Stiernackige aus dem Spiel lassen,

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weil es zu auffällig war. Es blieben ihm also noch zwei Boote, mit denen er Arnvill entge-genfliegen und zur Strecke bringen konnte. Die Fahrzeuge erweckten nach außen hin den Eindruck gewöhnlicher Serienkonstruktionen, wie sie für den Privatgebrauch hergestellt werden. In Wirklichkeit jedoch waren sie oh-ne Ausnahme schwer bewaffnet. Die Waffen-techniker des Grauen hatten es verstanden, die starr eingebauten Blaster so unterzubringen, daß sie selbst dem kritischsten Auge entgin-gen.

Kurz nach sechzehn Uhr erreichten die bei-den Fahrzeuge die Ruinen der ehemaligen Stadt Proserpine im Osten der Clark Range. Skurri meldete aus Brisbane nichts Neues. Baggo Arnvill befand sich immer noch in der Stadt. Charrons beide Fahrzeuge gingen auf Westkurs und flogen in die Berge ein. Der Stiernackige hatte Grund, Skurris Beobach-tungsgabe zu loben. Die Bergwildnis war in der Tat so unübersichtlich, daß es von brauchbaren Verstecken geradezu wimmelte. Charron hatte vor, die beiden Boote so zu postieren, daß sie Arnvills Fahrzeug in die Zange nehmen konnten. Sobald er sich näher-te, würde das in Fahrtrichtung vor ihm ver-steckte Boot in die Höhe schießen und Arnvill von vorne her angehen. In dem Augenblick, in dem er den Gegner erkannte und auszuwei-chen versuchte, würde auch das Boot, das er bereits passiert hatte, aufsteigen und ihn von hinten fassen. Skurri war angewiesen worden, sich aus der ganzen Sache herauszuhalten.

Jagdfieber hatte Charron gepackt. In weni-gen Stunden, vielleicht sogar Minuten würde er beweisen können, daß er mehr konnte, als der Hagere ihm zutraute. Kurz nach siebzehn Uhr meldete sich Skurri von neuem.

»Es geht los, Chef! Arnvill hat vor wenigen Minuten Brisbane verlassen. Ich bin auf sei-ner Spur. Er fliegt denselben Kurs, den er auf dem Herweg nahm, und passiert soeben Gympie!«

*

Baggo Arnvill war mit den Ergebnissen

seines Besuchs in Brisbane überaus zufrieden. Er hatte einen leistungsstarken Feldschirm-Projektor und Generator für etwa sechzig

Prozent des Preises erstanden, den er notfalls zu zahlen bereit gewesen wäre. Das Gerät war an Ort und Stelle getestet worden und hatte seine Leistungskraft zufriedenstellend bewie-sen. Durch diesen Erfolg ermuntert, hatte Arnvill noch einige andere Gerätschaften ein-gekauft, die an sich auf Mantuns Liste stan-den, für die es jedoch hier in Brisbane eine wesentlich größere Auswahl gab als oben im abgelegenen Cairns.

Es war siebzehn Uhr, als er sich wieder auf den Weg machte. Die Sonne stand im Westen noch eine Handbreit über dem endlosen Grün der inneraustralischen Steppe. Baggo Arnvill hatte es nicht sonderlich eilig. Er verzichtete darauf, mit Überschallgeschwindigkeit zu fliegen. Das gab ihm die Möglichkeit, in Bo-dennähe zu bleiben und die Schönheiten der Landschaft zu genießen, die immer tropischer wurde, je weiter er nach Norden vordrang. Wenn alles gut ging, rechnete er sich aus, würde er in spätestens fünf Tagen von Tuabi-Mango aus abtauchen können, um das Gebiet der beiden lemurischen Städte zu durchfor-schen. Wenn es gelang, den Archäologen Reinheimer für die Expedition zu gewinnen, dann zweifelte er nicht daran, daß sie in we-nigen Tagen zumindest ein brauchbares Bruchstück des alten Kriegskalenders finden würden.

Sein weiterer Plan war einfach. Er glaubte fest daran, daß der Graue sich nach wie vor in demselben Maße für den Kriegskalender inte-ressierte, wie er es vor neun Jahren getan hat-te, als ihm Arnvill das erste Mal ins Netz ging. Reinheimer würde dafür sorgen, daß die Auffindung eines neuen Kalenderbruchstü-ckes in wissenschaftlichen Kreisen und damit auch in der Öffentlichkeit bekannt wurde. Arnvill beabsichtigte, das Fundstück an einem Ort unterzubringen, an dem die Agenten des Grauen sich seiner ohne weitere Schwierig-keit bemächtigen konnten. Die Leute waren geschickt, das wußte man. Mittlerweile je-doch würde Arnvill in das Bruchstück einen Mikro-Impulsgeber eingearbeitet haben, der mit Hilfe einer winzigen Kernzerfallsbatterie und eines Howalgonium-Wandlers im Be-reich der Hyperfrequenzen arbeitete und eine Reichweite von immerhin einigen Lichtjahren besaß. Arnvill verließ sich darauf, daß das

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Bruchstück erst inspiziert und untersucht werden würde, wenn es im Hauptquartier des Grauen angekommen war. Bis dahin hatte er jedoch die Geheimzeichen des Impulsgebers verfolgt und wußte längst, wo der Graue sich aufhielt.

Ob er sodann seine Rache aus eigener Kraft ausführen oder die USO zu Hilfe rufen würde, das, meinte Baggo Arnvill, mußten die Um-stände ergeben.

Unter diesen Gedanken verging die Zeit. Maryborough und Bundaberg, die Doppel-stadt an der Hervey-Bucht, blieben weit rechts liegen, als das Boot landeinwärts strebte, um die Ausbuchtung der australischen Küste ab-zuschneiden. Später kam das Meer wieder näher. Der automatische Kursweiser zeigte Rockhampton und zwanzig Minuten später Mackay. Die Sonne berührte den Horizont, als das Boot über eine zerklüftete, von wil-dem Dschungel bewachsene Bergwildnis da-hinglitt, deren Namen der Kursweiser nicht kannte. Baggo Arnvill hatte nicht viel mit der Steuerung des Fahrzeugs zu tun. Er hatte vor dem Start in etwa die Route festgelegt, der er zu folgen wünschte. Den Rest besorgte der Autopilot.

Plötzlich schrak er auf. Unmittelbar vor ihm schoß mit atemberaubender Geschwin-digkeit ein Flugboot in die Höhe. Es mußte direkt aus dem Dschungel gekommen sein, der etwa einhundert Meter tiefer den steil ab-fallenden Hang eines Berges bedeckte. Ins-tinktiv griff Arnvill ins Steuer und riß sein Fahrzeug auf die Seite. Das war sein Glück. Aus dem Bug des fremden Bootes flammte ihm der gleißende Strahl eines schweren Blasters entgegen. Ohne sein rasches Manö-ver hätte er einen Volltreffer erhalten.

Sein Glück war jedoch nur von kurzer Dau-er. Er war gerade dabei, das Boot auf die Kan-te zu stellen und dem rabiaten Angreifer durch einen Sturzflug hinab in das Gewirr der Berge und Täler zu entgehen, da hörte er es plötzlich hinter sich knistern. Entsetzt fuhr er herum und entdeckte nicht nur ein zweites Flugboot, das ihm dicht auf den Fersen war, sondern auch in der Decke der Glassitkuppel eine Häufung trüber Blasen, die von einem Streifschuß herrühren mußte.

Er kippte. Aber der Verfolger war fast e-

benso gewandt wie er. Er verfolgte Arnvills Boot in den Sturzflug, und Arnvill bemerkte am Rütteln des Steuers, daß er einen Treffer erhalten hatte. Der grüne Dschungel raste mit teuflischer Geschwindigkeit auf ihn zu. Er riß das Steuer nach hinten; aber das Boot reagier-te kaum darauf. Angst packte den Detektiv. Er zwang sich mühsam zur Ruhe. Eine Panikre-aktion – und er war verloren! Der Bug des Bootes zielte immer noch auf den Berghang. Wenn er sich wenigstens zwanzig oder drei-ßig Meter nach rechts hinüberschieben könn-te! Dort gab es eine steile, scharf eingeschnit-tene Schlucht, deren finsterer Abgrund ihm wenigstens einhundert Meter mehr Spielraum zum Abfangen des Bootes geben würde.

Vorsichtig gab er Seitenruder. Gleichzeitig zog er das Höhensteuer langsam auf sich zu. Er hielt den Atem an, als die Bergwand sich unter ihm zu drehen begann. Eine Hunderts-telsekunde lang war er dem Tod so nahe wie nie zuvor. Dann schoß die Bergwand seit-wärts an ihm vorbei in die Höhe, und das Boot torkelte in die düstere Schlucht hinab. Allmählich begann das Fahrzeug, auf das Hö-henruder zu reagieren. Die Fahrt verlangsam-te sich, als die Bugkante sich langsam hob. Zehn Meter über der Sohle der Schlucht ging das Fahrzeug endlich in den Horizontalflug über.

Da nahte das nächste Verhängnis. Die Schlucht hatte keinen Ausgang. Eine finstere, himmelhoch strebende Felswand versperrte Arnvill den Weg. Normalerweise wäre sie kein Hindernis gewesen; aber er merkte, daß der Treffer das Triebwerksystem in Mitlei-denschaft gezogen haben muhte. Das Boot schaffte es nicht mehr, so steil in die Höhe zu steigen, wie es zur Überwindung der Fels-wand nötig gewesen wäre. Arnvill erkannte seine Hilflosigkeit. Er drückte das Fahrzeug wieder nach unten und landete unmittelbar am Fuß der Felswand. Nur fünf Meter noch, und er wäre an dem harten Gestein zerschellt.

Er ließ die Gurte aufschnappen, öffnete das Luk und kletterte ins Freie. Im Innern des beschädigten Fahrzeugs war er keine Sekunde lang seines Lebens sicher. Er spähte die Schlucht entlang und sah eines der feindli-chen Boote hoch über dem Einschnitt an der Flanke des Berges schweben, an dem er um

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ein Haar zerschellt wäre. Er sah sich um. Auf dem Boden der Schlucht gab es Felsblöcke, die die Verwitterung aus den Wänden gelöst hatte. Er würde also Deckung finden, wenn es nötig war; aber sonst war seine Lage hoff-nungslos.

Keine Sekunde lang zweifelte er daran, daß es sich bei den Besatzungen der beiden Boote um Männer des Grauen handelte. Sie hatten also seine Spur wiedergefunden. Wie, das war ihm unklar. Es tat auch nichts zur Sache. Wichtig war alleine, daß sie ihn in eine Falle getrieben hatten, aus der er nicht mehr ent-kommen konnte. Es sei denn, er konnte Man-tun erreichen und ihn dazu bewegen, daß er ihm zu Hilfe kam.

Er kletterte, da das feindliche Fahrzeug sich noch immer reglos verhielt, wieder in das Boot zurück und versuchte, den Radiokom in Betrieb zu nehmen. Das erwies sich jedoch als fruchtlos. Anscheinend hatte der Treffer den kleinen Generator zerstört. Die Kontrol-lichter weigerten sich aufzuleuchten: Das Ag-gregat erhielt keinen Strom. Arnvill stieg wieder nach draußen. Er konnte sich kaum vorstellen, daß die Verfolger es bei der Fest-stellung bewenden lassen würden, daß sein Boot nicht mehr aus der Schlucht zum Vor-schein kam. Sie würden ihrer Sache sicherer sein wollen und näher kommen, um nachzu-sehen, ob er auch wirklich tot war. Er besaß zu seiner Verteidigung nur einen kleinen Handstrahler mit begrenzter Reichweite. Wenn nur die Felswände nicht so verdammt steil wären! Dann hätte er vielleicht noch eine Chance ...

Ein zweites Mal sah er sich um. Da ent-deckte er dort, wo die westliche Seitenwand der Schlucht an die Rückwand stieß, eine schmale Nische. Einen Kamin, wie es die Bergsteiger nannten. Er führte ziemlich weit in die Höhe, und an mehreren Stellen der Sei-tenwand gab es Felsleisten, auf denen herab-stürzende Gesteinsbrocken zur Ruhe gekom-men waren, die ihm als Deckung dienen konnten. Ohne lange zu zaudern, machte er sich an den Aufstieg. Er zwängte sich in die schmale Öffnung, den Rücken gegen die eine, Hände und Füße gegen die andere Wand ge-stützt, und fing an, sich Ruck um Ruck in die Höhe zu schieben. Er war kein geübter Berg-

steiger; aber hier ging es um sein Leben, und wenn auch die Jacke zerriß und darunter das Hemd und der rauhe Fels ihm den Rücken blutig schabte, so lernte er aus jedem Fehler und wurde um so geschickter, je weiter er vorwärts kam. Ab und zu legte er eine kurze Ruhepause ein und verrenkte sich fast den Hals, um die Schlucht entlang nach den Ver-folgern Ausschau zu halten.

Er war in unmittelbare Nähe einer Felsleis-te gekommen, die sich etwa fünfundzwanzig Meter über dem Boden der Schlucht an der Seitenwand entlangzog, als er sah, daß zu dem einen Fahrzeug der Verfolger, das seit mehre-ren Minuten reglos über dem Berghang stand, sich zwei weitere gesellt hatten. Zwei davon setzten sich jetzt langsam in Bewegung und sanken in Richtung des Schluchtrandes in die Tiefe. Das dritte behielt seine ursprüngliche Position bei. Da war es auch für Baggo Arn-vill an der Zeit, Stellung zu beziehen. Im Ka-min eingeklemmt, war er völlig hilflos. Drau-ßen auf der Felsleiste hatte er wenigstens die Möglichkeit, sein Leben so teuer wie möglich zu verkaufen.

Es war nicht leicht, den Kamin zu verlas-sen. Vorsichtig nahm er die Hände von der Wand und vertraute die Stützung des Körpers nur dem Rücken und den Füßen an. Die Fels-leiste war an dieser Stelle nur schmal, und wenn er daneben griff, war er verloren. Dann schwang er den Oberkörper seitlich vorwärts. Durch die ruckartige Bewegung verlor er den Halt und drohte, den Kamin hinabzustürzen. Bevor es jedoch soweit kam, verkrallten sich die Finger in der Kante der Felsleiste. Einige bange Augenblicke lang hing er baumelnd von der Leiste herab. Dann schwang er die Beine in die Höhe, fand auch mit den Füßen Halt und zog den Rest des Körpers nach. Oh-ne in die schwindelnde Tiefe zu blicken, has-tete er die Leiste entlang bis dorthin, wo sie breiter wurde und sich einige Felsbrocken auf ihr angesammelt hatten. Hinter einem der Felsklötze ging er in Deckung.

Inzwischen waren die beiden Flugboote in die Schlucht eingedrungen. Etwa zwanzig Meter unterhalb des Schluchtrandes schweb-ten sie langsam auf die Stelle zu, an der Arn-vills verunglücktes Fahrzeug lag, Arnvill glaubte nicht, daß er von den beiden Booten

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aus beobachtet worden war. Es war zu finster auf dem Grunde der Schlucht. Gespannt beo-bachtete er die Manöver des Gegners. Die Leute des Grauen schienen ziemlich viel Re-spekt vor ihm zu haben. Eines der Boote ging schließlich tiefer und landete. Das andere je-doch blieb in halber Höhe halten und über-blickte den Schauplatz von oben, eine Reser-ve für den Notfall, daß der Verfolgte die Be-satzung des gelandeten Fahrzeugs in Be-drängnis bringe.

Ein Mann mit mongolischen Zügen war der erste, der ins Freie kletterte und Arnvills Boot untersuchte. Er inspizierte den gezackten Ein-schuß, der von dem Strahltreffer herrührte, und sodann das Innere des Fahrzeugs. Als er sich überzeugt hatte, daß sich Arnvill nicht mehr darin befand, winkte er den Leuten in seinem Boot, zu ihm zu kommen. Sie stiegen aus, insgesamt vier Mann. Der Mongole rief ihnen zu:

»Er ist nicht hier drin! Wahrscheinlich hat er sich irgendwo in der Nähe versteckt. Sucht!«

Sie wollten kein Risiko eingehen. Sie hiel-ten die Waffen schon schußbereit in den Hän-den. Vorsichtig, in zwei Gruppen zu zweien, schlichen sie von Felsblock zu Felsblock, um nach dem verschwundenen Flüchtling zu su-chen. Inzwischen stand der Mongole da und musterte die Wände der Schlucht. Der Kamin schien seine Aufmerksamkeit zu erregen. Er trat hinzu und spähte die Nische hinauf, ob Arnvill sich da oben etwa versteckt hielte. Natürlich konnte er ihn nicht sehen; aber Arnvill wußte, daß die Lage allmählich brenz-lig wurde. Der Mongole sah, daß seine Leute sich mittlerweile mehr als einhundert Meter weit von der Schlucht entfernt hatten, und rief sie zurück.

»Wer kann von euch am besten klettern?« fragte er.

Einer reckte die Hand in die Höhe. Der Mongole wies in den Kamin hinein.

»Steig dort in die Höhe!« befahl der Mon-gole. »Ich habe Arnvill im Verdacht, daß er sich irgendwo dort oben in der Wand ver-steckt hält.«

»Und was ist, wenn er inzwischen durch den Ausgang der Schlucht entkommt?« wollte einer der Männer wissen.

»Dort steht Skurri«, belehrte ihn der Mon-gole. »Da kommt er nicht durch.«

Der freiwillige Bergsteiger musterte den Kamin und begann schließlich mit dem Ein-stieg. Baggo Arnvill machte eine rasche Be-standsaufnahme seiner Lage. Seitwärts über ihm schwebte das zweite Flugboot, das auf eine Landung in der Schlucht verzichtet hatte. Wenn er auch nur die kleinste Bewegung machte, tauchte er entweder im Blickfeld des Mongolen oder dem des Flugboots auf. Aber selbst wenn er in Deckung blieb, würde der Mann, der den Kamin heraufgeklettert kam, ihn sofort sehen, sobald er die Höhe der Fels-leiste erreicht hatte.

Es war eine ziemlich aussichtslose Lage. Er konnte nur noch hoffen, daß dem Bergsteiger die Luft ausging, bevor er in gefährliche Nähe kam. Diese Hoffnung erschien allerdings ver-gebens. Der Kletterer selbst war seinem Blick entzogen, aber aus den anfeuernden Rufen seiner Kumpane konnte Arnvill entnehmen, daß er ziemlich rasch vorwärtskam. Er richte-te den Lauf des Blasters auf die Stelle, an der der Kopf des Mannes zum Vorschein kom-men mußte, wenn er die Höhe der Felsleiste erreichte.

Ein paar bange Sekunden verstrichen. Da hörte Arnvill das Kratzen und Schaben, das die Füße des Kletterers an der Wand des Ka-min verursachten. Das Geräusch wurde lauter, deutlicher. Da erschien der dunkle Haar-schopf des Mannes über dem Rand der Leiste, ein Ruck noch, und der Schädel mitsamt Hals und Schultern war zu sehen. Der Bergsteiger sah Arnvill auf den ersten Blick. Aus schreckgeweiteten Augen starrte er ihn an. Der Mund war weit geöffnet, wie zu einem Schrei des Entsetzens, aber die Stimmwerk-zeuge brachten keinen Laut hervor.

Arnvill drückte auf den Auslöser. Das Ge-sicht des Mannes verschwand in einer Wolke aus Glut und Licht. Ein letzter, halb erstickter Schrei löste sich schließlich doch noch aus seiner Kehle, bevor er polternd in die Tiefe stürzte.

»Da ist er!« schrie es von unten. »Auf der Felsleiste, hinter dem großen Felsblock. Gebt Feuer!«

Da fauchte es aus der Tiefe herauf. Dicke Strahlbündel züngelten gegen die Deckung,

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hinter der Baggo Arnvill verborgen lag. Mör-derische Hitze überflutete den einsamen Mann. Er wußte, daß der Tod vor ihm stand, und daß es kein Entrinnen gab. Das gab ihm seine Ruhe wieder. Er wartete, bis geschmol-zenes Gestein von dem Felsblock herabzurin-nen begann und die flimmernde, erhitzte Luft die Sicht der Verfolger verdarb. Dann sprang er auf und gelangte mit einem Hechtsprung in die Deckung des nächsten Felsstücks. Blitz-schnell warf er sich herum. Noch bevor der Feind sich auf die Veränderung der Lage hatte einstellen können, schoß er hinter seiner neu-en Deckung hervor und traf einen der Männer hoch in der Schulter, so daß er schreiend zu Boden stürzte.

Einen Moment entstand dort unten Verwir-rung. Arnvill äugte besorgt nach dem zweiten Flugboot, das ihn viel wirkungsvoller hätte unter Beschuß nehmen können als die Schüt-zen dort unten auf dem Boden der Schlucht. Warum rührte es sich nicht? Was war los? Er sah, wie sich eines der Luke in der Wandung des Bootes öffnete. Ein Kopf kam zum Vor-schein. Er lag womöglich gerade noch inner-halb von Arnvills Schußweite; aber Arnvill zögerte. Der Mann hatte es nämlich nicht auf ihn abgesehen. Er blickte nach unten und schrie, so laut er konnte:

»Aufhören! Der Chef sagt es. Steigt ein und fliegt mit uns zurück!

Die Männer unten in der Schlucht blickten auf.

»Warum?« rief der Mongole. »Keine Fragen!« schrie der Mann aus dem

Boot. »Wir ziehen ab!« Sie gehorchten. Den Mann, der aus dem

Kamin gestürzt war, und den Verwundeten, der mittlerweile still lag und aufgehört hatte zu schreien, ließen sie einfach liegen. Das gelandete Boot stieg auf. Beide Fahrzeuge setzten sich in Bewegung und glitten aus der Schlucht in die Höhe. Inzwischen war es bei-nahe Nacht geworden. Baggo Arnvill verlor die Boote rasch aus den Augen.

Lange Zeit lag er still und getraute sich nicht, seinem Glück zu glauben. Was war geschehen? Warum hatten die Verfolger plötzlich von ihm abgelassen? Er wartete eine geschlagene Stunde, obwohl es in der Zwi-schenzeit finster wurde und der Abstieg durch

den Kamin sich dadurch bedeutend erschwer-te. Als sich bis dahin die Verfolger noch im-mer nicht wieder gezeigt hatten, begann er zu glauben, daß er tatsächlich in Sicherheit war. Er konnte sich das zwar nicht erklären; aber er war mehr als bereit, sich damit abzufinden.

Er brauchte eine halbe Stunde, um die fünfundzwanzig Meter durch den Kamin ab-zusteigen. Er untersuchte die beiden Männer, die die Leute des Grauen zurückgelassen hat-ten, und stellte fest, daß sie beide tot waren. Er kletterte ins Innere seines Flugboots und entnahm ihm Karten sowie eine kräftige Lampe. Er erinnerte sich, daß Proserpine die letzte Anzeige des Kursweisers gewesen war, und konnte damit anhand der Karte in etwa feststellen, wo er sich befand. Wenn er die Schlucht verließ und sich dann generell ost-wärts hielt, würde er in nicht allzu langer Zeit die Straße erreichen, die die Küste des Konti-nents entlanglief.

Aber das Glück fuhr fort, ihm hold zu sein. Bis zur Küstenstraße hätte er knapp vierzig Kilometer zu gehen gehabt. Bei der Schwie-rigkeit des Geländes hätte er über einen Tag lang zu marschieren gehabt. Er war jedoch kaum zwei Stunden unterwegs, da traf er mit-ten im Dschungel auf eine schmale, anschei-nend selten befahrene Straße, der er in nord-östlicher Richtung folgte, bis er in der Ferne die Lichter eines kleinen Ortes auftauchen sah. Es war Binbee, eine kleine Stadt, in der es nicht mehr als etwa fünfzig Häuser zu ge-ben schien. Immerhin war sie modern ausges-tattet. Arnvill fand ein Radiokom. Er rief Cairns an, und es gelang ihm, Mantun an den Apparat zu bekommen.

Knapp zwei Stunden später landete Mantun mit einem Flugboot, das er sich eilig irgend-wo beschafft hatte, in Binbee. Der Rückflug nach Cairns verging rasch. Die Strapazen hat-ten Arnvill ausgelaugt und erschöpft. Er war froh, als er sich kurz vor Morgengrauen in sein Bett fallen lassen konnte, um sich von den Anstrengungen der vergangenen Nacht zu erholen.

*

Anfangs war alles planmäßig abgelaufen.

Hangaj startete ein wenig zu spät und wäre

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um ein Haar mit Arnvills Boot kollidiert. Zu-dem reagierte Arnvill zu schnell, so daß Han-gajs Salve ins Leere ging; aber dafür war ja Charron, der Stiernackige, mit dem zweiten Fahrzeug dagewesen, daß er Arnvill, wenn er auszuweichen versuchte, von hinten anging, um ihm den Garaus zu machen. Die erste Sal-ve hatte zwar nur streifend getroffen; aber die zweite, als Arnvill zum Sturzflug abkippte, saß genau im Triebwerkskasten.

Der erste Fehlschlag war, daß der Treffer nicht ausreichte, um Arnvill zum Absturz zu bringen. Mit einem Manöver, wie Charron in seinem ganzen Leben noch keines gesehen hafte, war Arnvill um Zentimeter an der tödli-chen Bergwand vorbeigeschossen und hatte es in der Tiefe der Schlucht noch fertiggebracht, sein Boot wieder auszurichten und in die Waagrechte überzugehen. Freilich hatte er die Rückwand der Schlucht nicht mehr geschafft; aber da Hangaj sich im Wirrwarr der Berggip-fel inzwischen verfranzt hatte und Skurri sich weisungsgemäß weiter abseits hielt, hätte Charron mit seinem Boot alleine in die Schlucht einfliegen müssen, und das hielt er für unvorsichtig, denn Baggo Arnvill hatte schon mehrere Male bewiesen, daß er sich auch vor einer Übermacht nicht fürchtete. Durch die Verzögerung erhielt er Gelegen-heit, sich zu verstecken.

Als dann Hangaj und Skurri auftauchten, war es schon beinahe dunkel. In der Schlucht war nichts zu erkennen. Niemand wußte, wo Arnvill sich verkrochen hatte. Hangaj landete, während Charron seinen Landeplatz von oben her absicherte und Skurri über dem Ausgang der Schlucht wachte. Hangaj schickte einen Mann die Felswand hinauf, der auch prompt Arnvills Versteck entdeckte. Alles war im schönsten Gang, in wenigen Minuten wäre Arnvill ein verkohlter Leichnam gewesen, da kam der Anruf.

Der Hagere selbst! Mit einem kategori-schen Befehl von dem Mann, den er »Faktor« nannte.

»Man soll sofort von Arnvill ablassen! Von jetzt an bis auf weitere Weisung ist er nur zu beschatten. Er steht im Begriff, Informationen zu gewinnen, die für uns von Nutzen sind. Erst wenn er sie besitzt, darf er ergriffen wer-den, und auch dann nur lebend.«

Das war alles. Der Kampf war vorüber. Arnvill hatte gewonnen. Charron zog zähne-knirschend seine Truppen zurück. Manchmal wünschte er sich, er könnte den Hageren am Hals packen und ihn so lange würgen, bis er endlich alles ausspuckte, was er wußte, und aufhörte, seine Untergebenen als bloße Be-fehlsempfänger zu behandeln, die nicht zu wissen brauchten, worum es eigentlich ging.

*

Baggo Arnvill erwachte am späten Vormit-

tag. Der Türsummer war, zu frenetischer Ak-tivität erwacht. Arnvill streckte sich und rief »Herein«. Auf den akustischen Befehl hin öffnete sich die Tür. Der Besucher war Man-tun. Er strahlte über das ganze Gesicht.

»Wir haben Glück!« rief er. »Reinheimer hat zugesagt!«

»So einfach?« wunderte sich Arnvill. »Ha-ben Sie ihn mir nicht als einen recht unent-schlossenen Menschen beschrieben?«

»Ja, ich war selbst ein wenig überrascht«, gab Mantun zu. »Aber er schien so begeistert von der Aussicht, bei der Suche nach dem Kriegskalender mitmachen zu können, daß er gar nicht lange zu überlegen brauchte.«

Arnvill war nachdenklich. Die Ereignisse der vergangenen Nacht standen auf einmal wieder deutlich vor seinem Auge.

»Ich will Ihnen mal was sagen, Mantun«, begann er zögernd. »Die ganze Sache ist ge-fährlicher, als ich bisher zugegeben habe. Ich habe Ihnen erzählt, was mir gestern zugesto-ßen ist.« Das hatte er in der Tat; aber den Grauen hatte er nicht erwähnt, und daß es bei dieser Sache um interstellare Intrige ging, darüber hatte er auch geschwiegen. »Ich will Ihnen also jetzt ganz ehrlich zur Kenntnis geben, daß wir gegen eine skrupellose Kon-kurrenz arbeiten. Den Leuten ist es darum zu tun, früher an die Bruchstücke des Kriegska-lenders heranzukommen als wir. Um das zu erreichen, bedienen sie sich jedes denkbaren Mittels, ob gesetzlich oder ungesetzlich. Wir sind also dauernd in Gefahr.« Er sah auf und musterte Mantun mit scharfem Blick. »Sind Sie unter diesen Aspekten immer noch an der Mitarbeit interessiert?«

Mantun grinste.

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»Jetzt erst recht«, sagte er. »Das hört sich

ausgesprochen interessant an!« Arnvill sprang auf. »Dann lassen Sie uns an die Arbeit gehen.

Wann kommt Reinheimer?« »Morgen, gegen Mittag.« Noch am selben Tag wurden aus Brisbane

die Geräte geliefert, die Arnvill gestern dort eingekauft hatte. Er erstattete der Polizei Meldung von dem Überfall, dem er um ein Haar zum Opfer gefallen wäre, und benach-richtigte die Leihfirma vom Verlust des Flug-bootes. Man versprach, ihm so rasch wie möglich ein zweites Fahrzeug zur Verfügung zu stellen.

Arnvill unterstützte Mantun beim Einkauf der Geräte. Sie führten eine Menge Radio-kom-Gespräche und erstanden einige Be-standteile der Ausrüstung in Cooktown, wo sie preiswerter und besser zu haben waren als in Cairns. Am nächsten Tag traf Reinheimer ein. Er erwies sich als ein kleiner, zerfahrener alter Mann, der nicht so recht zu wissen schien, was er wollte, und gerade dann, wenn er die ganze Welt von dieser seiner Unsicher-heit überzeugt hatte, mit einer seiner Ideen so herrisch und widerspenstig auftrumpfte, daß man nicht mehr wußte, wo einem der Kopf stand. Im großen und ganzen zeigte er sich jedoch als ein Fachmann des ersten Ranges und war Mantun und Arnvill bei ihren Ein-käufen eine große Hilfe.

Als letztes wurde das Tauchfahrzeug be-sorgt. Mantun hatte davon abgeraten, ein ei-gens für die Tiefseetaucherei angefertigtes Vehikel zu erwerben. Sie seien, so meinte er, zu teuer. Er kannte in Darwin einen Mann, der ausgediente Raumfahrzeuge verkaufte, und vergewisserte sich, bevor sie sich auf den Weg machten, daß er eine Reihe alter Space-Jets am Lager hatte, von denen eine nur ge-ringfügige Reparaturarbeiten brauchte, um wieder voll einsatzfähig zu sein. Sie flogen nach Darwin, inspizierten das Fahrzeug und fanden es für ihre Zwecke geeignet. Die not-wendigen Reparaturen wurden gleich an Ort und Stelle durchgeführt. Selbstverständlich war das Lineartriebwerk des Fahrzeuges längst ausgebaut worden. Das tat seiner Nütz-lichkeit keinen Abbruch. Auf dem Boden der Tiefsee wurde Arnvill sich daran gewöhnen

müssen, mit Geschwindigkeiten zurecht zu kommen, die weit unter der des Lichtes lagen.

Die Space-Jet kostete, einschließlich Repa-raturen, knapp vier Millionen Solar. Nahm man die Kosten des übrigen Geräts hinzu, einschließlich dessen, das noch beschafft werden mußte, dann kam man auf eine Sum-me von nicht mehr als dreizehn Millionen Solar, die insgesamt für die Ausstattung der Expedition ausgegeben worden war. Damit lag Arnvill um zwei Millionen unter seiner ursprünglichen Schätzung, und das schien ihm ein glückversprechender Anfang.

In den vergangenen Tagen hatte er sich ei-nige Gedanken darüber gemacht, warum wohl damals die Leute des Grauen so unversehens von ihm abgelassen und ihn übrigens auch seitdem in Ruhe gelassen hatten. Die Antwort hatte er nicht gefunden; aber er war zufrieden mit den Verhältnissen, so, wie sie waren. Ob der Graue ihm nachstellte oder nicht, für Baggo Arnvill blieb er derjenige, an dem Am-janas Tod gerächt werden mußte.

6.

In schillernden, unwirklichen Farben gab

sich die Tiefsee. Fische, Kraken und andere Geschöpfe, die der Nichtfachmann nicht zu identifizieren vermochte, umspielten den dis-kusförmigen Körper der Space-Jet, als sie langsam in die Tiefe sank. Das Fahrzeug er-schien der Tierwelt der Tiefsee nicht als Fremdkörper. Für ihre Augen war es ein dunkler, formloser Klotz, der da durch die fast lichtlose Finsternis glitt. Für die Augen der Fische und der Kraken war die Hülle aus Inf-rarotstrahlung, mit der die Space-Jet sich um-gab, unsichtbar. Auf den Bildschirmen im Innern des Fahrzeugs jedoch malte sie die Welt der Ozeantiefe in flammenden Farben.

Baggo Arnvill saß auf dem Sitz des Piloten. Das Manometer zeigte einen Außendruck von zweihundertundfünfzig Atmosphären. Das entsprach einer Tauchtiefe von rund dreitau-send Metern vor einer Stunde waren sie durch den Korallenring von Tuabi-Mengo abge-taucht. Jetzt lag der geheimnisvolle Boden des Ozeans nur noch einhundert Meter entfernt.

Gespannte Erregung hatte sich der drei Männer bemächtigt. Wie gebannt hingen die

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Blicke an den Bildschirmen. Die Tiefsee war von kristallener Klarheit. Nahezu vollkom-men, nur von dem stetigen, kaum mehr wahr-genommenen Summen der elektronischen Geräte überlagert, war die Stille.

»Da ...!« hauchte Reinheimer. Es geisterte aus der Tiefe herauf, metallisch

schimmernde Reflexe, die wie Blitze durch die kristallene See zuckten. Formen wurden sichtbar, golden und silbern schimmernd im Licht der Infrarotscheinwerfer, hoch aufra-gende Säulen und Fassaden, die gedrungenen Umrisse niedriger, weit ausgedehnter Gebäu-de.

»Marro!« sagte Reinheimer ehrfurchtsvoll. »Ist das der Name der Stadt?« fragte Arn-

vill. Reinheimer antwortete nicht. Was störte

den ehrfürchtig staunenden Sachverständigen der banale Unverstand des Laien?

»Wir befinden uns im Bezirk der Tempel«, erklärte er. »Sie müssen nämlich wissen, daß die Lemurer, obwohl sie eine höchst fortge-schrittene Technik besaßen, ein tief religiöses Volk waren, ihre Tempelbauten gehören zu den Höchstleistungen der terranischen Archi-tektur.«

Arnvill hielt die Space-Jet an. Etwa zwan-zig Meter über dem Kapitell einer schlanken Säule schwebte sie reglos in der schimmern-den See. Baggo Arnvill war zutiefst fasziniert von der Anmut der Bauwerke, von denen ei-nige nur geringfügige Beschädigungen da-vongetragen und die Jahrtausende in ihrer ursprünglichen Schönheit überdauert hatten, von dem Umfang der Anlage und der eigen-willigen Schönheit der Skulpturen, die hier und dort zwischen den Gebäuden aufgestellt waren.

Aber seine Faszination drang nicht bis ins Herz. Dort saß der Gedanke an Rache, der Haß gegen den Grauen, und keine andere Emotion vermochte ihn zu vertreiben.

»Wo fangen wir an zu suchen?« erkundigte er sich.

Reinheimer schien aus einem Traum zu er-wachen. Er seufzte und bedachte Arnvill mit einem unfreundlichen Blick.

»Wir sind zu weit südlich heruntergekom-men. Gehen Sie auf Nordkurs.«

Arnvill gehorchte. Die Space-Jet ging

zwanzig Meter höher, um auch den höchsten Hindernissen aus dem Weg zu gehen, und bewegte sich mit verhaltener Fahrt nordwärts. Während des Abtauchmanövers hatte Arnvill sich von Reinheimer erklären lassen, woher der Wissenschaftler wußte, an welcher Stelle die Suche nach Bruchstücken des Kriegska-lenders am aussichtsreichsten sei. Die beiden lemurischen Städte, von denen eine, wie Arn-vill jetzt erfuhr, den Namen Marro trug, hat-ten früher eine Doppelstadt gebildet, die sich zu beiden Seiten eines breiten Stromes er-streckte. Das alte Flußbett war deutlich nach-gewiesen worden. Der Fluß verfiel von Ost nach West, und die Stadt Marro hatte an sei-nem südlichen Ufer gelegen. In den Tagen, in denen sich der Untergang des Kontinents Le-murias vollzog, war es in Marro zu einer fürchterlichen Explosion gekommen, deren Ursachen man vorläufig noch nicht kannte. Die Explosion hatte in der Nähe des Flußufers stattgefunden. Von ihr war in der Hauptsache ein kolossales Gebäude betroffen worden, von dem man nur noch die Grundrisse gefunden hatte und das man auf Grund von anderswo gefundenen Hinweisen für ein staatliches Ar-chiv hielt. Das Gebäude hatte sich unmittelbar am Flußufer erhoben. Viele waren der An-sicht, daß sich die Explosion im Innern des Archivs ereignet habe – obwohl schwer ein-zusehen war, daß es in einem solchen Gebäu-de nennenswerte Mengen explosiver Stoffe gegeben haben sollte. Auf jeden Fall hatte der Explosionsdruck sich kreisförmig ausgebreitet und die Bestandteile des Gebäudes und seiner Inneneinrichtung mit sich gerissen. Der Ka-lender war ohne Zweifel im Archiv aufbe-wahrt worden. In der Umgebung des Archivs hatte es einige wuchtige Bauwerke gegeben, die die Auswirkung der Explosion zum Teil blockiert hatten. Zwischen ihnen hindurch jedoch hatte sich die Schockwelle ungehindert fortgepflanzt. Die Umgebung der Gebäude, an denen sich die Wucht der Explosion brach, war intensiv durchsucht worden. Dort hatte man das bisher einzig bekannte Bruchstück des Kriegskalenders gefunden. An diesen Or-ten war es also sinnlos, weitere Grabungen zu veranstalten. Reinheimer war der erste, der einen genauen Plan beider Städte angefertigt hatte – einen Plan, der die Lage jedes einzel-

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nen Gebäudes zeigte. Besser als jeder andere kannte Reinheimer den Verlauf der Korridore, wie er sie nannte, durch die die Schockwelle der Explosion sich unbehindert hatte fort-pflanzen können, weil ihr dort keine Gebäude im Weg standen. In diesen Korridoren, meinte Reinheimer, müsse man zu suchen beginnen. Er hatte sich sogar dazu verstiegen, die Wucht der Explosion anhand der gefundenen Zerstö-rungen einigermaßen genau zu berechnen und aus dieser Berechnung zu ermitteln, wie weit die einzelnen Bruchstücke des Kriegskalen-ders, deren spezifisches Gewicht er kannte, von der Explosionswelle geschleudert worden sein mochten. Auf diese Art und Weise hatte er auf seiner Karte eine Anzahl von Punkten eingetragen, die er als potentielle Fundorte bezeichnete. Eine Häufung solcher Punkte befand sich unmittelbar am nördlichen Ufer des Flusses, der bei den alten Lemurern den Namen Styrom getragen hatte, also am Süd-rand der Schwesterstadt von Marro. Auf diese Gegend glitt die Space-Jet nun zu.

»Einen Augenblick!« sagte Mantun plötz-lich. »Schalten Sie die Scheinwerfer aus!«

Arnvill gehorchte. Es wurde dunkel rings-um, und man sah, daß Mantun von allen drei Expeditionsteilnehmern die besten Augen hatte. Aus der Finsternis vorab glühten die weißlich-gelben Lichtpunkte starker Sonnen-lampen.

»Das ist ärgerlich«, klagte Reinheimer. »Anscheinend ist am Nordufer schon jemand an der Arbeit.«

Arnvill hatte die Geschwindigkeit des Fahrzeuges nicht verringert. Die Space-Jet glitt weiter durch die Finsternis, und je weiter sie sich bewegte, desto zahlreicher wurden die Lichtpunkte, die dort vorne leuchteten.

»Das ist eine ganze Armee«, knurrte er är-gerlich.

»Wahrscheinlich eine Regierungsexpediti-on«, mutmaßte Reinheimer. »Ich hörte vor kurzem, daß sich auf Nui im Ellice-Archipel ein großes Vorbereitungslager befinde.«

»Der Teufel soll sie holen«, sagte Arnvill wütend.

»Nun«, tröstete ihn der Wissenschaftler, »wir haben immer noch eine Menge anderer Punkte, an denen wir suchen können. Man muß die Hoffnung nicht gleich aufgeben.«

Er deutete auf die Karte und legte den Fin-ger an eine Stelle südwestlich des Punktes, an dem die Explosion stattgefunden hatte. Auch hier gab es eine deutliche Konzentration von Markierungen.

»Ich schlage vor, daß wir hier beginnen«, sagte Reinheimer.

Arnvill brachte die Space-Jet auf den ent-sprechenden Kurs. Sie kamen durch eine Ge-gend, in der von den kunstvollen Bauwerken der alten Lemurer nicht viel übriggeblieben war. Die Scheinwerfer waren inzwischen wieder eingeschaltet worden. In ihrem Licht sahen die drei Männer Mauerwerk, das kaum mehr eine Handbreit hoch stand, und ein Meer von Trümmern, das die Straßen der al-ten Stadt überflutete.

Nach einer halben Stunde erreichten sie den Punkt, den Reinheimer bezeichnet hatte. Hier mußte früher ein großer Platz gewesen sein. In einhundert Metern Umkreis gab es nur Trümmerstücke, die die Explosion hier abge-lagert hatte, aber keine Bauwerke. Arnvill setzte die Space-Jet auf den Meeresgrund. Er fand für diesen Zweck eine Stelle, an der der Ozean frei von Trümmern war. Ohne zu zö-gern, begann er mit der Errichtung des Schirmfelds.

Das Schirmfeld wurde in mehreren Phasen erstellt. Zunächst mußte der Sauerstoff-Extraktor installiert werden, der außerhalb des Feldes liegen und das Innere mit atembarer Luft versorgen würde. In der nächsten Phase wurde das Schirmfeld erstellt, und zwar so, daß es sich der oberen Hälfte der Space-Jet wie eine Haut anpaßte und dann senkrecht in den Meeresboden hinein abfiel. Innerhalb des Bodens war die Intensität des Feldes bis zu einer Tiefe von dreißig Metern konstant, dann wurde sie zusehends geringer, und in fünfzig Metern Tiefe gab es kein Feld mehr. Das Feld hatte also, wenn man es anschaulich beschrei-ben wollte, keinen Boden. Es endete offen. Allerdings war der Meeresboden hier von solcher Beschaffenheit, daß man nicht zu be-fürchten brauchte, daß Sickerwasser von un-ten her ins Innere des Feldes eindringen wür-de. Als letzte Phase wurde der Teil des Schirmfelds, der sich über dem Boden befand, so aufgebauscht, daß das Meerwasser allmäh-lich zur Seite gedrängt wurde. Dadurch ent-

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stand ein trockener Hohlraum, den der Ex-traktor mit atembarer Luft füllte, so daß sich die Männer darin bewegen konnten, als be-fänden sie sich auf trockenem Land.

Die Arbeit, die bei der Aufblähung des Fel-des geleistet wurde, wobei das Feld Meerwas-ser mit einem Druck von mehr als 250 Atmo-sphären zu verdrängen hatte, war ungeheuer. Die notwendige Leistung lieferte der Genera-tor, den Arnvill in Brisbane erworben hatte. Die Formgebung des Feldes jedoch wurde von dem Projektor besorgt. Arnvill beobach-tete zunächst, wie ein automatischer Hebearm den drucksicher verschalten Sauerstoff-Extraktor von Bord brachte und ihn abseits der Space-Jet auf dem Meeresboden absetzte. Aus dem Kasten des Extraktors ragten mehre-re flexible Schläuche, die auf dem Meeres-grund ausgelegt wurden. Durch sie würde die atembare Luft fließen, die das Innere des Schirmfelds erfüllen sollte. In der Struktur des Schirmfelds mußten von dem Projektor Lü-cken erzeugt werden, durch die die Schläuche paßten. Dann wurde das Schirmfeld selbst angelegt. Solange es die Space-Jet wie eine Haut umgab, ohne gegen den umgebenden Druck Arbeit zu leisten, arbeitete der Genera-tor mit leisem, kaum hörbarem Summen. Als es jedoch daran ging, das Feld auszuweiten und das Meerwasser beiseite zu drängen, da fing das Gerät an zu brummen und zu wum-mern, daß der Boden des kleinen Kommando-stands zitterte und dröhnte.

Binnen einer halben Stunde stand das Feld. Die Scheinwerfer waren von Infrarot auf sichtbares Licht umgeschaltet worden. Rings um die Space-Jet dehnte sich ein trockener, kreisförmiger Raum von mehr als dreißig Me-tern Halbmesser. Arnvill las den Außendruck ab. Er war noch gering, kaum eine Drittelat-mosphäre, da der Extraktor noch nicht genug Zeit gehabt hatte, um den immerhin umfang-reichen Hohlraum mit Luft zu füllen. Aber der Druck wuchs ständig. Noch zwanzig Mi-nuten, und die Suche konnte beginnen.

Mantun begann, die Geräte zusammenzu-suchen. Reinheimer dagegen starrte noch im-mer auf den Bildschirm, als könne er, sich nicht von dem Anblick der Trümmerstücke lösen, die den Meeresboden allenthalben be-deckten.

»Wir sind soweit«, ermahnte ihn Arnvill. Der Wissenschaftler wandte sich ab. Er ver-

ließ den Kommandoraum und begab sich in die winzige Kabine, die ihm zugewiesen wor-den war. Als er wenige Minuten später wieder zum Vorschein kam, machte er ein verstörtes Gesicht. Aber Arnvill achtete nicht darauf. Ihm ging es nur noch darum, daß die Suche so bald wie möglich begann.

*

Wütend zwar, aber dennoch getreu bis auf

den Buchstaben, hatte Charron die Anwei-sungen des Hageren befolgt. Arnvill war in Ruhe gelassen worden. Man hatte ihn nur beschattet. Man war ihm bei der Abreise von Cairns auf den Fersen geblieben und hatte festgestellt, daß sein Reiseziel die Korallenin-sel Tuabi-Mango war. Dann allerdings ergab sich für Charron und seine Leute eine uner-wartete Schwierigkeit. Arnvill und seine bei-den Begleiter funktionierten ihre alte Space-Jet zu einem Tauchfahrzeug um und ver-schwanden in den blauen Tiefen der See.

Charron rief das Hauptquartier an. »Damit hättest du rechnen müssen«, sagte

der Hagere mit zynischem Spott. »Glückli-cherweise gibt es hier Leute, die folgerichti-ger denken können als du. Ihr begebt euch auf dem schnellsten Weg nach Mitre Island. Die Insel liegt unmittelbar außerhalb des Sperrbe-zirkes, den die Regierung errichtet hat. Noch heute werden auf Mitrte Island zwei Tauch-fahrzeuge eintreffen, auf die ihr euch verteilt. Ihr könnt von dort aus unbehindert tauchen, aber sobald ihr unter Wasser in die Sperrzone eindringt, kann es dazu kommen, daß die Po-lizei euch abfängt. Denkt euch eine plausible Geschichte aus. Es wird die Polizisten ver-söhnlich stimmen zu sehen, daß ihr keinerlei Grab- und Suchwerkzeuge bei euch führt. Sobald du weißt, wo Arnvill sich aufhält, er-warte ich Nachricht. Wir haben ihn jetzt fast drei Tage lang in Ruhe gelassen. Es wird Zeit, daß wir uns seiner bemächtigen.«

Es war alles so gekommen, wie der Hagere gesagt hatte. Sie flogen nach Mitre Island und errichteten dort ein Zeltlager. Am Nachmittag tauchte ein Mann auf, den Charron noch nie zuvor gesehen hatte, der sich jedoch mit einer

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Reihe von Kodewörtern als Mitarbeiter des Grauen auswies. Die beiden Tauchfahrzeuge waren angekommen. An Bord der Fahrzeuge befanden sich vier technische Experten, die, wie der Hagere ausrichten ließ, Charron wohl zustatten kommen würden. Das Zeltlager wurde abgebrochen. Zwei von Charrons Leu-ten wurden damit beauftragt, die Luftboote aufs australische Festland zurückzubringen und sicher unterzustellen. Der Rest der Grup-pe verteilte sich auf die beiden Tauchboote, und kurze Zeit später war die Expedition un-terwegs.

Einer der Experten war mit der Topogra-phie der beiden lemurischen Städte bestens vertraut. Er dirigierte die Boote den Lauf des Flusses hinauf, an dessen beiden Ufern sich die alte Doppelstadt einst ausgebreitet hatte. Die Fahrzeuge bewegten sich ohne Licht. Zur Orientierung wurde Radar benutzt. Am Nord-ufer der ehemaligen Flusses wurde ein ausge-dehntes Expeditionslager entdeckt, schon von weitem erkennbar an der Lichtflut, die aus Hunderten von Sonnenlampen brach. Charron traute sich so dicht heran, daß er schließlich die weißen Schutzanzüge der Taucher sehen konnte, die dort arbeiteten, und die Umrisse der Geräte, deren sie sich bedienten. Das mußte die Expedition sein, die Hangaj auf der Insel Nui bei ihren Vorbereitungen beobachtet hatte. Arnvill gehörte nicht dazu. Er mußte irgendwo anders seinen Standort bezogen haben. Aufs Geratewohl entschloß sich Char-ron, die südlich des Flusses gelegene Ruinen-stadt zuerst abzusuchen. Hangaj, der an Bord des zweiten Bootes den Befehl führte, wurde angewiesen, sich auf einem Kurs parallel zu dem von Charrons Boot zu halten. In fünf-hundert Metern Abstand voneinander drangen die beiden Fahrzeuge in das Trümmerfeld ein.

Im Innern des kleinen Pilotenraumes war alles überflüssige Licht gelöscht worden, um die visuelle Beobachtung nicht zu erschwe-ren. Auf dem Radarschirm zeigten sich leuch-tend und gestochen scharf die Umrisse der alten Gebäude und der Verlauf der Straßen. Von der andächtigen Ehrfurcht, die andere Leute angesichts dieser stummen Zeugen ei-ner längst entschwundenen Vergangenheit beseelte, war an Bord der beiden Tauchboote nichts zu spüren. Hier ging es nur darum, das

Opfer zu finden. Plötzlich packte Charron den Piloten grob

bei der Schulter. Der Griff der muskulösen Hand war so schmerzhaft, daß der Pilot un-willkürlich aufstöhnte.

»Anhalten!« zischte der Stiernackige. Die Radiokomverbindung war eingeschal-

tet. Auch das zweite Boot hob sofort seine Fahrt auf, als Charrons Befehl aus dem Laut-sprecher klang.

»Dort!« sagte Charron und deutete auf den optischen Bildschirm. Um auch Hangaj klar-zumachen, was er sah, fügte er hinzu: »Optik-Bildschirm, vierter Quadrant.«

»Klar«, klang es aus dem Empfänger zu-rück. »Ich sehe es. Ein milchiges Leuchten.«

Charron nickte. »Du bleibst zurück!« befahl er Hangaj. »Ich

bin näher dran und gehe langsam vor.« Das Boot setzte sich von neuem in Bewe-

gung. Das Leuchten wurde intensiver. Es schien hinter einer Ruine hervorzudringen, denn auf der rechten Seite wurde es durch eine scharfe, senkrecht aufsteigende Linie begrenzt. Aus geringerer Entfernung erkannte Charron anhand des Radarbildes, daß es sich bei dem Hindernis, das das Licht zum Teil abschirmte, um eine einzelne Gebäudewand handelte, die der Zerstörung der Stadt wider-standen haben mußte. Dahinter schien es, so-weit Charron entscheiden konnte, einen gro-ßen, freien Platz zu geben. Von diesem Platz kam der Lichtschimmer.

Der Pilot entdeckte eine Öffnung in der Wand, ein ehemaliges Portal. Als sie näher kamen, sahen sie die Umrisse des Portals in hellem Licht abgezeichnet. Charron befahl dem Piloten, auf die Öffnung zuzuhalten. Ei-ner der vier Techniker war in der Pilotenkabi-ne und gab zu verstehen, daß das Fahrzeug mit Radar- und Optiksonden ausgerüstet sei, die ausgefahren werden könnten, um interes-sante Objekte aus geringer Entfernung zu be-trachten. Der Pilot bugsierte das Boot in den Schatten der Gebäudewand, seitwärts der Por-talöffnung, und der Techniker fuhr eine opti-sche Sonde aus, die langsam durch die Öff-nung hindurchglitt und von jenseits Fernseh-bilder des Platzes übermittelte, von dem die Helligkeit ausging.

Der Stiernackige erkannte sofort, daß er am

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Ziel war. Dort lag die Space-Jet, mit der Arn-vill und seine Begleiter so unerwartet in die Tiefsee abgetaucht waren. Sie schien inmitten eines schimmernden, durchsichtigen Ballons zu liegen. Das Licht kam aus dem Innern des Ballons. Mehrere Lampen waren dort aufge-stellt worden und beleuchteten ein Stück des trümmerübersäten Platzes. Auf dem Meeres-boden im Innern des Ballons bewegten sich drei weiße Gestalten, Männer in Druckanzü-gen; aber sie bewegten sich mit einer Ge-schwindigkeit und Behendigkeit, als befänden sie sich auf trockenem Boden.

»Was ist das?« fragte der Stiernackige ver-blüfft.

»Ein Schirmfeld«, antwortete der Techni-ker. »Sie haben das Wasser, beiseite gedrängt und das Innere des Feldes anscheinend mit atembarer Luft gefüllt. Ich sehe, daß sie die Helme offen tragen.«

»Wie kommen wir an die Kerle dran?« wollte Charron wissen.

»Solange das Feld besteht – überhaupt nicht!«

»Was heißt das?!« polterte der Stiernacki-ge. »Wir stehen einfach hier herum und kommen überhaupt nicht dran?« Der Techni-ker antwortete nicht sofort.

»Vielleicht gibt es eine Möglichkeit«, sagte er schließlich.

»Welche?« bellte Charron. »Wenn Arnvill nicht einen durchaus unge-

wöhnlichen Aufwand betrieben hat, mußte das Feld unten offen sein. Es ragt in der Form eines Flaschenhalses in den Meeresboden hinein. Wenn es tiefer in den Boden hinein-geht, als das Meerwasser einsickern kann, dann ist das Innere des Feldes auf diese Weise vor Wassereinbruch geschützt. Gleichzeitig ist diese Weise wesentlich billiger und erfor-dert weniger Gerät, als wenn man ein Feld mit einem Boden erstellen wollte. Denn durch den Boden müßte, wie das Wasser, auch die feste Materie des Meeresgrundes beiseite gedrängt werden, und dazu sind beträchtliche Energien erforderlich.«

Charron hatte von der Erklärung kaum die Hälfte verstanden.

»Wie kommen wir also hinein?« fragte er ungeduldig.

»Wir graben uns von außen einen Tunnel«,

antwortete der Techniker. »Wir gehen schräg nach unten, bis wir unterhalb des Feldrandes sind. Dann drehen wir nach oben ab und ar-beiten uns durch den Flaschenhals, den das Feld innerhalb des Meeresbodens bildet, in die Höhe.«

»Das hört sich kompliziert an«, knurrte Charron. »Haben wir das notwendige Gerät dazu?«

Der Techniker lächelte überheblich. »Unser Freund, der Hagere, denkt an alles.

Wir müssen die Einstiegsöffnung unseres Schachtes durch ein Schutzfeld abdecken, damit das Wasser uns nicht nachdringt. Dazu haben wir einen Feldgenerator und den dazu-gehörigen Projektor. Der Schacht muß mit Hilfe von Desintegratoren geschnitten wer-den. Wir haben auch diese an Bord. Der von den Generatoren erzeugte Gesteinsstaub muß nach oben abgesaugt werden, damit er nicht wieder zu solidem Gestein wird. Wir haben die Pumpanlage, die dafür gebraucht wird. Schließlich werden wir, abgesehen von Ge-steinsgasen, im Vakuum arbeiten und brau-chen daher Hochleistungs-Schutzmonturen. Wir haben auch diese.«

Er strahlte. »Wie lange wird das dauern?« erkundigte

sich Charron. »Wie lange, bis wir durch den Boden brechen und im Innern des Feld-schirms stehen?«

Der Techniker hob die Schultern. »Das kommt auf unsere Tüchtigkeit an«,

meinte er. »Wenn wir uns anstrengen, viel-leicht drei bis vier Stunden.«

Charron nahm das Mikrophon des Interkom zur Hand.

»Fertig zum Ausbooten!« dröhnte seine Stimme.

*

»Oh, verdammt!« knirschte Leutnant

Schernk und hieb mit der flachen Hand auf die Aus-Taste des Radiokom.

»Was ist jetzt schon wieder los?« wollte Massocka wissen.

»Ich kriege keine Verbindung mit Rein-heimer«, beschwerte sich der Leutnant. »Er wäre vor rund vierzig Minuten dran gewesen, mich anzurufen.«

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»Und ...?« »Kein Wort. Er sendet weder, noch antwor-

tet er.« »Vielleicht ist er verhindert!« »Wie verhindert? Im schlimmsten Fall

braucht er nur unauffällig auf einen Knopf zu drücken, und schon erhalte ich wenigstens ein Kodezeichen. Aber selbst das kommt nicht.«

Massocka stutzte. »Moment mal!« sagte er überrascht. »Dafür

gibt es doch eine ganz einfache Erklärung. Soviel ich mich erinnere, haben wir Reinhei-mer sogar darauf aufmerksam gemacht.

»Was ...?« »Arnvill arbeitet auf fortschrittliche Weise.

Mit einem Schirmfeld!« Schernk sprang auf. »Klar!« rief er. »Daran liegt's!« Er machte ein grimmiges Gesicht und hieb

mit der Faust in die offene Hand. »Ich hab's doch gewußt!« knurrte er. »Der

Kerl bringt uns mehr Kummer als sonst was. Er muß seit drei Tagen gewußt haben, daß Arnvill mit einem Schirmfeld arbeiten wird. Wir haben ihm gesagt, daß in diesem Fall der Radiokom nichts nützt und er uns auf andere Art und Weise Nachrichten zukommen lassen muß. Aber was nützt's? Nichts! Er ist Archäo-loge, und von Schirmfeldern versteht er einen Dreck.«

Er sah auf und musterte den Major mit fra-gendem Blick.

»Was jetzt?« fragte er. Massocka kratzte sich hinter dem Ohr. »Ich befürchte, wir haben uns die ganze

Sache ein wenig zu leicht gemacht«, antwor-tete er mißmutig. »Es schien so ein netter Ge-danke, daß wir hier im Trockenen bleiben, während Reinheimer dort unten für uns die Augen aufhält und uns über alles informiert. So geht es anscheinend nicht.«

Er zog sich ein Jackett über. »Wir müssen uns an Ort und Stelle um die

Angelegenheit kümmern«, entschied er. »Los, kommen Sie mit! Wir brauchen ein Tauch-boot – und zwar so schnell wie möglich.«

7.

Sie hatten sich eingearbeitet. Nach den ers-

ten beiden Stunden ziellosen Herumhantie-

rens hatten sie sich ein Schema zurechtgelegt, nach dem sie vorgingen. Seitdem ging alles glatt und reibungslos. Das Schirmfeld umfaß-te nahezu die Hälfte des freien Platzes. Die Atmosphäre im Innern des Feldes war sauer-stoffreich und hatte einen Druck von nahezu einer Atmosphäre. Sie trugen Schutzanzüge, allerdings mit offenen Helmen. Wenn aus irgendeinem Grund das Feld plötzlich zu-sammenbrach, würden ihnen die Monturen nicht viel nützen. Der Aufprall der Wasser-massen würde sie zerquetschen. Wenn jedoch das Schirmfeld langsam abbaute, etwa weil der Generator versagte, dann bildeten die An-züge den Unterschied zwischen Leben und Tod.

Arnvill und Mantun hatten sich je mit einer Kamera bewaffnet. Reinheimer befaßte sich mit der eigentlichen Suche. Er hob jedes ein-zelne Trümmerstück auf, betrachtete es von allen Seiten und warf es entweder weg, weil er es für wertlos hielt, oder legte es so zu-recht, daß Mantun und Arnvill aus günstigen Winkeln Aufnahmen davon anfertigen konn-ten. Danach wanderte das Stück in einen Be-hälter, der in regelmäßigen Abständen an Bord der Space-Jet geschafft und ausgeleert wurde. Die Trümmerstücke lagen auf ebenem Boden. Grabungen waren nicht nötig. Früher, bis zur Entdeckung der beiden Städte, hatte die ganze Gegend unter einer mehr als dreißig Meter dicken Sediment- und Schlammschicht gelegen. Regierungsexpeditionen hatten diese Schicht jedoch in jahrelanger, mühseliger Arbeit beseitigt, so daß die lemurischen Rui-nen nun frei zutage lagen.

Baggo Arnvill hatte auch hier auf seine Waffe nicht verzichtet. Reinheimer hatte ihn deswegen verspottet, und Mantun ihm einen fragenden Blick zugeworfen. Arnvill jedoch gab keine Erklärungen ab. Er fühlte sich si-cherer, wenn er den Blaster an seiner Seite wußte.

»Hier ist ein schönes Stück, das sieht viel-versprechend aus«, sagte Reinheimer und hielt den Objektiven der Kamera ein vielfach gezacktes Bruchstück entgegen, das entweder aus versteinertem Holz oder Metall bestand.

Die Elektronenblitze leuchteten auf. Rein-heimer drehte das Fundstück hin und her, so daß es von allen Seiten photographiert wurde.

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Dann warf er es in den Behälter.

»Das. Ding ist voll«, sagte er. »Jemand sollte es ausleeren!«

»Ich gehe schon«, bot Mantun sich an. Er setzte vorsichtig die Kamera ab, nahm

den Behälter auf und trug ihn zur Space-Jet. Arnvill, der ihm nachblickte, sah, wie er im Innern des Fahrzeugs verschwand. Plötzlich spürte er einen unangenehmen Druck auf den Trommelfellen. Er öffnete den Mund und schluckte. Es gab ein knackendes Geräusch in den Ohren. Reinheimer unterbrach seine Ar-beit und sah ihn fragend an.

»Was war das?« wollte er wissen. »Eine plötzliche Druckminderung«, sagte

Arnvill. Er war mißtrauisch. »Ich werde mich umsehen.«

Er hatte unwillkürlich die Waffe zur Hand genommen. Instinktiv vermutete er einen feindlichen Akt, anstatt die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, daß etwas mit dem Gene-rator oder dem Projektor nicht in Ordnung war. Mit vorsichtigen Schritten näherte er sich der Space-Jet und schickte sich an, sie zu um-runden.

Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen. Im Schlagschatten des Fahrzeugs sah er auf dem Meeresboden ein unregelmäßiges Loch. Er trat hinzu und stellte fest, daß es sich bei dem Loch um die Mündung eines Schachtes handelte, der weit in die Tiefe führte.

Es flimmerte ihm vor den Augen. Die Ge-danken jagten und überstürzten sich. Jemand hatte den Feldschirm von unten her ange-bohrt, indem er von außen her einen Schacht durch das offene untere Ende des Feldes trieb. Einen Schacht, der an dieser Stelle zum Vor-schein kam. Wahrscheinlich hatte der unbe-kannte Gegner im Vakuum gearbeitet. Als er durch den Meeresboden ins Innere des Feld-schirms vorstieß, hatte sich der bisher luftlose Schacht ruckartig mit Luft aus dem Innern des Schirms gefüllt. Innerhalb des Schirms war daher mit einemmal der Druck abgesunken. Das war, was Reinheimer und er gefühlt hat-ten.

Aber wo waren die, die den Schacht ge-bohrt hatten? Ein häßliches, fauchendes Ge-räusch ließ ihn zusammenfahren. Ein gur-gelnder Schrei gellte auf. Arnvill packte den Blaster fester und rannte auf der anderen Seite

um die Rundung der Space-Jet herum. Vor ihm standen drei Männer in Schutzan-

zügen mit geschlossenen Heimen. Seitwärts lag Reinheimer auf dem Gesicht. Die Frem-den hatten ihn erschossen. Von Mantun war keine Spur. Er mußte noch im Innern des Fahrzeugs sein. Blinder Zorn packte Baggo Arnvill. Er wußte, daß er gegen die drei keine Chance hatte. Aber danach fragte er nicht mehr. Der Augenblick der letzten Abrech-nung war gekommen. Er riß die Waffe in die Höhe.

»Lieber nicht«, klang es tonlos aus dem Helmlautsprecher eines der Männer. »Wir haben Tregiro!«

Einen Atemzug lang schien der Lauf der Waffe in Baggo Arnvills Hand zu zittern. Dann senkte er sich langsam. Sie hatten Tre-giro! Nur dieser eine Gedanke brannte, fraß sich in Arnvills Bewußtsein. Tregiro war er-neut in ihrer Gewalt!

»Wo ist der dritte Mann?« fragte die Stim-me aus dem Helmlautsprecher.

Arnvill antwortete nicht. Die Arme hingen schlaff an seiner Seite herab. Er hatte den Kopf gesenkt. Die Welt war von neuem un-tergegangen. Sie hatten Tregiro!

»Wahrscheinlich drin im Fahrzeug«, sagte eine andere Stimme. »Ich halte es für besser, wenn wir verschwinden.«

Zwei der Unbekannten packten Arnvill und stießen ihn vor sich her. Der dritte machte sich an ihm zu schaffen, zog ihm die Helmka-puze über und verschloß sie. Ein Druck auf einen außen angebrachten Knopf aktivierte das Atemsystem. Frischluft zischte ins Innere der Montur. Arnvill achtete auf all das nicht, auch darauf nicht, wie sie ihm die Waffe ab-nahmen. Sie hatten Tregiro! Alles war verlo-ren!

Er wurde in die Schachtmündung hineinge-stoßen. Mehr rutschend als kletternd gelangte er in die Tiefe. Er dachte an Matur. Die Fremden hatten sich nicht um ihn gekümmert. Wahrscheinlich glaubten sie, die Space-Jet hätte ihre alte Bordbewaffnung noch. Deswe-gen waren sie so schnell ausgerissen. Der Schacht lenkte in die Waagrechte über und begann schließlich wieder anzusteigen. Müh-sam arbeitete sich Arnvill vorwärts. Nur ein Gedanke pochte in seinem Bewußtsein: Sie

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hatten Tregiro.

Schließlich war die Kletterei zu Ende. Am oberen Ende des Schachtes gab es eine kleine Feldschleuse. Er wurde hineingeschoben. Wasser drang von allen Seiten auf ihn ein. Der mehrhundertatmosphärige Druck der Tiefsee begann, ihn einzuschließen. Aber das Individualfeld seiner Schutzmontur hüllte ihn ein und bewahrte ihn vor dem Zerquetscht-werden. Die andere Seite der Schleuse öffnete sich. Jemand ergriff ihn bei beiden Händen und zog ihn ins Freie. Langsam, des zähen Widerstands des Meerwassers ungewohnt, kam er auf die Füße. Er befand sich im Schat-ten einer riesigen Gebäudewand. Von ir-gendwoher kam Licht – der Schein der Lam-pen unter dem Schirmfeld. In unmittelbarer Nähe schwebten zwei große Tauchboote. Plötzlich war eine ganze Schar von Gestalten in weißen Schutzanzügen um ihn herum. Die Mündungen mehrerer Waffen waren auf ihn gerichtet.

Er wurde in die Schleuse eines der Boote hineingestoßen. Das Wasser wurde ausge-pumpt. Das innere Schott öffnete sich. Mehr Blastermündungen starrten ihn an. Man entle-digte ihn der Schutzmontur und brachte ihn in den Pilotenraum.

Ein schmerzhafter Stich zuckte ihm durch den Arm. Er blickte auf und sah einen Mann, der soeben einen Hochdruckinjektor in ein Futteral schob und einsteckte. Ein Gefühl der Hilflosigkeit senkte sich über Baggo Arnvill. Er vermochte sich nicht mehr zu rühren. Er war bei vollem Bewußtsein. Er sah alles, was um ihn herum vorging. Aber er konnte sich nicht mehr rühren. Das Nervengift, das der Unbekannte ihm injiziert hatte, lähmte die Muskeln. Er war gefesselt – auf die moderne Art.

Undeutlich merkte er, wie das Boot sich in Bewegung setzte.

*

Wie viele Stunden, wie viele Ewigkeiten? Sie hatten Tregiro! Alles war umsonst, alles

aus! Blaues, wallendes Meer auf den Bildschir-

men, Fische, bunt leuchtende Ungeheuer, wie sie des Menschen Auge noch nie erblickt hat-

te. Das Gemurmel von Stimmen, die aus wei-ter Ferne zu kommen schienen, obwohl sie sich doch im selben Raum befanden. Ge-sprächsfetzen:

»Wir können die Space-Jet später abholen ...«

»... Hauptsache, sie folgt uns nicht. Die La-ge des Hauptquartiers muß ein Geheimnis bleiben. Der Graue ...

Der Graue! Der Graue hatte gesiegt! Er hat-te Tregiro!

Auf dem Bildschirm erschien ein kompli-ziertes Netzwerk schimmernder Strukturen, auf das das Boot sich zubewegte. Schim-mernde, durchsichtige Wände, zu Hunderten und Tausenden an-, über- und untereinander-gefügt, ein gewaltiges Gebäude aus energeti-schen Wänden und Barrieren. Als das Fahr-zeug näher kam, sah Arnvill dichte Schwärme schillernder Fischleiber. Ein finsterer Tunnel öffnete sich inmitten der Energiebarrieren. Das Boot glitt hinein. Die Fischschwärme waren nun auf allen Seiten, Millionen und Milliarden von Fischen.

Eine Fischfarm! Arnvill hatte von solchen Anlagen gehört. Sie lagen zumeist in den tro-pischen Meeren und hatten die Aufgabe über-nommen, die Versorgung der Erdbevölkerung mit eiweißhaltigem Fischfleisch zu gewähr-leisten. Die Energiewände umschlossen riesi-ge Aquarien, in denen die Fische nach den modernsten Erkenntnissen der Meeresbiologie herangezüchtet wurden. Automatische Fütte-rungsanlagen und eine Armee von Wartungs-robotern sorgten dafür, daß die Aufzucht nach Vorschrift ablief. Der Jahresertrag einer ein-zigen Fischfarm überstieg mühelos den ge-samten Jahresfang sämtlicher irdischer Fi-schereiflotten, wie sie vor neunhundert, tau-send Jahren die Meere des Planeten durch-pflügt hatten.

Befand sich hier das Hauptquartier des Grauen? Arnvill überlegte, in welcher Gegend des Pazifiks sich das Boot jetzt befinden mochte. Fischfarmen wurden grundsätzlich in Küstennähe angelegt. In den Küstenfelsen, durch komplizierte Schleusenanlagen vor Wassereinbruch geschützt, befanden sich die Lager- und Vorratsräume sowie die Hallen, in denen das technische Mobiliar aufgestellt war, das die energetischen Barrieren erzeugte.

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Arnvill versuchte, sich zu erinnern, wie lange sie unterwegs gewesen waren; aber das fiel ihm schwer. Das Boot mochte inzwischen Australien erreicht haben oder auch Neu-Guinea, eine der Salomon-Inseln oder Neu-Kaledonien.

Jemand sagte: »Wir sind da! Vorsicht bei der Einfahrt!« Ein finsteres Loch tat sich vorab auf. Die

schimmernden Wände und die glitzernden Fischschwärme blieben zurück. Der Kegel des Scheinwerfers fiel in einen kreisrunden Stollen von wenigstens dreißig Metern Durchmesser. Zu beiden Seiten stand graues, unbehauenes Felsgestein. Der Stollen bohrte sich in die steil aufragende Küste. Er war et-wa zweihundert Meter lang, dann endete er vor einem riesigen, stählernen Schleusen-schott. Langsam glitt die Metallmasse beisei-te. Das Boot schob sich vorsichtig in die ge-waltige Schleusenkammer. Das Wasser be-gann zu quirlen, als es abgesaugt wurde. Luft wurde eingepumpt. Die untere Hälfte der Kammer blieb mit Wasser gefüllt, aber der Druck entsprach jetzt nicht mehr dem der Tiefsee, sondern war auf eine Atmosphäre vermindert worden. Das innere Schott öffnete sich. Das Boot glitt in ein riesiges Bassin und machte an einer langen Kaimauer halt.

Man legte Arnvill, der unter dem Einfluß der Droge noch immer reglos war, auf eine Bahre und brachte ihn von Bord. Das Bassin befand sich in einer gewaltigen Halle, von der es mehrere Ausgänge gab. Arnvill und die Träger seiner Bahre gelangten auf einen Gang, der mit einem Laufband ausgelegt war. Flink glitten sie dahin. Sie kamen an einen geräumigen Liftschacht. Die Bahre wurde abgeladen und in die Aufzugkabine gescho-ben. Ruckfrei setzte sich der Aufzug in Be-wegung. Es ging aufwärts, vielleicht eine Mi-nute lang. Dann kam noch ein Gang und schließlich ein kleiner, kahler Raum, in dem die Bahre abgestellt wurde. Die Träger ent-fernten sich. Die Tür schloß sich hinter ihnen.

Baggo Arnvill war allein.

* Mantun hatte die plötzliche Druckvermin-

derung ebenso bemerkt wie Arnvill. Von Na-

tur aus mißtrauisch, stürzte er in den kleinen Kommandoraum und sah auf einem der Bild-schirme, wie aus einem Loch, das sich plötz-lich im Meeresboden gebildet hatte, drei Männer hervorstürmten und um die Rundung des Fahrzeugkörpers herumliefen. Entsetzt beobachtete er, wie Reinheimer, der den Fremden überrascht entgegensah, erschossen wurde. Wenige Sekunden später kam Arnvill in Sicht, der ebenfalls für kurze Zeit hinter der Space-Jet verschwunden war und das Loch bemerkt hatte. Mantun beobachtete, wie er sich den Fremden ergab.

Die ganze Zeit über hatte Mantun verzwei-felt nach einem Ausweg gesucht, wie er Arn-vill helfen könne. Es gab Waffen an Bord der Space-Jet, aber er war allein gegen drei Mann, und aus der Unterhaltung, die sie miteinander führten, entnahm er, daß sie wußten, daß er sich im Innern des Fahrzeugs befand. Er nahm einen Blaster zur Hand, um sich zu ver-teidigen, falls sie hereinkommen sollten. Statt dessen zogen sie es jedoch vor, sich davon-zumachen.

Sobald sie verschwunden waren, wurde Mantun aktiv. Er konnte sich vorstellen, daß das Loch im Meeresboden das eine Ende ei-nes Schachtes war, der an anderer Stelle wie-der zum Vorschein kam. Wenn es ihm gelang, das Schirmfeld abzubauen und die Space-Jet wieder in Bewegung zu setzen, konnte er den Fremden folgen und sie womöglich dazu zwingen, daß sie Arnvill freigaben. Anderer-seits konnte er jedoch den Feldschirm nicht beseitigen, solange Arnvill sich noch im Schacht befand. Das Wasser wäre mit explo-siver Wucht in den Schacht gedrungen und hätte nicht nur die Fremden, sondern auch Arnvill zerquetscht. Er mußte also vorsichtig vorgehen. Er durfte nichts überstürzen.

Bevor er anfing, eilte er nach draußen und hob Reinheimers reglosen Körper auf. Die Blastersalve war dem alten Wissenschaftler mitten in den Leib gedrungen. Er lebte nicht mehr. Mantun brachte ihn an Bord.

Dann fing er an, den Feldschirm abzubau-en. Immer kleiner wurde die Blase, immer näher kam das Schirmfeld der Wandung der Space-Jet. Der Platz, auf dem sie vor kurzem noch gearbeitet hatten, füllte sich wieder mit dem Wasser der Tiefsee. Schließlich lag das

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Feld hauteng auf der Wandung des Fahrzeugs. Mantun schaltete den Generator aus. Jetzt war nur noch die starke Terkonit-Wand zwischen ihm und dem mörderischen Druck der Um-welt.

Er setzte das Fahrzeug in Bewegung. Seit-wärts gab es eine alleinstehende Gebäude-wand, hinter der er das Versteck der Fremden vermutete. Er schaltete die Infrarotscheinwer-fer ein. Als die Space-Jet um die Wand her-umglitt, bemerkte er auf dem Meeresboden deutliche Anzeichen, daß sich hier jemand vor kurzem zu schaffen gemacht hatte. Von Arn-vill jedoch, von den Fremden und den Fahr-zeugen, die sie bei sich gehabt haben mußten, fehlte jede Spur.

Ratlos und traurig machte Mantun sich auf die Suche. Er wußte nicht, wohin er sich wenden sollte. Aber er gelobte sich, daß er nicht eher aufhören würde, nach Baggo Arn-vill zu suchen, als bis Mangel an Treibstoff, Atemluft oder Proviant ihn dazu zwang.

*

Allmählich erlangte Arnvill den freien

Gebrauch der Muskeln zurück. Er konnte sich wieder bewegen. Er konnte aufstehen und ein paar Schritte auf und ab gehen, soweit es die alles andere als großzügigen Abmessungen seines Gefängnisses erlaubten. Aber das war auch alles. Die Wände waren glatt und fugen-los, die Decke so hoch, daß er sie nicht errei-chen konnte. Wenn er nicht gesehen hätte, wie sich die Tür vor seinen Wächtern öffnete und hinter ihnen schoß, wäre er niemals ge-wahr geworden, daß es dort überhaupt eine Tür gab.

Er wußte nicht, wieviel Stunden vergangen waren, als die Zelle plötzlich geöffnet wurde. Zwei Bewaffnete standen draußen. Baggo Arnvill hatte sie nie zuvor gesehen. Sie wink-ten mit den Läufen ihrer Blaster. Einer rief:

»Der Herr will dich sehen! Los, komm mit! Arnvill schritt vor ihnen her. Es ging einen

Gang entlang, um mehrere Ecken und schließ-lich durch eine Tür in einen finsteren, unan-genehm warmen Raum, in dem es eigenartig roch. Die Wächter blieben zurück. Eine Tür glitt ins Schloß. Baggo Arnvill stand alleine mitten in der Finsternis.

Seltsam – er konnte nichts sehen, aber er wußte, daß sich ein zweites Wesen in diesem Raum befand. Er hörte es nicht, er sah es nicht, und doch wußte er, daß es da war. Sei-ne Gegenwart machte sich in Arnvills Be-wußtsein bemerkbar. Die gedankliche Aus-strahlung des Fremden schien in Arnvills Ge-hirn zu materialisieren. Sie erfüllte ihn mit Furcht. Sie war wie ein Bann, der ihn dazu zwingen wollte, sich bedingungslos zu erge-ben, zu unterwerfen. Er kämpfte dagegen an, und bis zu einem gewissen Grad gelang es ihm, den unheimlichen Zwang von sich abzu-schütteln.

Da wurde seine Aufmerksamkeit durch ei-nen anderen Vorgang abgelenkt. Er glaubte zu bemerken, wie Spuren eines unwirklichen Lichtes plötzlich den Raum durchdrangen. Es wurde heller. Ein dunkler, rötlicher Schimmer machte sich breit. Zuerst sah Baggo Arnvill sich selbst. Die Umrisse seiner Arme, seiner Beine, seiner Füße schälten sich aus der Dun-kelheit. Er sah auf. Dort vorne irgendwo muß-te sich der Fremde befinden, dessen gedankli-che Ausstrahlung er spürte.

Die Helligkeit nahm zu. Arnvill sah einen glatten Boden, glatte Wände, und schließlich nahm er Stufen wahr, die vor ihm in die Höhe führten. Das Licht kam von irgendwo ober-halb der Stufen.

Der Detektiv blickte in die Höhe und sah die Umrisse einer mächtigen Gestalt sich ge-gen das Halbdunkel abzeichnen. Furcht pack-te ihn von neuem. Er wehrte sich dagegen; aber das Gefühl blieb. Eine hypnotische Kraft ging von dem Fremden aus, der er kaum zu widerstehen vermochte.

Unfähig, den Blick zu wenden, starrte Arn-vill auf die riesige Gestalt, die sich vor ihm aus dem Dunkel schälte. Sie schien auf einem Podest zu stehen, zu dem die Stufen hinauf-führten. Der Fremde war wenigstens zwei Meter groß, die Schultern waren von unglaub-licher Breite, und die Beine waren zwei große Säulen, die das gewaltige Gewicht des massi-gen Körpers mühelos zu tragen vermochten. Noch war der Fremde weiter nichts als eine Silhouette. Noch reichte die Helligkeit nicht aus, um Arnvill das Gesicht des Mannes er-kennen zu lassen.

Da flammten plötzlich Lampen auf. Von

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einer Sekunde zur anderen flutete grelles, weißes Licht durch den großen Raum. Arnvill stockte das Blut in den Adern. Vor sich, auf dem Podest, stand die unglaublichste Kreatur, die er je zu Gesicht bekommen hatte. Grau war ihre Haut, grau die Kleidung, in die sie sich gehüllt hatte. Aber es hätte dieser Hin-weise nicht bedurft. Arnvill wußte allein aus der Furcht, die er empfand, wen er vor sich hatte.

Den Grauen selbst! Er war humanoid. Seine Haut wirkte dick

und hatte grobe Poren wie die eines Elefan-ten. Das Gesicht war verquollen, die Augen zwischen zwei Hautfalten fast verborgen. Na-se, Mund und Brauen wirkten wie häßliche Geschwüre. Dunkle Haare sprossen dünn aus dem mächtigen Schädel. Jedes Haar schien seinen eigenen Hautwulst zu besitzen, aus dem es hervorwuchs. Der Anblick des Frem-den war so grausig, so abscheulich, daß er Baggo Arnvill kalte Schauer des Grauens ü-ber den Rücken jagte. Der Graue war huma-noid; aber er war kein Wesen der Erde. Kein denkbarer Mißwuchs, kein Unfall konnte sol-che Züge hervorbringen, wie Arnvill sie sah.

Die breite Schwäre, die den Mund bildete, öffnete sich. In gequetschtem Tonfall, mit schwerem Akzent drangen aus der Öffnung Worte.

»Du hast mir seit Jahren widerstanden. Du haßt mich. Du willst mich vernichten. Ich habe dich gewähren lassen. Ohne es zu wis-sen, warst du mir nützlich. Du suchtest nach weiteren Bruchstücken des Kriegskalenders. Du machtest Aufnahmen der Stücke, die du für wichtig hieltest. Meine Leute haben deine Kamera mitgebracht. Die Aufnahmen werden ausgewertet. Deine Nützlichkeit ist erschöpft. Du wirst getötet!«

Als habe sich beim Sprechen die hypnoti-sche Kraft des Grauen verstärkt, fühlte Arn-vill, wie eine neue Welle der Furcht über ihn hinwegbrandete. Er konnte sich kaum bewe-gen, so sehr stand er unter dem Einfluß des Ungeheuers. Aber eine Sorge lebte noch in seiner Seele, die mächtiger war als alle Furcht.

»Wo ist Tregiro«, brach es aus ihm hervor. »Was hast du ihm getan?«

Der Graue gab ein spöttisches Lachen von

sich. Es klang hohl und hallte von den Wän-den des kahlen Raumes wider.

»Du meinst, ich hätte ihn? Das war ein Trick, den meine Leute gebrauchten. Ich weiß nicht, wo dein Sohn ist, und da du in Kürze tot sein wirst, brauche ich mich auch nicht mehr um ihn zu kümmern.«

Da brach etwas in Baggo Arnvill zusam-men – der Damm, hinter dem sich all der Zorn und die Rachsucht aufgestaut hatten. Vor ihm stand der Übeltäter, der Amjana er-mordet, Tregiro bedroht und ihn selbst mehre-re Male bis an den Rand des Abgrunds ge-bracht hatte, aus dem es kein Entrinnen gab. In Arnvills Gehirn riß der Faden, der das Be-wußtsein mit dem Selbsterhaltungstrieb ver-band. Mit einem wütenden, gurgelnden Schrei stürzte er sich auf die Bestie.

Der Graue hatte diesen Angriff nicht erwar-tet. Mit dem Schädel voran prallte Arnvill in weiche, nachgiebige Körpermasse. Das Un-geheuer gab einen grunzenden Laut von sich, taumelte und stürzte. Mit einem weiteren Satz war Arnvill über ihm und hieb mit beiden Fäusten in das entstellte, verzerrte Gesicht. Aber der anfängliche Erfolg war nur ein scheinbarer. Selbst die Kräfte, die ihm die Wut verlieh, vermöchten den Unterschied zwischen Arnvills geringen Körperkräften und der unheimlichen Macht des Grauen nicht auszugleichen.

Der Detektiv spürte, wie ihm die Muskeln erlahmten. Angst stieg von neuem in ihm auf. Die unheimliche, hypnotische Macht des Un-geheuers schickte sich an, ihn zu unterwerfen. Hilflos in ihrer Wut trommelten die Fäuste auf den Körper des Grauen ein.

»Selbst wenn du es fertigbrächtest«, sagte der häßliche Mund, »könntest du mich nicht oft genug töten!«

Baggo Arnvill hielt inne. Die Kraft hatte ihn verlassen. Er war ausgelaugt, erschöpft. Angst erfüllte sein Bewußtsein bis in den hin-tersten Winkel. Der Graue sprang auf. Die Bewegung schleuderte Baggo Arnvill beiseite wie einen leblosen Gegenstand, der zu nichts mehr nütze war. Er blieb liegen, ohne sich zu rühren. Es war keine Kraft mehr in ihm. Der Zorn war verraucht. Schwäche und Hilflosig-keit lähmten die Muskeln.

Eine Tür ging auf. Männer strömten herein.

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Einer trug einen Schutzanzug, ein altmodi-sches Gebilde mit einem großen Tornister auf dem Rücken. Die Leute packten zu. Arnvill wehrte sich nicht, als er in den Anzug hinein-gestopft wurde. Er hörte den Grauen spre-chen.

»Das ist dein Ende, Arnvill. Der Anzug ist defekt. Der Fortbewegungsmechanismus funktioniert nicht, und der Sender ist ausge-baut. Du hast für knapp eine Stunde Atemluft. Du wirst meine Wege nicht mehr kreuzen, Baggo Arnvill, und mir keinen Schaden mehr zufügen.«

Die Männer trugen den Detektiv fort. Er nahm seine Umgebung nicht mehr wahr. Die Welt drehte sich. Er sah Bilder, die in seinem Bewußtsein zu bunten Fäden zerflossen, und hörte Worte, die er nicht verstand. Er hörte das klingende Dröhnen von schwerem Metall und fand sich plötzlich in einem kleinen Raum, in dem Wasser auf ihn einstürzte. Bin-nen weniger Sekunden war er von der grauen Flut völlig umgeben. Er fühlte die kühle, fri-sche Luft aus den Reservoiren des Rücken-tornisters durch den Anzug strömen. Plötzlich gab es einen Ruck. Die Wände der kleinen Kammer, in der er geruht hatte, blieben hinter ihm zurück. Er trieb in die Weite des Welt-meeres hinaus. Fische waren plötzlich in der Nähe und glotzten ihm durch die Sichtscheibe des Helms ins Gesicht. Milchiges Dämmer-licht umgab ihn, der Rest der Sonnenstrahlen, die auf die Oberfläche des Ozeans fielen und sich verzehrten, während sie in die Tiefe drangen. Genug für ihn, um die Kreaturen des Meeres zu erkennen, die ihn umgaben.

Er war verloren. Das Spiel war aus. Er

konnte die Arme und Beine bewegen, um sich in diese oder jene Richtung zu treiben; aber das war alles. Der Anzug war zu schwer, als daß er mit ihm die Oberfläche hätte erreichen können. Er wehrte sich nicht gegen sein Ge-schick. Er war zufrieden, daß der Graue Tre-giro nicht gefunden hatte. Wenigstens der Junge würde dem Unheil entgehen!

Aber ein Gedanke fuhr fort, in Baggo Arn-vills Bewußtsein zu pochen, während er hilf-los durch die Tiefsee trieb. Was hatte der Graue gesagt? Selbst wenn du es fertigbräch-test, könntest du mich nicht oft genug töten!

Was hieß das? Stumm trieb Baggo Arnvill durch das mil-

chige Blau. Der merkwürdige Ausspruch des Grauen würde ihn nicht loslassen, bis er starb.

*

Stunde um Stunde, Tag um Tag durchsuch-

ten Altyrn Massocka und Organest Schernk die beiden lemurischen Städte. Von Baggo Arnvill und seinen beiden Begleitern fanden sie keine Spur. Sie landeten im Expeditions-lager der USO, das sich am nördlichen Ufer des alten Flusses befand, gaben sich zu er-kennen und baten dort um Informationen. Aber dort kannte man Arnvill nicht und hatte ihn nie gesehen. Am 23. März gaben die bei-den Offiziere auf. Major Massocka sagte trü-be: »Es bleibt uns nichts anderes übrig, als Quinto-Center anzurufen und unseren Mißer-folg einzugestehen.«

ENDE

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Weiter geht es in Band 90 (91) der ATLAN-ebooks mit:

Raumschiff der Amokläufer von H. G. Francis

Impressum: © Copyright der Originalausgabe by Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt Chefredaktion: Klaus N. Frick © Copyright der eBook-Ausgabe by readersplanet GmbH, Passau, 2004, eine Lizenzaus-gabe mit Genehmigung der Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

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