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Das Abenteuer außergewöhnlicherBewusstseinserfahrungen.Begegnungen mit Göttern und Dämonen, Kontakt zum Jenseits, außerkörperlicheErfahrungen, verblüffende Erlebnisse mit Synchronizität, Hellsehen.
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Klappentext:
Sich vollkommen eins fühlen mit anderen, der Natur, dem ganzen Universum und sogar mit materiellen Dingen, Begegnungen mit Göttern und Dämonen, Kontakt zum Jenseits, außerkörperliche Erfahrungen, verblüffende Erlebnisse mit Synchronizität, Hellsehen, Erinnerungen an frühere Leben und vieles mehr: Die Wissenschaft beäugt das alles ziemlich skeptisch.Doch Stanislav Grof, der international anerkannte Experte, Forscher und Mitbegründer der Transpersonalen Psychologie, ist da ganz anderer Meinung und belegt, dass Erlebnisse dieser Art eine reale und konkrete Kraft entfalten.
In diesem Buch nimmt er uns mit in aufregende Gewässer. Wir tauchen ein in das Abenteuer außergewöhnlicher Bewusstseinserfahrungen, nach deren Lektüre wir uns fragen werden: »Aus welchem Stoff sind wir denn nun eigentlich gemacht?« In zahlreichen Geschichten berichtet Grof von Menschen, die solche ungewöhnlichen Erlebnisse hatten und wie sich ihr Leben dadurch positiv veränderte. Er erzählt auch von eigenen Erfahrungen, die ihm einen kurzen Einblick in kosmisches Bewusstsein gewährten, von LSD- Experimenten und außergewöhnlichen Zuständen beim Holotropen Atmen oder spontan mitten im Alltag. Diese ihn prägenden Ereignisse haben seine persönliche und wissenschaftliche Weltanschauung nachhaltig verändert und machen ihn zu einem unkonventionellen Denker und Kenner anderer Dimensionen.
Impossible - Wenn Unglaubliches passiert kann für jeden, der auf der Suche ist, wichtige Antworten auf bisher ungelöste Fragen geben. Das Buch bietet die wunderbare Chance, über das gewöhnliche Bewusstsein hinauszureisen, und eröffnet eine neue Sicht auf die Reichweite menschlicher Existenz. Alles ist möglich!
Stanislav GrofDr. med., Dr. phil., ist Psychiater
mit mehr als 50-jähriger
Erfahrung auf dem Forschungs
gebiet außergewöhnlicher
Bewusstseinszustände und gilt
international als der maßgebli
che Experte für Transpersonale
Psychologie. Seine Forschungen
über die klinische Anwendung
von LSD und anderen psychedelischen Substanzen
begannen am Psychiatrischen Forschungsinstitut in
Prag und wurden nach der Übersiedelung in die USA
(1967) am Maryland Psychiatric Research Center, an der
Henry Phipps Clinic der Johns-Hopkins-Universität,
Baltimore sowie am Esalen-Institut in Kalifornien fort
gesetzt. Mit seiner Frau Christina Grof entwickelte er
darüber hinaus das »Holotrope Atmen«, in dem eben
falls die Erfahrung außergewöhnlicher Bewusstseins
zustände möglich wird.
Stanislav Grof ist Gründer und Präsident der
International Transpersonal Association (ITA), die
Konferenzen in den USA, in Südamerika, Europa, Indien
und Australien veranstaltet; außerdem Professor für
Psychologie am California Institute of Integral Studies
(CIIS), San Francisco sowie an der Pacifica Craduate
School, Santa Barbara. Er hält weltweit Vorträge, leitet
Seminare für Holotropes Atmen und Transpersonale
Psychologie. Seine zahlreichen populärwissenschaftli
chen Bücher und profunden Fachartikel wurden in
viele Sprachen übersetzt.
Er lebt in Mill Valley/ Kalifornien.
www.holotropic.com
Weitere Informationen zu diesem Buch und unserem
gesamten lieferbaren Programm finden Sie unter
www.koesel.de
Kösel-Verlag München
Stanislav Grof
impossible - Wenn Unglaubliches passiert
Das Abenteuer außergewöhnlicher Bewusstseinserfahrungen
Aus dem Amerikanischen von
Karin Petersen, Berlin
Scan & OCR von Shiva2012
Kösel
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»When The Impossible Happens. Adventures in Non-Ordinary
Realities«. Sounds True, Inc., Boulder
Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100
Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte Papier
EOS liefert Salzer, St. Pölten.
Copyright © 2006 by Stanislav Grof
Copyright © für die deutsche Ausgabe 2008 Kösel-Verlag,
München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlag: 2005 Werbung, München
Umschlagmotiv: Chris Johns / Getty Images
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN 978-3-466-34516-8
www.koesel.de
Für Christina - meine Frau, Geliebte, beste Freundin,
Mitarbeiterin und Mitsuchende -, mit der ich viele der
Abenteuer in außergewöhnlichen Realitäten, die ich in
diesem Buch beschreibe, gemeinsam erlebte, und die
sah, wie das Unglaubliche geschah.
7
Inhalt
Vorwort
Prolog
Die Entdeckung kosmischen Bewusstseins:
Meine erste LSD-Sitzung
Teil 1
Das Mysterium der Synchronizität: Im Zwielicht
des Uhrwerk-Universums
Die Macht der Tierwelt: Eine Gottesanbeterin
in Manhattan
Die sterbende Königin: Wenn Voraussagen
im Traum sich hei Tag erfüllen
Die Regenbogenbrücke der Götter: lm Reich
der nordischen Sagen
Das Spiel des Bewusstseins: Swami Muktananda
und Siddha Yoga
Der Guru im Lehen seiner Anhängerinnen und
Anhänger: Ist der Siddha Yogi ein kosmischer
Marionettenspieler?
Der Tanz des weißen Schwans: Mit dem Geisterkanu
der Salish in die Unterwelt reisen
Die Entstehung des Films Brainstorm:
Unser Hollywood-Abenteuer
11
22
22
31
39
42
49
63
83
96
102
8 Inhalt
Der Lauf des Wassers: Begegnungen mit
Präsident Vaclav Havel
Der Segen der Götter: Don Jose und die
Regenzeremonie der Huichol
Fine Lektion in Verzeihen: Peyote-Zeremonie
mit Potawatomi-Indianern
Teil 2
Geburt und pränatales Leben erinnern: »Nach uns
ziehend Wolkenglanz und Glorienschein«
Eine schwierige Entbindung in der Mittagspause:
Lenis Geschichte
Der Geruch von frischem Leder: Kurts Geschichte
Der Anblick der alten Eiche: Anne-Maries Geschichte
Pränataler Besuch des Jahrmarkts im Dorf:
Richards Geschichte
Das Spermarennen gewinnen: Erfahrungen mit
der zellulären Ebene des Bewusstseins
Teil 3
Wiederholungsbesuche in der Geschichte: Die
Reichweite des menschlichen Gedächtnisses
Ein Erlebnis aus dem russisch-finnischen Krieg:
Ingas Geschichte
Das kleine Mädchen mit der weißen Schürze:
Nadjas Geschichte
Erinnerungen der geraubten Generationen
zurückbringen: Mariannes Geschichte
Erinnerung an das Erlebnis eines Vorfahren oder
Erfahrung aus einem eigenen früheren Leben?
Renatas Geschichte
118
127
135
141
145
148
150
153
159
163
165
167
110
174
Inhalt
Teil 4
Haben wir schon einmal gelebt? Reinkarnation
und die Akasha-Chronik
Die Belagerung von Dun an Oir: Karls Geschichte
Das karmische Dreiecksverhältnis: Eine Zeitreise
in das alte Ägypten
In den Katakomben der Pecherskaya Lavra: Ein
früheres Leben im zaristischen Russland
Wenn spirituelle Erfahrungen gefährlich werden: Wie-
derholungsbesuch bei der Hexenverfolgung in Salem
Teil 5
Außersinnliche Wahrnehmungen und Jenseits:
Die Welt des Paranormalen erforschen
Ohne Augen sehen (Innere Sicht): Teds Geschichte
Botschaften aus dem Astralreich: Richards Geschichte
Ein Beweis für die Existenz des Jenseits? Walters Geschichte
Rosenschnitt in Tante Annes Garten: Kurts Geschichte
Luiz Gasparetto: Maler und Gemälde aus dem Jenseits
Eine Party für Exu: Interview mit den Orixäs
Das Tabu unserer eigenen Hellsichtigkeit:
Sitzungen mit Anne Armstrong
Ameisen der Großen Muttergöttin: Ein Besuch in Palenque
Uluru und Alcheringa: Ein Abenteuer in der Traumzeit
Versuchungen eines nicht lokalen Universums: Ein
fehIgeschlagenes Experiment mit astraler Projektion
Kanal sein für den Avatar: Meine Mutter, Sai Baba und
das Holotrope Atmen
Wenn alles eins ist, gibt es kein Problem: Meisterstücke
des koreanischen Schwertkünstlers
Ein seltsames Vermächtnis der alten Mayas:
Das Mysterium des KristalIschädels
179184
188
200
215
223
232
235
237
240
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251
260
268
274
286
295
306
9
310
10 Inhalt
Materie und Bewusstsein: Ketamin und die
Wiederverzauberung der Welt
Auf dem Inka-Pfad: Das Geheimnis der Trepanation
entdecken
Teil 6
Unorthodoxe Psychiatrie: Überraschende Alternativen
zu traditionellen Behandlungsmethoden
Der Schmerz, der drei Jahrhunderte überlebte:
Norberts Geschichte
Die Schweinegöttin von Malekula: Ottos Geschichte
Interview mit dem Teufel: Floras Geschichte
Den Archetyp der Daphne verkörpern: Marthas Geschichte
Heilung von Depressionen durch ein sephardisches Gebet:
Gladys’ Geschichte
Fruchtbare psychiatrische Ketzerei: Miladas Geschichte
Magisches Sandspiel: Ein Kätzchen als Therapeut
Teil 7
Transpersonale Psychologie und Mainstream-
Wissenschaft
Wenn Wissenschaft zu Pseudo-Wissenschaft wird:
Carl Sagan und seine von Dämonen verfolgte Welt
Die Morgenlandfahrt: LSD für die (ehemalige) Sowjetunion
Psyche und Kosmos: Was die Planeten uns über
Bewusstsein verraten können
Epilog
Dank
Bibliographie
Kontakt zum Autor
329
333
339
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431
318
11
Vorwort
or fast einem halben Jahrhundert veränderte eine tiefgreifende
Erfahrung, die nur wenige Zeitstunden dauerte, mein persön
liches und berufliches Leben nachhaltig. Nur ein paar Monate nach
meinem Abschluss an der medizinischen Hochschule meldete ich
mich als junger Assistenzarzt in der Psychiatrie freiwillig für ein
Experiment mit LSD, einer Substanz mit bemerkenswerten psy-
choaktiven Eigenschaften, die der Schweizer Chemiker Albert Hof
mann in den pharmazeutischen Labors der Firma Sandoz in Basel
entdeckt hatte.
Diese Sitzung, in der ich vor allem während der Kulminations
phase eine überwältigende und unbeschreibliche Erfahrung mit
kosmischem Bewusstsein machte, weckte in mir ein intensives,
lebenslanges Interesse an außergewöhnlichen Bewusstseinszustän
den. Seit der Zeit bestehen die meisten meiner klinischen Projekte
und Forschungsunternehmen in der systematischen Untersuchung
des therapeutischen, transformativen und evolutionären Potenzials
dieser Zustände. Die fünfzig Jahre, in denen ich Bewusstseinsfor
schung betrieben habe, waren für mich ein höchst bemerkens
wertes Abenteuer der Entdeckung und Selbstentdeckung.
Etwa die Hälfte dieser Zeit widmete ich der therapeutischen
Arbeit mit psychedelischen Substanzen, zunächst in der Tschecho
slowakei am Psychiatrischen Forschungsinstitut in Prag und dann am
Maryland Psychiatric Research Center in Baltimore, USA, wo ich am
letzten psychedelischen Forschungsprogramm mitwirkte, das in
V
12 Vorwort
Amerika damals noch existierte. Seit 1975 arbeiten meine Frau
Christina und ich mit dem Holotropen Atmen, einer tiefgreifenden
Methode für therapeutische Zwecke und für die Selbsterforschung,
die wir am Esalen-Institut in Big Sur, Kalifornien, gemeinsam entwi-
ckelt haben. Im Laufe der Jahre haben wir auch viele Menschen
unterstützt, bei denen außergewöhnliche Bewusstseinszustände
spontan auftraten - in psychospirituellen oder »spirituellen Kri-
sen«, wie Christina und ich das nennen.
Der gemeinsame Nenner der Erlebnisse mit psychedelischen
Substanzen besteht darin, dass sie außergewöhnliche Bewusstseins-
zustände enthalten oder, genauer gesagt, eine wichtige Unterkate-
gorie dieser Zustände, die ich »holotrop« nenne. Dieses zusam-
mengesetzte Wort bedeutet wörtlich »ausgerichtet auf Ganzheit«
oder »sich in Richtung Ganzheit bewegen« (vom gr. holos, ganz,
und trepein, sich auf etwas zu oder in Richtung von etwas bewe-
gen). Dieser Begriff verweist darauf, dass wir uns in unserem alltäg-
lichen Bewusstseinszustand nur mit einem kleinen Ausschnitt des-
sen identifizieren, wer wir wirklich sind. Am besten erklären lässt
sich der Begriff holotrop vor dem Hintergrund der hinduistischen
Unterscheidung zwischen Namarupa (Name und Gestalt, die wir in
unserer alltäglichen Existenz annehmen) und Atman-Brahman (un-
sere tiefste Identität, die vergleichbar ist mit dem kosmischen
schöpferischen Prinzip). In holotropen Bewusstseinszuständen
können wir die engen Grenzen unseres Körper-Ichs transzendieren
und unsere vollständige Identität zurückgewinnen. Wir machen
die Erfahrung, dass wir uns mit allem, was Teil der Schöpfung ist,
identifizieren können, sogar mit dem schöpferischen Prinzip selbst.
Holotrope Erfahrungen spielen eine wichtige Rolle bei scha-
manistischen Initiationskrisen, bei den Heilungszeremonien der
Eingeborenenkulturen, den Übergangsriten der australischen Ur-
einwohner und systematischen spirituellen Schulungswegen wie
verschiedenen Formen von Yoga, buddhistischer oder taoistischer
Meditation, Sufi Dhikrs (intensive Anbetung Allahs, Anm.d.Ü.),
Vorwort 13
kabbalistischen Übungen oder dem christlichen Jesusgebet (Hesy-
chasm). Beschreibungen dieser Erfahrungen finden wir auch in der
Literatur über die uralten Mysterien von Tod und Wiedergeburt,
die im Mittelmeerraum und in anderen Teilen der Welt praktiziert
wurden, im Namen von Inanna und Tammuz, Isis und Osiris, Dio-
nysos, Attis, Adonis, Mithra, Wotan und vielen anderen Gottheiten.
Im Alltagsleben kann es in Nahtodsituationen zu holotropen
Erfahrungen kommen oder auch spontan, ohne jeden offensicht-
lichen Anlass. Sie können auch ausgelöst werden durch tiefgrei-
fende Formen der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ent-
wickelten erlebnisorientierten Therapien.
In der psychedelischen Therapie werden holotrope Zustände
durch Verabreichung bewusstseinsverändernder Substanzen wie
LSD, Psilocybin, Meskalin und Typtamin- oder Amphetamin-Deri-
vate herbeigeführt. Beim Holotropen Atmen verändert sich das Be-
wusstsein durch eine Kombination von schnellerer Atmung, evo-
kativer Musik (z.B. intensives Trommeln, Chorgesang, kraftvolle
Orchestermusik, Anm.d.Ü.) und Körperarbeit, die energetische
Blockaden löst. In spirituellen Krisen kommt es spontan zu holo-
tropen Zuständen, mitten im Alltag, und die Ursache dafür ist
meistens nicht bekannt. Wenn wir holotrope Zustände richtig ver-
stehen und unterstützen, haben sie ein äußerst heilsames, transfor-
matives und sogar evolutionäres Potenzial.
Parallel zu diesen Forschungen habe ich mich mit vielen Diszi-
plinen beschäftigt, die mehr oder weniger direkt mit holotropen
Bewusstseinszuständen zusammenhängen. Ich habe viel Zeit damit
verbracht, mich mit Anthropologen auszutauschen, und an den
heiligen Zeremonien von Eingeborenenkulturen in vielen Teilen
der Welt mit und ohne Einnahme von psychedelischen Pflanzen
wie Peyote, Ayahuasca und magischen Pilzen teilgenommen. Da-
mit verbunden waren Kontakte mit zahlreichen nordamerika-
nischen, mexikanischen, südamerikanischen und afrikanischen
Schamanen und Heilern. Ich hatte auch intensive Begegnungen
14 Vorwort
mit Vertreterinnen und Vertretern vieler spiritueIIer Disziplinen,
darunter Vipassana, Zen, Vajrayana Buddhismus, Siddha Yoga,
Tantra und der christliche Benediktinerorden.
Ein weiteres Gebiet, dem ich viel Aufmerksamkeit widmete,
war die Thanatologie und die noch junge Disziplin der Erforschung
von Nahtoderfahrungen sowie der psychologischen und spiritu-
ellen Aspekte von Tod und Sterben. Ende der 1960er- und zu
Beginn der 1970er-Jahre nahm ich an einem umfassenden For-
schungsprojekt teil, bei dem wir die Auswirkungen der psychede-
lischen Therapie auf Menschen untersuchten, die an Krebs im
Endstadium litten. Ich sollte hier auch erwähnen, dass ich das Pri-
vileg hatte, einige der größten Hellsichtigen und Parapsychologen
unserer Zeit, Pioniere der Bewusstseinsforschung im Labor, per-
sönlich kennenzulernen und bei ihrer Arbeit zu erleben sowie The-
rapeutinnen und Therapeuten, die tiefgreifende Formen von er-
lebnisorientierter Therapie entwickelt haben, welche holotrope
Bewusstseinszustände auslösen.
Meine erste Begegnung mit holotropen Zuständen war sehr schwie-
rig und sowohl intellektuell als auch emotional eine große Heraus-
forderung. In den ersten Jahren meiner Laboruntersuchungen und
klinischen Forschungen mit Psychedelika prasselten täglich Erfah-
rungen und Beobachtungen auf mich ein, auf die mich meine
medizinische und psychiatrische Ausbildung nicht vorbereitet hat-
te. Tatsächlich erlebte und sah ich hier Dinge, die im Kontext der
wissenschaftlichen Weltanschauung, mit der ich aufwuchs, als
unmöglich galten und die es eigentlich gar nicht geben sollte. Und
trotzdem erlebte ich diese scheinbar unmöglichen Dinge ständig.
Nachdem ich die anfängliche Erschütterung meines Denkens,
meine Ungläubigkeit in Bezug auf meine Beobachtungen und die
Zweifel an meinem Geisteszustand erst einmal überwunden hatte,
wurde mir allmählich klar, dass das Problem nicht in meiner Be-
obachtungsfähigkeit oder meinem kritischen Urteil lag, sondern
Vorwort 15
im engen Denken der zeitgenössischen psychologischen und psy-
chiatrischen Theorien und des monistischen, materialistischen
Paradigmas der westlichen Wissenschaft. Natürlich war mein Weg
zu dieser Erkenntnis nicht leicht, denn ich hatte mit der Ehrfurcht
und dem Respekt zu kämpfen, die ich als Medizinstudent und An-
fänger auf dem Gebiet der Psychiatrie dem akademischen Estab-
lishment, wissenschaftlichen Autoritäten und beeindruckenden
Referenzen und Titeln entgegenbrachte.
Mein anfänglicher Verdacht, dass die akademischen Theorien
über das menschliche Bewusstsein und die menschliche Psyche
völlig unzureichend waren, verwandelte sich allmählich in Gewiss-
heit, unterstützt und bestätigt durch Tausende von klinischen Be-
obachtungen. Schließlich kam ich an einen Punkt, wo ich keinerlei
Zweifel mehr daran hatte, dass die Daten aus der Forschung über
holotrope Zustände eine kritische gedankliche Herausforderung
für das wissenschaftliche Paradigma darstellen, das in Psychologie,
Psychiatrie und Psychotherapie im Augenblick vorherrschend ist,
und brachte diese Meinung in einer Reihe von Fachbüchern zum
Ausdruck. Ich gelangte zu dem Schluss, dass das Denken in diesen
Disziplinen eine radikale Revision erforderte, von Inhalt und Reich-
weite der begrifflichen Umwälzung vergleichbar, der sich die new-
tonschen Physiker in den ersten dreißig Jahren des 20. Jahrhun-
derts stellen mussten.
Die Beobachtungen, welche die Weltanschauung in Frage stell-
ten, die mir von meinen Hochschullehrern und meiner Kultur ver-
mittelt worden war, gingen auf viele verschiedene Gebiete und
Quellen zurück. Die meisten dieser Informationen beruhten auf
den außergewöhnlichen Erfahrungen, von denen meine Klien-
tinnen und Klienten in der psychedelischen Therapie, die Teilneh-
merinnen und Teilnehmer an unseren Workshops und Trainings
für Holotropes Atmen sowie Menschen in spirituellen Krisen
berichteten. Ein entscheidender Faktor bei der Transformation
meiner Sicht der Welt waren die holotropen Erfahrungen verschie
16 Vorwort
denster Art, die ich selbst erlebte, sowie die Erlebnisse, von denen
mir meine Frau Christina berichtete.
Das Beweismaterial, das diese grundlegende Veränderung mei-
ner Weltanschauung bewirkte, beruhte jedoch nicht nur unmittel-
bar auf besonderen Bewusstseinszuständen. Im Laufe der Jahre ge-
schahen auch in unserem Alltagsleben viele ungewöhnliche Dinge,
die zu dieser Transformation beigetragen haben. Dazu gehörten be-
merkenswerte Begegnungen und Erlebnisse mit Schamanen aus
unterschiedlichen Kulturen, bekannten spirituellen Lehrern und
Hellsichtigen sowie viele erstaunliche Zusammentreffen und Syn-
chronizitäten. Der gemeinsame Nenner all dieser Ereignisse war
die Tatsache, dass sie gar nicht hätten passieren dürfen, wenn das
Universum so beschaffen wäre, wie die traditionelle Wissenschaft
es darstellt - als streng deterministisches, materielles System, das
regiert wird von Ketten von Ursachen und Wirkungen. Vor diesem
Hintergrund entstand der Titel dieses Buches.
Impossible - Wenn Unglaubliches passiert. Das Abenteuer außerge-
wöhnlicher Bewusstseinserfahrungen ist eine Sammlung von Ge-
schichten über viele verschiedene Ereignisse in meinem beruflichen
und persönlichen Leben, die mich zwangen, meine skeptische und
materialistische wissenschaftliche Weltanschauung aufzugeben
und mir die östlichen spirituellen Philosophien und die mystischen
Lehren der Welt zu eigen zu machen. Durch all diese Erfahrungen
bekam ich auch großen Respekt vor dem rituellen und spirituellen
Leben und den Heilungstraditionen der Eingeborenenkulturen,
welche die westliche Wissenschaft als primitiven Aberglauben ab-
tut. Ich bin mir der Tatsache bewusst, dass die Lebenserfahrungen,
die diese Geschichten beschreiben, über die Lektüre nicht ihre
ganze reale und konkrete Kraft entfalten können. Dennoch hoffe
ich, dass sie den Leserinnen und Lesern einen Geschmack von der
Wiederverzauberung des Universums vermitteln, die sie in meinem
eigenen Leben bewirkt haben.
Vorwort 17
Teil 1 des Buches besteht aus Geschichten über das Phänomen, das
C.G. Jung als Synchronizität beschrieb - das höchst unwahrschein-
liche Zusammentreffen von Ereignissen, die durch das Prinzip der
linearen Kausalität, das den Grundpfeiler westlichen wissenschaft-
lichen Denkens darstellt, nicht erklärbar sind. Indem Synchronizi-
täten uns zeigen, dass die materielle Welt mit der menschlichen
Psyche in einen spielerischen Austausch treten kann, erschüttern
sie allein dadurch, dass sie existieren, die Grundlagen des newto-
nisch-kartesianischen Paradigmas und der monistischen materia-
listischen Weltanschauung. Sie zerstören die von westlichen aka-
demischen Kreisen vertretenen grundlegenden metaphysischen
Annahmen, dass Bewusstsein und Materie zwei getrennte Bereiche
sind, dass Materie das Primäre und Bewusstsein ihre bloße Begleit-
erscheinung ist und die Ereignisse in der Welt ausschließlich von
Ketten von Ursachen und Wirkungen gesteuert werden.
Teil 2, 3 und 4 des Buches enthalten Geschichten, die das augen-
blicklich vorherrschende wissenschaftliche Bild von der Natur und
von der Reichweite des menschlichen Gedächtnisses in Frage stel-
len. Mainstream-Psychiater und -Neurophysiologen gehen davon
aus, dass das Gehirn des Neugeborenen noch nicht weit genug ent-
wickelt ist, um die Erinnerungen an die stundenlangen, anstren-
genden und schmerzlichen Erfahrungen zu verzeichnen, die es bei
seiner biologischen Geburt macht. Die Arbeit mit holotropen Be-
wusstseinszuständen zeigt jedoch immer wieder eindeutig, dass
jede und jeder von uns in der unbewussten Psyche nicht nur die
Erinnerungen an die eigene Entbindung und das damit verbun-
dene Trauma mit sich herumträgt, sondern auch Erinnerungen an
das pränatale Leben und die frühe Existenz als Embryo, an die ei-
gene Empfängnis und das Leben ihrer oder seiner menschlichen
und tierischen Vorfahren.
Es scheint nicht sehr plausibel zu sein, dass unsere gesamte
biologische Geschichte in einem Molekül - der DNA - gespeichert
18 Vorwort
werden kann, und diese Aufzeichnungen unter bestimmten Um-
ständen in lebendige Erfahrungen umgesetzt werden können. Die
oben genannten Erinnerungen jedoch - an die Zeit als Embryo,
Vorfahren, Rasse und Phylogenese (Entstehung der Lebewesen in
der Vielfalt ihrer Arten im Laufe der Erdgeschichte, Anm.d.Ü.) -
finden zumindest unter Bedingungen statt, die ein materielles Sub-
strat, das diese Informationen befördern kann, vorstellbar machen.
Viele Erfahrungen in holotropen Zuständen stellen jedoch für das
begriffliche Denken ein noch viel größeres Problem dar, weil sie
auf Erinnerungen verweisen, für die keinerlei wie auch immer ge-
artetes materielles Substrat existiert.
Hierzu gehören zum Beispiel erlebnisbedingte Ausschnitte aus
der menschlichen Geschichte, die in den Archiven des kollektiven
Unbewussten gespeichert sind, wie C.G. Jung es verstand, sowie
Erinnerungen an vergangene Leben und die erlebnisbedingte Iden-
tifizierung mit Mitgliedern anderer Spezies. All diese Erfahrungen
reichen eindeutig weiter als die Erlebnisstränge, die Vorfahren,
Rasse und Biologie betreffen, und ein physisches Medium, das sie
verzeichnet, ist nicht vorstellbar. Sie lagern offensichtlich in Be-
reichen, die der Wissenschaft im Augenblick noch unbekannt sind,
oder sind in das Bewusstseinsfeld selbst eingebettet.
Teil 5 des Buches besteht aus Geschichten über Phänomene, die
das traditionelle Forschungsmaterial der Parapsychologen sind -
Telepathie und Hellsichtigkeit, Psychometrie, Erlebnisse mit As-
tralreichen, Kommunikation mit nicht inkarnierten Wesen und
Geistführern, Begegnungen mit archetypischen Gestalten, Chan-
neling; Phänomene, die das Einwirken von geistigen Kräften auf
Materie zeigen (Siddhis), und außerkörperliche Erfahrungen, bei
denen das körperlose Bewusstsein seine unmittelbare Umgebung
oder entfernte Gegenden präzise wahrnimmt. Das unvoreingenom-
mene Studium dieser ungewöhnlichen Erfahrungen und Ereignisse
legt die Schlussfolgerung nahe, dass die materialistische Wissen
Vorwort 19
schaft diesen gesamten Bereich sowie die Forscherinnen und For-
scher, die ihn studieren, vorschnell lächerlich gemacht hat. Denn
diese Beobachtungen enthüllen die Existenz von »anormalen Phä-
nomenen« , die eine zukünftige radikale Revision der wissenschaft-
lichen Weltanschauung und ihrer grundlegenden metaphysischen
Annahmen zur Folge haben könnten.
Ein besonderer Abschnitt des Buches (Teil 6) ist der Beschreibung
von Beobachtungen gewidmet, welche an den Grundauffassungen
der Mainstream-Psychiater von psychotischen Schüben rütteln, die
augenblicklich als Manifestationen schwerer psychischer Erkran-
kungen gelten. In diesem Teil berichte ich auch von verblüffend
positiven Ergebnissen höchst unorthodoxer und kontroverser Be-
handlungsmethoden.
Ein Beispiel für eine derartige psychiatrische »Ketzerei« ist die
Auffassung, dass sich in außergewöhnlichen Bewusstseinszustän-
den eine spirituelle Öffnung (»spirituelle Krise«) manifestieren
kann, statt hier von psychotischen Schüben zu reden. Ein weiteres
Beispiel besteht darin, dass wir Symptome als Ausdruck der Selbst-
heilungsversuche der Psyche betrachten, mit denen wir therapeu-
tisch entsprechend arbeiten können. Bei den radikalsten und un-
gewöhnlichsten der in diesem Teil des Buches geschilderten Fälle
werden Psychedelika zur Aktivierung statt zur Unterdrückung psy-
chotischer Symptome eingesetzt; oder durch Anwendung einer
Methode, die mit Exorzismus vergleichbar ist, dramatische Verbes-
serungen bei einer Patientin erzielt; oder therapeutische Durchbrü-
che mit Hilfe von psychodynamischen Mechanismen bewirkt, die
für traditionelle Psychiaterinnen und Psychiater überhaupt keinen
Sinn ergeben würden.
In Teil 7 dieses Buches widme ich mich der Einstellung der traditi-
onellen Wissenschaft zu Beobachtungen aus der Bewusstseinsfor-
schung und der transpersonalen Psychologie, die ihr Paradigma
2o Vorwort
sprengen. Hier geht es auch um die Erweiterung des traditionellen
Psychologiestudiums auf die Bereiche Spiritualität, Wechselbezie-
hung zwischen Körper und Geist sowie Transformation. Die erste
hier erzählte Geschichte ist ein extremes, aber typisches Beispiel
für den Widerstand gegen die neuen wissenschaftlichen Daten, auf
den wir bei vielen Mitgliedern der akademischen Gemeinschaft
stoßen. Dazu gehört der brillante, weltbekannte Wissenschaftler,
der seine intellektuellen Uberzeugungen derart borniert und ent-
schlossen verteidigt, dass seine Haltung der eines religiösen Fun-
damentalisten vergleichbar ist. Die zweite Geschichte schildert,
was passiert, wenn traditionell ausgebildete Fachleute mit einer
materialistischen Einstellung Gelegenheit bekommen, eigene Er-
fahrungen mit holotropen Bewusstseinszuständen zu machen. Die
dritte schildert, wie mein eigener entschiedener Widerstand gegen
die Astrologie - eine Disziplin, die von »ernsthaften« Wissenschaft-
lerinnen und Wissenschaftlern verspottet und lächerlich gemacht
wird - einer Fülle von überzeugenden Beobachtungen weichen
musste.
Dies ist ein sehr persönliches Buch, das viele intime Details aus
meinem privaten und beruflichen Leben enthüllt. Die meisten Kli-
niker und Forscher würden zögern, so viele persönliche Informati-
onen preiszugeben, weil sie befürchten, dies könne ihrem Ruf als
Wissenschaftler schaden. Ich teiIe die Irrungen und Wirrungen
meiner persönlichen Suche hier deswegen so offen mit, weil ich
mir wünsche, dass diese Informationen den Kampf und die Schwie-
rigkeiten von Menschen lindern, die sich ernsthaft auf den Weg
der Selbsterforschung begeben, und sie ihnen helfen mögen, die
Fehler und Fallgruben, die mit dem Aufbruch in neues, uner-
forschtes Gelände verbunden sind, zu vermeiden.
Ich hoffe, aufgeschlossene Leserinnen und Leser werden die
persönlichen Geschichten, die ich in diesen Memoiren mitteile, als
Zeugnisse meiner leidenschaftlichen, unkonventionellen Suche
Vorwort 21
nach dem Wissen und der Weisheit betrachten, die in den tiefsten
Winkeln der menschlichen Psyche verborgen sind. Wenn dieses
Buch auch nur einem Bruchteil von Tausenden von Menschen, die
holotrope Bewusstseinszustände erleben und außergewöhnliche
Realitäten erforschen, nützliche Informationen vermittelt und sie
auf ihrem Weg unterstützt, habe ich das Opfer meiner Privatsphäre
nicht umsonst gebracht.
Stanislav Grof, Dr med., Dr phil.
Mill Valley, California
August 2005
22 Prolog
PrologDie Entdeckung kosmischen Bewusstseins
Meine erste LSD-Sitzung
ie Erfahrung, von der ich im Folgenden berichten werde, war
mit Sicherheit die wichtigste und einflussreichste meines Le
bens. Auch wenn sie nur wenige Stunden - und der bedeutungs
vollste Teil nur etwa zehn Minuten - dauerte, ließ sie mich beruf
lich einen völlig anderen Weg einschlagen als den, für den ich
ausgebildet war und auf den ich mich vorbereitet hatte. Sie stellte
die Weichen für eine Laufbahn, die ich bis auf den heutigen Tag
mit großer Leidenschaft und Entschlossenheit verfolge. Sie leitete
auch den Prozess einer tiefen persönlichen, inneren Transformati
on und eines spirituellen Erwachens ein. Heute, fast fünfzig Jahre
später, betrachte ich diese Erfahrung als eine Initiation, vergleich
bar der, die den Einweihungskandidaten in uralten Mysterienspie
len erwartet.
Diese Geschichte führt uns zurück in die Zeit, in der ich mein
Medizinstudium abgeschlossen hatte und meine Laufbahn als Psy
chiater begann. Mitte der 1950er-Jahre betrieb man in der psychi
atrischen Abteilung des medizinischen Fachbereichs an der Karls-
Universität in Prag, wo ich vom vierten Jahr meines Medizinstudiums
an als studentische Hilfskraft gearbeitet hatte, Forschungen mit
Melleril. Das war einer der ersten Tranquilizer, der in den pharma
zeutischen Labors der Schweizer Firma Sandoz in Basel hergestellt
wurde. Mein Vorgesetzter hatte gute Arbeitsbeziehungen zu San
doz und erhielt von Zeit zu Zeit Gratisproben der Produkte dieses
D
Prolog 23
Unternehmens. Im Rahmen dieser Zusammenarbeit bekam er für
Testzwecke eine Lieferung von Lysergsäurediethylamid oder LSD-
25, einer damals noch neuen, experimentellen Substanz mit be-
merkenswerten psychoaktiven Figenschaften.
Die erstaunlichen Wirkungen dieses Präparats auf die mensch-
liche Psyche waren im April 1943 vom leitenden Chemiker bei
Sandoz, Dr. Albert Hofmann, entdeckt worden, der sich, als er die-
se Substanz in seinem Labor synthetisch herstellte, versehentlich
selbst in einen Rausch versetzte. Als das passierte, musste er seine
Arbeit im Labor mitten am Tag unterbrechen, weil er äußerst unru-
hig wurde und sich schwindelig fühlte. Diese körperlichen Befind-
lichkeiten entwickelten sich zu einem traumähnlichen Erleben,
verbunden mit einer Flut von phantastischen Bildern und kaleido-
skopischen Farbspielen, das etwa zwei Stunden anhielt.
Drei Tage später beschloss Dr. Hofmann, eine sorgfältig abge-
wogene Dosis LSD zu nehmen, um seinen Verdacht zu bestätigen,
dass sein abnormer Geisteszustand auf einem Rauschzustand be-
ruhte, der durch LSD-25 ausgelöst worden war. Obwohl das eine
vernünftige Vermutung war, konnte er sich nicht vorstellen, wie
die Droge in sein System gelangt war. Bei diesem geplanten Selbst-
experiment nahm er 250 Mikrogramm oder Gammas (1 Millions-
tel Gramm) LSD zu sich, was er, da er sich für einen »konservativen
Menschen« hielt, als »Minidosis« betrachtete. Diese Einschätzung
beruhte auf der Tatsache, dass Ergot-Alkaloide meistens in Milli-
gramm-Dosierungen eingenommen werden. Er konnte nicht wis-
sen, dass er eine Substanz zu sich nahm, die bislang nie da gewe-
sene Wirkungen zeigen würde. Es war die stärkste psychoaktive
Droge, die jemals entdeckt wurde. In der späteren klinischen Ar-
beit der 1950er- und 1960er-Jahre des letzten Jahrhunderts galt die
Dosis, die Albert Hofmann nahm, als ziemlich hoch, und entspre-
chende Sitzungen erforderten stundenlange Vorbereitungen,
Supervision durch zwei Begleitpersonen, Übernachtung im Be-
handlungszentrum und anschließende Auswertungsinterviews.
24 Prolog
Weil es in vielen Geschichten dieses Buches um LSD geht, gebe ich
hier eine kurze Beschreibung dieses historischen Experiments.
Nachdem er 250 Mikrogramm LSD-25 eingenommen hatte, war
Albert Hofmann bereits nach einer Stunde nicht mehr imstande zu
arbeiten und bat seinen Assistenten, ihn nach Hause zu begleiten.
Weil die Benutzung von Autos aufgrund des Krieges strengen Re-
striktionen unterlag, stand kein Wagen zur Verfügung, und sie
mussten mit dem Fahrrad fahren. Hofmanns Bericht über diese
Fahrradfahrt durch die Straßen von Basel unter Einfluss einer ho-
hen Dosis LSD ist inzwischen zur Legende geworden. Nachdem er
zu Hause angekommen war, fühlte er sich wie besessen von dämo-
nischen Kräften, die sein Denken und seinen Körper völlig be-
herrschten, und er fürchtete, den Verstand zu verlieren. Seine
freundliche Nachbarin, die ihm ein Glas Milch brachte, erschien
ihm als gefährliche Hexe, die ihn verzaubern wollte. Er fühlte sich
körperlich so elend, dass er sicher war, sterben zu müssen, und bat
seinen Assistenten, einen Arzt zu rufen.
Als der Arzt eintraf, war der Höhepunkt der Krise bereits über-
schritten, und Hofmanns Zustand hatte sich radikal verändert. Er
lag nicht mehr im Sterben. Er hatte seine eigene Geburt erlebt und
fühlte sich wie neugeboren, wiederbelebt und verjüngt. Am Tag
nach dem LSD-Experiment war er in einer ausgezeichneten kör-
perlichen und geistigen Verfassung. Er schrieb einen Bericht über
seine außergewöhnlichen Erfahrungen und legte ihn seinem Chef
Dr. Arthur Stoll vor. Zufällig war Dr. Stolls Sohn, Werner A. Stoll,
praktizierender Psychiater in Zürich und zeigte großes Interesse
daran, die Wirkungen von LSD in einem klinischen Versuch zu
erforschen. Seinen bahnbrechenden Bericht über die Wirkung von
LSD-25 auf »normale freiwillige Versuchspersonen« und psychia-
trische Patienten veröffentlichte er I947, und dieser Artikel wurde
in der wissenschaftlichen Welt über Nacht zu einer Sensation.
Werner Stolls frühe LSD-Studien zeigen, dass winzige Dosie-
rungen dieser außergewöhnlichen Substanz - in der Größenord
Prolog 25
nung von Millionstel eines Gramms - für die Dauer von sechs bis
zehn Stunden tiefgreifende Veränderungen im Bewusstsein seiner
Experimentteilnehmer zu bewirken vermochten. Vertreter der Fir-
ma Sandoz stellten jetzt Forschern und Therapeuten in der ganzen
Welt Proben von LSD zur Verfügung und erbaten Feedback zu sei-
ner Wirkung und seinem Potenzial. Sie wollten wissen, ob diese
Substanz in Psychologie und Psychiatrie legale Anwendung finden
konnte.
Dr. Stolls Pilotstudie zeigte einige interessante Ähnlichkeiten
zwischen der LSD-Erfahrung und der Symptomatologie natürlich
auftretender Psychosen auf. Deshalb ging man davon aus, dass die
Erforschung dieser »experimentellen Psychosen« interessante Ein-
sichten in die Ursachen von natürlich auftretenden psychotischen
Zuständen liefern konnte, vor allem die von Schizophrenie, der
rätselhaftesten unter den psychiatrischen Störungen.
Der Beipackzettel der Firma Sandoz zu den LSD-Proben ent-
hielt auch eine kleine Anmerkung, die mein persönliches und be-
rufliches Leben grundlegend veränderte. Hier wies man daraufhin,
dass Fachleute im psychischen Gesundheitswesen, die mit psycho-
tischen Patienten arbeiteten, diese Substanz möglicherweise als re-
volutionäres, unkonventionelles Hilfsmittel für ihre Ausbildung
benutzen konnten. Die Möglichkeit, die Erfahrung einer rever-
siblen »experimentellen Psychose« zu machen, schien für Psychia-
ter, Psychologen, Krankenschwestern, Sozialarbeiter und Studenten
der Psychiatrie eine einzigartige Gelegenheit zu sein, ein intimes,
persönliches Wissen über die innere Welt ihrer Patientinnen und
Patienten zu erwerben, um diese besser verstehen, wirkungsvoller
mit ihnen kommunizieren und sie folglich auch effektiver behan-
deln zu können.
Ich fand diese ungewöhnliche Ausbildungschance höchst auf-
regend und bat meinen Vorgesetzten Dr. George Roubicek um eine
LSD-Sitzung. Leider beschloss die Belegschaft der psychiatrischen
Klinik, dass Studenten aus verschiedenen Gründen nicht als frei
26 Prolog
willige Versuchsteilnehmer zu gelassen werden sollten. Dr. Roubi-
cek war jedoch zu beschäftigt, um stundenlang die LSD-Sitzungen
seiner Experimentteilnehmer zu begleiten und brauchte Hilfe. Es
gab keine Einwände dagegen, dass ich die psychedelischen
Sitzungen anderer Personen überwachte und Protokoll über ihre
Erfahrungen führte. Und so kam es, dass ich bei den LSD-Sitzungen
vieler tschechischer Psychiater und Psychologen, prominenter
Künstler und anderer interessanter Menschen anwesend war, bevor
ich selbst die für einen Versuchsteilnehmer erforderlichen Qualifi-
kationen erworben hatte. Als ich dann an der medizinischen Hoch-
schule meinen Abschluss machte und die Voraussetzungen für eine
Sitzung erfüllte, war mein Appetit darauf durch die phantastischen
Berichte der Menschen, die ich in ihren Sitzungen beobachtet hat-
te, wiederholt geweckt worden.
Im Herbst 1956 konnte ich nach meinem Abschluss an der
medizinischen Hochschule endlich selbst eine Sitzung nehmen. Dr.
Roubiceks spezielles Interesse galt der Erforschung der elektrischen
Aktivität des Gehirns. Eine Bedingung für die Teilnahme an der
LSD-Studie war die Einwilligung, vor, während und nach der Sit-
zung ein EEG machen zu lassen. Zu der Zeit, als meine Sitzung
stattfand, war er besonders fasziniert von dem Vorgang, den er als
»Antreiben« der Gehirnwellen oder »Einwirken« auf diese bezeich-
nete. Zu diesem Zweck wurden die Versuchsteilnehmer mit Hilfe
einer stroboskopischen Lichtquelle (schnell und kurz, grell auf-
leuchtendes Licht, Anm.d.Ü.) vielen verschiedenen Lichtfre-
quenzen ausgesetzt, um herauszufinden, inwieweit man auf die
Gehirnwellen im subokzipitalen (unterhalb des Hinterhauptsbeins,
Anm.d.Ü.) Bereich »einwirken«, das heißt, sie zwingen konnte, die
eintreffende Frequenz zu empfangen. Erpicht darauf, endlich selbst
Erfahrungen mit LSD zu machen, erklärte ich mich einverstanden,
mein EEG machen und meine Gehirnwellen »antreiben« zu lassen.
Mein Bruder Paul, zu der Zeit Medizinstudent und sehr interessiert
an Psychiatrie, war einverstanden, meine Sitzung zu begleiten.
Prolog 27
Die ersten Wirkungen des LSD spürte ich etwa eine Dreiviertel-
stunde nach der Einnahme. Zunächst empfand ich ein leichtes Un-
wohlsein, Benommenheit und Übelkeit. Dann verschwanden diese
Symptome, und stattdessen sah ich eine phantastische Show von
abstrakten und geometrischen Bildern in unglaublichen Farben,
die sich in raschen, kaleidoskopischen Sequenzen entfalteten. Ei-
nige ähnelten kunstvollen Bleiglasfenstern in gotischen Kathe-
dralen, andere den Arabesken in muslimischen Moscheen. Die Er-
lesenheit dieser Visionen erinnerte mich an Sheherazade und die
Welt von Tausendundeine Nacht und an die erstaunliche Schönheit
der Alhambra und von Xanadu. Das waren damals die einzigen As-
soziationen, die mir einfielen. Heute glaube ich, dass meine Psyche
auf irgendeine Weise die Fähigkeit entwickelte, eine Reihe von
wild wuchernden, bruchstückhaften Bildern zu produzieren, den
graphischen Darstellungen nicht linearer Gleichungen ähnlich, die
moderne Computer hervorbringen können.
Im weiteren Verlauf der Sitzung bewegte sich meine Erfahrung
von diesem Reich der köstlichen ästhetischen Genüsse weiter zur
Begegnung und Konfrontation mit meiner unbewussten Psyche. Es
ist schwer, Worte zu finden für die berauschende Fuge der Fmoti-
onen, Visionen und erhellenden Einsichten in mein Leben und die
Existenz überhaupt, die mir auf dieser Ebene meiner Psyche zu-
gänglich waren. Diese Erfahrung ging so tief und war so erschüt-
ternd, dass sie mein bisheriges Interesse an der freudschen Psycho-
analyse sofort verblassen ließ. Ich konnte kaum glauben, was ich
in diesen wenigen Stunden alles erfuhr und lernte. Das atemberau-
bende ästhetische Fest und die reiche Fülle meiner psychologischen
Einsichten hätten bereits für sich genommen gereicht, um aus mei-
ner ersten Begegnung mit LSD eine wirklich unvergessliche Erfah-
rung zu machen.
Es gab jedoch noch einen weiteren Aspekt meiner Sitzung, der
alles übertraf, was da passierte. Nach etwa drei Stunden erschien
Dr. Roubiceks Assistentin und verkündete, es sei Zeit für das EEG-
28 Prolog
Experiment. Sie führte mich in eine kleine Kabine, brachte viele
Elektroden auf meiner Kopfhaut an und bat mich, mich hinzule-
gen und die Augen zu schließen. Dann brachte sie ein riesiges stro-
boskopisches Licht über meinem Kopf in Position und schaltete es
ein. Zu der Zeit war die Wirkung der Droge auf dem Höhepunkt,
was die Lichtblitze enorm verstärkte.
Der Anblick eines Lichts von unglaublicher Leuchtkraft und
übernatürlicher Schönheit warf mich fast um. Ich musste dabei an
die mystischen Erfahrungen denken, von denen ich in spirituellen
Büchern gelesen hatte, in denen man Visionen von göttlichem
Licht mit dem Glühen von »Millionen von Sonnen« verglich. Mir
kam auch kurz in den Sinn, dass es so im Epizentrum der Atom-
bombenexplosion von Hiroshima oder Nagasaki ausgesehen haben
musste. Heute würde ich dieses Licht eher mit dem Dharmakaya
oder dem ursprünglichen Klaren Licht vergleichen, dem unbe-
schreiblichen Leuchten, das laut Tibetischem Totenbuch (Bardo
Thödol) im Augenblick unseres Todes vor uns erscheint.
Ich hatte das Gefühl, dass ein göttlicher Blitzstrahl mein be-
wusstes Selbst aus meinem Körper katapultierte. Die Assistentin,
das Labor, die psychiatrische Klinik und Prag verschwanden aus
meinem Wahrnehmungsfeld und schließlich der ganze Planet.
Mein Bewusstsein dehnte sich mit unvorstellbarer Geschwindig-
keit aus bis in kosmische Dimensionen. Es gab zwischen mir und
dem Universum keinerlei Grenzen oder Unterschiede mehr. Die
Assistentin hielt sich sorgfältig an ihre Anweisungen. Sie drehte die
Frequenz des stroboskopischen Lichts allmählich von zwei auf 60
Hertz und wieder zurück, dann für kurze Zeit auf die Mitte des
Alphabands, des Thetabands und schließlich des Deltabands. Und
während das alles geschah, bewegte ich mich im Zentrum eines
kosmischen Dramas von unvorstellbaren Ausmaßen.
In der Literatur über Astronomie, die ich später entdeckte und
im Laufe der Jahre las, stieß ich auf Begriffe für einige der phantas-
tischen Erfahrungen, die ich in diesen bemerkenswerten zehn
Prolog 29
Zeitminuten machte - Urknall, Reise durch schwarze und weiße
Löcher, Identifikation mit explodierenden Supernova und zusam-
menstürzenden Sternen und andere seltsame Phänomene. Obwohl
ich keine angemessenen Worte für das hatte, was ich da erlebte,
hegte ich keinerlei Zweifel daran, dass es an die Erfahrungen, die
ich aus den großen mystischen Schriften der Welt kannte, sehr
nahe heranreichte. Und obwohl das LSD eine so tiefe Wirkung auf
meine Psyche hatte, konnte ich den Witz und die Paradoxie der
Situation sehen: Das Göttliche manifestierte sich und übernahm
die Regie in einem seriösen wissenschaftlichen Experiment mit
einer Substanz, die im Reagenzglas eines Chemikers aus dem 20.
Jahrhundert hergestellt worden war - und das in der psychiat-
rischen Klinik eines Landes, das von der (ehemaligen) Sowjetuni-
on beherrscht wurde und ein marxistisches Regime hatte.
Dieser Tag markierte den Beginn meiner radikalen Abkehr vom
traditionellen Denken der Psychiatrie und dem monistischen Ma-
terialismus der westlichen Wissenschaft. Ich ging aus dieser Erfah-
rung bis ins Innerste erschüttert hervor und war zutiefst beein-
druckt von ihrer durchdringenden Kraft. Da ich damals noch nicht
- wie heute - glaubte, dass das Potenzial für mystische Erfahrungen
ein natürliches Geburtsrecht aller menschlichen Wesen ist, führte
ich meine Erlebnisse ausschließlich auf die Wirkung des LSD zu-
rück. Ich hatte das starke Gefühl, dass das Studium außergewöhn-
licher Bewusstseinszustände im Allgemeinen und der durch psy-
chedelische Substanzen ausgelösten Zustände im Besonderen das
mit Abstand interessanteste Gebiet der Psychiatrie war, das ich mir
vorstellen konnte. Mir wurde klar, dass psychedelische Erfah-
rungen - in einem sehr viel größeren Maße als Träume, die in der
Psychoanalyse eine so entscheidende Rolle spielen - tatsächlich,
um Freuds Worte zu benutzen, »ein Königsweg zum Unbewuss-
ten« sind. Und ich beschloss auf der Stelle, mein Leben dem Studi-
um außergewöhnlicher Bewusstseinszustände zu widmen.
Teil 1
Das Mysterium der Synchronizität
Im Zwielicht des
Uhrwerk-Universums
Teil 1: Das Mysterium der Synchronizität 33
iele von uns kennen aus ihrem eigenen Leben Situationen, in
denen das scheinbar logische und voraussagbare Gewebe der
Alltagsrealität, das aus komplexen Ketten von Ursachen und Wir
kungen besteht, zu zerreißen scheint und wir erstaunliche und
höchst unwahrscheinliche Zufälle erleben. In Phasen von holotro-
pen Bewusstseinszuständen - zur Erinnerung: holotrop bedeutet,
»sich auf die Ganzheit zubewegen« - kann es so häufig zu solchen
Brüchen in der linearen Kausalität kommen, dass uns an der Sicht
der Welt, mit der wir alle aufgewachsen sind, ernsthafte Zweifel
kommen. Da dieses außergewöhnliche Phänomen in vielen Ge
schichten, die ich in diesem Buch erzähle, eine wichtige Rolle
spielt, will ich hier kurz erläutern, warum es für das Verständnis
des Wesens der Wirklichkeit, des Bewusstseins und der mensch
lichen Psyche so wichtig ist.
Der Wissenschaftler, der das Phänomen des Zusammentreffens von
bedeutsamen Vorfällen, das sich einer rationalen Erklärung wider
setzt, ins Blickfeld akademischer Kreise rückte, war der Schweizer
Psychologe Carl Gustav Jung. Da er sich der Tatsache bewusst war,
dass der unerschütterliche Glaube an einen rigiden Determinismus
den Grundpfeiler der westlichen wissenschaftlichen Weltanschau
ung bildete, zögerte er mehr als zwanzig Jahre, bevor er seine Ent
deckungen veröffentlichte. Weil er von seinen Kollegen heftige
Zweifel und scharfe Kritik erwartete, wollte er sicher sein, dass er
V
34 Teil 1: Das Mysterium der Synchronizität
seine ketzerischen Behauptungen mit Hunderten von Beispielen
belegen konnte. Schließlich beschrieb er seine bahnbrechenden
Beobachtungen in seinem berühmten Aufsatz mit dem Titel: »Syn-
chronizität als Prinzip akausaler Zusammenhänge« (Jung 1967/
1982).
Jung beginnt seinen Aufsatz mit Beispielen für das ungewöhn-
liche Zusammentreffen von Ereignissen, wie es manchmal im All-
tag passiert. Als einen der ersten Menschen, der an diesem Phäno-
men und seinen wissenschaftlichen Ausführungen Interesse zeigte,
erwähnt er anerkennend den österreichischen, lamarckistischen
Biologen Paul Kammerer, dessen tragisches Leben durch Arthur
Köstlers Buch Der Krötenküsser. Der Fall des Biologen Paul Kammerer
(Köstler 1974) bekannt geworden war. Bei einer der bemerkens-
werten Überschneidungen von Ereignissen, die Kammerer be-
schrieh, hatte sein Straßenbahnfahrschein die gleiche Nummer wie
die Theaterkarte, die er kurz darauf kaufte. Außerdem überreichte
man ihm die gleiche Zahlenfolge am selben Abend später noch ein-
mal als Telefonnummer, nach der er gefragt hatte.
Im selben Aufsatz gibt Jung aucb die amüsante Geschichte
zum Besten, die der berühmte französische Astronom Flammarion
über einen gewissen Monsieur Deschamps und einen speziellen
Pflaumenpudding erzählte. Als Deschamps noch ein Junge war,
gab ihm ein Monsieur de Fontgibu von diesem seltenen Pudding
zu kosten. In den folgenden zehn Jahren bekam er die Köstlichkeit
nicht wieder zu Gesicht, bis er den Pudding eines Tages auf der
Speisekarte eines Pariser Restaurants entdeckte. Als er ihn beim
Ober bestellen wollte, musste er erfahren, dass die letzte Portion
bereits von Monsieur de Fontgibu bestellt und verspeist worden
war, der zufällig gerade im selben Restaurant aß.
Viele Jahre später wurde Monsieur Deschamps auf ein Fest
eingeladen, wo man diesen Pudding als besondere Spezialität ser-
vierte. Während er ihn aß, machte er die Bemerkung, dass jetzt nur
noch Monsieur de Fontgibu fehle, durch den er diese Köstlichkeit
Teil 1: Das Mysterium der Synchronizität 35
kennengelernt habe und der auch bei seiner zweiten Begegnung
mit dem Pudding anwesend gewesen sei. ln diesem Augenblick
klingelte es an der Haustür, und ein alter, völlig verwirrt wirkender
Mann kam herein. Es war Monsieur de Fontgibu, der versehentlich
hereinplatzte, weil man ihm für den Besuch, den er jemandem ab-
statten wollte, eine falsche Adresse angegeben hatte.
Diese bemerkenswerten Überschneidungen von Ereignissen lassen
sich mit dem Verständnis der materialistischen Wissenschaft vom
Universum nur schwer in Einklang bringen, denn hier wird die
Welt in Form von Ketten von Ursachen und Wirkungen beschrie-
ben. Und die Wahrscheinlichkeit, dass diese Ereignisse zufällig
passierten, ist so gering, dass wir sie als Erklärung nicht ernsthaft
in Betracht ziehen können. Naheliegender ist es, sich vorzustellen,
dass diese Vorkommnisse eine tiefere Bedeutung haben und spiele-
rische Schöpfungen einer kosmischen Intelligenz sind. Diese Er-
klärung ist vor allem dann plausibel, wenn diese Ereignisse einen
gewissen Humor beinhalten, was oft der Fall ist.
Obwohl solche Zusammentreffen bereits für sich genommen
höchst interessant sind, ergänzte C.G. Jung dieses provozierende,
anormale Phänomen noch um eine weitere faszinierende Dimensi-
on. Kammerer und Flammarion beschrieben höchst unwahrschein-
liche Zusammentreffen von Ereignissen, und die Geschichte über
den Pflaumenpudding entbehrt mit Sicherheit nicht eines gewis-
sen Humors. Beide schildern jedoch Ereignisse aus der materiellen
Welt. Jungs Beobachtungen hingegen eröffneten noch eine zusätz-
liche, erstaunliche Dimension dieses verblüffenden Phänomens. Er
gab zahlreiche Beispiele für das, was er »Synchronizität« nannte -
ein bemerkenswertes Zusammentreffen von Ereignissen in der
allgemein akzeptierten Realität, die in einem bedeutungsvollen
Zusammenhang standen mit inneren Erfahrungen wie Träumen
oder Visionen. Er definierte Synchronizität als »die Gleichzeitigkeit
eines gewissen psychischen Zustands mit einem oder mehreren äu
Teil 1: Das Mysterium der Synchronizität
ßeren Ereignissen, welche als sinngemäße Parallelen zu dem mo-
mentanen subjektiven Zustand erscheinen«. Solche Situationen
zeigen, dass unsere Psyche mit einer scheinbar rein materiellen
Welt in einen spielerischen Austausch treten kann. Durch die Tat-
sache, dass das möglich ist, verwischen sich die Grenzen zwischen
subjektiver und objektiver Realität.
Während er sich mit diesem Phänomen auseinandersetzte, be-
kam Jung großes Interesse an den Entwicklungen der relativis-
tischen Quantenphysik und der radikal neuen Sicht der Welt, die
sie aufzeigte. Er stand in einem regen intellektuellen Austausch mit
Wolfgang Pauli, einem Mitbegründer der Quantenphysik, der
Jungs Klient und persönlicher Freund war. Unter Paulis Anleitung
lernte Jung die revolutionären neuen Vorstellungen der modernen
Physik kennen und damit auch die Herausforderungen, mit denen
diese Disziplin das deterministische Denken und die lineare Kau-
salität erstmals konfrontierte. Jung war durchaus klar, dass seine
Beobachtungen im Kontext des sich neu entfaltenden Bildes der
Wirklichkeit viel plausibler und akzeptabler waren.
Weitere Unterstützung für seine Ideen erfuhr Jung von nie-
mand Geringerem als Albert Einstein, der Jung bei einem persön-
lichen Besuch ermunterte, den Gedanken der Synchronizität wei-
terzuverfolgen, weil er mit den neuen Entdeckungen der Physik
völlig im Einklang stand (Jung 1972). Gegen Ende seines Lebens
war Jung von der wichtigen Rolle der Synchronizität in der natür-
lichen Ordnung der Dinge so überzeugt, dass er sie in seinem täg-
lichen Leben als leitendes Prinzip benutzte.
Die berühmteste der vielen Synchronizitäten in Jungs eigenem
Leben passierte in einer Therapiesitzung mit einer seiner Patien-
tinnen. Diese Frau hatte große Widerstände gegen die Psycho-
therapie, Jungs Interpretationen und die Vorstellung von transper-
sonalen Realitäten. Als die Therapie bei der Analyse eines ihrer
Träume, in dem es um einen goldenen Skarabäus ging, in eine
Sackgasse geriet, hörte Jung ein Geräusch, als ob etwas oderjemand
Teil 1: Das Mysterium der Synchronizität 37
von außen leise ans Fenster klopfte. Als er nachschauen ging, fand
er auf der Fensterbank einen rosa schimmernden Rosenkäfer, der
versuchte, ins Zimmer zu gelangen. Es handelte sich um ein äu-
ßerst seltenes Exemplar - einem goldenen Skarabäus so ähnlich,
wie diese Breitengrade es aufzubringen vermochten. Nie zuvor hat-
te Jung so etwas erlebt. Er öffnete das Fenster, holte den Käfer
herein und zeigte ihn seiner Patientin. Diese ungewöhnliche Syn-
chronizität wurde zum wichtigen Wendepunkt in der Therapie
dieser Frau.
Die Beobachtung von Synchronizitäten hatte einen tiefen Ein-
fluss auf Jungs Denken und seine Arbeit, vor allem auf sein Ver-
ständnis der Archetypen, der ursprünglichen, lenkenden und or-
ganisierenden Prinzipien des kollektiven Unbewussten. Die
Entdeckung der Archetypen und ihrer Rolle in der menschlichen
Psyche ist Jungs wichtigster Beitrag zur Psychologie. Jung war in
seiner beruflichen Laufbahn stark beeinflusst von der kartesia-
nischen-kantschen Sicht, welche die westliche Wissenschaft mit
ihrer strikten Trennung zwischen subjektiv und objektiv, zwischen
innen und außen beherrschte. Unter ihrem Bann sah er in den
Archetypen anfangs transindividuelle, im Wesentlichen aber inner-
psychische Prinzipien, vergleichbar biologischen Instinkten. Er
nahm an, dass die grundlegende Matrix für diese Prinzipien im
Gehirn verankert war und von Generation zu Generation weiter-
vererbt wurde.
Die Existenz von sychronistischen Ereignissen führte Jung zu
der Erkenntnis, dass Archetypen sowohl die Psyche als auch die
materielle Welt transzendieren und autonome Bedeutungsmuster
sind, die sowohl der Psyche als auch der Materie Informationen
übermitteln. Er sah, dass sie eine Brücke schlagen zwischen innen
und außen und auf die Existenz einer Zwielichtzone zwischen Ma-
terie und Bewusstsein verweisen. Aus diesem Grund schrieb Jung
den Archetypen schließlich eine »psychoide« (psycheähnliche)
Qualität zu.
38 Teil 1: Das Mysterium der Synchronizität
Stephan A. Hoeller formuliert Jungs voll ausgereifte Auffassung der
Archetypen ebenso kurz und bündig wie poetisch mit den Worten:
»Manifestiert sich der Archetyp als synchronistisches Prinzip, ist
das wirklich Ehrfurcht gebietend, wenn nicht geradezu ein Wun-
der - ein unheimlicher Bewohner der Schwelle. Zugleich psychisch
und physisch, könnte man ihn mit dem doppelköpfigen Gott Janus
vergleichen: Beide Gesichter des Archetyps vereint zu einem ein-
zigen Kopf gemeinsamer Bedeutung« (Hoeller 1994). Nachdem
Jungs Aufsatz über Synchronizität erschienen war, hat dieser Ge-
danke in der Wissenschaft zunehmend an Bedeutung gewonnen
und ist zum Thema vieler Artikel und Bücher geworden (von Franz
1992, Aziz 1990, Mansfeld 1995).
In den fünfzig Jahren, die ich jetzt Bewusstseinsforschung be-
treibe, habe ich bei meinen Patientinnen und Patienten zahlreiche
ungewöhnliche Synchronizitäten beobachtet, viele Geschichten
von Forscher- und Therapeutenkollegen und -kolleginnen gehört
und selbst Hunderte von entsprechenden Erlebnissen gehabt. Für
dieses Kapitel habe ich eine kleine, repräsentative Auswahl der
interessantesten Geschichten aus meiner Sammlung zusammenge-
stellt. Die erste weist durchaus Parallelen zu Jungs Begegnung mit
dem goldenen Käfer auf, da auch hier an einem höchst unwahr-
scheinlichen Ort und zu einer höchst unwahrscheinlichen Zeit ein
Insekt auftaucht.
Die Macht der Tierwelt 39
Die Macht der TierweltEine Gottesanbeterin in Manhattan
n einem seiner vielen Workshops am Esalen-Institut in Big Sur,
Kalifornien, hielt unser Freund und Lehrer Joseph Campbell ei
nen langen Vortrag über sein Lieblingsthema - die Arbeit von C.G.
Jung und dessen revolutionäre Beiträge zum Verständnis von My
thologie und Psychologie. Bei seiner Rede erwähnte er auch flüch
tig das Phänomen der Synchronizität. Eine der Teilnehmerinnen,
die diesen Begriff nicht kannte, unterbrach Joe und bat ihr zu er
klären, was Synchronizität bedeute. Nachdem er eine kurze, allge
meine Definition und Beschreibung des Gedankens der Synchroni
zität gegeben hatte, beschloss Joe, seine Erklärungen anhand eines
konkreten Beispiels zu verdeutlichen. Statt Jungs Geschichte über
den Skarabäus zu erzählen, die man bei dieser Gelegenheit meis
tens zu hören bekommt, beschloss Joe, seinen Zuhörerinnen und
Zuhörern eine bemerkenswerte Synchronizität aus seinem eigenen
Leben zu erzählen.
Bevor sie in ihren späteren Lebensjahren nach Hawaii zogen,
hatten Joe und seine Frau Jean Erdman in New York in Greenwich
Village gelebt. Ihre Wohnung lag im 14. Stock eines Hochhauses
am Waverley Place in der Sixth Avenue. Joes Arbeitszimmer hatte
zwei Doppelfenster - das eine bot eine Aussicht auf den Hudson
River, und das andere zeigte zur Sixth Avenue. Aus dem ersten
Fenster hatte man einen schönen Blick auf den Fluss, und bei
schönem Wetter standen immer beide Fensterflügel offen. Der
I
40 Teil 1: Das Mysterium der Synchronizität
Blick aus dem anderen Doppelfenster war uninteressant, und die
Campbells öffneten es selten. Laut Joe hatten sie dieses Fenster in
den ganzen vierzig Jahren, die sie dort wohnten, vielleicht zwei-,
dreimal geöffnet.
An diesem Tag zu Beginn der 1980er-Jahre saß Joe in seinem
Arbeitszimmer an seinem Opus magnum, The Way of the Animal
Powers, einer umfassenden Enzyklopädie der schamanistischen
Mythologien der Welt. Zu der Zeit schrieb er gerade das Kapitel
über die Mythologie der afrikanischen Buschmänner, eines Stam-
mes, der in der Kalahari-Wüste lebt. Eine der wichtigsten Gott-
heiten im Pantheon der Buschmänner ist die Gottesanbeterin, die
die Wesenszüge des Narren und des Schöpfergottes in sich vereint.
Joe war völlig vertieft in seine Arbeit und sein Schreibtisch übersät
mit Artikeln und Büchern zu diesem Thema. Besonders beein-
druckt war er von der Geschichte, die Laurens van der Post über
seine Kinderfrau Klara erzählte, die eine Halbblut-Buschfrau war
und ihn seit seiner Gehurt betreute. Van der Post erinnerte sich
lebhaft daran, dass Klara in seiner Kindheit hin und wieder mit
einer Gottesanbeterin (Mantis religiosa) kommunizierte. Wenn sie
mit einem Mitglied dieser Spezies redete und ihm konkrete Fragen
stellte, schien das Insekt sie mit Bewegungen seiner Beine und sei-
nes ganzen Körpers zu beantworten.
Mitten in seiner Arbeit verspürte Joe plötzlich den unwider-
stehlichen und völlig irrationalen Impuls, aufzustehen und einen
der Flügel jenes Doppelfensters zu öffnen, das zur Sixth Avenue
zeigte. Nachdem er es geöffnet hatte, schaute er, ohne zu wissen
warum, automatisch nach rechts. Die Begegnung mit einer Gottes-
anbeterin ist so ziemlich das Letzte, was man in Manhattan erwar-
tet. Doch da war sie, ein großes Exemplar ihrer Gattung, im 14.
Stock eines Hochhauses mitten in Manhattan, und kletterte lang-
sam weiter nach oben! Laut Joe wandte sie ihm den Kopf zu und
schenkte ihm einen bedeutungsvollen Blick. Obwohl die Begeg-
nung nur wenige Sekunden dauerte, hatte sie etwas Unheimliches
Die Macht der Tierwelt 41
und hinterließ bei Joe einen tiefen Eindruck. Er sagte, er könne
bestätigen, was er vor wenigen Minuten erst in Laurens van der
Posts Geschichte gelesen hatte: Das Gesicht der Gottesanbeterin
hatte etwas eigenartig Menschliches. Mit ihrem »herzförmigen
Kinn, den hohen Wangenknochen und der gelben Haut sah sie wie
ein Buschmann aus.«
Das Auftauchen einer Gottesanbeterin im 14. Stock eines
Hochhauses mitten in Manhattan ist, gelinde gesagt, bereits als sol-
ches ein ziemlich ungewöhnliches Ereignis. Aber wenn wir den
Zeitpunkt ihres Erscheinens berücksichtigen, der mit Joes inten-
siver Vertiefung in die Mythologie der Kalahari-Buschmänner
zusammenfiel, und seinen unerklärlichen Impuls, das Fenster zu
öffnen und die Begegnung aktiv zu suchen, ist die statistische
Unwahrscheinlichkeit dieser Verkettung von Ereignissen wirklich
astronomisch. Nur ein durch und durch materialistisch orientierter
Mensch, der seiner Weltanschauung mit quasi-religiösem Eifer
anhängt, würde glauben, dass so etwas reiner Zufall ist.
Die traditionelle Psychiatrie unterscheidet nicht zwischen tatsäch-
lichen Synchronizitäten und psychotischen Fehlinterpretationen
der Welt. Da die materialistische Weltsicht streng deterministisch
ist und die Möglichkeit »bedeutungsvoller Zusammentreffen« nicht
akzeptiert, würde sie die bloße Andeutung ungewöhnlicher
Synchronizitäten in den Berichten eines Patienten automatisch als
»Realitätsverwirrung« und damit als Symptom für eine ernsthafte
psychische Erkrankung interpretieren. Es kann jedoch kein Zwei-
fel daran bestehen, dass es echte Synchronizitäten gibt, bei denen
jeder, der Zugang zu den Fakten hat, zugeben muss, dass die hier
zusammentreffenden Ereignisse nicht mit statistischer Wahrschein-
lichkeit zu erklären sind. Auf Joes ungewöhnliche Begegnung mit
der Gottesanbeterin trifft das mit Sicherheit zu.
42 Teil 1: Das Mysterium der Synchronizität
Die sterbende KöniginWenn Voraussagen im Traum sich bei Tag erfüllen
m Jahre 1964 lud mich Joshua Bierer, eine britische Psychiaterin,
ein, am Kongress für Soziale Psychiatrie in London teilzuneh
men. Joshua war die Organisatorin dieser Konferenz und koordi
nierte das Programm. Mein Vortrag war Teil eines Symposiums
über LSD-Psychotherapie. So hatte ich Gelegenheit, mit mehreren
Pionierinnen und Pionieren auf dem Gebiet der psychedelischen
Therapie in Kontakt zu kommen, deren Arbeit ich bislang nur aus
ihren Schriften kannte. Ich lernte dort zwei bemerkenswerte Frauen
kennen: die britischen Therapeutinnen Joyce Martin und Pauline
McCririck. Beide hatten eine traditionelle Ausbildung in freudscher
Psychoanalyse, praktizierten aber jetzt in Joyces luxuriösem Haus
in der bekannten Welbeck Street LSD-Psychotherapie. Gemeinsam
hatten sie die »fusion therapy« (Verschmelzungstherapie oder
»anaklitische Therapie«, Anm.d.Ü.) entwickelt, wie sie das nann
ten, eine psychedelische Behandlungsmethode, die selbst einigen
der aufgeschlossenen, mutigen Therapeutinnen und Therapeuten,
die ihren Patienten LSD gaben, zu revolutionär war.
Diese Methode, besonders geeignet für Patienten, die in ihrer
Kleinkindzeit von den Eltern allein gelassen und abgelehnt wurden
und keine emotionale Zuwendung erfuhren, war verbunden mit
engem Körperkontakt zwischen Therapeutin und Patientin wäh
rend der LSD-Sitzung. In ihren Sitzungen verbrachten diese Pati
enten mehrere Stunden in tiefer Regression und lagen auf einem
I
Die sterbende Königin 43
Sofa unter einer Decke, während Joyce oder Pauline neben ihnen
lag und sie im Arm hielt, wie eine gute Mutter, die ihr Kind tröstet.
Ihre revolutionäre Methode spaltete die Gemeinde der LSD-Thera-
peutinnen und -Therapeuten. Manche von ihnen sahen darin eine
wirkungsvolle und konsequente Möglichkeit der Heilung von
»Traumata aufgrund von Unterlassung«, die auf mütterliche Ver-
säumnisse und negatives mütterliches Verhalten zurückgingen.
Andere wiederum reagierten entsetzt auf die radikale »anakli-
tische«* Therapie und warnten vor den irreversiblen Schäden, die
der enge Körperkontakt zwischen Therapeutin und Patientin in
einem außergewöhnlichen Bewusstseinszustand dieser Beziehung
zufügen würde.
Ich gehörte zu denen, die von Joyces und Paulines »Verschmel-
zungstherapie« fasziniert waren, denn für mich war klar, dass ein
»Trauma«, das auf »Unterlassung« beruhte, nicht durch eine Rede-
kur geheilt werden konnte. Ich stellte den beiden Frauen viele Fra-
gen nach ihrer unorthodoxen Methode, und als sie sahen, dass ich
aufrichtig interessiert war, luden sie mich in die Welbeck-Klinik
ein, damit ich ihre Patientinnen und Patienten kennenlernen und
selbst Erfahrungen mit ihrer Methode machen konnte. Ich war be-
eindruckt, als ich herausfand, wie sehr ihre Patientinnen und Pati-
enten von der körperlichen Zuwendung profitierten, die sie in ih-
ren psychedelischen Sitzungen bekamen. Mir wurde auch klar,
dass Joyce und Pauline viel weniger mit Übertragungsproblemen
* Säuglinge und Kleinkinder haben starke primitive Bedürfnisse nach instinktiver Befrie-
digung und Sicherheit, die Kinderärzte und Kinderpsychiater anaklitisch nennen (von
gr. anaklinein, was so viel wie klammern oder anlehnen bedeutet). Dazu gehört das Be-
dürfnis, dass die Bezugspersonen das Kind halten, streicheln, trösten und mit ihm spie-
len und es im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit seiner Betreuer steht. Werden diese Be-
dürfnisse nicht befriedigt, hat das für das betroffene Individuum in seinem späteren
Leben schwerwiegende Folgen.
44 Teil 1: Das Mysterium der Synchronizität
zu kämpfen hatten als der durchschnittliche freudsche Analytiker
mit seiner distanzierten »Neutralität«.
Bei der Internationalen Konferenz über LSD-Psychotherapie,
die im Mai 1965 in Amityville, Long Island, stattfand, zeigten
Joyce und Pauline ihren faszinierenden Film über die Anwendung
ihrer Methode in der psychedeIischen Therapie. Bei der anschlie-
ßenden hitzigen Diskussion kreisten die meisten Fragen um das
Thema Übertragung und Gegenübertragung. Pauline lieferte eine
sehr interessante und überzeugende Erklärung dafür, dass ihr An-
satz in dieser Hinsicht weniger Probleme mit sich brachte als die
orthodoxe freudsche Haltung. Die meisten Patientinnen und Pati-
enten, die in die Therapie kamen, so erläuterte sie, hätten als Säug-
linge und Kinder an mangelnder Zuwendung von Seiten ihrer El-
tern gelitten. Die kalte Haltung der freudschen Analytikerinnen
und Analytiker führe häufig zu einer Reaktivierung der aus den
kindlichen Entbehrungen entstandenen emotionalen Verletzungen
und löse bei den Patienten verzweifelte Versuche aus, die Aufmerk-
samkeit und Befriedigung zu bekommen, die man ihnen in ihrer
Kindheit vorenthalten hatte.
Im Gegensatz dazu korrigierte die anaklitische Therapie laut
Pauline die früheren Erfahrungen, indem sie die alten Sehnsüchte
nach Verschmelzung und Anlehnung befriedigte. Waren ihre emo-
tionalen Wunden geheilt, realisierten die Patienten, dass die Thera-
peutin kein angemessenes Sexualobjekt für sie war, und waren jetzt
imstande, außerhalb der therapeutischen Beziehung einen pas-
senden Partner zu finden. Pauline erklärte, hier zeige sich eine Par-
allele zur Entwicklung von frühen Objektbeziehungen. Menschen,
die in ihrer Säuglingszeit und Kindheit richtig bemuttert wurden,
sind in der Lage, sich emotional von ihren Müttern zu lösen und
zu reifen Beziehungen überzugehen. Wer hingegen emotional
vernachlässigt wurde, bleibt pathologisch gebunden und ist sein
Leben lang voll verzweifelter Sehnsucht auf der Suche nach der
Befriedigung seiner primitiven, infantilen Bedürfnisse.
Die sterbende Königin 45
Nachdem ich von Joyces und Paulines LSD-Patientinnen und -Pa-
tienten in der Klinik in der Welbeck Street begeisterte Berichte ge-
hört hatte, bekam ich großes Interesse, die »anaklitische Methode«
in Eigenerfahrung kennenzulernen. Meine Sitzung mit Pauline war
ein wirklich bemerkenswertes Erlebnis. Obwohl wir beide voll be-
kleidet waren und zwischen uns eine Decke lag, regredierte ich bis
in die frühe Kindheit und identifizierte mich mit einem Säugling,
der an der Brust einer guten Mutter saugt und den Kontakt mit
ihrem nackten Körper spürt. Dann ging die Erfahrung noch tiefer,
und ich wurde zum Fötus in einem guten Schoß, selig im Frucht-
wasser schwebend. Mehr als drei Zeitstunden, die sich subjektiv
wie eine Ewigkeit anfühlten, erlebte ich beide Situationen - »gute
Brust« und »guter Schoß« - gleichzeitig oder abwechselnd. Ich
war mit meiner Mutter über Strome von zwei nährenden FIüssig-
keiten verbunden - Milch und Blut -, die sich manchmal anfühl-
ten wie heilige Elixiere. Höhepunkt der Sitzung war die Verschmel-
zung mit der Großen Mutter Göttin, die an die Stelle der
menschlichen Mutter trat. Ich muss wohl kaum erwähnen, dass
ich diese Sitzung als äußerst heilsam empfand.
1966 hatte ich anlässlich einer Konferenz über LSD-Psycho-
therapie in Amsterdam GeIegenheit, eine weitere, ähnlich hemer-
kenswerte Sitzung bei Pauline zu nehmen und zum zweiten Mal
persönliche Erfahrungen mit der »anaklitischen Therapie« zu ma-
chen. Pauline und ich wurden gute Freunde und sahen uns gele-
gentIich bei Fachtagungen oder meinen Besuchen in London. Als
Joyce Martin Ende der 1960er-Jahre starb, verlor Pauline den Men-
schen, der ihre eigenen psychedelischen Sitzungen bislang beglei-
tet hatte, und bat mich, Joyces Rolle zu übernehmen. Zu der Zeit
lebte ich jedoch nicht mehr in Europa. Ich hatte ein Stipendium
für die Johns-Hopkins-Universität bekommen und wohnte und
arbeitete jetzt in Baltimore. Dass Pauline für diese Sitzungen wie-
derholt über den Atlantik reiste und viel Geld, Zeit und Energie
investierte, zeigt, wie stark sie von dieser Arbeit überzeugt war. Im
Teil 1: Das Mysterium der Synchr0nizität
Umfeld einer dieser Sitzungen erlebte ich eine bemerkenswerte
Synchronizität:
Am Tag von Paulines Sitzung erwachte ich zwischen vier und
fünf Uhr morgens aus einem sehr beunruhigenden Traum. Er
spielte in einem düsteren Schloss oder vielmehr einer Burg, irgend-
wann im Mittelalter. Die Atmosphäre war geprägt von Aufruhr und
Chaos, viele Menschen hasteten mit Fackeln in den Händen durch
dunkle Gänge. Ich hörte verzweifelte und erregte Stimmen, die
laut riefen: »Die Königin ... die Königin ... die Königin liegt im
Sterben!« Ich war eine der Personen, die in Panik durch das Schloss
rannten. Nach einer atemlosen Hetze durch das Labyrinth der
spärlich beleuchteten Gänge gelangte ich schließlich in ein Zim-
mer, in dem eine alte Frau - eindeutig die Königin - in einem
großen Bett mit vier geschnitzten hölzernen Säulen und reich ver-
ziertem Baldachin lag. Sie rang nach Luft, und ihr Gesicht war
qualvoll verzerrt, sie erlebte die letzten Momente ihres Lebens. Ich
starrte sie verzweifelt an, überwältigt von heftigen Emotionen,
denn ich wusste, die sterbende Frau war meine Mutter.
Als ich frühmorgens aus diesem Traum erwachte, war mir sehr
unbehaglich zumute, und ich war voller Befürchtungen. Ich hatte
das starke Gefühl, dass dieser Traum mit der Sitzung zusammen-
hing, die ich Pauline an diesem Tag geben würde, und verspürte
einen starken Widerwillen, sie stattfinden zu lassen. Das hatte ich
noch nie erlebt. Mein Unbehagen stand in scharfem Kontrast zu
der Begeisterung, in die mich die Aussicht auf eine psychedelische
Sitzung meistens versetzte. Ich lag im Bett, dachte über den Traum
nach und versuchte meine unheimlichen Gefühle zu verstehen. Als
der Tag anbrach und die Sonne in mein Schlafzimmer schien, ver-
schwand meine eigenartige Stimmung allmählich. Ich kam wieder
auf den Boden, und damit kehrte auch die Zuversicht zurück, die
ich in Bezug auf unsere bevorstehende Sitzung empfand.
In den ersten Stunden von Paulines Sitzung passierte nichts
Besonderes, das heißt, nichts, was ich nicht bereits schon einmal in
Die sterbende Königin 47
solchen Sitzungen miterlebt hatte. Da Pauline eine hohe Dosis LSD
genommen hatte, gingen ihre Erfahrungen natürlich tief. Sie erin
nerte sich an hochemotionale Ereignisse aus ihrer Kindheit und
Säuglingszeit, durchlebte noch einmal ihre schwierige Geburt und
machte Erfahrungen mit transpersonalen Elementen aus dem kol
lektiven Unbewussten. Nach etwa fünf Stunden stieß Pauline auf
eine Erinnerung aus ihrer Kindheit, bei der es um eine königliche
Parade ging. Plötzlich begann sie, die britische Nationalhymne zu
singen: »God save our gracious Queen, long live our noble Queen,
god save the Queen ...«
Während sie das sang, war sie auf einmal alarmiert. »Mein
Gott, Stan, ich singe hier: ›God save the Queen.‹ Als ich Kind war,
hatten wir einen König, keine Königin; warum singe ich dann ›God
save the Queen‹?« Plötzlich verzerrten sich ihre Gesichtsmuskeln
zu einem Ausdruck von großer Qual, der geradezu unheimliche
Ähnlichkeit mit dem Gesichtsausdruck der sterbenden Königin
aus meinem Traum hatte, an die ich mich genau erinnern konnte.
»Stan, hier geht es gar nicht mehr um meine Kindheit«, fuhr sie
fort. Sie war ganz offensichtlich verzweifelt und in großer Panik
und rang heftig nach Luft. »Ich bin die Königin, und ich liege im
Sterben.«
Zu der Zeit hatte ich schon häufig beobachtet, wie Menschen
in psychedelischen Sitzungen ihren eigenen Tod erleben, sodass
ich Paulines körperlichen Zustand nicht besonders alarmierend
fand oder mir Sorgen um sie machte. Was mich jedoch erstaunte,
war, dass sie mir meinen Traum aus der letzten Nacht vor führte
und die sterbende Königin, die hier eine so zentrale Rolle gespielt
hatte, präzise verkörperte.
Paulines Sitzung nahm ein glückliches Ende. Auf ihr Todeser
lebnis durch Identifikation mit der alten Königin folgten die Wie
dergeburt und ein »psychedelisches Nachglühen«, das mehrere
Tage anhielt. Ihrer Meinung nach stammte ihre Erfahrung aus dem
kollektiven Unbewussten oder möglicherweise auch aus ihrer eige-
48 Teil 1: Das Mysterium der Synchronizität
nen karmischen Chronik. Sie sah darin einen Zusammenhang mit
ihrer lebenslangen Faszination vom Königtum und ihrer Vorliebe
für teure und extravagante Kleidung und Schmuck. Ich konnte mir
nicht erklären, warum ich den erstaunlichen Traum hatte, in dem
ich Paulines Erlebnisse in der Sitzung vorausahnte. Hin und wie-
der fällt mir diese bemerkenswerte Synchronizität ein, und ich fra-
ge mich, woher sie kam und was sie zu bedeuten hatte. Hing diese
seltsame Verbindung zwischen uns mit den psychedelischen Sit-
zungen zusammen, die ich selbst bei Pauline genommen hatte, und
in denen ich als Fötus in einem guten Schoß und als Säugling an
einer guten Brust symbiotisch mit ihr verschmolz?
Die Regenbogenbrücke der Götter 49
Die Regenbogenbrücke der GötterIm Reich der nordischen Sagen
edeutungsvolle und vielversprechende Synchronizitäten kön
nen Anzeichen für den Beginn eines tiefen spirituellen Erwa
chens sein und dieses begleiten. Doch manchmal werden sie auch
zur Fallgrube. Vielleicht schenken uns diese Erlebnisse das über
zeugende Gefühl, nicht nur eingebettet zu sein in einen größeren
kosmischen Zusammenhang von Bedeutung und Sinn, sondern
auch der Fokus oder das Zentrum dieses größeren Ganzen zu sein.
Und doch kann das überwältigende Gefühl einer alles umfassenden
Verbundenheit, das diese Synchronizitäten oft begleitet, uns in die
Irre führen, und wir sollten nicht naiv darauf vertrauen und da
nach handeln. Wie die folgende Geschichte uns zeigt, sind selbst
die wunderbarsten Synchronizitäten keine Garantie dafür, dass die
Situation, in der sie auftreten, ein gutes Ende nimmt.
Die Ereignisse, die ich im Folgenden beschreibe, fanden etwa
vier Jahre nach meiner Einreise in die Vereinigten Staaten statt. Zu
der Zeit hielt ich Ausschau nach einer Lebenspartnerin, wobei mir
wohlmeinende, besorgte Freunde unaufgefordert halfen. Ende
1971 erhielt ich einen Anruf von Leni und Bob Schwartz, die zu
meinem engsten Freundeskreis gehörten. Ihr Haus in Lower Man
hattan, das Lenis exzellenten Geschmack verriet, war ein beliebter
Treffpunkt vieler kultureller Größen der damaligen Zeit, von Joseph
Campbell bis hin zu Betty Friedan. Leni und Bob, beide am Appa
rat, waren ganz aufgeregt und erzählten mir abwechselnd von ihrer
B
50 Teil 1: Das Mysterium der Synchronizität
jüngsten Entdeckung. »Wir haben gerade einen ganz besonderen
Menschen kennengelernt. Sie lebt in Miami und heißt Joan Halifax.
Sie ist Anthropologin, eine schöne und kluge Frau. Sie hat Feldfor-
schung bei den Dogon in Afrika und in der südlichen Sahara ge-
macht und führt außerdem Untersuchungen über die Santeria und
andere karibische Religionen durch. Ihr beide habt so viel gemein-
sam! Du wirst sie ganz bestimmt ins Herz schließen.«
Ich schrieb mir Joans Namen und Telefonnummer auf und
dankte Bob und Leni für ihre Bemühungen. Aber nach einer gera-
de beendeten, stürmischen Beziehung (siehe Seite 191 ff.) war ich
nicht bereit, mich gleich in die nächste zu stürzen. Gelegentlich
wanderten jedoch meine Gedanken zu Joan, und ich stellte mir vor,
wie unsere Begegnung verlaufen würde, und spielte mit dem Ge-
danken, sie anzurufen. Nach mehreren Monaten beschloss ich
endlich, es zu wagen. Ich wollte die jährliche Konferenz der Ame-
rican-Psychiatric -Association in Dallas, Texas, besuchen, um dort
die Resultate unserer Forschungen über LSD-Psychotherapie mit
Krehspatienten im Endstadium vorzulegen. Die Konferenz endete
an einem Freitag, und ich konnte auf dem Weg zurück nach Balti-
more ohne weiteres einen Abstecher nach Miami machen und das
Wochenende dort verbringen.
Ich wählte Joans Nummer, und als sie den Hörer abnahm,
stellte ich mich vor und sagte: »Ich bin Stan Grof aus Baltimore.
Unsere gemeinsamen Freunde Bob und Leni Schwartz erzählen
mir ständig, dass wir beide uns kennenlernen sollten. Wären auch
Sie daran interessiert? Ich könnte nächstes Wochenende nach Mia-
mi kommen. Ist es möglich, dass wir uns treffen?«
»Tut mir leid«, lautete Joans Antwort. »Ich bin nächstes Wo-
chenende nicht hier, sondern in Dallas. lch fahre zum Treffen der
American-Psychiatric-Association, um von meiner Arbeit mit den
Santeria zu berichten.«
»Das ist ja höchst interessant«, sagte ich und staunte über
dieses Zusammentreffen. »Ich werde auch in Dallas sein und die
Die Regenbogenbrücke der Götter 51
selbe Konferenz besuchen. Ich wollte auf dem Rückweg in Miami
Station machen. In welchem Hotel wohnen Sie?«
»Im Baker-Hotel« , lautete Joans Antwort.
Von sämtlichen Hotels in Dallas hatte auch ich mir genau das
ausgesucht! Wie sich herausstellte, hatte ich tatsächlich einen Stock
tiefer das Zimmer direkt unter dem von Joan gebucht. Da wir also
im selben Hotel wohnten, beschlossen wir, uns nach der Ankunft
telefonisch in Verbindung zu setzen. Als ich ankam, hatte die Kon-
ferenz bereits begonnen. Joan war nicht in ihrem Zimmer und hat-
te auch keine Nachricht hinterlassen. Ich beschloss, zur Konferenz
zu gehen und sie zu finden. Das Programm bestand aus vielen paral-
lelen Veranstaltungen - acht, wenn ich mich richtig erinnere -, die
in verschiedenen Hotels stattfanden. Ich studierte das Programm
und versuchte zu raten, welchen Vortrag Joan besuchen würde.
Dabei ging ich davon aus, dass sie Anthropologin war und wir, wie
Leni und Bob mir versicherten, ähnliche Interessen hatten. Nach
einigem Zögern entschloss ich mich für einen Film, der im großen
Vortragssaal eines der Konferenzhotels gezeigt wurde.
Als ich den Saal betrat, war das Licht bereits ausgeschaltet und
der Film lief. Ich schaute mich um und setzte mich auf einen freien
Sitz in meiner Nähe. Während ich mir den Film ansah, zog eine
Frau, die etwa drei Sitze links von mir in der Reihe vor mir saß,
immer wieder meine Aufmerksamkeit auf sich. Nach einer Weile
sah ich um ihren Kopf herum tatsächlich so etwas wie eine Aura.
Schließlich drehte sie sich zu mir um, was ungewöhnlich war, denn
sie musste sich ziemlich den Hals verrenken, damit sich unsere
Blicke treffen konnten. Fine ganze Weile wanderten Blicke zwi-
schen uns hin und her, und als der Film endete, waren wir beide
uns unserer Sache so sicher, dass wir einfach aufeinander zugingen.
Unsere Vermutung bestätigte sich, als wir uns miteinander bekannt
machten. Wir waren also nicht nur beide zur selben Zeit in Dallas,
sondern auch unsere erste Begegnung beruhte auf dem ungewöhn-
lichen Zusammentreffen mehrerer Ereignisse.
52 Teil 1: Das Mysterium der Synchronizität
Unser Abendessen, das aus verschiedenen Gerichten der nord-
chinesischen Küche bestand und wahrscheinlich von durchschnitt-
licher Qualität war, kam uns als etwas ganz Besonderes vor. Wir
redeten ohne Pause über unsere vielen verschiedenen Interessen
und entdeckten, dass Leni und Bob Recht hatten: Wir hatten wirk-
lich viel gemeinsam. Nach dem Essen brachte uns der Kellner die
obligatorischen Glückskekse, denen wir ansonsten keine große Be-
achtung geschenkt hätten. Aber im Rahmen all der bemerkens-
werten Synchronizitäten, die wir bereits erlebt hatten, klangen die
Botschaften wie stimmige Orakelsprüche aus dem uralten chine-
sischen I Ging. In meinem Keks hieß es: »Dein Herz gehorte ihr
vom Augenblick eurer ersten Begegnung an.« Und ihr Spruch
sagte: »Nach langem Warten geht dein Traum endlich in Erfül-
lung.« Natürlich kehrten wir nach der Konferenz nicht getrennt
nach Hause zurück, sondern verbrachten das Wochenende zusam-
men in Dallas.
Nach diesem verheißungsvollen Anfang entwickelte sich unsere
Beziehung sehr schnell. Am Wochenende nach unserer Begegnung
in Dallas flog ich nach Miami, um mehrere Tage mit Joan zu ver-
bringen. Am darauffolgenden Wochenende besuchte Joan mich in
Baltimore, und wir hatten eine wunderbare Zeit miteinander. Durch
diese beiden Besuche vertiefte sich unsere Beziehung. Am Sonntag-
abend empfanden wir so viel Nähe zueinander, dass wir uns in
Zukunft so oft wie möglich sehen wollten, und der Gedanke an
Abschied war ziemlich schmerzlich. Mein Terminkalender für die
nächsten Wochen stellte uns in dieser Hinsicht jedoch vor ernst-
hafte Probleme. Denn ich hatte eine zehntägige Reise nach Island
geplant, wo ich die Erste Internationale Transpersonale Konferenz
besuchen wollte.
Zu meiner großen Überraschung und Freude beschloss Joan
plötzlich, sich Urlaub zu nehmen und mich zu begleiten. Wir tra-
fen uns auf dem Kennedy-Flughafen in New York und checkten
Die Regenbogenbrücke der Götter 53
bei Loftleidir, der isländischen Luftfahrtgesellschaft, für unseren
Flug nach Reykjavik ein. Zu der Zeit gab ich viele Workshops am
Esalen-Institut in Big Sur, Kalifornien, und anderen Teilen der Ver-
einigten Staaten. Ich musste also oft den »Express Rote Augen«
nehmen, wie ich die Nachtflüge zurück nach Baltimore nannte.
Ein Freund hatte mir für diese Gelegenheiten eine besondere Sü-
ßigkeit geschenkt, die er selbst herstellte. Sie erwies sich als per-
fekte Lösung für diese ungemütlichen, schlaflosen Flüge. Später
bekam ich von ihm das Rezept für dieses kulinarische Allheilmittel
bei Jetlag und anderen mit Langstreckenflügen verbundenen Unan-
nehmlichkeiten.
Die Leckerei meines Freundes sah aus wie ein arabisches Des-
sert aus Tausendundeine Nacht und schmeckte auch so. Sie bestand
aus gehackten Nüssen, Datteln, getrockneten Feigen und Rosinen,
zu kleinen Kugeln etwa in der Größe einer Walnuss gerollt. Die
wichtigste Zutat war »Bhang Ghee« (Hanf Ghee, Anm.d.Ü.), ge-
schmolzene Butter, die einen Extrakt aus Sinsemilla (Hanfsorte,
Anm.d.Ü.) und den getrockneten Blättern und Blüten der Hanf-
sorte enthielt, die in Big Sur heimisch war. Wenn ich lange Nacht-
flüge vor mir hatte, aß ich diese Süßigkeit, bevor ich an Bord des
Flugzeugs ging. Begann sie dann zu wirken, hatte ich einen äußerst
verfeinerten Geschmackssinn und mächtigen Appetit, sodass das
Abendessen im Flugzeug zu einer Feinschmeckerorgie für mich
wurde. Nach dem Essen legte ich meine Augenbinde an und hörte
Musik, bis ich einschlief. Nach einem guten Nachtschlaf wachte
ich entspannt und erfrischt auf, meistens genau zu der Zeit, wo das
Frühstück serviert wurde.
Um uns den Nachtflug nach Reykjavik zu versüßen, nahmen
Joan und ich beide zwei dieser magischen Kugeln. Bei der Landung
waren wir in einer euphorischen Stimmung, die (wie schon weiter
vorn erwähnt) unter Therapeuten als »psychedelisches Nachglü-
hen« bekannt ist. Auch an vielen weiteren Tagen unseres Aufent-
halts in Island waren wir in diesem besonderen Zustand. Wir mie
54 Teil 1: Das Mysterium der Synchronizität
teten uns für die drei Tage vor Konferenzbeginn einen Landrover
und erkundeten die Insel. Die isländische Landschaft ist unglaub-
lich - majestätische, schneebedeckte Berge, Vulkankrater, funkeln-
de Gletscher, üppig grüne Wiesen und Weiden, kristallklare Bäche
und riesige Wasserfälle. Alles schien wie aus uralten Zeiten. Anfang
und Ende der Welt kamen hier zusammen.
Wir fanden einen idyllischen Ort in den Bergen, ein Ferienho-
tel mit mehreren Dachhütten, die, jede mit einem kleinen Privat-
Geysir und eigenem Pool, ziemlich weit voneinander und vom
Hotel entfernt in einer Märchenlandschaft lagen. Wir befanden uns
mehrere Autostunden entfernt im Norden von Reykjavik, weit hin-
ter dem Polarkreis. Fs war Ende Mai, und die Magie der weißen
Nächte, verzaubert durch unser »psychedelisches Nachglühen«,
wurde zur unvergesslichen Erfahrung. Wir kamen uns beide noch
näher und begannen mit dem Gedanken zu spielen, hier in dieser
wunderschönen isländischen Landschaft vor unserer Rückkehr
nach Hause zu heiraten.
Als der Aufenthalt in unserem kleinen Liebesnest zu Ende ging,
fuhren wir nach Bifrost, wo die Erste Internationale Transpersonale
Konferenz stattfinden sollte, um uns den anderen 70 Teilneh-
merinnen und Teilnehmern anzuschließen. Das Tagungszentrum
von Bifrost lag in einer erstaunlich schönen vulkanischen Land-
schaft. Es bestand aus einem Hauptgebäude, Unterkünften für die
Gäste und einer großen Sauna aus Holz. Für die Konferenz kamen
viele ganz besondere Menschen zusammen, darunter Joseph Camp-
bell und seine Frau Jean Erdman, der Philosoph und Reli-
gionsforscher Huston Smith, Walter Houston Clark, Professor für
Religionswissenschaften, und der isländische Mythenforscher Ei-
nar Palsson. Unter den Teilnehmenden befanden sich auch mein
Bruder Paul mit seiner Frau Eva und Joans und meine gemeinsame
Freundin Leni Schwartz, die uns zusammengebracht hatte.
Es ist bekannt, dass bei der Bevölkerung der Gebiete hinter
dem Polarkreis verblüffend häufig übersinnliche Phänomene auf
Die Regenbogenbrücke der Götter 55
treten. Unser Aufenthalt in Island bestätigte das. Wir lernten viele
Menschen kennen, die präkognitive oder telepathische Fähigkeiten
besaßen, hellsichtig waren, einen Ruf als Heiler hatten, mit der
Wünschelrute umgehen konnten oder Elfen und Feen sahen. Auch
von den Teilnehmern unserer Konferenz in Bifrost hatten viele
außersinnliche Wahrnehmungen. Meine Erfahrungen in Island
halfen mir, ein Buch zu verstehen, das ich immer geliebt hatte:
Gösta Berling von Selma Lagerlöf - der ersten Frau, die den Nobel-
preis für Literatur erhielt. Die faszinierende Fähigkeit dieser Auto-
rin, Alltagsleben und mystische Reiche kunstvoll miteinander zu
verweben, hatte mich immer tief berührt.
Nach unserer Ankunft im Bifrost-Hotel tranken wir Tee mit
Leni Schwartz. Wir beschlossen, ihr zu erzählen, dass wir mit dem
Gedanken spielten, in Island zu heiraten. Aber wir hatten keine
Chance, ihr unsere interessanten Neuigkeiten mitzuteilen. »Ich
weiß, was ihr mir erzählen wollt: Ihr überlegt, hier zu heiraten«,
sagte sie und strahlte uns dabei an. Sie war so sicher, richtig gera-
ten zu haben, dass sie aufstand und wegging, ohne unsere Bestäti-
gung abzuwarten.
Später fanden wir heraus, dass sie diese Neuigkeit sofort in der
ganzen Gruppe verbreitete. Alle fanden die Aussicht auf ein Hoch-
zeitsritual aufregend, und schon kurz darauf begann die ganze
Gruppe mit den Vorbereitungen für die Zeremonie.
Einar Palsson, der isländische Mythologe, der seit zwanzig Jah-
ren nordische Mythologie studiert hatte, war vor allem zur Konfe-
renz gekommen, um Joseph Campbell, seinen Helden, kennenzu-
lernen. Die beiden führten viele tiefe Gespräche. Durch Joseph, der
ein unglaubliches, geradezu enzyklopädisches Wissen über Welt-
mythologie besaß, erfuhr Einar zum ersten Mal von der symbo-
lischen Bedeutung einiger Orte in Island und der magischen Sym-
bolik der mit ihnen verbundenen Zahlen. Als die beiden von der
geplanten Hochzeit hörten, beschlossen sie, für eine solide mytho-
logische Grundlage unserer Eheschließung zu sorgen.
56 Teil 1: Das Mysterium der Synchronizität
Sie rekonstruierten ein uraltes Hochzeitsritual der Wikinger, das
seit der Ankunft der Christen in IsIand nicht mehr praktiziert wor-
den war. Die Verbindung von Bräutigam und Braut spiegelte hieros-
gamos wider, die Heilige Vereinigung von Vater Himmel und Mut-
ter Erde, und das Symbol für diese Vereinigung war der Regenbogen.
Obwohl Joan und ich - außer natürlich uns gegenseitig - keiner
Menschenseele verraten hatten, dass wir heiraten wollten, waren
die Vorbereitungen für unsere Hochzeit in vollem Gange.
Ein isländisches Paar, Geir und Ingrid Vilhjamsson, hatte die
Konferenz organisiert. Ingrids Vater war Bürgermeister von Reykja-
vik, und ihre Mutter besaß noch ein altes isländisches Kostüm. Die
beiden brachten das Gewand als Hochzeitskleid für Joan aus Reyk-
javik mit, es passte ihr wie angegossen. Für mich wählten wir eine
wunderschöne handgestrickte isländische Jacke. In der konferenz-
freien Zeit waren alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer damit be-
schäftigt, Kostüme und Masken für das Hochzeitsritual anzufer-
tigen und das Menü für das Bankett zu planen. Joe Campbells Frau
Jean, eine begabte Tänzerin und Broadway-Choreographin, ent-
warf die Hochzeitszeremonie und probte sie mit der Gruppe.
Unsere Hochzeit begann nachmittags mit einer Reinigungsze-
remonie in der Sauna, die der isländischen Tradition entsprechend
für Braut und Bräutigam getrennt stattfand. Dann kämmten die
Frauen der Gruppe Joan das Haar und kleideten sie an, wobei sie
Lieder sangen und die Braut auf die Hochzeitsnacht vorbereiteten.
Angeleitet von Ingrid, versuchten sie, ihr modernes Denken abzu-
streifen und das Gespräch so zu führen, wie es in alten Zeiten bei
einem Anlass wie diesem stattgefunden haben mochte. Ich traf
mich mit den Männern aus der Gruppe, um Abschied von meinem
Junggesellendasein zu feiern. Wir tranken Met, sangen Lieder mit
entsprechenden Texten, und meine Freunde boten mir Unterstüt-
zung und Zuspruch an für das, was vor mir lag.
Nach der Sauna versammelten wir uns alle miteinander im
Speisesaal für das Festmahl. Das köstliche Menü bestand aus vielen
Die Regenbogenbrücke der Götter 57
Gaben der Erde und einer Auswahl an Süßwasserfisch und Meeres-
früchten. Die Farben, der Geschmack und der Anblick des Essens,
der gute Wein und das seltsame Licht der weißen Nacht verschwo-
ren sich zu einer magischen Atmosphäre. Als wir nach dem Essen
tanzten, schaute jemand aus dem Fenster und sah, dass es angefan-
gen hatte zu nieseln und gleichzeitig ein riesiger doppelter Regen-
bogen in unglaublich leuchtenden Farben den Himmel schmückte.
Alle liefen hinaus in den Regen und tanzten auf dem nassen Rasen
weiter.
Während wir im Haus ausgelassen und dionysisch getanzt hat-
ten, wurde der Rhythmus unserer Bewegungen hier draußen nun
entspannter und fließender und verlangsamte sich wie auf Anwei-
sung eines unsichtbaren Taktmeisters. Die Menschen bewegten
sich wie im Tai Chi - manche für sich allein, andere in Paaren oder
kleinen Gruppen. Dann legte jemand im Speisesaal eine entspre-
chende Musik auf, die meditativ und zeitlos klang und völlig im
Einklang war mit dem Rhythmus unseres Tanzens. Vor dem Hin-
tergrund des doppelten Regenbogens und beleuchtet vom ma-
gischen Licht der weißen Nacht, wirkte die Szene, als sei sie nicht
aus dieser Welt - surreal, wie in einem Film von Fellini.
Zu unserem Erstaunen erschien und verschwand der doppelte
Regenbogen dreimal. In unserer Stimmung lag es nahe, in diesem
zauberhaften Schauspiel ein äußerst verheißungsvolles Zeichen zu
sehen. Dieses unglaubliche himmlische Schauspiel hätte bereits
ausgereicht, um der Hochzeit den Nimbus des Göttliches zu verlei-
hen. Aber es gab noch weitere bemerkenswerte Synchronizitäten.
Wir fanden heraus, dass der Name des Ortes - Bifrost - in der alten
isländischen Sprache »Regenbogenbrücke der Götter« bedeutete,
und in dem uralten Hochzeitsritual der Wikinger, nach dem Joan
und ich heirateten, war der Regenbogen ein Symbol für die Verei-
nigung von Vater Himmel und Mutter Erde. Da drängte es sich
praktisch auf, in diesem Ereignis einen tieferen kosmischen Sinn
zu sehen.
58 Teil 1: Das Mysteriurn der Synchr0nizität
Außerdem hatte der Regenbogen für mich eine tiefe persönliche
Bedeutung, die mit einer weiteren interessanten Synchronizität
zusammenhing. Im ersten Jahr meines Aufenthalts in den Vereinig-
ten Staaten lud ich meine Eltern ein. Wir reisten zwei Monate durch
das Land und verbanden Besuche bei berühmten Vertretern der
psychedelischen Forschung und der Bewusstseinsforschung mit
Besichtigungen und Camping in den Nationalparks und in ande-
ren landschaftlich schönen Gegenden. Erpicht darauf, möglichst
viel zu sehen, legten wir in den acht Wochen über 17.000 Meilen
zurück.
Natürlich durfte bei unserem ehrgeizigen Reiseprojekt auch
der spektakuläre Südwesten der USA nicht fehlen. Während dieser
Reise durchquerten wir am späten Nachmittag eines sehr heißen
Tages auf dem Weg nach Santa Fe gerade die Wüste von New
Mexiko, als es zu regnen begann. Nach stundenlanger, sengender
Hitze war dies eine sehr willkommene Abwechslung für uns. Hinter
uns ging die Sonne unter und schmückte den Himmel mit einem
prächtigen Schauspiel wunderschöner Farben. Plötzlich erschien
vor uns am Himmel ein zauberhafter Regenbogen. Die Straße ver-
lief schnurgerade, wie ein Pfeil schoss sie vor unserem Wagen auf
den Horizont zu und kreuzte ihn genau am unteren rechten Ende
des Regenbogens. Instinktiv trat ich aufs Gaspedal, denn ich wollte
möglichst dicht an den Regenbogen heranfahren, bevor er wieder
verschwand.
Doch der Regenbogen blieb am Himmel stehen und wurde,
während wir näherkamen, immer größer und leuchtender. In die-
sem Augenblick war es, als würden wir ein Tor durchschreiten und
eine andere Wirklichkeit betreten. Wir befanden uns plötzlich in
einem Reich von unbeschreiblicher Schönheit, wo hauchzarte
Schleier aus Regenbogenfarben wirbelnd um uns herumtanzten
und zu Myriaden kleiner Diamanten explodierten. Ich hielt an,
und wir drei saßen staunend da und bewunderten dieses unglaub-
liche Schauspiel. Für mich war dieses Ereignis die intensivste
Die Regenbogenbrücke der Götter 59
ekstatische Erfahrung, die ich in meinem Lehen ohne Einnahme
einer bewusstseinsverändernden Substanz oder andere Methoden
jemals machte. Sie hielt den ganzen Abend an, und selbst am nächs-
ten Morgen konnte ich noch spüren, wie sie in mir nachglühte.
Nachdem wir gut und fest geschlafen hatten, beschlossen wir
am nächsten Tag, das Museum für die Kunst der Navajo in Santa
Fe zu besuchen. Die Haupthalle besteht aus einem großen Raum,
der einer Kiva ähnelt, der unterirdischen Kammer für Zeremonien
der amerikanischen Pueblo-Indianer. Das auffallendste Ausstel-
lungsstück war hier eine dünne, stilisierte weibliche Figur, deren
Körper aus parallel verlaufenden Längsstreifen bestand. In U-Form
verlief sie um die ganze Halle mit Ausnahme des Eingangs, der auf
der einen Seite von ihrem Kopf und auf der anderen von ihrem
kurzen Rock und ihren Beinen flankiert wurde. Der Navajo-Führer
erklärte uns, dies sei das Regenbogenmädchen, eine bekannte und
beliebte Gottheit seines Volkes. Sie spiele in der Mythologie der
Navajo eine bedeutende Rolle, da Regen in dieser trockenen Ge-
gend so wichtig sei. Die Navajo glaubten, so erzählte er weiter, das
Regenbogenmädchen würde die Menschen, die es liebe, einhüllen,
umarmen und küssen. So schenkte es ihnen eine ekstatische Freu-
de, an die sie sich ihr Leben lang erinnerten. Im Grunde beschrieb
dieser Mann mit seinen Worten unser Erlebnis auf dem Weg nach
Santa Fe. Bis heute ist diese verheißungsvolle Erfahrung in meiner
Erinnerung lebendig.
Ort und Rahmen für unsere Hochzeitszeremonie in Bifrost hätten
nicht zauberhafter sein können. Um drei Uhr morgens, als die Son-
ne, die nur eine Stunde unterging, wieder am Horizont auftauchte,
wurden wir in einem alten Vulkankrater getraut. Joseph Campbell
spielte Joans Ersatzvater und führte sie zu einem improvisierten
Altar. Huston Smith leitete den Gottesdienst und traute uns. Als
Segensspruch verlas Walter Houston Clark Sarahs Schwur aus dem
Alten Testament: »Ich werde dahin gehen, wo du hingehst, und
60 Teil 1: Das Mysterium der Synchronizität
deine Leute werden meine Leute sein.« Nach dem Austausch von
Ringen nach Wikingerentwurf und Besiegelung unserer Vereini-
gung mit einem Kuss schritten wir durch das Spalier unserer
Freunde, die grün belaubte Zweige hielten und aussahen wie Mac-
duffs Armee aus Macbeth, die den Wald von Birnam zum Schloss
von König Duncan trägt.
Wir bekamen nur etwa eine Stunde Schlaf. Die Gruppe musste
am nächsten Tag früh aufbrechen, denn wir wollten eine lange
Wanderung zu einem von Islands spektakulärsten Gletschern ma-
chen. Nachdem ich eine Stunde gedöst hatte, wachte ich auf, bereit
zum Aufbruch. Sowie ich die Augen öffnete, spürte ich, dass irgend-
etwas nicht stimmte. Die Erregung und Ekstase des gestrigen Tages
waren völlig verllogen. Ich fühlte mich ernüchtert und bedrückt.
Die ganze Welle von Aufregung, die in den letzten Tagen über uns
hinweggeschwappt war, kam mir plötzlich illusorisch und trüge-
risch vor. Und, was noch schlimmer war, die Heirat mit Joan schien
mir plötzlich ein schwerer Fehler zu sein.
Unser Ziel an jenem Tag war eine primitive Unterkunft auf
einem von Islands größten Gletschern, die aus einem Gruppen-
schlafsaal und einem Finzelzimmer bestand. Die Gruppe beschloss
einhellig, dass diese kostbare Unterkunft Joan und mir als Hoch-
zeitszimmer für die nächste Nacht dienen solle. Fs gelang mir,
meine Zweifel für mich zu behalten, und nach außen hin wirkte
alles weiterhin wunderbar. In der Gruppe hallten noch immer die
Gefühle nach, die das Wikinger-Hochzeitsritual hei allen ausgelöst
hatte, und die höchst faszinierende isländische Landschaft trug zu
dieser Stimmung entsprechend bei. Nach einem großartigen Tag in
den Bergen und einer Übernachtung in der Hütte auf dem Glet-
scher kehrten wir nach Bifrost zurück, um dort die Konferenz mit
einer Zeremonie abzuschließen.
Das Treffen in Island, das erste einer ganzen Reihe von wei-
teren internationalen, transpersonalen Konferenzen, war für alle
Beteiligten ein unvergessliches Erlebnis, und unsere Hochzeit bil
Die Regenbogenbrücke der Götter 61
dete mit Sicherheit dessen Höhepunkt. Als wir in die Vereinigten
Staaten zurückkehrten, begannen sich meine düsteren Vorah-
nungen jedoch zu bestätigen. Joan und ich waren kurz nach un-
serer Rückkehr mit zahlreichen verschiedenen Problemen konfron-
tiert, die unsere Beziehung belasteten.
Auf dem Weg zurück von Island unterbrachen wir unsere Reise
in Miami, wo Joan mich ihren Eltern, John und Eunice, vorstellte.
Bevor Joan sie aus Island anrief, um ihnen die Neuigkeiten über
unsere Hochzeit zu erzählen, wussten die beiden gar nicht, dass
ihre Tochter Heiratspläne hatte. Bei unserem Besuch wurde deut-
lich, dass ich den Ansprüchen der neureichen Welt, die ihr Haus in
Miami verriet, nicht entsprach. Sie akzeptierten mich zwar wider-
strebend, wahrscheinlich aber nur, weil sie Joans rebellischen Geist
kannten und auf Schlimmeres gefasst gewesen waren. Die ersten
drei Fragen, die Joans Vater stellte, nachdem Joan ihm von unserer
Heirat erzählt hatte, lauteten: »Ist er ein Schwarzer? Ist er Kommu-
nist? Trägt er einen Bart?« Er war erleichtert, als sie alle drei Fragen
mit Nein beantwortete.
Joan kündigte ihre Arbeit am anthropologischen Fachbereich
der Universität von Miami und zog zu mir nach Baltimore. Sie
machte mehrere vergebliche Versuche, eine Lehr- oder Forschungs-
stelle an der Johns-Hopkins-Universität oder an der Universität
von Maryland zu bekommen. Der Verlust ihrer Identität als akade-
mische Forscherin machte ihr emotional offensichtlich sehr zu
schaffen. Ich bot ihr an, sich an unserem Projekt der psychede-
lischen Therapie mit Krebskranken im Endstadium zu beteiligen.
Es machte ihr Freude, bei den LSD- und DPT(DipropyItryptamin)-
Sitzungen als Co-Therapeutin anwesend zu sein, aber sie bekam
dafür kein Geld, denn das Maryland-Psychiatric-Research -Center
hatte keine bezahlte Stelle zur Verfügung. Eine Reise nach Japan,
als Flitterwochen gedacht, verstärkte die Spannungen zwischen uns.
Glücklicherweise bot mir der Verlag Viking-Press ein Vor-
schusshonorar für zwei Bücher über LSD an. Bei einer Party in Leni
62 Teil 1: Das Mysterium der Synchronizität
und Bob Schwartz’s Haus in New York City trafen wir zufällig einen
alten Freund von mir, Michael Murphy, Mitbegründer des Esalen-
Instituts. Nach einem kurzen Gespräch lud Michael uns ein, als
Esalens Gäste nach Big Sur zu ziehen, und bot mir die Position
eines dort ansässigen Dozenten an. Ein Urlaub in Osterreich und
Italien sowie der Umzug nach Esalen entlasteten unsere Beziehung
vorübergehend, und für eine Weile atmeten wir auf. Es dauerte je-
doch nicht lange, und die Unterschiede zwischen uns traten so
deutlich hervor, dass sich unsere Beziehung rapide verschlechterte.
Eine Zeitlang gaben wir uns alle Mühe, an unserer Ehe festzu-
halten - vor allem, weil wir unsere Freunde von der Tagung in
Bifrost und besonders Joe Campbell nicht enttäuschen wollten, da
sie doch unsere wunderschöne Zeremonie gestaltet und mit uns
Hochzeit gefeiert hatten. Joe merkte in seinen Vorträgen oft kri-
tisch an, modernen Ehen fehle eine solide mythologische Grundla-
ge und schilderte bei diesem Anlass unsere Hochzeit in leuchten-
den Farben als Beispiel für eine mythologisch verankerte Ehe, die
ewig halten würde. Als unsere Ehe schließlich zerbrach und klar
wurde, dass eine Scheidung unvermeidlich war, gehörte der Um-
gang mit Joes Enttäuschung zu den schwierigsten Aspekten dieses
Prozesses.
Das isländische Abenteuer war eine faszinierende Erfahrung
mit archetypischen Energien, die in unseren Alltag einbrechen und
erstaunliche Synchronizitäten bewirken können. Sie brachte mir
jedoch eine wichtige Lektion bei: Ich lernte, der verführerischen
Macht solcher Erfahrungen, die das Ego verzaubern und erhöhen,
nicht bedingungslos zu vertrauen. Die ekstatischen Gefühle, die
das Auftauchen archetypischer Kräfte begleiten, sind keine Garan-
tie dafür, dass die Dinge sich zum Positiven entwickeln. Grundle-
gend ist, dass wir uns unter dem Bann dieser Kräfte nicht zu vor-
eiligen Handlungen verleiten lassen und keine wichtigen
Entscheidungen treffen, bevor wir nicht wieder mit beiden Beinen
auf dem Boden stehen.
Das Spiel des Bewusstseins 63
Das Spiel des BewusstseinsSwami Muktananda und Siddha Yoga
eine Frau Christina und ich haben im Laufe der Jahre bei
unserer Arbeit viele bemerkenswerte Synchronizitäten
beobachtet und auch persönlich erlebt. Manchmal traten sie als
einzelne Ereignisse auf, zu anderen Zeiten gehäuft und regelrecht
in Serie. In einem bestimmten Zeitraum unseres Lebens, der sich
über acht Jahre erstreckte, hatten wir jedoch massenhaft Gelegen
heit, Synchronizitäten zu erleben und zu beobachten. Damals stan
den wir in enger Verbindung mit Swami Muktananda, einem in
dischen spirituellen Lehrer und Oberhaupt der uralten Linie des
Siddha Yoga. Als Christina und ich uns 1975 in Big Sur, Kalifor
nien, kennenlernten und schon bald darauf zusammenlebten und
-arbeiteten, war sie Schülerin und glühende Anhängerin von Swa
mi Muktananda. Sie war ihm begegnet, als er auf seiner ersten Tour
um die Welt in Honolulu Halt machte, begleitet von Ram Dass,
dem bekannten Psychologieprofessor und psychedelischen For
scher an der Harvard-Universität, der den Weg eines spirituellen
Suchers und Lehrers einschlug.
Christina erlebte zu jener Zeit ein heftiges Erwachen ihrer
Kundalini, das bei der Geburt ihres ersten Kindes, Nathaniel, be
gonnen hatte und sich durch die Geburt ihrer Tochter Sarah zwei
Jahre später intensivierte und vertiefte. Laut yogischer Tradition ist
die Kundalini, auch Schlangenkraft genannt, die schöpferische
kosmische, ihrer Natur nach weibliche Energie, die verantwortlich
M
64 Teil 1: Das Mysterium der Synchronizität
ist für die Erschaffung des Universums. Ihr entspricht auch der
feinstoffliche Körper oder Energiekörper, ein Energiefeld, das den
menschlichen physischen Körper sowohl erfüllt und durchdringt
als auch umgibt. In latenter Form existiert sie am unteren Ende der
Wirbelsäule im Bereich des Kreuzbeins. Kundalini bedeutet wört-
lich »die Zusammengerollte«, und die Kundalini-Energie wird
meistens dargestellt als Schlange, die sich dreieinhalb Mal um den
Lingam wickelt, das Symbol der männlichen Schöpferkraft. Diese
schIafende Energie kann durch Meditation, bestimmte Übungen,
Vermittlung eines erfahrenen spirituellen Lehrers (Guru) oder Ur-
sachen unbekannter Art aktiviert werden.
Die aktivierte Kundalini, Shakti genannt, steigt durch Nadis -
Kanäle oder Röhren - im feinstofflichen Körper aufwärts. Auf
ihrem Weg nach oben klärt sie alte traumatische Prägungen und
öffnet die Zentren für psychische und spirituelle Energien, die Cha-
kren genannt werden. Das Erwachen der Kundalini fördert also die
Heilung, die spirituelle Öffnung und die positive Transformation
der Persönlichkeit. Dieser Prozess, in der yogischen Tradition
hochgeschätzt und äußerst positiv dargestellt, ist jedoch nicht un-
gefährlich und erfordert die erfahrene Anleitung durch einen Guru,
dessen Kundalini voll erwacht ist und sich stabilisiert hat. Am dra-
matischsten manifestiert sich das Erwachen der Kundalini in Form
der physischen und psychischen Anzeichen, die Kriyas heißen.
Kriyas sind intensive Empfindungen von Energie und Hitze, die an
der Wirbelsäule im Körper nach oben strömen und begleitet sein
können von heftigem Zittern sowie zuckenden und spastischen
Bewegungen.
Mächtige Wogen von scheinbar unmotivierten Emotionen wie
Angst, Wut, Traurigkeit oder Freude und Ekstase können dabei
hochkommen und die Psyche vorübergehend völlig beherrschen.
Oft gehen diese Gefühle auch einher mit intensiven Lichterschei-
nungen oder dem Auftauchen archetypischer Wesen und der inne-
ren Wahrnehmung verschiedener Töne und Klänge. Manche Men
Das Spiel des Bewusstseins 65
schen machen bei diesem Prozess eindringliche Erfahrungen, die
offensichtlich Erinnerungen aus vergangenen Leben sind. Unwill-
kürliches und oft unkontrollierbares Verhalten unterschiedlichster
Art vervollständigt das Bild: Die Betroffenen reden in verschiedenen
»Zungen« , singen ihnen unbekannte Lieder oder heilige Anrufungen
(Mantras), nehmen Yoga-Haltungen (Asanas) ein, machen be-
stimmte Gesten (Mudras), äußern sich in Tierstimmen und bewe-
gen sich entsprechend.
Swami Muktananda stand in dem Ruf, ein vollkommen er-
wachter Meister und vollendeter Kundalini-Yogi zu sein, der in sei-
nen Schülerinnen und Schülern spirituelle Energie aktivieren
konnte. Christina erfuhr durch Freundinnen von seinem Besuch
auf Hawaii und beschloss daraufhin, an einem »Intensive« teilzu-
nehmen, wie Muktananda seine Wochenendworkshops nannte. In
einer der Meditationen bei diesem Retreat empfing Christina von
ihm Shaktipat: Das ist der Sanskritname für die Ubertragung spiri-
tueller Energie durch den Guru, die durch eine Berührung, einen
Blick oder reine Gedankenkraft übermittelt wird. Bei Christina ge-
schah diese machtvolle Energieübertragung, als Muktananda sie
anschaute und ihre Augen sich begegneten. In diesem Moment traf
sie aus den Augen des Gurus ein Blitzstrahl zwischen die eigenen
Augen, und zwar dort, wo sich laut östlichen spirituellen Traditi-
onen das »Dritte Auge« befindet. Dieser Blick löste bei ihr inten-
sive Kriyas aus, Wellen von überwältigenden Emotionen und ein
Zittern am ganzen Körper.
Dieses Erlebnis mit Muktananda verstärkte bei Christina das
Erwachen der Kundalini, das bereits vor ihrer Begegnung mit ihm
eingesetzt hatte. Es war der Beginn ihrer wichtigen Beziehung mit
diesem bemerkenswerten Siddha-Yogi, die bis 1982 dauerte, als er
im Alter von 74 Jahren starb. Nach dem Wochenend-Retreat stellte
Christina Muktanandas Schülerinnen und Schülern ihre kleine
Wohnung in Honolulu zur Verfügung, wo sie seit der Scheidung
mit ihren Kindern Than und Sarah lebte. Muktananda nahm ihr
66 Teil 1: Das Mysterium der Synchronizität
Angebot an, besuchte ihre Räume und segnete sie als Siddha-Yoga-
Meditationszentrum. Nachdem sie aus Hawaii weggegangen war,
versuchte Christina jede Gelegenheit zu nutzen, ihrem Lehrer wie-
der zu begegnen.
Kurz nachdem Christina und ich unser gemeinsames Leben in
Esalen aufgenommen hatten, kam Swami Muktananda in die Bay
Area, um sich für einige Monate in seinem Ashram in Oakland, in
der Nähe von San Francisco, aufzuhalten. Oakland liegt nur etwa
drei Stunden Autofahrt entfernt von Big Sur, wo wir lebten, und
Christina ergriff die Gelegenheit, um für uns beide eine persön-
liche Audienz (einen Darshan) mit ihrem spirituellen Lehrer zu
organisieren. Wie ich später erfuhr, war Sie unsicher, ob Swami
Muktananda unsere Beziehung gutheißen würde, und wollte he-
rausfinden, wie er dazu stand. Ich konnte ihre Bedenken natürlich
gut verstehen. Als »transzendentaler Hedonist«, wie ich mich selbst
oft witzelnd nannte, entsprach ich nicht unbedingt den konventio-
nellen indischen Kriterien für einen ernsthaften spirituellen Sucher.
Ich war kein Vegetarier, hatte Freude an Sex und war bekannt für
meine Arbeit mit LSD und anderen psychedelischen Substanzen.
Ich hatte schon von Swami Muktananda gehört, bevor ich
Christina kennenlernte, und Gelegenheit gehabt, einen flüchtigen
Blick in das Manuskript seiner Autobiographie zu werfen, das den
Titel Guru trug und später als Paramahansa. Spiel des Bewusstseins.
Eine spirituelle Biographie erschien (Siddha Yoga Verlag, Telgte 2001,
Anm.d.Ü.). Ich war nicht besonders erpicht darauf, nach Oakland
zu fahren und ihn kennenzulernen, denn er löste bei mir gemischte
Gefühle aus. Zwei meiner Freunde waren zu Siddha Yoga überge-
treten und verehrten Muktananda auf ziemlich unkritische Weise,
wie mir schien. Sie waren mit Sicherheit nicht die beste Werbung
für Muktananda und seinen Einfluss auf Menschen, die sich als
seine Anhänger verstanden. Das Verhalten meiner Freunde hatte
sich nach dem Besuch eines Intensivwochenendes mit Muktanan-
da drastisch verändert und in Esalen viel Wirbel verursacht. Statt
Das Spiel des Bewusstseins 67
einen Workshop zu dem Thema zu machen, das sie im Prospekt
von Esalen angekündigt hatten, brachten sie beispielsweise kleine
Trommeln und Zimbeln mit in ihr Seminar und wollten mit den
Teilnehmern »Shree Guru Gita«, »Om Namah Shivaya« und ande-
re hinduistische Anbetungen singen.
Bhakti Yoga aIs eine Form von hingebungsvoller Anbetung ist
nie meine spirituelle Lieblingspraxis gewesen. Laut uralter indi-
scher Tradition brauchen und suchen Menschen aufgrund ihrer
unterschiedlichen Persönlichkeiten auch verschiedene Formen von
Yoga. Während Christinas Vorliebe ganz klar Bhakti Yoga galt, wo
die Betonung auf der Hingabe an den Guru liegt, fühlte ich mich
sehr hingezogen zum Jnana Yoga, bei dem der Intellekt durch spi-
rituelle Übungen so weit an seine Grenzen gebracht wird, dass er
aufgeben muss. Ich war auch sehr einverstanden mit Raja Yoga, wo
es vor allem um psychologische Experimente und direkte Erfah-
rungen mit dem Göttlichen geht. Und ich konnte auch Karma Yoga
ohne weiteres akzeptieren, bei dem der Schwerpunkt darauf liegt,
durch Dienen karmische Verdienste zu erwerben. Bhakti Yoga
jedoch rangierte auf meiner Werteskala ziemlich weit unten.
Da ich aber von Natur aus ziemlich neugierig bin, hielten mich
meine Vorbehalte in Bezug auf die Praxis der Hingabe nicht davon
ab, einen Siddha-Yoga-Guru mit dem Ruf Muktanandas kennenzu-
lernen. Und ich wusste, dass dieser Darshan für Christina Sehr
wichtig war. Während wir in Richtung Bay Area fuhren, erzählte
mir Christina ein paar bemerkenswerte Geschichten über ihren
spirituellen Lehrer, um mich auf unsere Begegnung vorzubereiten.
Vorzeitig angekommen, warteten wir im Auto auf den Darshan
und setzten dabei unser Gespräch über Swami Muktananda fort.
An einem Punkt erwähnte Christina, dass er Shaivite war, ein An-
hänger Shivas. Da horchte ich auf, und meine Neugier auf unsere
Begegnung wuchs. Ich wusste, dass die Shaivites, um sich in au-
ßergewöhnliche Bewusstseinszustände zu versetzen, unter ande-
rem auch Bhang und Daturasamen einnahmen. Und Shiva ist mein
68 Teil 1: Das Mysterium der Synchronizität
wichtigster persönlicher Archetyp, denn die beiden tiefsten und
bedeutsamsten Erfahrungen, die ich in meinen psychedelischen
Sitzungen jemals machte, hingen mit dieser indischen Gottheit zu-
sammen. Ich gab Christina damals im Auto eine ziemlich ausführ-
liche Beschreibung dieser beiden Erlebnisse.
Meine erste Begegnung mit Shiva hatte ich in einer meiner
ersten LSD-Sitzungen, als ich noch in Prag lebte. Die ersten vier
Stunden dieser Sitzung verbrachte ich im Geburtskanal und durch-
lebte noch einmal das Trauma meiner Geburt. Als ich aus dem
Geburtskanal hervorkam, bedeckt mit Blut und den Geschmack
von vaginalen Sekreten auf der Zunge, hatte ich eine erschreckende
Vision von der hinduistischen Göttin Kali und erlebte die vollstän-
dige und bedingungslose Hingabe an die Macht des weiblichen
Prinzips im Universum. In jenem Augenblick sah ich eine riesige
Gestalt von Bhairava - Shiva in seinem zerstörerischen Aspekt -,
die sich vor mir auftürmte. Ich hatte das Gefühl, dass mich sein
Fuß zermalmte und wie ein Stück Exkrement im tiefsten Abgrund
des Universums verschmierte. Es war eine vollständige Auslö-
schung dessen, was ich bislang als meine Identität betrachtet hatte,
ein vernichtender Tod meines Körpers und meines Egos. Doch
kaum war ich zu nichts geworden, wurde ich zu allem. Es war, als
löste ich mich auf in eine Lichtquelle von unbeschreiblicher Inten-
sität und erlesener Schönheit. Da begriff ich, dass ich die in alten
indischen Schriften geschilderte Vereinigung von Atman und Brah-
man erlebte.
Meine zweite Begegnung mit Shiva fand viele Jahre später bei
einer Visionssuche in der Ventana-Wildnis in Big Sur statt. In einer
LSD-Sitzung, die die ganze Nacht über dauerte und in einem klei-
nen Tal der Redwood-Wälder neben einem Wasserfall stattfand,
hatte ich eine Vision von einem riesigen archetypischen Fluss, der
die Zeit und die Vergänglichkeit aller Schöpfung darstellte. Fr floss
zurück in das, was offensichtlich die Quelle aller Existenz war -
eine enorme Kugel aus leuchtender Energie, die bewusst und un
Das Spiel des Bewusstseins 69
endlich intelligent, kreativ und destruktiv zugleich war. Ich hörte
verlockende Klänge und wusste sofort: Es war Dambaru, die Trom-
mel von Shiva Bhairava, dem Zerstörer, der der gesamten Schöp-
fung befahl, dorthin zurückzukehren, woher sie kam.
Vor meinen Augen entfaltete sich die gesamte Geschichte des
Universums und der Erde. Wie in einem Film, der sich unglaub-
lich schnell abspult, sah ich die Geburt, Entwicklung und den Tod
von Galaxien und Sternen. Ich war Zeuge des Anfangs, der Evolu-
tion und Auslöschung ganzer Spezies und sah, wie Kulturen und
Dynastien ihren Anfang nahmen, aufblühten und sich ihrer Zerstö-
rung stellen mussten. Am deutlichsten erinnere ich aus dieser Sit-
zung eine Prozession von Dinosauriern in allen möglichen Gestal-
ten und Größen, die, nachdem sie Millionen von Jahren existiert
hatten, den Fluss der Zeit betraten und darin verschwanden. Und
wie ein prächtiges, kosmisches Hologramm schimmerte durch die-
se erstaunliche Szene die riesige Gestalt eines Shiva Nataraj, Gott
des kosmischen Tanzes, der seinen Tanz vom Universum aufführte.
Als sich meine Aufmerksamkeit nach Sonnenaufgang allmählich
von meiner Innenwelt löste und ich die unglaubliche Schönheit
der Natur um mich herum wahrnahm, klang in meinen Ohren
noch stundenlang der unwiderstehlich verführerische Gesang »Om
hare Om, hare Om, Shri Om« nach, den ich bei dieser unvergess-
lichen Erfahrung wie ein Leitmotiv des Flusses der Zeit fortwäh-
rend hörte.
lch hatte Christina diese beiden Erfahrungen, die mein Leben ver-
änderten, gerade zu Ende erzählt, da wurde es Zeit für unseren
Darshan. Als wir den Raum betraten und ich Swami Muktananda
sah, war ich tief beeindruckt von seiner ungewöhnlichen Erschei-
nung. Er trug eine dicke rote Pudelmütze, eine große dunkle Brille
und den Lunghi, eine orangefarbene Robe. In seiner rechten Hand
hielt er einen Stab aus Pfauenfedern, die - wie ich später heraus-
fand - mit duftender Sandelholz-Essenz getränkt waren. Dieser
7o Teil 1: Das Mysterium der Synchronizität
Stab war Swami Muktanandas wichtigstes Werkzeug, um Shaktipat
zu übertragen, indem er dem Einweihungskandidaten damit auf
den Kopf schlug.
Baba, wie seine Anhängerinnen und Anhänger ihn Iiebevoll
nannten, lud mich ein, neben ihm Platz zu nehmen, und wandte
sich mir zu. Er nahm seine dunkle Brille ab, was er sehr selten tat,
und inspizierte mein Gesicht mit einem langen, unverwandten
Blick aus nächster Nähe. Wie in einer Nahaufnahme sah ich seine
stark erweiterten Pupillen, die auf den Augäpfeln zu schwimmen
schienen. Das kannte ich bereits von Klienten, die eine hohe Dosis
LSD genommen hatten. Er konzentrierte sich auf meine Augen und
untersuchte sie mit der Gründlichkeit eines Augenarztes. Wie um
seine Untersuchungsergebnisse zusammenzufassen, sagte er plötz-
lich einen Satz, der mir einen Schauer über den Rücken jagte: »Ich
kann wohl sehen, dass du ein Mann hist, der Shiva begegnet ist.«
Ich war verblüfft über diese außergewöhnliche Synchronizität.
Muktananda sagte diese Worte nur wenige Minuten, nachdem ich
Christina von den Erlebnissen mit Shiva erzählte hatte, die so
wichtig für mein Leben waren. Es war absolut unmöglich, dass er
diese Dinge durch die üblichen Informationskanäle erfahren hatte.
Schwer vorstellbar war auch, dass es sich hier lediglich um einen
bedeutungslosen Zufall handelte. Die Wahrscheinlichkeit, dass
eine so spezielle Situation wie diese sich rein zufällig ergeben hatte,
war so gering, dass man sie praktisch ausschließen konnte. Es gab
nur zwei mögliche Erklärungen: Swami Muktananda hatte auf pa-
ranormalen Wegen Zugang zu den Ereignissen in seiner Umgebung
oder war selbst Teil eines Energiefelds, in dem bedeutungsvolle
Synchronizitäten im jungschen Sinne verstärkt auftraten.
Nach diesen ersten Ereignissen wuchs meine Neugier auf
Munktananda beträchtlich und auch mein Interesse, noch mehr
Zeit mit ihm zu verbringen. Im Vergleich zu dieser dramatischen
Eröffnung war das nachfolgende Gespräch zwischen uns zunächst
etwas enttäuschend, obwohl unser Thema vom beruflichen Stand
Das Spiel des Bewusstseins 71
punkt aus ziemlich interessant für mich war. Muktananda, der
wusste, dass ich mit LSD gearbeitet hatte, äußerte sich über die
Anwendung psychoaktiver Substanzen in der spirituelIen Praxis.
Er war überzeugt, dass die Erfahrungen, die sie auslösten, den Er-
lebnissen, die Menschen im Siddha Yoga suchten, ziemlich ähnlich
waren.
»Ich weiß, dass Sie mit LSD gearbeitet haben«, teilte er mir
durch seine Ubersetzerin mit. Sie hieß Malti und war eine junge
indische Frau, die er viele Jahre später unter dem Namen Swami
Chitvilasananda zu seiner Nachfolgerin bestimmte. »Wir machen
hier etwas ganz Ähnliches. Aber im Siddha Yoga zeigen wir Men-
schen nicht nur, wie sie high werden, sondern auch, wie sie es
bleiben können«, sagte er selbstbewusst. »Mit LSD können Sie
großartige Erfahrungen machen, aber die verpuffen wieder. Es gibt
in Indien viele ernsthaft Suchende, Brahmanen und Yogis, die für
ihre spirituelle Praxis heilige Pflanzen benutzen«, fuhr Swami
Muktananda fort, »aber die wissen, wie man das richtig macht.«
Dann erläuterte er mir, wie wichtig es sei, heim Anbau, Präpa-
rieren und Rauchen oder Einnehmen von indischem Hanf (Canna-
bis indica) in Form von Bhang, Ganja oder Charas respektvoll vor-
zugehen, und kritisierte den nachlässigen und wenig ehrerbietigen
Umgang der jungen Generation im Westen mit Marihuana und Ha-
schisch. »Die Yogis kultivieren und ernten die Pflanze sehr bewusst
und mit großer Achtung«, sagte er. »Zuerst wird sie zwei Wochen
in Wasser eingeweicht, um sie von allen giftigen Bestandteilen zu
reinigen, und dann getrocknet. Dann kommt sie in eine Chilam
(eine spezielle Pfeife) und wird geraucht. Und dann wälzen sich
die Yogis in Ekstase nackt im Schnee und Eis des Himalaja.« Er
begleitete seine Schilderung, wie man die Chilam raucht und in
welche Ekstase die Yogis dadurch geraten, mit lebhaften Gesten
und Grimassen, als berichtete er von eigenen Erinnerungen.
Im Verlauf unseres Gesprächs fragte ich Baba auch nach Soma,
dem heiligen Trank aus dem alten Indien, der in der Rig Veda über
72 Teil 1: Das Mysterium der Synchronizität
tausend Mal erwähnt wird und in der vedischen Religion eine ganz
wesentliche Rolle spielt. Man stellte dieses Sakrament aus der
gleichnamigen Pflanze her, deren Identität im Laufe der Jahrhun-
derte in Vergessenheit geriet. Ich fand die Berichte über Soma fas-
zinierend und hoffte, Swami Muktananda könne mir mit Hinwei-
sen helfen, diese Pflanze botanisch zu bestimmen und ihren aktiven
Wirkstoff herauszufinden. Zu der Zeit hatten viele von uns, die
sich mit psychedelischer Forschung befassten, den Traum, das Ge-
heimnis von Soma zu entdecken.
Muktananda verwarf die Theorie des Mykologen Gordon Was-
son, der behauptete, diese Pflanze sei Amanita muscaria, Fliegen-
pilz. Er versicherte mir, Soma sei kein Pilz, sondern ein »Kriechge-
wächs«. Das überraschte mich nicht besonders, sondern schien
Sinn zu machen, denn ein weiteres wichtiges Präparat auf der psy-
chedelischen Arzneimittelliste, das berühmte heilige Ololiuqui aus
Mittelamerika, enthielt die Samen der Purpurwinde (Ipomoea viola-
cea), die ebenfalls den Kriechgewächsen zugeordnet wird, weil sie
mit Hilfe von Ranken wächst.
Doch was dann kam, war für mich eine große Überraschung.
Baba wusste nicht nur, waS Soma war, sondern versicherte mir,
dass es in Indien bis auf den heutigen Tag angewendet wird. Tat-
sächlich stand er in regelmäßigem Kontakt mit vedischen Priestern,
die diese Substanz bei ihren Ritualen einsetzten. Und laut Baba
kamen einige dieser Priester tatsächlich jedes Jahr aus den Bergen
hinunter nach Ganeshpuri, einer kleinen Stadt südlich von Bom-
bay, wo Sein Ashram stand, um seinen Geburtstag mit ihm zu fei-
ern. Zu diesem Anlass hielten sie regelmäßig Zeremonien mit Soma
ab. Am Ende unseres Gesprächs lud Baba auch Christina und mich
ein, seinen Ashram zur Zeit seines Geburtstags zu besuchen und
versprach, dafür zu sorgen, dass wir an diesem uralten Ritual teil-
nehmen konnten.
Bislang war dieser Darshan offensichtlich überwiegend so
etwas wie ein Fachgespräch gewesen, bei dem wir Informationen
Das Spiel des Bewusstseins 73
über die »Technologien des Heiligen« austauschten. Doch dann
nahm er plötzlich eine überraschende Wende. Ohne jede Vorherei-
tung oder Vorwarnung griff Muktananda brüsk nach einer rosa
Dose mit Mandelriegeln, die neben ihm auf einem Tischchen stand.
Im Ashram standen überall Süßigkeiten herum, weil Baba verbrei-
tet hatte, Shakti, die göttliche weibliche Energie, habe eine große
Vorliebe für Süßes. Im Amrit, der Cafeteria, servierte man dem-
zufolge eine große Auswahl an phantastischen Süßspeisen. Mukta-
nanda fischte jetzt aus der Dose zwei süße Riegel, wickelte sie ge-
schickt aus und stopfte sie mir in den Mund, während er mich
gleichzeitig ziemlich heftig auf beide Wangen und dann auf die
Stirn schlug und mich vor die Schienbeine trat.
Dann stand er auf und gab uns zu verstehen, dass der Darshan
beendet war. Als wir schon an der Tür waren, schaute er Christina
und mich an und sagte: »Nun, wir veranstalten zwei Intensivwo-
chenenden zu Kaschmir Shivaismus. Ich lade euch beide als meine
Gäste ein.« Bevor ich aus dem Zimmer ging, warf er mir einen be-
deutungsvollen Blick zu und sagte: »Das wird für dich sehr interes-
sant.« Zu der Zeit wusste ich gar nichts über Kaschmir Shivaismus.
Ich konnte dem Namen lediglich entnehmen, dass das irgendetwas
mit Shiva und Kaschmir zu tun haben musste. Wir bedankten uns
bei Muktananda, verabschiedeten uns und traten aus dem Dar-
shan-Raum in die weitläufige Meditationshalle des Ashrams.
Draußen vor der Tür hatten sich eine Menge Leute versammelt, die
auf uns warteten. Bei den meisten von ihnen handelte es sich of-
fensichtlich um Menschen, die aufgrund ihrer Drogenerfahrungen
zum Siddha Yoga gekommen waren. Sie vermuteten, dass mein
Gespräch mit Muktananda auch um psychedelische Substanzen
gekreist habe, und wollten wissen, ob er irgendetwas Wichtiges zu
diesem Thema gesagt hatte. Ich musste durch ein ganzes Spalier
von Leuten laufen, die mich mit Fragen überhäuften wie: »Worü-
ber habt ihr geredet? Hat Baba irgendwas über Acid (LSD, Anm.
d.Ü.) gesagt? Findet Baba Drogen okay?«
74 Teil 1: Das Mysterium der Synchronizität
Ich verspürte nicht die geringste Neigung, mit diesen Leuten in
Kontakt zu treten. Ich fühlte mich körperlich irgendwie merkwür-
dig, und mein Kopf drehte sich. Ich machte mich von der Menge
frei, entschuldigte mich und verzog mich in die hinterste Ecke der
Meditationshalle. Dort saß ich mit gekreuzten Beinen, den Rücken
an die Wand gedrückt und die Augen geschlossen. Ich hatte das
Gefühl, mir so am besten klar machen zu können, was da gerade
mit mir passierte.
Siddha Yogis haben den Ruf, durch Shaktipat die außersinn-
lichen Kräfte von Menschen aktivieren zu können, und mir war
klar, dass Muktananda entsprechend mit mir gearbeitet hatte. Ich
glaubte jedoch, nicht besonders empfänglich für diese Dinge zu
sein, und hatte nicht erwartet, dass bemerkenswerte Reaktionen
bei mir auftraten. Damals ging ich davon aus, dass nur wirkungs-
volle psychoaktive Drogen mein Bewusstsein nachhaltig verändern
konnten. Und obwohl ich aus der Literatur und von Christina
wusste, dass Shaktipat Kriyas auslösen kann - also intensive Emo-
tionen, unwillkürliche Töne und heftige körperliche Reflexe
kamen meine eigenen Reaktionen für mich völlig überraschend.
Kaum hatte ich die Augen geschlossen, befand ich mich in
einem Zustand vollkommenen Nichts und vollkommener Leere,
einer Leere von kosmischen Dimensionen. Das fühlte sich in etwa
an, als habe man mich irgendwo mitten im interstellaren Raum
zwischen Planet Erde und Alpha Centauri ausgesetzt. Das istjedoch
nur eine ziemlich oberflächliche Beschreibung dieser Erfahrung,
die das Gefühl tiefen Friedens und tiefer Ruhe ausließ und auch
die ungewöhnlichen metaphysischen Einsichten, die damit ver-
bunden waren. Ich befand mich in einem Zustand, der alle Polari-
täten transzendierte und in dem ich die gesamte Existenz total ver-
stand. Auf irgendeine Weise enthielt dieses kosmische Vakuum das
Geheimnis des ganzen Seins und aller Schöpfung. Als ich die Au-
gen wieder öffnete, stellte ich fest, dass seit dem Ende des Dar-
shans mehr als eine Stunde vergangen war.
Das Spiel des Bewusstseins 75
Wir freuten uns über Babas Einladung zu den Intensivwochenen-
den über Kaschmir Shivaismus und nahmen sie gern an; Christina,
weil sie diesen Guru verehrte, und ich, weil ich aufgrund der eigen-
artigen Synchronizitäten und dieser ungewöhnlichen Erlebnisse
neugierig geworden war. Der erste Intensivworkshop erwies sich
als weitere Überraschung und war hochinteressant. Er begann mit
einem Einführungsvortrag über Kaschmir Shivaismus, den Swami
Tejo hielt, ein Mitglied des engeren Kreises um Muktananda. Wäh-
rend der Swami seine Rede hielt, wuchs meine Verblüffung, und
ich bekam leichte Anwandlungen von Paranoia. Er schien Passa-
gen aus einem Artikel wiederzu geben, den ich vor mehreren Jah-
ren für eine der letzten Ausgaben eines kurzlebigen, obskuren, re-
gelmäßig erscheinenden Magazins, das Journal for the Study of
Consciousness, geschrieben hatte. Die Parallelen waren erstaunlich
und betrafen sogar ganz bestimmte Bilder und Vergleiche, die ich
herangezogen hatte.
Gegen Ende der 1960er-Jahre, als ich noch am Maryland-Psy-
chiatric-Research-Center arbeitete, hatte ich beschlossen, einen
Text zu verfassen, in dem ich die ontologischen und kosmolo-
gischen Einsichten beschreiben wollte, zu denen Menschen in
außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen Zugang bekommen
können. Der Artikel beruhte auf Beobachtungen in über 5000 psy-
chedelischen Sitzungen, die meine Kollegen und ich in Prag und
Baltimore durchgeführt hatten. Ich konzentrierte mich auf die Ab-
schnitte in den Berichten unserer Patientinnen und Patienten, in
denen sie grundlegende Fragen der Existenz aufgriffen und Ant-
worten darauf fanden - das Wesen der Realität, das Mysterium des
schöpferischen Prinzips im Kosmos, die Erschaffung des Univer-
sums, die Beziehung zwischen Mensch und Göttlichkeit, die Rolle
des Bösen im universalen Gewebe, Reinkarnation und Karma, das
Rätsel von Zeit und Raum und Ähnliches mehr.
Zu meiner Überraschung fand ich heraus, dass sich die indivi-
duellen metaphysischen Einsichten meiner Patienten verblüffend
76 Teil 1: Das Mysterium der Synchronizität
ähnelten und verschiedene Teilaspekte einer einzigen, umfas-
senden kosmischen Sicht darstellten. Die ungewöhnliche Wahr-
nehmung des Kosmos und der menschlichen Existenz, die sich aus
dieser Analyse ergab, unterschied sich radikal von der, welche die
newtonsche-kartesianische materialistische Wissenschaft formu-
lierte. Sie hatte jedoch erstaunliche Ähnlichkeit mit den spiritu-
ellen Systemen, die Aldous Huxley als »ewige Philosophie« be-
zeichnete (siehe auch S. 343, 413).
Beeindruckend war auch, dass viele Aspekte dieser Sichtweise
in Einklang mit der Weltanschauung der relativistischen Quanten-
physik und anderen revolutionären Fortschritten in den modernen
Wissenschaften standen, die meistens als das »neue« oder »neu
auftauchende« Paradigma bezeichnet werden. Der Artikel, in dem
ich diese Ergebnisse unter dem Titel »LSD and the Cosmic Game:
Outline of Psychedelic Cosmology and Ontology« (LSD und das
kosmische Spiel: Entwurf einer psychedelischen Kosmologie und
Ontologie, Anm.d.Ü.) erläuterte, war 1972 erschienen, also drei
Jahre vor unserem Intensivwochenende in Oakland. 26 Jahre spä-
ter wurde er zur Grundlage für mein Buch Kosmos und Psyche. An
den Grenzen menschlichen Bewusstseins (1998).
Und in seinem Einführungsvortrag für das Oakland Intensiv-
wochenende schien Swami Tejo meine Ideen schamlos zu plagiie-
ren. Ich brauchte eine Weile, bevor mir klar wurde, dass er in
Wirklichkeit den Kaschmir Shivaismus erläuterte und nicht Passa-
gen aus meinem Text vortrug. Das war wirklich erstaunlich, denn
zwischen den Ursprüngen dieser spirituellen Philosophie und den
Einsichten meiner Patienten lagen mehr als ein Jahrtausend und
Tausende von Meilen Abstand. Die Anfänge des Kaschmir Shivais-
mus können bis ins 8. Jahrhundert nach Christi Geburt zurückver-
folgt werden, als ein kaschmirischer Weiser eine Vision hatte, in
der er Anweisung enthielt, einen bestimmten Ort außerhalb von
Shrinagar, der Landeshauptstadt, aufzusuchen. Dort fand er in Stein
gemeißelte, heilige Inschriften, die später zu den Shiva Sutras wur
Das Spiel des Bewusstseins 77
den, der Heiligen Schrift des Kaschmir Shivaismus. Niemand
wusste, wer sie verfasst hatte oder wie lange sie dort vor ihrer Ent-
deckung bereits existiert hatten.
Es war schwer zu glauben, dass die Erfahrungen von Men-
schen aus dem 20. Jahrhundert, Zentraleuropäern slawischer oder
jüdischer Herkunft, kaukasischen Amerikanern und Afroamerika-
nern, die LSD-25 genommen hatten, so grundlegende Ahnlich-
keiten mit Passagen aus den uralten kaschmirischen Texten auf-
wiesen. Welche Beziehung bestand zwischen den Wirkungen einer
halbsynthetischen, psychoaktiven Substanz, die ein Schweizer
Chemiker durch einen merkwürdigen glücklichen Zufall entdeckt
hatte, und den philosophischen Einsichten, die in den Schriften
einer uralten spirituellen Disziplin beschrieben wurden? Und wel-
che Erklärung gab es für die Tatsache, dass es sich hier nicht um
verschwommene Phantastereien aus der individuellen Psyche von
Menschen handelte, sondern diese Einsichten sich zu einer ein-
heitlichen, konsistenten, vollständigen und umfassenden Sicht des
Kosmos zusammenfügten?
Ich brauchte eine Weile, um die Lösung dieses Rätsels heraus-
zufinden, aber als ich sie erst einmal hatte, schien die Antwort
ziemlich offensichtlich: LSD war kein pharmakologischer Wirk-
stoff, der durch Interaktion mit den neurophysiologischen Prozes-
sen im Gehirn exotische Erfahrungen auslöste. Diese bemerkens-
werte Substanz war ganz klar ein unspezifischer Katalysator der
Dynamiken, die sich tief in der menschlichen Psyche abspielen.
Die Erfahrungen, die diese Substanz aktivierte, waren nicht neuro-
chemisch bedingte, künstliche Phänomene und damit Symptome
einer toxischen Psychose, wie die Mainstream-Psychiater das nann-
ten, sondern echte Manifestationen der menschlichen Psyche selbst.
Eolglich konnten diese Erfahrungen auch auf natürliche Weise und
durch viele andere Methoden ausgelost werden, und dazu gehörten
auch die »Technologien des Heiligen«, die östliche spirituelle Dis-
ziplinen entwickelt hatten.
78 Teil 1: Das Mysterium der Synchr0nizität
Unsere Ereundschaft mit Swami Muktananda dauerte bis zu sei-
nem Tod sieben Jahre später und wurde zu einem wichtigen Teil
unseres Lebens. Christina und ich hatten viele weitere persönliche
Darshans mit ihm und nahmen an vielen Siddha-Yoga-Meditati-
onen und Intensivwochenenden in verschiedenen Teilen der Welt
teil. In diesen Jahren hatte ich reichlich Gelegenheit, die spontanen
Erfahrungen von Menschen, die Shaktipat empfingen, mit den Er-
lebnissen zu vergleichen, die durch psychedelische Substanzen
ausgelöst werden, und konnte die bemerkenswerten Ähnlichkeiten
zwischen beiden bestätigen.
Kurz nach meiner ersten Begegnung mit Baba entwickelten
Christina und ich das Holotrope Atmen, eine äußerst wirkungsvolle
nichtpharmakologische Methode der Selbsterforschung und The-
rapie. Hier werden mit Hilfe simpler und natürlicher Mittel wie
schneller Atmung, evokativer Musik und Aullösung von Energie-
blockaden durch eine bestimmte Form von Körperarbeit außerge-
wöhnliche Bewusstseinszustände ausgelöst. Die durch diese Me-
thode aktivierten Erfahrungen können sehr tief gehen und ähneln
sowohl den Zuständen, die durch Psychedelika ausgelöst werden,
als auch denen, die wir im Kaschmir Shivaismus beschrieben fin-
den. Die so in Gang gesetzten inneren Erlebnisse sind ein weiterer
Beweis dafür, dass die durch LSD und ähnliche Substanzen hervor-
gerufenen Phänomene keine chemisch bedingten, künstlichen Pro-
dukte sind, sondern ein authentischer Ausdruck der menschlichen
Psyche.
In seinen letzten Lebensjahren vertiefte und intensivierte sich
unsere Beziehung zu Swami Muktananda. Bei einem Darshan im
Anschluss an die Konferenz der »International Transpersonal Asso-
ciation« (ITA) in Danvers, Massachusetts, schlug er vor, dass wir
zukünftige Treffen der ITA in Indien abhalten sollten, und bot uns
dafür sowohl seine persönliche Unterstützung als auch Hilfe aus
dem Kreis seiner Anhänger im Ganeshpuri Ashram an. Die Konfe-
renz fand dann im Februar 1982 im Oberoi-Hotel in Bombay statt,
Das Spiel des Bewusstseins 79
einige Monate vor Babas Tod. Sie stand unter dem Motto »Uraltes
Wissen und moderne Wissenschaft« und war ein Forum für den
Austausch zwischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern
des neuen Paradigmas und spirituellen Lehrerinnen und Lehrern.
Das Programm hatte eine Starbesetzung. Mitwirkende waren
der Gehirnforscher Karl Pribram, der Physiker Fritjof Capra, der
Biologe Rupert Sheldrake, die Familientherapeutin Virginia Satir,
die Neurophysiologen Elmer und AIyce Green, der Experte für
kindliche Entwicklung Joseph Chilton Pearce und viele andere
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Die spirituelle Welt war
vertreten durch Swami Muktananda, Mutter Teresa, den parsischen
Hohenpriester Dastoor Minocheer Homji, den türkischen Sufi-
Scheich Muzaffer Ozak Al-Jerrahi, den taoistischen Meister Chun-
gliang Al Huang, den Aurobindo-Gelehrten Karan Singh, den
Benediktinermönch Pater Bede Griffith und die Rabbis Zalman
Schachter-Shalomi und Shlomo Carlebach.
Zu den Höhepunkten des Kulturprogramms gehorten ein
Abend mit chassidischen Tänzen, ein Sufi-Zikr der Halveti Jerrahi
Derwische, der Musiker Paul Horn und Alarmel Valli, der damals
aufsteigende Star des indischen klassischen Tanzes. Das Treffen war
ein riesiger Erfolg, trotz Abwesenheit des Dalai Lama, der seine
Eröffnungsansprache nicht halten konnte, weil er auf dem Weg
nach Bombay erkrankte, und des Karmapa, der wenige Monate vor
der Konferenz gestorben war und sie nicht, wie versprochen, mit
der Zeremonie der Schwarzen Krone beschließen konnte.
Am Tag nach der Konferenz lud Baba alle 700 Teilnehmende
nach Ganeshpuri in seinen Ashram zu Bandara ein, einem traditio-
nellen indischen Fest. Babas Vortrag bei der Konferenz der lTA in
Bombay war, wie sich herausstellen sollte, sein letzter öffentlicher
Auftritt. Als das Treffen beendet war, zog er sich in seine Gemächer
im Ganeshpuri-Ashram zurück, wo er die meiste Zeit in Stille ver-
brachte und die Ubertragung der Siddha-Linie und sein eigenes
Ableben systematisch vorbereitete. Christina und ich machten eine
8o Teil 1: Das Mysterium der Synchronizität
zweiwöchige Pilgerreise zu verschiedenen heiligen Stätten in In-
dien und kehrten dann nach Ganeshpuri zurück, um dort unsere
letzten beiden Wochen in Indien mit Baba zu verbringen. Zweimal
täglich erschien er im marmorgepflasterten Innenhof und saß dort
in Stille, während die Bewohner und Besucher des Ashrams ihm
ihren Respekt erwiesen und ihm Geschenke überbrachten.
Es sah so aus, als ob wir keine weitere Gelegenheit bekommen
würden, ihm persönlich zu begegnen oder mit ihm zu sprechen.
Zwei Tage vor unserer Abreise änderte sich das überraschend. Noni,
Babas persönlicher Diener, überbrachte uns die Botschaft, dass
Baba uns sehen wolle. Wir sollten um fünf Uhr morgens in die Me-
ditationshalle kommen, wo er unsere Meditation »anheizen« wür-
de. Die Meditationshalle war das spirituelle Herz des Ashrams, sie
war an dem Platz errichtet worden, wo Muktanandas eigener Guru
und mächtiger Siddha Yogi Nityananda in einer Hütte gelebt hatte.
Dort lag auch ein großes Tigerfell, denn der Tiger war Shiva ge-
weiht. Eine der Türen führte zu Babas Schlafzimmer, eine andere
zu einer Treppe, auf der man in die unterirdische Tigerhöhle stieg,
ein weiterer beliebter Platz für Meditationen.
Christina und ich trafen zur vereinbarten Zeit in der dunklen
Meditationshalle ein und setzten uns auf ein großes Eell. Wir hat-
ten etwa fünf Minuten meditiert, als sich die Tür zu Babas privaten
Räumen lautlos öffnete und er hereinkam. Ohne ein Wort zu sagen,
ging er auf Christina zu und presste etwa zwanzig Sekunden seine
Daumen auf ihre Augäpfel. Dann kam er zu mir und tat das Glei-
che. Seine Daumen drückten so fest zu, dass ich das Gefühl hatte,
er würde meine Netzhäute durchbohren. Ich empfand einen uner-
träglichen Schmerz und Druck im Kopf und musste mich zusam-
menreißen, um Muktananda nicht abzuwehren. Niemand, nicht
einmal ein Siddha Guru, dachte ich empört, darf meine Augen so
behandeln wie Muktananda. Doch meine Neugier überwog, und
so redete ich mir gut zu: »Hier passiert etwas sehr Interessantes,
halte durch!« Und das tat ich.
Das Spiel des Bewusstseins 81
Der Druck steigerte sich zu einer unerträglichen Intensität. Dann
explodierte mein Kopf zu einem strahlenden Licht, das sich nach
und nach in den Anblick eines mit Sternen übersäten Himmels
verwandelte. Ein seliges Entzücken kosmischen Ausmaßes erfasste
mich und endete in einem Zustand seliger Leere, vergleichbar dem,
den ich erlebte, nachdem ich von Muktananda zum ersten Mal
Shaktipat empfangen hatte. Christina machte ähnlich tiefe Erfah-
rungen, doch hei ihr gingen sie die ganze Nacht weiter. Erinne-
rungen an Missbrauchserlebnisse mit verschiedenen Männern in
ihrem Leben kamen hoch. Sie empfand diesen Prozess als wichtige
emotionale Verarbeitung, durch die alte Traumata heilten.
Am nächsten Tag überbrachte Noni uns die Botschaft, dass
Baba uns um die gleiche Zeit in der Meditationshalle sehen wolle,
für die »zweite Runde«, wie er das nannte. Wieder presste er beide
Daumen auf unsere Augäpfel, ging aber diesmal noch einen Schritt
weiter. Er drückte seine Stirn, geschmückt mit mehreren Quer-
streifen aus Asche - dem Zeichen Shivas -, auf unsere und blies
heftig Luft in unsere Nasenlöcher. Dieses Mal löste das bei uns bei-
den positive Erlebnisse aus. Am Morgen unseres letzten Tages im
Ashram, kurz vor unserer Abreise, lud uns Baba überraschend zu
einem Darshan in seine privaten Räume ein. Rückblickend wurde
uns klar, dass er endgültig Abschied von uns nehmen wollte.
Zu Beginn unseres Treffens schenkte er jedem von uns einen
Meditationsschal und einen wunderschönen, dunklen Amethyst.
Dann brach er sein Schweigen und sagte, wir sollten den Amethyst
in Gold fassen lassen und als Ring tragen. Es sei sehr wichtig, he-
tonte er noch einmal, dass wir diese Ringe ständig tragen. Als wir
schließlich aufbrachen, überraschte Baba uns mit den rätselhaften
Worten: »Geht zurück und arbeitet weiter mit Menschen! Ich wer-
de euch helfen. Ihr verrichtet meine Arbeit.« Dann wies er uns an
zu gehen. Es war unsere letzte Begegnung mit Baba - geblieben
sind uns nur die Erinnerungen an dieses bemerkenswerte mensch-
liche Wesen und das Spiel des Bewusstseins, das es verkörperte.
82 Teil i: Das Mysterium der Synchronizität
Anhänger eines Gurus erklären Skandale, die im Umfeld ihres Meis
ters passieren, oft damit, dass ein großes Licht auch große Schatten
wirft, und führen sie zurück auf die dunklen Mächte, die gegen
Erleuchtung ankämpfen. Swami Muktanandas Licht muss sehr hell
geschienen haben, denn seine Schatten waren beträchtlich und
dunkel. Seine letzten Lebensmonate wurden geprägt durch häss
liche Gerüchte, die besagten, er habe junge Mädchen sexuell miss
braucht. Einige seiner Anhängerinnen und Anhänger waren ent
setzt. Für sie erwies sich Muktananda damit als Scheinheiliger, und
aufgrund dieser unverzeihlichen Fehler ihres Gurus verließen sie
seinen Kreis. Andere schenkten diesen Gerüchten keinen Glauben
oder versuchten sein Verhalten zu entschuldigen mit dem Hinweis
auf fortgeschrittene tantrische Praktiken, die im Rahmen der in
dischen Kultur akzeptabel waren, von westlichen Menschen jedoch
missverstanden wurden.
Nach Muktanandas Tod spitzte sich die Lage noch weiter zu,
als es zwischen Chitvilasananda und Nityananda, den beiden Ge
schwistern, denen er die Siddha-Yoga-Linie übertragen hatte, zu
heftigen Meinungsverschiedenheiten kam. Die damit verbundenen
hässlichen Intrigen wurden von der indischen und amerikanischen
Presse weidlich ausgeschlachtet, und die bereits existierende Kluft
im inneren Kreis des Siddha Yoga und in der noch größeren Grup
pe seiner Anhänger aus aller Welt, die sich laut Schätzungen auf
über Hunderttausend beliefen, vertiefte sich dadurch noch.
Christina und ich besuchten den Ashram in Ganeshpuri noch
zweimal, aber der alte Zauber war verflogen. Wir haben uns von
der Bewegung und ihrer Politik gelöst, sind jedoch der Siddha-
Bewegung auf einer anderen Ebene verbunden geblieben. Baba er
scheint uns weiterhin in unseren Träumen und verschiedenen an
deren außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen. Wir haben auch
wiederholt an Siddha-Ritualen teilgenommen, in denen starke
Kräfte wirkten und wir eine tiefe Verbindung zu der Energie ge
spürt haben, die wir »Shiva-Energie« nennen.
Der Guru im Leben seiner Anhängerinnen und Anhänger 83
Der Guru im Leben seiner Anhängerinnen und Anhänger
Ist der Siddha Yogi ein kosmischer
Marionettenspieler?
iner der ungewöhnlichsten Aspekte bei unseren Erfahrungen
mit Swami Muktananda (Baba) und Siddha-Yoga war das er
staunliche Auftreten von Synchronizitäten im Leben von Mukta
nandas Schülerinnen und Schülern. Wir hörten davon regelmäßig
von Freunden und Bekannten, die der Siddha-Yoga-Bewegung ver
bunden waren. Bei den Intensivwochenenden, die in den verschie
denen Ashrams regelmäßig angeboten wurden, traten immer wie
der Rednerinnen und Redner auf, die bemerkenswerte Geschichten
über ihre Begegnungen mit Baba erzählten. Sie alle beschrieben in
ihren Berichten phantastische Zusammentreffen von Ereignissen,
ähnlich wie die, die ich bei meiner Einführung in die Welt des Sid
dha Yoga erlebt hatte.
Ein Beispiel stammte von einem Mann, der eine Zeitlang in
einer australischen Geisterstadt gelebt hatte, wo er in verlassenen
Minen nach restlichen Edelsteinen suchte. Zu jener Zeit wohnte er
allein in einer baufälligen Hütte. An den langen Abenden versuchte
er, beim Licht einer Kerze zu lesen. Einer der früheren Bewohner
hatte an der Wand der Hütte das Bild eines merkwürdig ausse
henden, dunkelhäutigen Mannes hängen lassen, der eine rote Pu-
E
84 Teil 1: Das Mysterium der Synchronizität
delmütze trug und einen Stab aus Pfauenfedern in der Hand hielt.
Zufällig handelte es sich dabei um eine Porträtaufnahme von Swa-
mi Muktananda, auch wenn sein Name nicht auf dem Foto stand.
Als der Diamantenjäger an einem seiner einsamen Abende ein-
mal den Kopf von seinem Buch hob, wurde sein Blick vom Gesicht
des Mannes auf dem Foto gefesselt. Während er ihm eine Weile in
die Augen schaute, schien aus den Pupillen dieses Mannes plötz-
lich ein Blitz hervorzuschießen, der ihn zwischen seine Augen traf.
Das löste ganze Wellen von heftigen Emotionen und körperlichen
Reaktionen in ihm aus, die sich in den nächsten Tagen fortsetzten.
Eine Reihe von weiteren Ereignissen dieser Art brachte diesen
Mann schließlich in Babas Ashram in Melbourne. Er beschloss, an
einem Intensivwochenende teilzunehmen, wo er von Shaktipat
(Übertragung spiritueller Energie durch den Guru, Anm.d.Ü.) hörte
und erfuhr, in wie vielen unterschiedlichen Formen es sich äußern
kann. In den folgenden Jahren blieb er ein glühender Anhänger
von Baba.
Eine von Muktanandas älteren Swamis, eine Freundin von uns,
erzählte uns aus den Anfangsjahren ihrer Anhängerschaft die fol-
gende Geschichte: Zu Muktanandas Lieblingsspielen gehörte es,
Menschen aus dem Westen spirituelle indische Namen zu geben -
Yamuna, Sadashiva, Durghananda, Shivananda, Lakshmi und so
weiter. Seine Schülerinnen und Anhänger bekamen ihren neuen
Namen meistens, wenn sie beim Darshan in der Schlange zu ihrem
Guru anstanden, wo er kurz Kontakt zu ihnen aufnahm, ein paar
Worte zu ihnen sprach und ihnen eine Gabe oder Prasad über-
reichte. Unsere Freundin, zu der Zeit eifrige Schülerin von Mukta-
nanda und Novizenanwärterin, stand mit einem Freund in solch
einer Warteschlange, um von Swami Muktananda ihren spiritu-
ellen Namen zu empfangen. Sie war etwas nervös und machte sich
über ihre ängstlichen Erwartungen selbst ein wenig lustig. »Ich
glaube, ich weiß, welche Namen Baba uns geben wird«, sagte sie
grinsend. »Er wird uns Creepa und Creepie (Kriecherin und Krie-
Der Guru im Leben seiner Anhängerinnen und Anhänger 85
cher, Anm.d.Ü.) nennen.« Zu ihrer Überraschung lautete der Name,
den sie nur wenige Minuten später bekam, und unter dem sie seit-
dem bekannt ist, »Kripananda« oder »Glückseligkeit der Gnade«.
Unter den Hunderten von Geschichten, die wir an den Inten-
sivwochenenden zu hören bekamen, verdient eine besondere Be-
achtung. Sie betrifft einen Tierarzt aus Malibu, den man rief, damit
er einen von Babas Hunden behandelte. Wenn Swami Muktananda
um die Welt reiste, machte sich eine Gruppe von Menschen aus
seinem inneren Kreis immer vor ihm auf die Reise, um vor Ort ein
Quartier für ihn zu finden. Oft wählten sie für diesen Zweck he-
runtergekommene Gebäude in ärmlichen Gegenden und reno-
vierten sie, um einen provisorischen Ashram daraus zu machen,
den Baba für die Dauer seines Besuchs bewohnte. Gebäude in
einem besseren Zustand zu hinterlassen, als man sie vorgefunden
hatte, galt als Karma Yoga.
Baba ging, wo immer er sich gerade aufhielt, gern spazieren
und machte sich furchtlos auf den Weg, ohne sich um den Ruf sei-
ner jeweiligen Umgebung zu kümmern. Obwohl er selbst keine
Angst hatte, bereitete er seinen Anhängern damit große Sorge. Ei-
ner von ihnen schenkte Baba zwei große Hunde, die ihn bei seinen
Streifzügen beschützen sollten. Während Babas Aufenthalt in Mali-
hu wurde einer dieser Hunde sehr krank. Eine Erau aus Babas in-
nerem Kreis suchte deshalb aus dem ortlichen Telefonbuch die
Nummer eines Tierarztes heraus.
Der Tierarzt fuhr zum Ashram und untersuchte den Hund,
ohne Baba zu begegnen oder mit ihm in Kontakt zu kommen. Auf
dem Heimweg hatte er Kriyas - Wellen von intensiven Emotionen,
hei denen sein ganzer Körper zuckte. Das Ergebnis dieses Erleb-
nisses und weiterer zufälliger Zusammentreffen war, dass er bereits
wenige Tage später in der Meditationshalle saß und »Om Namah
Shivaya« sang. Auch er wurde schließlich ein eifriger Anhänger
von Baba. Swami Muktananda verglich die Shakti-Energie, die bei
Shaktipat aktiviert wird und sich in den Kriyas äußert, oft witzelnd
86 Teil 1: Das Mysterium der Synchronizität
mit einer ganz ordinären Erkältung, die enorm ansteckend sei und
die man sich leicht »einfangen« könne.
Statt hier weitere Erfahrungen von Anhängern Babas wiederzuge-
ben, von denen wir hörten, möchte ich gern einige Beispiele aus
unserem eigenen Leben erzählen. Bei der ersten Geschichte geht es
um eine ganze Reihe von Synchronizitäten, die zu Beginn der
1980er-Jahre passierten. Es begann damit, dass Christina und ich
in unserem Haus in Big Sur, Kalifornien, einen Anruf von Gabriel
bekamen, einem Arzt, der zu Swami Muktanandas innerem Kreis
gehörte. Er erzählte uns, er sei in Big Sur auf der Durchreise und
fragte, ob er bei uns vorbeischauen könne, um etwas Wichtiges mit
uns zu besprechen.
Der Grund für seinen Besuch war, dass die Medienleute aus
dem Ashram unzufrieden waren mit einem Interview, das Baba
zum Thema Tod gegeben hatte. Der Reporter hatte von diesem
Thema nicht viel Ahnung und stellte Baba keine besonders interes-
santen Tragen. Gabriel wusste, dass ich psychedelische Therapie
mit Krebspatienten im Endstadium gemacht hatte und sehr inte-
ressiert war an den psychologischen, philosophischen und spiritu-
ellen Aspekten von Tod und Sterben. Er holte sein Notizbuch her-
vor und bat mich, ihm zu erzählen, welche wirklich interessanten
Eragen zum Thema Tod ein westlicher Psychiater und Bewusst-
seinsforscher einem Yogi gern stellen würde.
Nachdem wir uns drei Stunden unterhalten hatten, wurde Ga-
briel klar, dass das Ganze nicht viel Sinn machte. Statt Fragen für
eine andere Person zu formulieren, sollte ich sie Baba lieber selbst
stellen. Ich sollte in den Ashram von Miami fahren, wo sich Baba
gerade aufhielt, und dort ein Interview mit ihm machen. Es gab
jedoch ein Problem: Der Ashram würde nicht für unsere Reisekos-
ten aufkommen, und wir hatten zu jener Zeit nicht viel Geld. Au-
ßerdem waren wir gerade im Begriff, in die andere Hälfte der Welt
nach Australien zu reisen, dort Workshops zu halten und dann
weiter nach Indien zu fliegen, um an den Vorbereitungen für die
Internationale Transpersonale Konferenz mitzuwirken, die 1982
dort stattfinden sollte.
Nach einer langen Diskussion beschlossen wir schließlich,
dennoch nach Miami zu fahren. Begegnungen mit Baba waren im
mer interessant, und die Aussicht, zu hören, was er über den Tod
dachte, war für mich besonders verlockend. Unmittelbar vor un
serer Abreise nach Miami veranstalteten wir einen Workshop in
Esalen. Das Programm dort bestand meist aus vier parallel lau
fenden Veranstaltungen, und für alle war die Teilnehmerzahl be
grenzt. Kurz nach unserer Entscheidung, doch nach Miami zu flie
gen, häuften sich die Anmeldungen für unseren Workshop. Einer
der parallel geplanten Workshops musste mangels Interesse ganz
ausfallen, und die beiden anderen wurden nicht voll. Deshalb
erhöhte Esalen die Teilnehmerzahl für unseren Workshop. Und
schließlich meldeten sich so viele Menschen an, dass wir für die
Atemarbeit, die auf dem Boden stattfand, nicht mehr genug Platz
haben würden, wenn wir allen zusagten. Unsere Warteliste wuchs,
und wir mussten Leuten absagen.
Ein dermaßen großes, plötzliches Interesse an einem unserer
Workshops hatte es bislang nie gegeben. Fritz Perls (Begründer der
Gestalttherapie, Anm.d.Ü.) hatte eingeführt, dass Esalen allen Mit
gliedern seiner Belegschaft und den Teilnehmern der hier stattfin
denden Seminare bei Bedarf Einzelsitzungen in Gestalttherapie an-
bot. Mehrere Personen arbeiteten dann tatsächlich an ihrer
Enttäuschung und ihrem Ärger darüber, dass sie nicht an unserem
Workshop teilnehmen konnten. Als wir die Abrechnung für den
Workshop bekamen, entdeckten wir, dass sich die Differenz zwi
schen unserem üblichen Honorar und diesem überbelegten Semi
nar tatsächlich auf die Summe belief, die zwei Rückflugtickets von
Monterey nach Miami kosteten. Es lag nahe, darin eine »Gnade des
Gurus« oder Guru Kripa zu sehen, wie die Anhänger von Mukta-
nanda solche Ereignisse zu nennen pflegten.
Der Guru im Leben seiner Anhängerinnen und Anhänger 87
Teil i: Das Mysterium der Synchronizität
Als wir an einem Donnerstag im Ashram von Miami ankamen, er
fuhren wir, dass Baba das Interview, das am nächsten Tag stattfin
den sollte, abgesagt hatte. Er fühlte sich nicht wohl und brauchte
vor dem Intensivwochenende seine Ruhe. Statt Baba zu befragen,
machte ich nun ein Interview mit den Medienleuten des Ashrams
zum Thema Transpersonale Psychologie. Und wenn wir schon in
Miami waren, wollten wir auch gern an dem Wochenende teilneh
men, doch unser Flugzeug nach Melbourne ging bereits am späten
Samstagabend. Wir baten Baba deshalb um Erlaubnis, nur das hal
be Intensivwochenende mitzumachen - ein höchst ungewöhn
liches, nahezu ungebührliches Anliegen. Zu unserer freudigen
Überraschung bekamen wir eine Zusage, doch jetzt stellte sich die
Frage, ob wir das Intensivwochenende ganz oder nur halb bezah
len mussten. Baba machte auch hier eine Ausnahme und erlaubte
uns, nur die Hälfte vom Gesamtpreis zu zahlen - 150 Dollar.
Eine weitere große Überraschung erwartete uns, als wir die
Meditationshalle betraten. Die junge Frau am Eingang schenkte
uns ein herzliches Lächeln und überreichte uns drei brandneue
Fünfzig-Dollar-Scheine, die aussahen wie frisch aus der Drucker
presse. »Hier ist euer Geld zurück«, sagte sie. »Baba will nicht,
dass ihr bezahlt. Ihr seid seine Gäste.« Alles schien darauf hinzu
weisen, dass der Guru uns eine Sonderbehandlung zuteil werden
ließ. Dieses Gefühl verflog jedoch rasch, als wir uns ihm am Ende
des ersten Tages in der Warteschlange mit einer Dankesgabe näher
ten. Er setzte sein Gespräch mit dem Mann fort, der vor uns in der
Schlange stand, und fertigte uns mit einer herablassenden Geste
ab, ohne auch nur ein einziges Wort an uns zu richten.
Mit diesem »Wechselbad«, das Liebesbekundungen und Be
günstigungen mit völligem Desinteresse und kalter Distanz oder
sogar persönlich abwertenden Kommentaren verband, wollte Baba
seinen Anhängern offensichtlich das Gefühl der eigenen Wichtig
keit und Besonderheit nehmen und ihnen einen Dämpfer verset
zen. Wir bestiegen ein Taxi und fuhren zum Flughafen, vor uns
den langen Flug nach Melbourne. Das Flugzeug war voll, und in
der Touristenklasse saß man ziemlich beengt, vor allem, wenn man
wie wir lange Beine hatte. Müde von einem langen Tag, klemmten
wir uns in unsere unbequemen Sitze und ergaben uns etwas nie
dergeschlagen unserem Schicksal.
»Staaan, Christiiina!« Der laute Ruf eines Stewards riss uns aus
unserer melancholischen Stimmung. »Welche Überraschung!
Wenn ich gewusst hätte, dass ihr mit dieser Maschine fliegt, hätte
ich euch in die erste Klasse gesetzt. Aber ich habe für euch zwei
Sitze in der Business Class.« Es stellte sich heraus, dass dieser Ste
ward vor einigen Jahren einen unserer Workshops besucht hatte
und in den holotropen Atemsitzungen eine sehr positive Erfahrung
machte, die sein ganzes Leben veränderte. Auf den nun bequemen
Sitzen untergebracht, fragten wir uns, ob dies ein höchst unwahr
scheinlicher Zufall war oder ein weiterer Wellengipfel im Ozean
der Gnade unseres Gurus.
Als wir schließlich in Melbourne ankamen, holten uns unsere
guten Freunde und Gastgeber Muriel und Al Foote vom Flughafen
ab. Bei der Fahrt in die Stadt erzählten sie, sie hätten uns für den
ersten Tag und die erste Nacht im Haus ihrer engen Freunde, dem
berühmten australischen Opernsänger Greg Dempsey und seiner
Frau Annie, einquartieren können. Als wir bei den Dempseys ein
trafen, entdeckten wir zu unserer Überraschung, dass Greg und
Annie beide enge Anhänger von Swami Muktananda waren. Über
all im Haus hingen Fotos von Baba, sogar im Badezimmer.
Beim gemeinsamen Frühstück sah Muriel plötzlich ganz klein
mütig aus und erzählte uns, sie habe eine junge Frau eingeladen,
mit uns zu frühstücken. »Tut mir wirklich leid. Ich weiß, ihr bei
den müsst hundemüde sein«, sagte sie entschuldigend. »Viele Leu
te haben mich angerufen, weil sie euch treffen möchten, während
ihr in Melbourne seid. Ich konnte sie alle abwimmeln, bis auf diese
Frau. Irgendwie hatte sie etwas Besonderes. Sie hat Sterbebeglei
tung gemacht wie ihr, und sie klang so nett!«
Der Guru im Leben seiner Anhängerinnen und Anhänger 89
90 Teil 1: Das Mysterium der Synchronizität
Wie sich herausstellte, war diese Frau, ohne dass Muriel es wusste,
aus dem Siddha-Yoga-Ashram von Melbourne. Sie erzählte uns,
dass das Telefon geklingelt habe, als sie gerade aus der Tür gehen
wollte, und sie sei dann noch drangegangen. Es war Baba, der die
Ashram-Leute davon unterrichtete, dass wir nach Melbourne ka
men, und sie anwies, uns zu unterstützen, weil wir »seine Arbeit
taten«. Beim Frühstück hörten wir viele Geschichten über Baba
und die wachsende Siddha-Yoga-Bewegung in Australien und ge
wöhnten uns dabei an den australischen Akzent.
Wir verbrachten die Nacht in Greg und Annies Haus, und am
nächsten Tag fuhren die Footes uns zum nahe gelegenen Black
wood, wo ihr Haus und ihr Seminarzentrum standen. Am Abend
desselben Tages begann unser Workshop für Holotropes Atmen.
Die Siddha-Magie schien weiter zu wirken. Von den 25 Menschen
in der Gruppe hatten acht Erfahrungen mit dem Blauen Licht, der
Blauen Perle und der Blauen Person gemacht, die im Siddha Yoga als
äußerst verheißungsvolle und wichtige Schritte auf dem spiritu
ellen Weg gelten. Eine Teilnehmerin begann spontan »Om Namah
Shivaya« zu tönen, ohne eine Ahnung zu haben, was sie da eigent
lich sang. Keiner der Teilnehmenden wusste von unserer Verbin
dung zu Swami Muktananda.
Ein weiteres interessantes Ereignis geschah zwei Jahre später. Ich
habe bereits erwähnt (Seite 81), dass Baba bei unserem allerletzten
Treffen jedem von uns einen wunderschönen, dunklen Amethyst
schenkte und sagte, wir sollten uns Ringe daraus machen lassen
und diese immer tragen. Wie wir später herausfanden, schenkte er
uns wahrscheinlich nicht zufällig gerade diese Steine. Der Amethyst
steht von alters her in dem Ruf, seinen Besitzer vor Vergiftungen zu
schützen, wie sein griechischer Name besagt: »Methystos« bedeutet
»vergiftet«, und der Buchstabe a steht für alpha privativum, eine
Verneinung. Da ich mit psychedelischen Substanzen arbeitete und
Christina Alkoholprobleme hatte, schien das Sinn zu machen.
Kurz nach unserer Rückkehr aus Indien verwüsteten eine Reihe
von Naturkatastrophen die Küste von Big Sur. Ein verheerendes
Feuer, das 65.000 Hektar der Ventana-Wilderness erfasste, ver
nichtete auf einer Strecke von etwa zwanzig Meilen die gesamte
Vegetation der Gebirgszüge an der Küste, von der Hermitage des
»Immaculate Heart« (Karmeliterkloster, Anm.d.Ü.) bis zum Venta-
na Inn. Die nachfolgenden sintflutartigen Regenfälle führten auf
den unbefestigten Berghängen zu massiven Erdrutschen. Der High
way 1, die landschaftlich atemberaubend schöne Strecke zwischen
dem Esalen-Institut und Monterey mit seinem Flughafen, war
wochenlang gesperrt. Sämtliche Workshops in Esalen mussten ab
gesagt werden, auch unsere.
Das bedeutete schwere finanzielle Einbußen für Esalen und
besonders für uns. Wir waren zu jener Zeit knapp bei Kasse und
konnten den Einkommensverlust der Honorare für mehrere Work
shops nur schwer verkraften. Es war nicht gerade der günstigste
Zeitpunkt, Babas Rat zu befolgen und unsere Amethyst-Steine in
Gold zu fassen und Ringe daraus machen zu lassen. Ich, als ratio
nalere Hälfte unseres Ehebundes, hätte das Projekt verschoben,
aber Christina hatte das starke Gefühl, dass wir Babas Vorschlag
sofort in die Tat umsetzen sollten. Bei unserer nächsten Einkaufs
fahrt nach Carmel, die wegen der durch die Erdrutsche bedingten
Umleitungen jetzt sieben statt die üblichen zwei Stunden dauerte,
machten wir also Halt beim Juwelier und bestellten unsere Ringe.
Als wir zwei Wochen später nach Frankreich aufbrachen, un
serem ersten Stopp einer Workshop-Tournee durch ganz Europa,
holten wir unsere Ringe auf dem Weg zum Flughafen ab. Unser
Start-Workshop in Paris war ein Wochenende für Holotropes At
men, an dem etwa dreißig Menschen teilnahmen. In der anfäng
lichen Vorstellungsrunde sagte Simone, eine unserer Teilneh
merinnen, sie leide vor allem unter chronischen Bauchschmerzen,
die sie in ihrem Alltag ziemlich beeinträchtigten. Wiederholte Un
tersuchungen hätten keinerlei medizinische Ursachen erbracht,
Der Guru im Leben seiner Anhängerinnen und Anhänger 91
92 Teil 1: Das Mysterium der Synchronizität
und sie hoffe, der Sache mit Hilfe der Atemarbeit auf den Grund zu
kommen.
Erpicht darauf, mit ihrer Forschungsreise zu beginnen, fragte
sie ihre Atempartnerin, ob sie a.s Erste atmen könne. Ihre Sitzung
war sehr intensiv und verbunden mit viel Weinen und körperlichen
Kämpfen. Nach etwa einer Stunde begann sie laut zu schreien und
bat mich, zu ihr zu kommen. Sie erzählte mir, ihre Bauchschmerzen
seien noch stärker geworden, und fragte mich, ob ich nicht etwas
dagegen unternehmen könne. In solchen Situationen verstärken
wir den Schmerz meist durch äußeren Druck und ermutigen die
Betreffenden, ihre Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Ich bat Si
mone, ihren Bauch anzuspannen, und drückte mit der rechten
Hand, an der ich den Ring trug, mitten in die schmerzhafte Stelle.
Dann ermunterte ich sie, ihre emotionalen Reaktionen auf diese
Berührung mit Hilfe von Stimme und Körper ganz herauszulassen.
Simone presste ihren angespannten Bauch gegen meine Hand,
und ihr Gesicht verzerrte sich vor Schmerz immer mehr. Dann
hielt sie den Atem an und lief purpurrot an. Plötzlich stieß sie einen
so grauenhaften Schrei aus, wie ich ihn in meinem ganzen Leben
noch nicht gehört hatte. Dann atmete sie normal weiter, fiel in eine
tiefe Entspannung, und auf ihrem Gesicht zeigte sich ein seliges
Lächeln. Etwas später erzählte sie mir, sie fühle sich zum ersten
Mal seit Jahren schmerzfrei. Als die Gruppe abends zusammensaß,
um sich auszutauschen, erzählte Simone uns, was passiert war.
Zu Beginn ihrer Atemsitzung durchlebte sie noch einmal meh
rere Ereignisse aus der Zeit nach ihrer Geburt, die mit Bauch
schmerzen verbunden gewesen waren, darunter auch wiederholte
sexuelle Missbrauchserfahrungen mit einem Verwandten. Dann
ging die Erfahrung noch tiefer, und Simone erinnerte ihre biolo
gische Geburt. Während sie noch einmal die schwierige Passage
durch den Geburtskanal erlebte, entdeckte sie, dass ein Teil ihrer
Unterleibsschmerzen mit den Qualen des Fötus zusammenhing,
der darum kämpfte, geboren zu werden. Im weiteren Verlauf ihrer
Sitzung sah Simone Szenen aus der Menschheitsgeschichte, bei de
nen es um Gewalt und Missbrauch ging. An dem Punkt beschloss
sie, mich zu rufen, weil ihre Schmerzen weiter Zunahmen.
»Unglaublich, was passierte, als Sie Ihre Hand in meinen Bauch
drückten«, erzählte sie beim Austausch in der Gruppe. »Der
Schmerz nahm ständig zu und wurde absolut unerträglich. Aber
ich wollte nicht aufgeben und war entschlossen, mich ihm zu stel
len. Und dann auf einmal war es nicht mehr nur mein Schmerz -
es war der Schmerz aller Menschen! Im nächsten Augenblick ex
plodierte alles zu einem tief blauen Licht, das unbeschreiblich
schön war. Und in dem Licht erschien das Bild dieses indischen
Gurus, den man hier in Paris überall auf Plakaten sieht. Er trug
eine dunkle Brille und eine Wollmütze und hielt einen Strauß
Pfauenfedern in der Hand.«
Ein paar Wochen vor unserem Eintreffen in Paris hatte Swami
Muktanandas Nachfolger, der junge Nityananda, die Stadt besucht
und ein Intensivwochenende veranstaltet. Die Poster, die noch
überall in der Stadt an Säulen und Wänden zu sehen waren, zeigten
ihn mit seinem Lehrer. Christina griff in ihre Brieftasche, holte ein
Bild von Swami Muktananda hervor, das sie zufällig bei sich trug,
und zeigte es Simone mit fragendem Blick. »Ja, das ist er. Ein ko
mischer Kerl!«, bestätigte sie und fügte dann hinzu: »Aber sein
Auftauchen hing auch mit Ihrem Amethystring zusammen. Das
blaue Licht schien direkt aus diesem Ring zu kommen.«
Es war interessant, dass Simone ihre Heilungserfahrung nicht
nur mit dem Amethystring und Swami Muktananda verband, son
dern auch mit der Farbe Blau. Wie ich bereits erwähnte, spielen
Visionen von Blauem Licht und der Blauen Person im Siddha Yoga
eine wichtige Rolle und gelten als äußerst verheißungsvoll. Simone
sprach mich mehrere Jahre später in einem französischen Work
shop erneut an und erzählte mir, wie es damals für sie weiterge
gangen war: Nach unserem Pariser Workshop waren ihre Schmer
zen nicht mehr zurückgekehrt.
Der Guru im Leben seiner Anhängerinnen und Anhänger 93
Es war wirklich erstaunlich, wie viele Synchronizitäten wir als Ba
bas Anhänger selbst erlebten und in seinem Umfeld beobachteten.
Er erschien seinen Anhängerinnen und Anhängern im Traum, in
der Meditation und in psychedelischen Sitzungen. Und diese Visi
onen von seinen Besuchen standen offensichtlich immer in einem
engen Zusammenhang mit den konkreten Lebensumständen der
betreffenden Personen. Viele seiner Anhänger schlossen aus diesen
erstaunlichen Parallelen, dass Baba immer wusste, was in ihrem
Leben gerade geschah, und tatsächlich aktiv entsprechende Situa
tionen schuf, um ihr spirituelles Wachstum zu fördern. Das verlieh
ihm die übermenschliche Statur eines kosmischen Puppenspielers,
der das Leben seiner mehreren zehntausend Anhänger und Schüle
rinnen überwachte und hinter der Bühne der materiellen Realität
die Fäden lenkte.
Dieses Phänomen faszinierte mich, und so bat ich einmal Swa
mi Ama, die seit mehr als fünfundzwanzig Jahren Babas Schülerin
war, herauszufinden, wie Baba selbst dazu stand. Sie war einver
standen und erzählte mir dann, Baba habe über die großartige
Phantasie seiner Anhänger gelacht. Er erklärte ihr, während seiner
über vierzig Jahre langen Pilgerreise durch Indien und seiner rigo
rosen spirituellen Suche habe er viele Erfahrungen mit höheren
Dimensionen der Existenz gemacht, die normalerweise im Verbor
genen blieben. Auf diesem Weg sei er Teil dieser Reiche geworden
und damit auch der Mechanismen, mit denen sie die alltägliche
Realität beeinflussen.
Er erzählte Ama auch, er könne sich bei Bedarf in der Medita
tion innerlich auf die unterschiedlichsten Dimensionen konzen
trieren, um notwendige Informationen einzuholen, was viele über
sinnlich begabte Menschen können. Doch seine harte spirituelle
Suche habe ihn vor allem eins gelehrt: sich an erster Stelle auf das
Hier und Jetzt zu konzentrieren und die einfachen Dinge im Leben
zu schätzen. So koche er zum Beispiel liebend gern, erzählte er
Ama. Und während er sein Bewusstsein ganz gezielt auf Farbe,
94 Teil 1: Das Mysterium der Synchronizität
Form, Geruch und Geschmack der Zutaten für sein Essen ausrich
tete, erlebten Tausende seiner Anhängerinnen und Anhänger ihn
als bewussten und aktiven Gestalter ihres Lebens. Er amüsierte
sich köstlich über die Vorstellung, dass er das Leben von Tausen
den seiner ergebenen Schülerinnen und Schüler überwache und
erstaunliche Synchronizitäten und spirituell bedeutsame Ereignisse
für sie inszeniere, die genau auf sie zugeschnitten waren. »Das wäre
mir zu viel Arbeit. Ich mache es mir im Leben gern leicht«, sagte er
mit einem schelmischen Lächeln.
Der Guru im Leben seiner Anhängerinnen und Anhänger 95
g6 Teil v. Das Mysterium der Synchronizität
Der Tanz des weißen SchwansMit dem Geisterkanu der Salish
in die Unterwelt reisen
ereinzelte Synchronizitäten kommen im Leben von Menschen,
die spontane oder induzierte holotrope Bewusstseinszustände
erleben, extrem häufig vor. Nicht selten treten diese Erlebnisse je
doch auch in beeindruckenden Serien oder gehäuft auf. Wir haben
diese vermehrten Synchronizitäten in der psychedelischen Thera
pie, beim Holotropen Atmen und in psychospirituellen Krisen im
Laufe der Jahre oft beobachtet und persönlich erlebt. Die Ereig
nisse, von denen ich in der folgenden Geschichte erzähle, spielten
sich in einem unserer einmonatigen Seminare in Esalen ab, zu einer
Zeit, als Christina ihre spirituelle Krise durchmachte.
Christinas spontane Erfahrungen waren immer sehr reich und
enthielten zahlreiche Elemente aus verschiedenen Schichten des
persönlichen und kollektiven Unbewussten. Manchmal regredierte
sie dabei zum Kind und Kleinkind und machte die schmerzlichen
Erfahrungen aus dieser Zeit noch einmal durch; dann wieder er
lebte sie das Trauma ihrer eigenen biologischen Geburt. Zu diesen
Erlebnissen gehörten auch eindringliche Erfahrungen, bei denen
es sich offensichtlich um Ausschnitte aus Erinnerungen an ver
gangene Leben in Russland, Deutschland und im Nordamerika des
17. Jahrhunderts handelte. Gelegentlich hatte sie auch Visionen
von archetypischen Gestalten und Tieren. Von besonderer persön
licher Wichtigkeit waren für sie Pfauen und weiße Schwäne - die
V
Der Tanz des weißen Schwans 97
Vögel, die eng mit Siddha Yoga und Christinas spirituellem Lehrer,
Swami Muktananda, verbunden waren. In dem bereits erwähnten,
einmonatigen Seminar hatte Christina eines Tages eine besonders
intensive und bedeutungsvolle Vision von einem weißen Schwan.
Unser Gastreferent für den folgenden Tag war Michael Harner,
ein bekannter Anthropologe und guter Freund. Michael gehörte zu
einer Gruppe von Forschern, die als »visionäre Anthropologen«
bekannt waren. Im Gegensatz zu traditionell ausgerichteten Main-
stream-Anthropologen betrieben Michael und seine Kollegen wie
Barbara Meyerhoff, Peter Fürst, Dick Katz, Christian Raetsch und
Carlos Castaneda ihre anthropologische Feldforschung nicht mit
der Haltung eines distanzierten akademischen Beobachters. Viel
mehr nahmen sie an den Zeremonien der Kulturen, die sie studier
ten, aktiv teil, ganz gleich, ob es dabei um die Einnahme von be
wusstseinsverändernden Substanzen wie Peyote, magische Pilze,
Ayahuasca und Datura ging, um Trancetänze, die eine ganze Nacht
dauerten, oder um andere nichtpharmakologische »Technologien
des Heiligen«.
Michaels Entdeckungen über den Weg der Schamanen und
ihre unglaubliche innere Welt begannen 1960, als das »American
Museum of Natural History« ihn einlud, eine einjährige Expediti
on zum peruanischen Amazonas zu unternehmen, um die Kultur
der Conibo-Indianer im Flussgebiet des Ucayali zu studieren. Sei
ne Informanten sagten ihm, wenn er wirklich etwas über diese
Menschen erfahren wolle, müsse er den heiligen Trunk des Scha
manen probieren. Ihren Ratschlag befolgend, nahm er Ayahuasca,
ein Gebräu aus dem Absud der Dschungel-Liane Banisteriopsis caa-
pi und der Kawa-Pflanze, von den Indianern »Seelenwein« oder
»kleiner Tod« genannt. Er machte eine unbeschreibliche visionäre
Reise durch gewöhnlich unsichtbare Dimensionen der Existenz,
bei der er seinen eigenen Tod erlebte, außergewöhnliche Offenba
rungen über die Natur der Wirklichkeit hatte und entsprechende
Einsichten gewann.
98 Teil l: Das Mysterium der Synchronizität
Als er später feststellte, dass einem Ältesten der Conibo, einem
Meisterschamanen, die Erlebnisse gut bekannt waren, die er bei
dieser visionären Reise hatte, und seine Erfahrungen mit Ayahuas
ca außerdem Parallelen zu bestimmten Passagen aus dem Buch der
Offenbarung aufwiesen, gelangte Michael zu der Überzeugung,
dass es tatsächlich eine verborgene Welt gab, die erforscht werden
musste. Er beschloss, so viel wie möglich über Schamanismus in
Erfahrung zu bringen.
Drei Jahre später kehrte Michael nach Südamerika zurück, um
Feldforschung bei den Jivaro zu betreiben, einem Stamm aus Ecua
dor, bei dem er 1956 und 1957 gelebt und geforscht hatte. Hier
machte er eine weitere wichtige Initiationserfahrung, die für seine
Entdeckungen über den Weg des Schamanen von grundlegender
Bedeutung war. Akachu, ein berühmter Schamane der Jivaro, und
sein Schwiegersohn führten ihn zu einem heiligen Wasserfall tief
im Dschungel des Amazonas und gaben ihm einen Trank aus Mai-
kua, dem Saft einer Brugmanisa-Spezies von Datura, einer Pflanze
mit äußerst wirkungsvollen psychoaktiven Eigenschaften.
Diese und andere Erfahrungen machten aus Michael - einem
Anthropologen mit gutem akademischem Ruf - einen fähigen Prak
tikanten und Lehrer des Schamanismus. Er gründete mit seiner
Frau Sandra zusammen die »Foundation for Shamanic Studies«
(Gesellschaft für schamanistische Studien, Anm.d.Ü.), die sich der
Lehre schamanistischer Methoden für interessierte Studentinnen
und Studenten widmete und schamanistische Workshops für die
Öffentlichkeit anbot. Michael hatte ein Buch mit dem Titel Der Weg
des Schamanen (Genf: Ariston Verlag 1981, Anm.d.Ü.) geschrieben,
eine Sammlung von zahlreichen schamanistischen Methoden aus
aller Welt, die er zusammengestellt hatte, um in Workshops damit
zu experimentieren und sie westlichen Menschen beizubringen.
Bei unserem einmonatigen Workshop leitete Michael uns mit
Hilfe der Methode des »Geisterkanus«, die der Indianerstamm der
Salish im Nordwesten Amerikas praktiziert, zu einer Heilungsreise
Der Tanz des weißen Schwans 99
an. Er begann diese Zeremonie, indem er seine Trommel schlug
und die Teilnehmenden aufforderte, sich zu bewegen und zu tan
zen, bis sie das Gefühl hatten, sich mit einem bestimmten Tier zu
identifizieren. Es dauerte nicht lange, und die Leute krochen und
krabbelten auf allen vieren, sprangen durch die Gegend und
ahmten alle möglichen kletternden, grabenden, klammernden,
schwimmenden und fliegenden Bewegungen nach. Der Haupt
raum von Esalen war erfüllt von vielen verschiedenen erkennbaren
und nicht erkennbaren Tier- und Vogelstimmen. Als jeder Kontakt
mit einem bestimmten Tier aufgenommen hatte, bat Michael die
Gruppenteilnehmer, sich in einer Art Spindelform auf den Boden
zu setzen und sich vorzustellen, dass sie ein Geisterkanu bildeten.
Dann fragte er, ob jemand in der Runde Heilung brauche, und
Christina meldete sich. Mit seiner Trommel im Arm bestieg Micha
el »das Boot«, winkte Christina, ihm zu folgen, und bat sie, sich
hinzulegen.
Nachdem jetzt alle Vorbereitungen für die Heilungsreise ge
troffen waren, sollten wir uns vorstellen, als Bootsmannschaft aus
lauter Tieren in die Unterwelt zu fahren, um Christinas Seelentier
wiederzufinden. Als Ziel für diese spezielle Phantasiereise wählte
Michael die unterirdischen, miteinander verbundenen Höhlen, die
sich unter weiten Teilen Kaliforniens erstrecken sollen, und in de
nen heißes Wasser steht. Der Eingang war leicht zu finden, denn
die heißen Quellen in Esalen werden von dem Wasser aus diesen
Höhlen gespeist. Als Kapitän des Geisterbootes, so Michael, würde
er mit seiner Trommel das Tempo unserer Ruderschläge vorgeben
und nach Seelentieren Ausschau halten. Würde ein bestimmtes
Krafttier dreimal auftauchen, war das ein Zeichen dafür, dass er das
gesuchte Tier gefunden hatte. Er würde es dann packen und
der Mannschaft des Bootes durch schnelles Trommeln das Signal
geben, dass es Zeit war, eilig zurückzurudern.
Wir hatten mit Michael schon mehrmals das Geisterkanu der
Salish bestiegen. Das erste Mal hatten wir uns nicht besonders viel
aoo Teil 1: Das Mysterium der Synchronizität
davon versprochen. Das Ganze klang nach einem unschuldigen
Vergnügen - einer tollen Idee für ein Kinderspiel, aber für reife
Erwachsene vielleicht etwas albern. Doch gleich das erste Erlebnis
mit dem Geisterkanu bewirkte bei uns allen einen Sinneswandel.
An jener Gruppe nahm eine junge Frau teil, die durch ihr Verhal
ten alle gegen sich aufbrachte. Sie war darüber sehr unglücklich,
denn das Gleiche war ihr in ihrem Leben bislang in fast jeder Grup
pe passiert, mit der sie zu tun hatte. Sie meldete sich freiwillig für
eine Heilungsreise.
Als das Phantasieboot durch die »Unterwelt« fuhr, hatte sie
genau in dem Augenblick, wo Michael ihr Seelentier erkannte und
packte, sehr heftig reagiert. Während Michael mit schnellen Trom
melschlägen das Signal für die Rückkehr gab, setzte die junge Frau
sich plötzlich auf und musste sich unter stoßartigen Krämpfen
mehrmals übergeben. Sie hob ihren Rock, um das Erbrochene
darin aufzufangen, und schon bald war der Rock voll. Dieses
Ereignis, das kaum eine halbe Stunde dauerte, hatte tiefe Auswir
kungen auf ihre Persönlichkeit. Ihr Verhalten änderte sich so
gründlich, dass sie noch vor Ende des Monats eine der beliebtesten
Personen in der Gruppe war. Durch dieses Erlebnis, auf das später
ähnliche folgten, hatten wir vor dieser Methode wirklich Respekt
bekommen.
Michael begann nun zu trommeln, und wir starteten zu unserer
Reise in die Unterwelt. Wir alle paddelten und stießen die Laute
der Tiere aus, mit denen wir uns identifizierten. Christina wurde
am ganzen Körper von heftigen Zuckungen erfasst. Das war als
solches nicht ungewöhnlich, denn sie befand sich mitten im Pro
zess ihres Kundalini-Erwachens, bei dem körperliche Phänomene
wie dieses häufig auftreten. Nach etwa zehn Minuten trommelte
Michael deutlich schneller, um uns wissen zu lassen, dass er Chris
tmas Seelentier gefunden hatte. Wir anderen paddelten mit aller
Kraft und stellten uns vor, eilig nach Mittelerde zurückzukehren.
Der Tanz des weißen Schwans 101
Michael hörte auf zu trommeln und gab uns damit das Zeichen,
dass die Reise zu Ende war. Er stellte seine Trommel ab, presste
seine Lippen auf Christinas Kreuzbein und blies mit aller Kraft
dagegen, was ein lautes Geräusch erzeugte. Dann flüsterte er ihr
ins Ohr: »Dein Seelentier ist ein weißer Schwan.« Er bat sie, in
einem Tanz vor der Gruppe ihre Schwanenenergie zum Ausdruck
zu bringen. Wichtig ist hier zu erwähnen, dass Michael zu diesem
Zeitpunkt nichts von Christinas innerem Prozess wusste und auch
keine Ahnung davon hatte, dass der Schwan in ihrem Leben wie
derholt eine große Rolle gespielt hatte und für sie ein sehr wich
tiges persönliches Symbol war.
Die Geschichte hatte am nächsten Morgen, als Christina und
ich zu unserem Briefkasten am Highway liefen, um unsere Post zu
holen, noch eine Fortsetzung. Christina bekam einen Brief von
einer Frau, die vor einigen Monaten an einem unserer Workshops
teilgenommen hatte. In dem Umschlag befand sich ein Foto von
Christinas spirituellem Lehrer Swami Muktananda. Die Briefe
schreiberin wollte Christina damit eine Freude machen. Auf dem
Foto saß Muktananda mit schelmischem Gesichtsausdruck in einer
Hollywoodschaukel, und neben ihm stand ein großer Blumentopf
in Form eines Schwans. Muktanandas linker Zeigefinger wies auf
den Schwan, Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand schlos
sen sich zu einem Kreis, dem üblichen Signal dafür, dass etwas
genau den Punkt traf.
Auch wenn es zwischen Christinas inneren Erfahrungen, der
Tatsache, dass Michael den Schwan als ihr Krafttier wählte, und
dem Foto von Muktananda keine kausalen Zusammenhänge gab,
bildet all das zusammen zweifellos ein bedeutsames psychisches
Muster, das die Kriterien für Synchronizität oder das »Prinzip
akausaler Zusammenhänge«, wie C.G. Jung es definiert hat, klar
erfüllte.
102 Teil i: Das Mysterium der Synchronizität
Die Entstehung des Films BrainstormUnser Hollywood-Abenteuer
oug Trumbull, ein Zauberer von Spezialeffekten, nahm im
Jahr 1981 zu Christina und mir Kontakt auf. Doug hatte für
den Film 2001: Odyssee im Weltraum mit Stanley Kubrick zusam
mengearbeitet und die Spezialeffekte für die Filme Andromeda,
Lautlos im Weltraum, Blade Runner und Unheimliche Begegnung der
dritten Art gemacht. Er traf gerade Vorbereitungen, um bei einem
Science-Fiction-Film, den Metro-Goldwyn-Mayer unter dem Titel
Brainstorm herausbringen wollte, Regie zu führen. Bei dem faszi
nierenden Plot des Films ging es um ein Wissenschaftler-Duo, das
Computer-Genie Michael Brace und die hochintelligente Forsche
rin Lillian Reynolds, die zusammen einen Helm entwickelten, der
menschliche Erfahrungen aufzeichnen und wiedergeben konnte.
Mit diesem Helm konnte man sich an die Psyche anderer Men
schen anschließen, um aufzunehmen, was sie sahen, fühlten und
dachten, und es später abspielen. Während Michael Brace mit Hil
fe dieser Erfindung die Beziehung zu seiner Frau Karen kitten
wollte, von der er sich entfremdet hatte, planten andere Mitglieder
des Forscherteams die Erfindung für fragwürdigere Zwecke einzu
setzen und sich ihr sexuelles, kommerzielles und militärisches Po
tenzial zunutze zu machen. Die Handlung nahm eine interessante
Wende, als die schwer schuftende, kettenrauchende und koffein
süchtige Lillian einen Herzanfall bekommt, während sie spät nachts
noch im Labor arbeitet. Bis zuletzt neugierige Wissenschaftlerin,
D
Die Entstehung des Films Brainstorm 103
beschließt sie, ihr Sterben aufzuzeichnen, und es gelingt ihr, den
Helm aufzusetzen und die Maschine kurz vor ihrem Tod zu
starten.
Die weitere Handlung des Films dreht sich um diese Aufzeich
nungen von ihrem eigenen Tod. Doug wollte dieses Erlebnis nicht
nur mit den besten Spezialeffekten darstellen, die zu der Zeit ver
fügbar waren, sondern sich dafür auch die wissenschaftlichen In
formationen der modernen Bewusstseinsforschung über Tod und
Sterben zunutze machen. Er hatte gehört, dass Christina und ich
unter dem Titel The Inner Journey eine Dia-Show über ein Erlebnis
mit Tod und Wiedergeburt zusammengestellt hatten, die auf Beo
bachtungen aus der klinischen Forschung über psychedelische
Therapie basierte. Er setzte sich mit uns in Verbindung und fragte
uns, ob wir als Spezialberater für die visionären Erlebnisse in die
sem Film in seinem Team mitwirken würden. Wir fanden diese
Aussicht sehr aufregend, denn Brainstorm handelte von einem
faszinierenden Thema und hatte eine Starbesetzung. Zu den Dar
stellern gehörten unter anderem Natalie Wood, Christopher Wal
ken, Louise Fletcher und Cliff Robertson. Der Produzent war John
Foreman, bekannt für Filme wie Der große Eisenbahnraub und Butch
Cassidy und Sundance Kid. Die Einladung bot uns die Chance zu
einem längeren Aufenthalt in Hollywood, wo wir die Entstehung
eines Films miterleben würden.
Schauspieler und Crew besuchten eine von mir zusammenge
stellte, mit Dias bebilderte Sondervorstellung über die neue Karto
graphie der Psyche, die sich bei meinen Studien über außerge
wöhnliche Bewusstseinszustände abgezeichnet hatte. Die meisten
Bilder zeigten Erfahrungen aus der psychedelischen Therapie, aber
einige stammten auch aus den Sitzungen der Teilnehmerinnen und
Teilnehmer an unseren Trainings und Workshops für Holotropes
Atmen. Als Doug Trumbull und John Foreman hörten, dass wir
eine Technik entwickelt hatten, um ohne Drogen außergewöhn
liche Bewusstseinszustände auszulösen, fragten sie uns, ob wir
ihrem Team diese Erfahrung vermitteln könnten. Da Brainstorm
um einen außergewöhnlichen Bewusstseinszustand kreiste, bot
dies allen an der Produktion des Films Beteiligten die einmalige
Chance, besser zu verstehen, um was es hier ging.
Fünfzehn Mitglieder der Filmcrew nahmen an unserem fünf
tägigen Workshop in Esalen teil, auch an den Sitzungen für Holo-
tropes Atmen. Für Natalie war es interessant, Esalen persönlich
kennenzulernen, denn vor einigen Jahren hatte sie als Hauptdar
stellerin an dem Film Bob & Carol & Ted & Alice mitgewirkt - einer
Parodie auf Esalen und ähnliche Zentren für die Entwicklung des
menschlichen Potenzials. Ihr Aufenthalt in Esalen erfüllte bestimmt
die bei diesem Filmprojekt geweckten Erwartungen. Als sie bei ei
ner Atemsitzung Begleitperson war, zog sich der mexikanische
Gastgelehrte (ein Mitarbeiter von Esalen, der im Institut arbeitete
und im Austausch dafür an Workshops teilnahm), der neben ihr
atmete, splitternackt aus und blieb die restliche Sitzung so. In
Esalen, wo das Nacktbaden in den berühmten heißen Quellen und
dem offenen Swimmingpool einfach dazugehörte, fiel das gar nicht
weiter auf, aber für unsere Hollywood-Freunde war es doch etwas
ungewöhnlich.
Als ich eines Tages mit Natalie beim Mittagessen zusammen
saß, erfuhr ich, dass sie, was außergewöhnliche Bewusstseinszu
stände betraf, durchaus keine Anfängerin war. Mitten in unserem
Gespräch fragte sie mich plötzlich: »Stan, kennst du eine Droge
namens Ketalar?« Ketalar oder Ketamin ist ein starkes Anästheti-
kum, das ziemlich anders wirkt als die üblichen Betäubungsmittel.
Man bezeichnet Ketamin auch als »dissoziatives Anästhetikum«,
denn Patienten, denen man es verabreicht, verlieren nicht das Be
wusstsein, sondern ihr Bewusstsein löst sich so weit vom Körper,
dass sie nicht spüren, was mit ihm passiert. Während sie operiert
werden, erleben sie phantastische Abenteuer in anderen Wirklich
keiten. Sie verwandeln sich in andere Personen, andere Lebens
formen und sogar in nicht organische Gegenstände, begegnen ver
104 Teil 1: Das Mysterium der Synchronizität
Die Entstehung des Films Brainstorm 105
schiedenen archetypischen Gestalten und nicht inkarnierten
Wesen, erleben Erinnerungen an frühere Leben, besuchen andere
Universen und machen tiefe mystische Erfahrungen.
Es stellte sich heraus, dass Natalie bei der Geburt einer ihrer
Töchter, die mit Kaiserschnitt zur Welt gebracht werden musste,
intravenös eine starke Dosis Ketamin verabreicht bekommen hatte.
Wie damals unter Chirurgen üblich, gab man ihr dieses Medika
ment ohne irgendwelche psychologische Erklärungen, Vorberei
tungen oder Vorwarnungen. In vielen Ländern haben Chirurgen
Ketamin inzwischen generell abgesetzt. Grund dafür ist das Phäno
men, das sie als »emergence syndrome« bezeichnen - nämlich die
Tatsache, dass ihre Patientinnen und Patienten nach dem Erwachen
aus der Narkose von seltsamen Visionen berichteten. Manche Ärzte
verabreichen dieses Mittel nur noch Kindern und älteren Men
schen, mit denen sie in dieser Hinsicht weniger Schwierigkeiten
erleben. Auch viele Tierärzte benutzen Ketamin weiter.
Natalie machte damals eine tiefe Erfahrung. Unter anderem
hatte sie das sichere Gefühl, das Sonnensystem zu verlassen und
außerirdische Welten und Zivilisation zu besuchen. Sie empfand
dieses sonderbare Bewusstseinsabenteuer als erschreckend und
verwirrend und war davon völlig überfordert. Es beruhigte sie, von
mir zu hören, dass diese phantastischen Erfahrungen eine absolut
normale Reaktion auf Ketamin darstellten, denn sie hatte sich gele
gentlich gefragt, ob ihre seltsamen Erlebnisse nach Verabreichung
dieser Substanz nicht ein Indiz für eine latente Geisteskrankheit
gewesen sein konnten.
Glücklich über die hier gemachten Erfahrungen, reiste die
Hollywood-Crew aus Esalen ab und startete mit großer Begeiste
rung die Dreharbeiten für Brainstorm. Wir hatten Gelegenheit,
mehrere Tage bei den Außenaufnahmen in Raleigh, North Caroli
na, dabei zu sein, wo sie ein Gebäude gefunden hatten, das sich
gut als futuristisches Forschungsinstitut für Brainstorm eignete und
wo auch das ideale Wohnhaus für Michael Brace und seine Frau
io6 Teil i: Das Mysterium der Synchronizität
stand, die von Chris Walken und Natalie Wood gespielt wurden.
Während unseres Aufenthalts in Raleigh gaben wir Chris Walken,
der nicht mit der restlichen Crew nach Esalen hatte kommen kön
nen, eine Atemsitzung.
Ursprünglich hatte Natalie Chris’ Sitzung begleiten wollen.
Das hätte gut zur letzten Szene von Brainstorm gepasst, wo sie an
wesend ist, als die Person, die Chris spielte, sich den letzten Teil
der Aufzeichnungen von Lillians Todeserfahrung anhört. Kurz
nach Beginn der Sitzung jedoch beschloss Natalie, sich Chris anzu
schließen und selbst eine Sitzung zu nehmen. Als die restliche
Crew in Esalen Erfahrungen mit der Atemarbeit machte, hatte
Natalie nicht selbst geatmet, sondern war als Betreuerin und
Beobachterin anwesend. In Anbetracht ihrer Bekanntheit und der
Öffentlichkeit der Ereignisse war diese Entscheidung verständlich.
Jetzt bedauerte sie jedoch, diese Gelegenheit verpasst zu haben,
und wollte die Erfahrung nachholen. Sie fand die Sitzung sehr hilf
reich. Es ging dabei vor allem um den Tod ihres Vaters, und Natalie
hatte das Gefühl, sich mit diesem äußerst schmerzlichen Ereignis
in ihrem Leben endlich versöhnt zu haben.
Als die Dreharbeiten an die Westküste verlegt wurden, begleiteten
wir die Crew in die Hollywood-Studios und waren bei den Probe
aufnahmen für viele Szenen, den eigentlichen Dreharbeiten und
der Sichtung des täglich gedrehten Filmmaterials dabei. In der Zeit
hatten wir auch Gelegenheit, Natalie in ihrem Wohnwagen zu be
suchen, wo sie sich zwischen den Dreharbeiten ausruhte. Sie stell
te uns auch ihren Ehemann Robert Wagner vor, der zufällig gerade
vorbeikam. Viele unserer Gespräche bei diesem Besuch kreisten
um ein Thema, das uns in Anbetracht der kurz darauf folgenden,
tragischen Ereignisse rückblickend unheimlich und wie ein böses
Omen vorkam: Christina bemerkte an einer Wand des Wohnwa
gens das Bild einer wunderschönen Yacht, die Natalie und Robert
gehörte. Beide liebten dieses Boot und gingen damit häufig auf
Die Entstehung des Films Brainstorm 107
Tour. Segeln hatte auch in Christinas Kindheit eine wichtige Rolle
gespielt, denn ihr Stiefvater besaß ein großes Segelboot, und die
Familie umsegelte häufig die Inselgruppe von Hawaii. Auch Nata
lie und Robert, so stellte sich heraus, machten gern Urlaub auf Ha
waii und kannten viele Menschen, mit denen Christinas Stiefvater
befreundet war und die für sie als Kind ebenfalls wichtig gewesen
waren. Die beiden erzählten uns viel über die 250.000 Dollar teure
Yacht, ihre luxuriöse Innenausstattung, ihre Entsalzungsanlage und
die vielen Kreuzfahrten, die sie mit diesem Schiff unternommen
hatten.
Leider mussten wir Hollywood verlassen und konnten nicht bis
zum letzten Tag der Dreharbeiten bleiben. Später erzählten uns
Mitglieder der Brainstorm-Crew das dramatische Finale, das sie am
Tag vor Thanksgiving erlebten. Sie verbrachten den ganzen Tag mit
den Probeaufnahmen und Dreharbeiten für eine eindrucksvolle
Szene, in der Lillian Reynolds, von Louise Fletcher gespielt, einen
Herzanfall hat und in ihrem Labor stirbt. Louise spielte ihre Rolle
hervorragend, und ihre Darstellung machte auf die restliche Crew
einen tiefen Eindruck. Während sie stundenlang zuschauten, wie
sich Louise in Todesqualen wand, wurden sie unweigerlich an ihre
eigene Sterblichkeit erinnert. Am Ende dieses Tages waren alle in
einer ernsten, düsteren Stimmung.
Als die Szene über Lillians Tod schließlich zur Zufriedenheit
aller Beteiligten gedreht worden war, stand eine wichtige Entschei
dung an. Zu dem Zeitpunkt waren die wichtigsten Aufnahmen mit
den Hauptdarstellern bis auf drei Szenen abgeschlossen. Die Crew
stand vor zwei Alternativen: Sie konnte erstens das verlängerte
Thanksgiving-Wochenende nutzen, um die restlichen Dreharbei
ten mit den Hauptdarstellern zu Ende zu bringen. Die Filmpro
duktion hätte dann anschließend das bereits existierende Filmma
terial sichten und sich den Spezialeffekten zuwenden können und
damit dem Part, an dem wir am meisten beteiligt waren und der
uns entsprechend interessierte. Die zweite Möglichkeit war, die
io8 Teil i: Oas Mysterium der Synchronizität
Dreharbeiten zu unterbrechen, das Wochenende freizumachen
und in der folgenden Woche die restlichen Szenen zu drehen. Die
Meinungen waren geteilt, und der Belegschaft fiel es sehr schwer,
sich zu einigen. Sie beschlossen abzustimmen. Die Befürworter
eines freien Wochenendes gewannen mit einer Stimme Mehrheit.
Das sollte sich für den Film und für Natalie persönlich als eine fa
tale Entscheidung erweisen.
Natalie und Robert planten, das Wochenende auf ihrer Yacht
in der Nähe der Santa-Catalina-Insel zu verbringen, und Natalie
lud auch Chris Walken ein, an dieser Kreuzfahrt teilzunehmen.
Was danach passierte, ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Unwi
dersprochen gebliebenen Medienberichten zufolge kam es im Vor
feld zu heftigem Alkoholkonsum. Was man weiß, ist, dass Natalie
irgendwann die anderen allein ließ und versuchte, die Santa-
Catalina-Insel zu erreichen, um dort die Nacht zu verbringen. Sie
sollte das Ufer nie erreichen. Beim Versuch, das Beiboot zu bestei
gen, fiel sie vermutlich ins Wasser und ertrank. Es ist bekannt, dass
Alkohol den Gleichgewichtssinn beeinträchtigt. Am nächsten Mor
gen fand man ihren toten Körper auf dem Ozean treibend. Die Zei
tungen veröffentlichten ein Foto, das einen Mann zeigt, der Nata
lies Körper aus dem Wasser trägt. Das Bild hatte große Ähnlichkeit
mit einer Szene aus Natalies Film Die Augen der Laura Mars.
Natalies Tod war für ihre Familie, ihre Freunde, Bekannten
und Fans ein Schock. Ihr tragisches Ableben hatte auch negative
Folgen für Brainstorm. Drei der wichtigsten Szenen mit Natalie als
Flauptdarstellerin konnten nicht mehr gedreht werden, und maß
gebliche Leute bei MGM betrachteten das als sicheres Todesurteil
für den Film. Doug Trumbull war verzweifelt und versuchte Brain
storm mit allen Mitteln zu retten. Nach fast zweijährigem Produkti
onsstopp konnten die Dreharbeiten wieder aufgenommen werden,
und der Film wurde fertig, wies aber schwere Mängel auf. Doug
konnte die Lücken, die durch die fehlenden Szenen entstanden
waren, nicht wirklich füllen; ihm gelangen keine fließenden Über
Die Entstehung des Films Brainstorm 109
gänge. Aufmerksame Zuschauer entdeckten die logischen Fehler
im Film sofort. Aber am negativsten wirkte sich die Krise, die durch
Natalies tragischen Tod heraufbeschworen wurde, auf die Spezial
effekte aus, die visionären Sequenzen, an denen wir mitarbeiteten.
Es fehlten die Gelder, um Dougs und unsere Lieblingspläne zu ver
wirklichen.
Das Brainstorm-Projekt war ein aufregender Versuch, mit Hilfe
der besten derzeitig möglichen Spezialeffekte die Todeserfahrung
so darzustellen, dass unsere wissenschaftlichen Erkenntnisse über
dieses Ereignis dabei umgesetzt wurden. Leider endete dieses Vor
haben tragisch, als der Tod keine symbolische, künstlerische Dar
stellung blieb, sondern tatsächlich zuschlug und das Projekt zu
nichte machte. Doch die Dreharbeiten zu Brainstorm waren ein
bemerkenswertes Erlebnis, das bei uns den starken Wunsch hin
terließ, die Darstellung visionärer Zustände auf der Leinwand noch
einmal zu versuchen und diesmal mit Erfolg.
Die phantastischen Fortschritte auf dem Gebiet der Spezialef
fekte durch die digitale Technologie eröffneten in dieser Hinsicht
neue Wege, von denen wir damals nicht einmal träumten. Würden
wir die heutigen, großartigen Bildtechniken mit dem Wissen ver
binden, das die Transpersonale Psychologie und die Bewusstseins
forschung zusammengetragen haben, könnten wir - da bin ich mir
sicher - spirituelle Erfahrungen nicht nur darstellen, sondern beim
Publikum auch auslösen.
iio Teil 1: Das Mysterium der Synchronizität
Der Lauf des WassersBegegnungen mit Präsident Vaclav Havel
u den bemerkenswerten Aspekten der erlebnisorientierten Tie
fentherapie mit anderen Bewusstseinszuständen gehören die
Auswirkungen auf die Art und Weise, wie wir uns im Leben bewe
gen und mit Herausforderungen und Projekten umgehen. Als vor
bildliches Vorgehen in technologischen Gesellschaften gilt hier, zu
nächst einmal zu definieren, was wir erreichen wollen, um es dann
zielgerichtet und fest entschlossen zu verfolgen. Das heißt auch,
Hindernisse auf dem Weg - wie potenzielle Feinde - zu erkennen
und zu bekämpfen. Das Leben eines Menschen, der dieses Rezept
befolgt, gleicht einem ständigen Ring- oder Boxkampf.
Ich habe im Laufe der Jahre mit vielen Menschen gearbeitet,
die die psychischen Kräfte, die dieser Strategie zugrunde liegen,
verstanden haben und transzendieren konnten. In dieser Lebens
haltung, so haben sie entdeckt, spiegelt sich wider, dass wir die
Prägungen, die das Trauma unserer Geburt in unserer Psyche hin
terlassen hat, nicht verarbeitet haben. Deshalb sind wir von der
spirituellen Welt wie abgeschnitten und fühlen uns ihr entfremdet.
Unser Streben nach äußeren Errungenschaften ist eine Projektion
des tieferen und grundlegenderen Antriebs, unseren Geburtspro
zess psychisch abzuschließen und uns spirituell wieder verbunden
zu fühlen. Unser Hunger nach äußeren Eroberungen wird nie ge
stillt, denn wir gieren nach Dingen, die wir eigentlich gar nicht
wollen und brauchen.
Z
Der Lauf des Wassers 111
Für Menschen, die zu dieser Einsicht gelangt sind, ist ein Leben,
das beherrscht wird vom Streben nach materiellen Zielen, eine ein
zige »Tretmühle« oder »Hetzjagd«, die keine wirkliche Erfüllung
bringt und bringen kann. Aus dieser neuen Perspektive betrachtet,
bringt uns diese Strategie selbst dann keine Zufriedenheit, wenn
wir die angestrebten Ziele tatsächlich erreichen. Die systematische
und verantwortungsbewusste Selbsterforschung kann uns helfen,
mit dem Trauma der Geburt ins Reine zu kommen und uns spiri-
tuell wieder verbunden zu fühlen. Wir bewegen uns auf das zu,
was taoistische Lehrer Wu Wei oder »kreative Stille« nennen. Dabei
geht es nicht um ehrgeiziges und entschlossenes Bemühen, son
dern um Tun durch Sein. Manche sprechen hier auch vom Lauf des
Wassers, denn dieser Weg entspricht dem Verlauf des Wassers in
der Natur.
Statt uns auf ein bestimmtes, festgelegtes Ziel zu konzentrie
ren, versuchen wir uns einzufühlen in den Lauf der Dinge und
herauszufinden, wie wir uns hier am besten einfügen können. So
gehen wir auch in den Kampfkünsten und beim Surfen vor. Statt
auf ein Ziel oder Ergebnis konzentrieren wir uns auf den Prozess.
Wenn wir dem Leben so begegnen, erreichen wir letzten Endes mit
weniger Anstrengung mehr. Unser Handeln ist dann nicht egozen
trisch und konkurrenzorientiert wie beim Verfolgen persönlicher
Ziele, sondern bezieht andere mit ein und verknüpft die Dinge
miteinander. Das Ergebnis befriedigt nicht nur uns, sondern dient
auch den umfassenderen Zwecken der gesamten Gemeinschaft.
Wenn wir uns in diesem taoistischen Bezugsrahmen bewegen -
so habe ich wiederholt beobachtet und erlebt -, kommt es oft zu
höchst fruchtbaren Zusammentreffen und Synchronizitäten, die
unser Projekt unterstützen und uns bei unserer Arbeit weiterhel
fen. »Zufällig« stoßen wir genau auf die notwendigen Informati
onen, die richtigen Menschen tauchen zur richtigen Zeit auf, und
die erforderlichen finanziellen Mittel fließen uns unerwartet zu.
Solche günstigen und außergewöhnlichen Synchronizitäten passie
112 Teil 1: Das Mysterium der Synchronizität
ren dann so häufig, dass Christina und ich gelernt haben, sie als
eine Art Kompass für unsere Projekte zu nutzen, als wichtiges
Kriterium dafür, dass wir »auf der richtigen Spur« sind.
Ich möchte das gern anhand eines Beispiels aus unserem Leben
verdeutlichen, das unsere Arbeit in der internationalen transperso
nalen Bewegung betrifft. 1977 gründete ich die »International
Transpersonal Association« (ITA), eine Organisation zu dem Zweck,
die Kluft zwischen moderner Wissenschaft und einer spirituellen
Sicht der Welt, zwischen westlichem Pragmatismus und uralter
Weisheit zu überbrücken. Die ITA sollte ernsthafte Bemühungen,
ein umfassendes und ausbalanciertes Verständnis des Kosmos und
der menschlichen Natur formulieren, anregen und fördern.
Da das umfassende Ziel aller Aktivitäten der ITA darin bestand,
ein globales Netzwerk für das gegenseitige Verständnis und die Zu
sammenarbeit zu schaffen, vermissten wir bei unseren internatio
nalen Konferenzen Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus den Län
dern hinter dem sogenannten Eisernen Vorhang, die zu jener Zeit
nicht ins Ausland reisen durften, und denen die finanziellen Mittel
fehlten, sich uns anzuschließen. Doch dann änderte sich die Situa
tion in der damaligen Sowjetunion. Michail Gorbatschow rief das
Zeitalter von »Glasnost« und der »Perestroika« aus, und es schien
plötzlich durchaus möglich, das nächste Treffen der ITA in Russ
land abzuhalten. Als Christina und ich vom sowjetischen Gesund
heitsministerium offiziell nach Moskau eingeladen wurden, nutzten
wir unseren Besuch, um zu prüfen, ob eine solche Konferenz in
Russland möglich war. Wir bemühten uns wirklich sehr, doch
ohne Erfolg. Die Situation war offensichtlich noch zu instabil und
schwankend, um eine Konferenz in diesem Land zu riskieren.
Im November gab ich außerhalb von Kalifornien ein Seminar
für Holotropes Atmen. Da bekam ich einen Anruf von Christina,
die mich fragte, ob ich wisse, was gerade in meinem Heimatland
passiere. Unser Training war sehr intensiv, und wir absolvierten
Der Lauf des Wassers 113
täglich drei Sitzungen. Wir waren tief in die innere Arbeit einge
taucht, und niemand von uns hatte Zeit oder Interesse, den Fern
seher anzuschalten oder die Nachrichten zu lesen. Christina teilte
mir nun mit, dass die »Velvet Revolution« im Anrücken war und
das kommunistische Regime in der Tschechoslowakei wahrschein
lich zu Fall kommen würde. »Wäre es nicht großartig«, sagte sie,
»wenn wir die nächste ITA-Konferenz in Prag abhalten könnten?«
Wenige Wochen später war die Tschechoslowakei ein freies Land,
und der ITA-Vorstand beschloss, dass unser nächstes Treffen dort
stattfinden solle.
Da ich in Prag geboren bin, schien es naheliegend, mich als
Abgesandten zu schicken, um einen geeigneten Platz für diese Kon
ferenz zu finden und vor Ort entsprechende Vorbereitungen zu
treffen. Es stellte sich jedoch heraus, dass die Jahre, die ich in
meinem Geburtsland gelebt hatte, mir viel weniger Vorteile brach
ten, als wir erwartet hatten. Ich hatte die Tschechoslowakei zur
Zeit der Hauptbefreiungsbewegung verlassen, die »einen Sozialis
mus mit menschlichem Antlitz« schaffen wollte. 1968, als der
Prager Frühling durch den Einmarsch der Sowjetarmee brutal un
terdrückt wurde, befand ich mich als Stipendiat an der Johns-Hop-
kins-Universität in Baltimore. Nach dieser Invasion wurde ich von
den tschechischen Autoritäten aufgefordert, sofort ins Land zu
rückzukehren, aber ich beschloss, dieser Anordnung keine Folge
zu leisten und in den Vereinigten Staaten zu bleiben.
Die Folge war, dass ich mein Geburtsland mehr als zwanzig
Jahre nicht besuchen durfte. In der Zeit konnte ich auch keinen
offenen Kontakt mit Freunden und Kollegen dort pflegen. Durch
Briefe oder Telefonate mit mir hätten sie sich in Gefahr gebracht,
denn mein Aufenthalt in den Vereinigten Staaten galt als illegal.
Aufgrund meiner langen Abwesenheit verlor ich - außer zu engen
Verwandten - sämtliche Verbindungen. Die neue Situation war mir
fremd, und ich hatte keine Ahnung, wo ich überhaupt anfangen
sollte.
114 Teil i: Das Mysterium der Synchronizität
Meine Mutter holte mich am Prager Flughafen ab, und wir nahmen
ein Taxi zu ihrer Wohnung. Nachdem wir eine Weile zusammenge
sessen und uns gegenseitig über unser Leben auf den neuesten
Stand gebracht hatten, verließ sie das Haus, um eine Nachbarin zu
besuchen und ein paar Besorgungen zu machen. Allein in der
Wohnung, setzte ich mich in einen Sessel, trank eine Tasse Tee und
dachte über meine Mission nach. Plötzlich unterbrach ein lautes
Klingeln an der Wohnungstür mein Sinnieren. Ich öffnete die Tür
und erkannte Tomás Dostál, einen jüngeren Psychiater-Kollegen,
mit dem ich in alten Zeiten eng befreundet gewesen war. Vor mei
ner Abreise in die Vereinigten Staaten hatten wir eine Zeitlang ge
meinsam außergewöhnliche Bewusstseinszustände erforscht und
uns in unseren psychedelischen Sitzungen gegenseitig »Modell«
gesessen. Tomás hatte durch einen Bekannten von meinem Besuch
in Prag erfahren und stand vor der Tür, um mich willkommen zu
heißen.
Zu meinem Erstaunen erfuhr ich, dass bei Tomás zu Hause
genau in dem Augenblick, als er seine Wohnung verlassen wollte,
das Telefon klingelte. Am Apparat war Ivan Havel, ein prominenter
Forscher auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz und Bruder
des (damaligen) tschechischen Präsidenten Václav Havel. Er war
auch Vorsitzender einer Gruppe von progressiven Wissenschaft
lern, die in der kommunistischen Ära heimliche Treffen im Unter
grund abgehalten hatten, um neue Wege der westlichen Wissen
schaft zu erforschen. Ihr besonderes Interesse galt dem Denken
des neuen Paradigmas, der Bewusstseinsforschung und der trans
personalen Psychologie. Ivan Havel und Tomás waren auf dem
Gymnasium Klassenkameraden und waren enge Freunde geblie
ben. Tomäs war häufig zu Gast bei Familie Havel gewesen und
kannte auch Ivans Bruder Václav persönlich.
Ivan Havels Gruppe hatte durch einen Vortrag eines meiner
Freunde, des Sowjetdissidenten Vassily Nalimov, von meiner Arbeit
erfahren. Vassily war ein brillanter russischer Wissenschaftler, der
Der Lauf des Wassers 115
achtzehn Jahre in einem sibirischen Arbeitslager interniert war.
Christina und ich hatten Vassily und seine Frau Zhanna zur ITA-
Konferenz in Santa Rosa als unsere Gäste nach Kalifornien eingela
den und uns mit den beiden angefreundet. Der Titel eines der
Bücher von Vassily Realms oj the Unconscious (Reiche des Unbe
wussten, Anm.d.Ü.), war dem Titel meines ersten Buches, Realms
of the Human Unconscious (deutsch: Topographie des Unbewussten,
Anm.d.Ü.), sehr verwandt. Vassilys Buch enthielt auch einen aus
führlichen Bericht über meine psychedelische Forschungsarbeit,
und in seinem Vortrag für die Prager Gruppe hatte er meine Arbeit
ausführlich erläutert.
Durch Vassilys Referat auf mich aufmerksam geworden, bekam
die Prager Gruppe nun Interesse, mich als Gastredner einzuladen.
Ivan Havel wusste, dass Tomäs und ich alte Freunde waren, und
rief ihn an, um herauszufinden, ob er meine Adresse oder Telefon
nummer hatte und den Kontakt zwischen der Prager Gruppe und
mir herstellen konnte. Zu seiner Überraschung teilte Tomäs ihm
mit, ich sei zufällig gerade zu Besuch in Prag und er wiederum sei
im Begriff, seine Wohnung zu verlassen, um mich aufzusuchen.
Eine solch unglaubliche Überschneidung verschiedener Ereignisse
bot mehr als genug Anzeichen dafür, dass wir eher »mit dem
Strom« als »gegen ihn schwammen«. Durch diesen wunderbaren
Verlauf der Dinge ermutigt, beschlossen Christina und ich, unser
Projekt weiterzuverfolgen.
Wie sich herausstellte, kam mir die spektakuläre Konstellation
von Ereignissen in meiner Rolle als Abgesandter für die ITA-Konfe-
renz sehr zugute. Denn unter für mich fremden Umständen hatte
ich nicht mehr als zehn Minuten gebraucht, um für unser zukünf
tiges Treffen die idealen Kontakte und damit auch die optimale Un
terstützung zu finden - nämlich eine Gruppe von hochkompe
tenten Akademikern, die mit dem Hochschulbetrieb verbunden
waren und lebhaftes Interesse am Thema der geplanten Konferenz
zeigten.
n6 Teil i: Das Mysterium der Synchronizität
Auf demselben Weg bekam ich auch Kontakt zum damaligen
Staatsoberhaupt, das zufällig auch noch ein aufgeklärter und tief
spiritueller Politiker und für die transpersonale Sicht offenwar. Die
Konferenz fand 1993 unter der Schirmherrschaft von Präsident
Václav Havel in der Prager Smetana Konzerthalle und im städ
tischen Gemeindehaus statt.
Präsident Havel war der ideale Ehrengast für eine ITA-Konferenz.
Er war kein gewöhnlicher Politiker, sondern wurde häufig als
»Staatsmann« bezeichnet - ein Staatsoberhaupt mit einer umfas
senden, spirituell begründeten globalen Sicht. Václav war ein be
kannter Stückeschreiber gewesen, und seine Präsidentschaft war
kein Resultat eines jahrelangen Kampfes um politische Macht. Viel
mehr nahm er seine Ernennung nur sehr zögernd an, um der drin
genden Bitte des Volkes nachzukommen. Er wanderte praktisch
direkt aus dem kommunistischen Gefängnis ins Prager Schloss. Ei
ner seiner ersten Schritte nach Amtseinweihung bestand darin,
Seine Heiligkeit, den Dalai Lama, als Oberhaupt der Tibeter anzu
erkennen und zu einem Besuch einzuladen. Er bemühte sich auch
ernsthaft darum, die gesamte Waffenproduktion in der Tschecho
slowakei zu stoppen. Wo immer er auftrat, beeindruckte er sein
Publikum durch seinen eindringlichen Ruf nach einer spirituell be
gründeten Demokratie und globaler Solidarität.
Leider fiel der Beginn der ITA-Konferenz zusammen mit einer
schweren Krise, welche die Zukunft der Tschechoslowakei be
drohte. Der östliche Teil des Landes, die Slowakei, hatte beschlos
sen, sich von den beiden westlichen Teilen, Böhmen und Mähren,
abzuspalten. An dem Tag, als die Konferenz begann, hielt die tsche
choslowakische Regierung eine Krisensitzung ab, die bis drei Uhr
morgens dauerte. Präsident Havel, der die Konferenz eröffnen und
die Gäste willkommen heißen sollte, konnte nicht zu uns kommen
und musste statt dessen einen Vertreter schicken, der seine persön
liche Botschaft überbrachte. Trotz dieser Komplikationen war die
Der Lauf des Wassers 117
Konferenz, an der erstmals auch Kolleginnen und Kollegen aus
Osteuropa teilnahmen, sehr erfolgreich. Sie sollte sich als DAS Er
eignis in der Geschichte der ITA erweisen, über das am meisten
gesprochen wurde.
Unsere Enttäuschung darüber, dass Präsident Havel die ITA-
Konferenz nicht besuchen konnte, wurde dadurch gemildert, dass
wir später Gelegenheit zu einem privaten Gespräch mit ihm beka
men. Bei unserem nächsten Besuch in Prag lud er uns zu einer
persönlichen Audienz ins Prager Schloss ein. Er äußerte großes In
teresse an der transpersonalen Psychologie, ihrer Geschichte und
ihren wichtigsten Vertreterinnen und Vertretern. Die Idee der Syn
these von moderner wissenschaftlicher Weltanschauung und einer
spirituellen Sicht der Welt faszinierte ihn ganz offensichtlich. Be
sonders am Herzen lag ihm die Frage, welche Implikationen das
transpersonale Denken für Politik und Wirtschaft haben könnte.
Für Christina und mich sind die zweieinhalb Stunden, die wir mit
ihm verbringen durften, ein unvergessliches Erlebnis.*
* Anmerkung des Kösel-Verlags: Im Oktober 2007 wurde Stanislav Grof im Rahmen der
Dagmar-und-Václav-Havel-Foundation von Václav Havel mit dem Vision Award 2007 aus
gezeichnet.
«8 Teil 1: Das Mysterium der Synchronizität
Der Segen der GötterDon Jose und die Regenzeremonie der Huichol
ährend unserer Anfangsjahre in Big Sur, Kalifornien, nahmen
wir Kontakt auf zu Prem Das, einem jungen Amerikaner aus
San Jose, der in Esalen Halt machte, um hier Kunstwerke der Hui-
chol-Indianer aus Nordzentralmexiko zu verkaufen. Die Bilder und
Objekte waren inspiriert von den psychedelischen Visionen, wel
che die Huichol bei ihren Peyote-Zeremonien hatten, darunter
wunderschöne Garnbilder, die mythologische Motive zeigten, Au
gen Gottes und Gebetspfeile. Er verkaufte auch reich bestickte
Hemden, Hosen, Kleider, Gürtel und Armbänder. Zu der Zeit, als
Prem Das regelmäßig nach Esalen kam, lebte er in Mexiko, in
einem Huichol-Dorf in der Nähe von Tepic, der Hauptstadt des
Bundesstaates Nayarit, und ging in die Lehre von Don Jose Matsu-
wa, einem außergewöhnlichen, einhundertjährigen Schamanen.
Wie wir erfuhren, hatte Prem Das eine sehr interessante spiri
tuelle Lebensgeschichte: Im Alter von 11 Jahren nahm er an einer
Untersuchung teil, die von Ernest R. Hilgard im Labor der Hypno
seforschung an der Stanford-Universität durchgeführt wurde. Auch
wenn es Hilgard lediglich darum ging zu erforschen, wie Kinder
auf Hypnose reagieren, machte Prem Das in einer der Sitzungen
eine eindringliche mystische Erfahrung, die in ihm ein tiefes Inte
resse an der spirituellen Suche weckte. Gegen Ende seiner Teen
agerzeit reiste er nach Indien und studierte Yoga bei Haridas Baba,
einem berühmten Guru, der vor allem durch sein Schweigegelübde
W
Der Segen der Götter 119
bekannt wurde. Haridas Baba war es auch, der ihm den Namen
Prem Das gab.
Nach seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten reiste Prem
Das nach Mexiko und sah bei einem Besuch in Tepic ein Garnbild
der Huichol, das die Reise des Schamanen oder mara‘akame ins
Sonnenreich zeigte. Der Pfad des Schamanen war dargestellt durch
sieben Blüten, was Prem Das stark an das Chakrasystem der Yogis
erinnerte. Fasziniert von diesem Bild, beschloss er herauszufinden,
von wem es stammte, denn er war sicher, dass der Künstler einem
Glaubenssystem anhing, das dem Kundalini-Yoga ähnlich war.
Seine Suche brachte ihn in ein Huichol-Dorf, wo er Don Jose
kennenlernte, der ihn als Lehrling annahm. Das wichtigste spiritu
elle Medium der Huichol, das auch Don Jose als grundlegendes
Unterrichtsmittel benutzte, war Peyote, ein psychedelischer Kaktus
mit dem botanischen Namen Lophophora williamsii oder Anhaloni-
um lewinii.
Prem Das schilderte uns die tragische Situation der Huichol-
Indianer. Diese Menschen, Abkömmlinge der Azteken, lebten in
kleinen Gemeinschaften, die zerstreut in den Canyons und Tälern
der zerklüfteten Bergwelt der Sierra Madre in den Bundesstaaten
Jalisco und Nayarit lagen. Sie lebten von dem Land, auf dem sie
wohnten, und bauten an den steilen Berghängen Mais, Bohnen und
Chili an. Die Huichol waren Vertreter und Hüter einer alten Tradi
tion aus ihrer weit entfernten Vergangenheit noch vor der Zeit der
spanischen Eroberer. Sie nannten sich Wixalika oder Heiler und
glaubten, dass das Abhalten spezieller Zeremonien für die Heilung
der Erde und die Erhaltung eines natürlichen Gleichgewichts von
wesentlicher Bedeutung war. Die Huichol hatten sich der Invasion
der spanischen Eroberer erfolgreich widersetzt und bemühten sich
jetzt, ihre Kultur trotz der wachsenden Übergriffe ihrer mexika
nischen Nachbarn lebendig zu halten.
In den 1970er-Jahren richtete die mexikanische Regierung,
entschlossen, alle Ureinwohner in die Mainstream-Gesellschaft zu
120 Teil i: Das Mysterium der Synchronizität
integrieren, Schulen, Kliniken und landwirtschaftliche Stützpunkte
ein, um den Huichol den neuen Lebensstil beizubringen. Seit der
Zeit landeten noch in den entferntesten Gegenden der Sierra auf
provisorischen Landebahnen kleine Flugzeuge mit Touristen und
Regierungsbeamten. Die Rancher, auf der Suche nach Weideland
für ihre ständig wachsenden Viehherden, waren scharf auf die
hohen, grasbewachsenen Bergplateaus und versuchten, sich diese
Gebiete anzueignen. Christliche Missionare und religiöse Fanatiker
bemühten sich, die »Heiden« zu bekehren. Die junge Generation
der Huichol war den Verlockungen der Konsumgesellschaft mit ih
ren Fernsehern, Transistor-Radios, Motorrädern und alkoholischen
Getränken ausgesetzt.
Die Modernisierung der mexikanischen Gesellschaft bedrohte
auch das entscheidende Element im rituellen Leben der Huichol.
Bislang war es bei den Huichol Tradition gewesen, ihr wichtigstes
Heiligtum - Peyote - bei einer jährlichen Pilgerreise nach Wirikuta
oder ins Land der Blumen, ihrer spirituellen Heimat am westlichen
Rand des Catorce-Gebirges, zu sammeln. Sie unternahmen diese
300 Meilen lange Reise zu Fuß, und wer zum ersten Mal mitwan-
derte, musste mit verbundenen Augen gehen. In einer tausend Jah
re alten Geschichte heißt es, Wirikuta sei das Land, in dem die
Huichol erschaffen wurden und wo ihre Ahnen vom Cerro Quema-
do aus, dem verbrannten Hügel, die Geburt der Sonne beobachte
ten. An diesem Ort hatte auch ihre erste Jagd auf Hirsche stattge
funden.
Die Huichol glaubten, dass Peyote in den Fußspuren des
Hirschgeistes Kauyumare wächst, und sammelten den heiligen
Kaktus, indem sie eine Jagd auf Rehe imitierten. Während der Pil
gerfahrt nach Wirikuta nahmen sie rituell Peyote und sammelten
Vorräte für ein ganzes Jahr. Da das Land teilweise in Privatbesitz
übergegangen und eingezäunt worden war, verlor dieses Ereignis
seinen heiligen Charakter, denn die Huichol waren jetzt gezwun
gen, mit Lastwagen zu reisen und das Straßennetz zu benutzen.
Der Segen der Götter 121
Der jüngste Angriff der industriellen Zivilisation hatte dem Dorf, in
dem Prem Das lebte, großen Schaden zugefügt. Seit undenklichen
Zeiten hatten die Huichol Mais und Bohnen angebaut - eine Kom
bination, die für eine perfekt ausgewogene Ernährung sorgt. Um
die Produktion von Mais zu steigern, führte die mexikanische Re
gierung Pestizide ein, nach deren Einsatz nur noch Mais auf dem
Land wuchs, sodass die Huichol gezwungen waren, Bohnen auf
dem Markt zu kaufen. Als sich der Preis für Bohnen plötzlich
verdreifachte, konnten sie sich dieses Gemüse nicht mehr leisten.
Die unterernährten Huichol-Kinder litten jetzt an zahlreichen
gesundheitlichen Problemen, die auf diese Mangelernährung zu
rückgingen.
Als wir das hörten, beschlossen wir, den Huichol zu helfen, damit
sie überleben und ihre Kultur und ihr spirituelles Leben erhalten
konnten. Mit Prem Das’ Hilfe nahmen wir Kontakt zu Huichol-
Schamanen und -Künstlern auf, was sich für beide Seiten als pro
duktiv erweisen sollte. Prem Das brachte aus Mexiko regelmäßig
seinen Lehrer Don Jose und andere Schamanen mit, die als Gast
dozenten an unseren einmonatigen Workshops mitwirkten. Sie
hatten immer große Mengen an erstaunlichen Huichol-Kunstwer-
ken dabei, die bei der Esalen-Gemeinschaft, bei Workshop-Teil
nehmern und Besuchern sehr beliebt waren. Dieser Austausch war
für unser Programm eine enorme Bereicherung und brachte genug
Geld ein, um die Versorgung des Huichol-Dorfes mit den nötigen
Bohnenvorräten zu sichern.
Der größte Vorteil dieses Unternehmens war für uns jedoch,
dass wir Don Jose kennenlernten, einen von seinem Volk hochge
schätzten Schamanen oder Mara’akame, und Zeit mit ihm verbrin
gen konnten. Während seiner Besuche in Big Sur war Don Jose
regelmäßig Gast in unserem Haus. Er gehörte zu den außerge
wöhnlichsten spirituellen Lehrern und menschlichen Wesen, die
uns jemals begegnet sind. Als wir ihn zum ersten Mal trafen, war
122 Teil i: Das Mysterium der Synchronizität
Don Jose über 100 Jahre alt. Er hatte nur einen Arm, den anderen
hatte er als kleiner Junge bei einem Fischereiunfall verloren. Die
Verletzung durch eine Machete hatte ihn zwei Finger an der ver
bliebenen Hand gekostet. Und trotzdem erntete er jährlich fünf
Tonnen Mais, denn für ihn war tägliches Schwitzen die beste Ga
rantie für eine gute Gesundheit und ein langes Leben. Seine Vitali
tät war erstaunlich. Er lief die Berge so schnell hoch und wieder
herunter, dass Prem Das, ein junger sportlicher Mann Ende zwan
zig, kaum Schritt mit ihm halten konnte. Trotz seines Alters war er
aktiv an Sex interessiert und machte den Frauen in unseren Grup
pen regelmäßig Avancen.
Die nächtlichen Zeremonien mit Don Jose, die bis zum Mor
gen dauerten, waren ein unvergessliches Erlebnis. Er trug dabei
einen großen Hut und seine Huichol-Tracht, beides reich bestickt
und geschmückt mit verschiedensten geometrischen Mustern und
den heiligen Symbolen seines Stammes: dem Hirschgeist Kauyu-
mari; Urgroßvater Feuer Tatewari; Peyote-Kaktus Hikuri; dem
doppelköpfigen Adler, Symbol für den Schamanen, der in alle
Richtungen sehen kann; und viele andere. Don nahm vor der Zere
monie immer den Kopf (oder Knopf) eines großen Peyote-Kaktus
zu sich, was ihm half, die Grenzen der gewöhnlichen sinnlichen
Wahrnehmung zu überschreiten und »mit dem inneren Auge und
dem Herzen des Großen Geistes die gegenseitige Verbundenheit
aller Dinge, sichtbarer wie unsichtbarer, zu sehen«.
Trotz der erstaunlichen Menge an Peyote, die Don Jose zu sich
nahm, führte er die rituellen Handlungen und Heilungen einwand
frei und präzise durch, wobei er den mit Adler- und Truthahnfe
dern geschmückten Gebetspfeil in seinen drei restlichen Fingern
hielt und einen stundenlangen, eindringlichen Gesang anstimmte,
der uns allen zu Herzen ging. Prem Das begleitete sein Lied mit
einladenden rhythmischen Trommelschlägen oder auf einem selbst
gebauten hölzernen Saiteninstrument. Die Gruppe schloss sich den
beiden mit den kraftvoll klingenden Huichol-Rasseln an, die aus
Der Segen der Götter 123
Kürbis und trockenen Bohnen hergestellt wurden. Don Jose hatte
die einzigartige Gabe, das Heilige und das Irdische in Balance zu
bringen. Beim Trommeln und Singen war er sehr ernst und schuf
eine feierliche, heilige Atmosphäre im Raum, aber in den Pausen
gewann der Schelm in ihm die Oberhand. Er lachte laut und er
zählte sich mit Prem Das höchst amüsante und oft ziemlich schmut
zige Witze.
Die ungewöhnlichste und beeindruckendste Zeremonie, die wir
mit Don Jose erlebten, fand gegen Ende der 1970er-Jahre im Big
House von Esalen statt, mitten in einer katastrophalen Dürreperio
de in Kalifornien, die mehrere Jahre anhielt. Die ganze Zeit über
war die Wasserknappheit im Land an einem kritischen Punkt. Die
kalifornische Landwirtschaft war ernsthaft in Gefahr, und Men
schen, die in luxuriösen Häusern lebten, konnten weder ihre Toi
lettenspülung benutzen noch abwaschen. Zu Beginn der Zeremo
nie schlug eine der Teilnehmerinnen scherzend vor: »Don Jose, wir
haben in Kalifornien eine schreckliche Trockenheit. Vielleicht
sollten wir eine Regenzeremonie abhalten.« Alle in der Gruppe
hielten das für einen Witz, außer Don Jose. Nachdem er kurz über
legt hatte, stimmte er dem Vorschlag zur Überraschung aller Anwe
senden zu.
Wer Don Joses Gesänge in der Sprache der Huichol nicht ver
stand, für den schien sich diese Zeremonie nicht von all den ande
ren zu unterscheiden, die wir zusammen abgehalten hatten. Bis auf
wenige Pausen wurde die ganze Nacht hindurch kontinuierlich
getrommelt und gesungen. Als die zweite Hälfte der Zeremonie
begann, leitete Prem Das die Gruppe zum Hirschtanz an, und wir
alle bewegten uns durch den Raum, indem wir Vorwärtsschritte
mit vertikalen Kreisbewegungen um die eigene Körperachse kom
binierten. In der Morgendämmerung holte Don Jose aus seinem
Medizinbeutel eine große Abalone-Muschel und einen Kaninchen
schwanz und lud uns ein, ihn hinunter ans Meer zu begleiten, um
124/ Teil i: Das Mysterium der Synchronizität
limpieza, eine Reinigung, zu empfangen und dem Meer Dankes
gaben für den guten Verlauf der Zeremonie darzubringen.
Wir verließen das Big House und gingen zu den mit Zypressen
bewachsenen Kliffs der atemberaubend schönen Küste von Big Sur,
während die Zeremonie in uns noch »nachhallte«. Der Blick auf
den Pazifischen Ozean, der im Morgenlicht vor uns lag, war um
werfend. Als die ganze Gruppe regungslos dastand und das spekta
kuläre Panorama betrachtete, bemerkte jemand, dass es angefan
gen hatte zu nieseln. »Unfassbar... nicht zu glauben... phantastisch«,
lauteten die Kommentare der Leute zu diesem Phänomen, das uns
mitten in der verheerenden Trockenheit wie ein Wunder vorkam.
Aber Don Jose blieb ganz ruhig. »Das ist kupuri, der Segen der Göt
ter«, sagte er. »Das passiert immer. Es zeigt einfach, dass wir eine
gute Zeremonie gemacht haben.«
Als wir die Steinstufen zum Meer hinunterstiegen, verwandelte
sich das Nieseln rasch in einen Regenschauer. Don Jose kletterte
unten am Strand auf einen flachen Felsen, der etwa drei Meter über
dem Wasserspiegel lag. Er legte seine Gaben neben seine Füße auf
den Stein und begann zu singen. Der Ozean war an diesem Tag
ganz ruhig, doch nachdem Don Jose ein paar Minuten singend
gebetet hatte, sahen wir alle staunend, wie sich auf der Oberfläche
des Wassers eine einzige riesige Welle bildete und schnell auf den
Felsen zurollte, auf dem er stand. Der schwere Wellenkörper prallte
mit enormer Kraft gegen den Stein, bildete aber an seiner Spitze
einen spiralförmigen Kamm, der die Gaben vom Stein spülte, ohne
dass Don Joses Füße nass wurden. Keiner von uns hatte auch nur
den geringsten Zweifel daran, dass sich dieser bemerkenswerte
Mara’akame mit dem Ozean ausgetauscht hatte wie mit einem
lebendigen Wesen, und dass das Wasser ihm antwortete, indem es
seine Gaben annahm.
Don Jose füllte seine Abalone-Muschel mit Meerwasser, tunkte
den Kaninchenschwanz hinein und segnete und reinigte nach und
nach alle Gruppenteilnehmer, die in einer Reihe vor ihm standen.
Der Segen der Götter 125
Inzwischen schüttete es regelrecht. Wir waren nass bis auf die
Haut, auch das war eine Art Reinigung. Wieder oben auf dem
Hügel angekommen, tanzten wir um den wunderschönen Euka
lyptusbaum auf dem Rasen vor dem Big House, manche ganz ohne
Kleider. Das mag manchem etwas exotisch Vorkommen, doch in
Esalen mit seinem Kult von Körperarbeit und dazugehörigen
Bädern war das ganz natürlich. Wir staunten immer noch über das
gerade Erlebte, und die Gruppe war in ekstatischer Stimmung.
Als wir Joseph Campbell später von diesem Erlebnis berichte
ten, erzählte er uns eine ähnliche Geschichte aus seinem eigenen
Leben. Er hatte vor einigen Jahren eine Einladung bekommen, im
Navajo-Reservat in New Mexiko einer Regenzeremonie als Gast
beizuwohnen. Wie unsere Zeremonie fand auch sie während einer
heftigen Dürrephase statt. Als Joseph am Ritualplatz eintraf und
die Zeremonie begann, war der Himmel blau und keine einzige
Wolke in Sicht. Joseph gab zu, dass ihn das vergebliche Bemühen
des Navajo-Schamanen, der mit großer Entschlossenheit scheinbar
dumme und unsinnige Dinge tat, sehr amüsiert hatte. Ohne sich
von den vielen Widrigkeiten beeindrucken zu lassen, fuhr der
Schamane jedoch vor den Augen aller Zuschauer fort, zu singen
und zu trommeln. Doch dann ballten sich dunkle Wölken am Ho
rizont zusammen und zogen rasch in ihre Richtung. Und noch vor
Abschluss der Zeremonie waren alle klitschnass.
Als ich mir später Gedanken über den Glauben der Ureinwoh
ner an diese Form von zeremonieller Magie machte, kam ich zu
dem Schluss, dass die positiven Auswirkungen dieser Regenzere
monien uns eigentlich nicht überraschen dürfen. Die Ureinwohner
mit ihren überlieferten Kulturen haben vielleicht keinen tech
nischen Fortschritt vorzuweisen, aber sie sind nicht dumm. Es
wäre unsinnig, wenn sie fortwährend Schamanen ausbilden und
diese eine Zeremonie nach der anderen abhalten würden, ohne da
mit etwas zu bewirken. Die Tradition der Regenzeremonie kann
nur erhalten bleiben, wenn diese Zeremonienmeister Erfolge vor
126 Teil 1: Das Mysterium der Synchronizität
weisen. Die Beziehung zwischen Schamane und Regen bei diesen
Ritualen muss allerdings nicht zwangsläufig eine kausale sein, in
dem Sinne, dass der Schamane tatsächlich Regen macht. Auch an
dere Geschichten in diesem Buch haben uns gezeigt, welch bedeu
tungsvolle Rolle das Prinzip der Synchronizität gelegentlich in der
universellen Ordnung der Dinge spielt.
Eine Lektion in Verzeihen 127
Eine Lektion in VerzeihenPeyote-Zeremonie mit Potawatomi-Indianern
a ich als Psychiater täglich mit den emotionalen Problemen
konfrontiert bin, die Menschen in ihrem Leben quälen, sind
mir die zahlreichen destruktiven und selbstzerstörerischen Verhal
tensmuster, die im Verlauf der menschlichen Geschichte wie ein
Fluch von einer Generation an die andere weitergegeben werden,
eindringlich bewusst geworden. Die Traumata, die Eltern in ihrer
eigenen Ursprungsfamilie erleiden, fügen ihnen so schwere emo
tionale Verletzungen zu, dass sie später ihre Rolle als Ehemann,
Ehefrau, Vater und Mutter nicht angemessen wahrnehmen können.
Die Folge davon ist, dass sie wiederum ihre eigenen Kinder emo
tional verletzen. Diesen Teufelskreis zu durchbrechen, ist eine der
größten Herausforderungen der modernen Psychologie und Psy
chiatrie.
Ein ähnliches Muster ist auf einer höheren Ebene im kollek
tiven Leben wirksam und vergiftet die Beziehungen ganzer Länder
und Nationen. Hemmungslose Gewalt und unersättliche Gier
haben als gefährliche Schwächen der menschlichen Natur immer
wieder zu unzähligen blutigen Kriegen und Revolutionen geführt,
die immenses Leid schufen. Die Erinnerungen an den Schmerz
und die Ungerechtigkeit, die Menschen durch verschiedene histo
rische Feinde erlitten haben, überleben im kollektiven Unbewuss
ten der Nationen jahrhundertelang und prägen die gegenwärtigen
Einstellungen und Beziehungen zueinander. So bleiben unverar
D
128 Teil 1: Das Mysterium der Synchronizität
beitete und nicht verziehene Angriffe und Verletzungen Brutstätten
für neue Gewalt.
Die Rolle, die Nationen in der Entfaltung der menschlichen
Geschichte spielen, und ihre Beziehungen untereinander unter
liegen immer wieder ziemlich unberechenbaren Veränderungen.
An der Oberfläche wechseln sich Bündnisse und vernichtende Aus
einandersetzungen ab, doch die Erinnerungen an tiefe Wunden
und die daraus entstehenden Vorurteile bleiben bestehen. Wäh
rend des Zweiten Weltkrieges waren Deutschland, Japan und Ita
lien als »Achsenmächte« Feinde der Vereinigten Staaten, während
die Sowjetunion ein wichtiger Verbündeter war. Nach dem Krieg
veränderte sich das politische Klima dramatisch. Japan und Italien
wurden zu befreundeten Ländern und die Sowjetunion zum Erz
feind der USA. Die Situation mit Deutschland war komplizierter:
Westdeutschland war jetzt ein Bündnispartner und die DDR ein
Mitglied des feindlichen Lagers.
Im 20. Jahrhundert stellte Deutschland für Großbritannien
und Frankreich die größte Herausforderung dar, doch die gegen
seitigen Beziehungen blieben einigermaßen im Lot. Noch vor
wenigen Jahrhunderten jedoch waren diese Länder Todfeinde. An
einem Punkt der Geschichte war Spanien für England und Frank
reich für Russland die größte Herausforderung: Spanien führte
Krieg mit Holland, Russlands Erzfeind war Schweden und so wei
ter. Da ich als Kind und Jugendlicher die Schrecken der deutschen
Besetzung der Tschechoslowakei und später das skrupellose stali-
nistische Regime erlebte, das uns von der Sowjetunion aufgezwun
gen wurde, bin ich von diesen politischen Konstellationen persön
lich besonders stark betroffen.
Von früher Kindheit an habe ich Grenzen und alles, was damit
zusammenhängt, gehasst - Wachtürme mit Maschinengewehren,
Stacheldrahtzäune, Minenfelder und patrouillierende Soldaten mit
Hunden. Diese Aversion übertrug sich sogar auf die zivilisierter ge
stalteten Grenzen der freien Welt und ihre Zollbeamten, Visa und
Eine Lektion in Verzeihen 129
Zollbestimmungen. Ich habe oft von einem künftigen vereinten
Europa geträumt, in dem alle europäischen Nationen in friedlicher
Koexistenz Zusammenleben. Später in meinem Leben erweiterte
ich diese Vision auf den gesamten Planeten. Ich stelle mir gern eine
Zukunft vor, in der die Menschheit alle rassischen, geschlecht
lichen, nationalen, kulturellen, politischen und ökonomischen
Spaltungen überwunden hat und eine globale Gemeinschaft bildet.
Mir ist jedoch klar, dass die Verwirklichung dieses Wunsches mit
so komplexen Problemen verbunden ist, dass er sich auf unserem
Planeten kaum verwirklichen lässt.
Nach dieser eher pessimistischen Einleitung möchte ich eine Epi
sode aus meinem Leben erzählen, die mich trotz der schwierigen
Gesamtsituation auf eine bessere Zukunft für uns alle hoffen ließ.
Es geht hier um die tiefe Heilung und Wandlung innerhalb einer
Gruppe von Menschen, mit denen ich vor vielen Jahren einen au
ßergewöhnlichen Bewusstseinszustand erlebte. Obwohl seitdem
mehr als dreißig Jahre vergangen sind, treibt mir dieses Ereignis,
wenn ich daran denke und darüber spreche, noch immer Tränen in
die Augen. Es zeigte mir, wie tief die Probleme gehen, mit denen
wir in unserer Welt konfrontiert sind, wo der Hass zwischen Men
schen jahrhundertelang von einer Generation an die nächste wei
tergegeben wird. Dieses Erlebnis machte mir jedoch auch Hoff
nung, dass wir diesen Fluch aufheben und die Grenzen auflösen
können, die uns voneinander trennen.
Ende der 1960er- bis zu Beginn der 1970er-Jahre wirkte ich
im Maryland-Psychiatric-Research-Center in Baltimore an einem
staatlich geförderten Untersuchungsprojekt mit, in dem wir das
Potenzial der psychedelischen Therapie erforschten. Eines unserer
Teilprojekte im Forschungszentrum war eine Ausbildung für Ange
stellte im psychischen Gesundheitswesen. Sie bot Psychiatern, Psy
chologinnen, Sozialarbeiterinnen und Priestern, die seelsorgerisch
tätig waren, die Möglichkeit, für Ausbildungszwecke bis zu drei
130 Teil 1: Das Mysterium der Synchronizität
Sitzungen mit hochdosiertem LSD zu nehmen. Einer der Teilneh
mer an diesem Projekt war Kenneth Godfrey, ein Psychiater aus
dem Vicar-Apostolic-Hospital in Topeka, Kansas. Ken war eben
falls ein Pionier auf dem Gebiet der psychedelischen Forschung
und führte mit seinen Patientinnen und Patienten entsprechende
Sitzungen durch, doch in seinem Projekt war nicht vorgesehen,
dass er selbst Sitzungen nahm. Ich war bei drei psychedelischen
Sitzungen in unserem Institut sein Begleiter, und auf diese Weise
wurden wir enge Freunde. Ken und seine Frau waren beide ameri
kanische Ureinwohner und der spirituellen Tradition ihres Volkes
sowie den Ältesten ihres Stammes tief verbunden.
Als ich noch in der (damaligen) Tschechoslowakei lebte, hatte
ich von der Kirche der amerikanischen Ureinwohner gelesen, einer
synkretistischen Religion, die indianische und christliche Elemente
miteinander verbindet und deren Sakrament der mexikanische,
psychedelische Peyote-Kaktus ist. Damals bekam ich großes Inte
resse, selbst an einer Peyote-Zeremonie teilzunehmen, um den the
rapeutischen Nutzen psychedelischer Substanzen mit ihrer An
wendung in einem rituellen Rahmen vergleichen zu können. Nach
meinem Eintreffen in den Vereinigten Staaten hatte ich nach einer
solchen Möglichkeit gesucht, bislang aber ohne Erfolg.
Bei unserem Abschlussgespräch nach Kens dritter LSD-Sitzung
fiel mir ein, er könne Kontakte zur Native-American-Church ha
ben und mir helfen, eine Gruppe zu finden, die mir erlaubte, an
ihrer Peyote-Zeremonie teilzunehmen. Ken versprach, bei John
Mitchell nachzuforschen, einem bekannten Potawatomi »Road
Chief« bzw. Leiter heiliger Zeremonien, mit dem er eng befreundet
war. Einige Tage später rief Ken mich an, um mir gute Neuigkeiten
mitzuteilen : John Mitchell lud nicht nur mich als Gast zu seiner
Peyote-Zeremonie ein, sondern bot mir auch an, ich könne noch
weitere Personen aus unserem Team mitbringen.
Am folgenden Wochenende flogen wir zu fünft von Baltimore
nach Topeka. Die Gruppe bestand aus unserer Musiktherapeutin
Eine Lektion in Verzeihen 131
Helen Bonny, ihrer Schwester, dem psychedelischen Therapeuten
Bob Leihy, Walter Houston Clark, Professor für Religionswissen
schaften, und mir. In Topeka mieteten wir uns am Flughafen einen
Wagen und fuhren in die tiefste Prärie von Kansas. Dort standen
mitten im Niemandsland mehrere Tipis (kegelförmiges Indianer
zelt, Anm.d.Ü.) und bildeten den Platz für das Ritual. Die Sonne
ging gerade unter, und das Ritual sollte bald beginnen. Doch bevor
wir uns der Zeremonie anschließen konnten, mussten die anderen
Teilnehmer, alles amerikanische Ureinwohner, uns erst einmal
akzeptieren. Wir mussten uns einer schwierigen Prüfung unterzie
hen, die einer dramatischen Encountergruppe glich.
Von heftigen Emotionen begleitet, konfrontierten uns die Ur
einwohner mit der schmerzlichen Geschichte der Besetzung und
Eroberung von Nordamerika durch weiße Eindringlinge - dem
Massenmord an den amerikanischen Indianern und der Vergewal
tigung ihrer Frauen, der Ausbeutung ihres Landes, dem sinnlosen
Abschlachten des Büffels und vielen weiteren Gräueltaten. Nach
diesem dramatischen Austausch, der ein paar Stunden dauerte,
legte sich der emotionale Aufruhr, und die Indianer bekundeten
einer nach dem anderen ihr Einverständnis mit unserer Teilnahme
an ihrer Zeremonie. Schließlich gab es nur noch eine Person, die
vehement gegen unsere Anwesenheit protestierte. Der Hass dieses
großen, dunklen und mürrischen Mannes auf Weiße war enorm.
Es brauchte einige Zeit und sehr viel Überredungskunst von
seinen Stammesfreunden, die über diese weitere Verzögerung der
Zeremonie nicht besonders glücklich waren, bevor er sich schließ
lich widerstrebend einverstanden erklärte, dass wir uns der Grup
pe anschlossen. Nachdem endlich alles geregelt war, zumindest an
der Oberfläche, versammelte sich die gesamte Gruppe in einem
großen Tipi. Das Feuer wurde entzündet, und das heilige Ritual
begann. Wir nahmen die Peyoteköpfe zu uns und reichten den
Redestab und die Trommel herum. Wer den Stab in den Händen
hielt - so die Sitte der amerikanischen Ureinwohner konnte ein
132 Teil l: Das Mysterium der Synchronizität
Lied singen oder sich persönlich äußern; man konnte ihn aber
auch einfach weitergeben.
Der Mann, der uns nur widerstrebend aufgenommen hatte,
saß mir beleidigt gegenüber und lehnte an der Tipistange. Er strahl
te Wut und Feindseligkeit aus, und es war für die Anwesenden
sichtbar, dass er noch immer grollte. Während alle anderen sich
auf die Zeremonie einließen, blieb er unbeteiligt und distanziert.
Jedes Mal, wenn Stab und Trommel, die im Kreis herumgingen, bei
ihm landeten, reichte er sie ärgerlich weiter. Die Wirkung des
Peyote hatte meine Wahrnehmung der ganzen Situation enorm
geschärft. Dieser Mann wurde zum wunden Punkt in meiner Welt,
und es war für mich geradezu schmerzlich, ihn auch nur anzuse
hen. Der Hass schoss aus seinen Augen wie ein Laserstrahl, der
mich ganz umhüllte und das Tipi erfüllte. Und es schien ihm nicht
weiter schwer zu fallen, während der gesamten Zeremonie an die
ser aufsässigen Haltung festzuhalten.
Der Morgen kam, und kurz vor Sonnenaufgang reichten wir
Stab und Trommel ein letztes Mal im Kreis herum. Dabei hatte jede
und jeder Gelegenheit, ein paar abschließende Worte über ihre
oder seine Erfahrungen und Eindrücke zu sagen. Walter Houstons
Rede war ungewöhnlich lang und sehr emotional. Er brachte seine
tiefe Wertschätzung für die Großzügigkeit unserer amerikanischen
Ureinwohnerfreunde zum Ausdruck, die uns erlaubt hatten, an
ihrer wunderschönen Zeremonie teilzunehmen. Walter betonte vor
allem die Tatsache, dass sie uns trotz all der Gräuel akzeptierten,
die wir ihnen angetan hatten - ihr Land besetzt und gestohlen, ihre
Leute umgebracht, ihre Frauen vergewaltigt, den Büffel abge
schlachtet. An einem Punkt seiner Rede - ich weiß nicht mehr
genau, in welchem Zusammenhang - nahm er auf mich Bezug und
sprach von »Stan, der so weit weg ist von zu Hause und seinem
Geburtsland, der Tschechoslowakei.«
Sowie Walter das Wort »Tschechoslowakei« aussprach, ver
hielt sich der Mann, der aus seinem Ärger über unsere Anwesen
Eine Lektion in Verzeihen 133
heit die ganze Nacht lang keinen Hehl gemacht hatte, plötzlich
höchst merkwürdig. Er sprang auf, raste quer durch das Tipi und
warf sich vor mir auf den Boden. Er drückte seinen Kopf in meinen
Schoß, wobei er laut weinte und schluchzte. Nach etwa zwanzig
Minuten beruhigte er sich, kehrte an seinen Platz zurück und war
imstande zu reden. Er erklärte, er habe am Abend zuvor in uns
allen nur »Bleichgesichter« und damit automatisch Feinde der
amerikanischen Ureinwohner gesehen. Als er Walters Bemerkung
hörte, wurde ihm klar, dass ich, da ich aus der ehemaligen Tsche
choslowakei stammte, mit der Tragödie seines Volkes nichts zu tun
hatte. Die Tschechen waren mit Sicherheit nicht bekannt als Aus
beuter des Wilden Westens. Sein Hass auf mich während der heili
gen Zeremonie war also völlig ungerechtfertigt gewesen.
Der Mann wirkte so verzweifelt, als hätten ihm diese Ereig
nisse das Herz gebrochen. Nach seinen ersten Erklärungen trat
eine lange Stille ein, in der er innerlich heftig mit sich zu ringen
schien. Es war klar, dass er mit seinen anfänglichen Worten noch
nicht alles gesagt hatte. Schließlich war es ihm möglich, uns den
Rest der Geschichte zu erzählen: Im Zweiten Weltkrieg war er zur
amerikanischen Luftwaffe eingezogen worden und hatte sich nur
wenige Tage vor Ende des Krieges an einem ziemlich hinterhältigen
und sinnlosen Luftangriff der Amerikaner auf die tschechische
Stadt Pilsen beteiligt, die bekannt war für ihr weltberühmtes Bier
und die Skoda-Automobilfabrik. Sein Hass auf mich war also nicht
nur ungerechtfertigt, sondern die Rollen zwischen uns waren ge
nau umgekehrt verteilt: Er war der Angreifer und ich das Opfer. Er
war in mein Land eingedrungen und hatte Menschen meines
Volkes getötet. Das war für ihn unerträglich. Er kam noch einmal
zu mir, umarmte mich mehrmals und bat mich um Verzeihung.
Nachdem ich ihm versichert hatte, dass ich keinerlei feindse
lige Gefühle gegen ihn hege, passierte etwas höchst Ungewöhn
liches. Er ging zu meinen Freunden aus Baltimore, die alle Ameri
kaner waren, entschuldigte sich für sein Verhalten vor und während
134 Teil l: Das Mysterium der Synchronizität
der Zeremonie, umarmte sie und bat um Verzeihung. Er sagte,
dieses Ereignis habe ihm gezeigt, dass es für die Welt keine Hoff
nung gäbe, wenn wir weiter an dem Hass festhielten, den die Taten
unserer Vorfahren in uns ausgelöst hatten. Und ihm war klar ge
worden, dass es falsch war, über Rassen, Nationen und Kulturen
Pauschalurteile zu fällen. Wir sollten Menschen nach ihrem Sein
beurteilen und nicht nach ihrer Zugehörigkeit.
Seine Rede war eine würdige Fortsetzung des berühmten
Briefes von Häuptling Seattle an die europäischen Kolonisten. Er
schloss mit den Worten: »Ihr seid nicht meine Feinde. Ihr seid
meine Brüder und Schwestern. Ihr habt mir oder meinem Volk
nichts angetan. All das geschah vor langer Zeit im Leben unserer
Vorfahren. Und es kann tatsächlich sein, dass ich zu der Zeit auf
der anderen Seite stand. Wir alle sind Kinder des Großen Geistes;
wir alle gehören zu Mutter Erde. Unser Planet ist in großen Schwie
rigkeiten, und wenn wir an altem Groll festhalten und nicht Zu
sammenarbeiten, werden wir alle sterben.«
Inzwischen standen den meisten Anwesenden Tränen in den
Augen. Wir alle fühlten uns miteinander und mit der großen
menschlichen Familie tief verbunden. Während am Himmel lang
sam die Sonne aufging, nahmen wir ein zeremonielles Frühstück
zu uns. Es bestand aus den Lebensmitteln, die die ganze Nacht
lang in der Mitte des Zeltes gelegen hatten und durch das Ritual
geweiht worden waren. Dann verabschiedeten wir uns mit langen
Umarmungen widerstrebend voneinander und machten uns auf
den Weg nach Hause.
Mit uns nahmen wir diese unschätzbare Lektion in internatio
naler Konfliktlösung zwischen verschiedenen Rassen, die uns
sicherlich unser Leben lang in eindringlicher Erinnerung bleiben
wird. Diese bemerkenswerte Synchronizität, die wir in einem
außergewöhnlichen Bewusstseinszustand erlebten, nährt meine
Hoffnung, dass irgendwann auf einer größeren Skala eine ähnliche
Heilung in der ganzen Welt möglich sein wird.
Teil 2
Geburt und pränatales Leben erinnern
»Nach uns ziehend Wolkenglanz
und Glorienschein«*
* Eine Zeile aus einem Gedicht von William Wordsworth, Anm.d. Ü.
Teil 2: Geburt und pränatales Leben erinnern 137
u den häufigsten Erfahrungen in holotropen Bewusstseinszu
ständen verschiedenen Ursprungs gehört die psychische
Regression auf Geburtserlebnisse, wobei Menschen mit bemer
kenswerter Intensität noch einmal sämtliche Emotionen, körper
liche Empfindungen, Körperhaltungen und andere Aspekte dieses
Prozesses durchleben. Die Tatsache, dass die Geburt in unserer un
bewussten Psyche einen so starken Eindruck hinterlässt, ist für
konventionelle Psychologen, Psychiater und Neurophysiologen
überraschend, denn es stellt ihre tief verwurzelten Annahmen über
die Grenzen des menschlichen Erinnerungsvermögens in Frage.
Bei näherer Untersuchung zeigt sich jedoch, dass diese Annahmen
auf unbegründeten Überzeugungen beruhen, die in scharfem Wi
derspruch zu den wissenschaftlichen Tatsachen stehen.
Aus traditioneller psychiatrischer Sicht können nur wirklich
schwierige Geburten, die irreversible Schäden in den Gehirnzellen
hinterlassen, psychische und psychopathologische Folgen haben.
Es ist allgemein bekannt, dass längere Phasen von Sauerstoffman
gel bei schwierigen und langen Entbindungen psychiatrische Pro
bleme wie geistige Behinderungen oder Hyperaktivität nach sich
ziehen können. Bestimmte Untersuchungen haben außerdem
nachgewiesen, dass lange, schwierige und komplizierte Geburten,
bei denen es zu häufigen Erstickungszuständen kam, die Tendenz
zu wiederholtem kriminellem Verhalten zur Folge haben können.
Z
138 Teil 2: Geburt und pränatales Leben erinnern
Virusinfektionen der Mutter während der Schwangerschaft und
eine komplizierte Entbindung mit langen Wehen und Sauerstoff
mangel gehören auch zu den wenigen Risikofaktoren für Schizo
phrenie, die konsistent angeführt werden. Doch erstaunlicherweise
interpretieren die meisten akademisch ausgebildeten Psychiater
diese Zusammenhänge ausschließlich mit Verweis auf physische
Gehirnschäden, ohne die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass
prä- und perinatale Verletzungen, ganz gleich, ob mit oder ohne
Beschädigung von Gehirnzellen, ebenfalls starke psychotrauma-
tische Auswirkungen auf das Kind haben können.
Der Gehirnkortex des Neugeborenen ist noch nicht ganz mye-
linisiert, das heißt, seine Neuronen sind noch nicht vollständig
umhüllt von schützenden und fetthaltigen Schichten der Substanz
namens Myelin. Das gilt allgemein als einleuchtender Grund dafür,
dass die Geburt psychologisch irrelevant ist, und das Gedächtnis
diese Erfahrung nicht verzeichnen kann. Die Überzeugung der
Mainstream-Psychiater, dass dem Kind diese extrem schmerzliche
und anstrengende Prüfung nicht bewusst ist und der Geburtspro
zess keine Spuren in seinem Gehirn hinterlässt, widerspricht
jedoch nicht nur klinischen Beobachtungen, sondern auch dem
gesunden Menschenverstand und einer grundlegenden Logik.
Diese Überzeugung lässt sich sicherlich nicht ohne weiteres
mit der Tatsache in Einklang bringen, dass allgemein anerkannte
psychologische und physiologische Theorien dem frühen Aus
tausch zwischen Mutter und Kind große Bedeutung beimessen.
Dazu gehören Faktoren wie der Blickkontakt zwischen Mutter und
Säugling unmittelbar nach der Geburt (»Bonding«), liebevoller
Körperkontakt und die Qualität des Stillens. Es ist hinreichend be
kannt, dass die »Prägung« durch diese frühen Erfahrungen einen
entscheidenden Einfluss auf die künftige Beziehung zwischen Mut
ter und Kind hat und das emotionale Befinden des Kindes sein
ganzes Leben bestimmt. Das Bild vom Neugeborenen als unbe
wusstem, empfindungslosen Organismus steht auch in scharfem
Teil 2: Geburt und pränatales Leben erinnern 139
Widerspruch zu der ständig wachsenden Literatur, in der schon
die bemerkenswerte Sensibilität des Fötus in der pränatalen Phase
beschrieben wird.
Die Verleugnung der Tatsache, dass Menschen ihre Geburt
erinnern, mit dem Argument, der Gehirnkortex des Neugeborenen
sei noch nicht vollständig ausgebildet, macht noch weniger Sinn,
wenn wir bedenken, dass viele weitaus weniger differenzierte Le
bensformen, die überhaupt keinen Gehirnkortex aufweisen, sich
erinnern können.
Geradezu absurd und lächerlich wird die Behauptung, die Er
innerung an die Geburt erfordere einen myelinisierten Neokortex,
wenn wir die Untersuchungen berücksichtigen, für die der schwe
dische Physiologe Eric Kandel im Jahr 2000 den Nobelpreis für
Medizin bekam. Kandel erforschte den Erinnerungsmechanismus
der Meeresschnecke Aplysia, eines Organismus, der nur eine
geringe Anzahl von Nervenzellen besitzt und auf den Entwick
lungsstufen der Evolution viel niedriger anzusiedeln ist als ein neu
geborenes Kind. Außerdem ist aus der Biologie allgemein bekannt,
dass selbst einzellige Organismen bestimmte primitive Formen
eines protoplasmischen Gedächtnisses aufweisen.
Diese offenkundigen logischen Widersprüche sind im Kontext
eines wissenschaftlichen Denkens, das so stolz auf seine logische
Stringenz ist, sicherlich überraschend. Für die oben beschriebenen
Diskrepanzen lässt sich nur schwerlich eine andere Erklärung fin
den als die tiefe emotionale Unterdrückung der Erinnerungen an
die eigene Geburt. Die emotionalen und körperlichen Schmerzen
und der Stress, die mit der Geburt eines Kindes einhergehen, sind
mit Sicherheit größer als bei jedem postnatalen Trauma in der
Kleinkindzeit und Kindheit, das die psychodynamische Literatur
erläutert - mit Ausnahme extremer Formen von körperlichem
Missbrauch. Das macht verständlich, warum Menschen diese Erin
nerungen psychisch so stark unterdrücken und verleugnen.
140 Teil 2: Geburt und pränatales Leben erinnern
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben psychedelische
Forscher und Kliniker viele verschiedene Formen von erlebnisori
entierter Psychotherapie erforscht und auf diesem Weg überzeu
gendes Beweismaterial dafür gesammelt, dass die biologische Ge
burt das tiefste Trauma in unserem Leben und ein Ereignis von
überragender, psychospiritueller Bedeutung ist. Selbst kleinste De
tails dieses Erlebnisses werden in unserem Gedächtnis bis hinunter
zur zellulären Ebene verzeichnet und haben weitreichende Auswir
kungen auf unsere psychische Entwicklung. Haben wir die psy
chischen Widerstände, uns diesem schmerzlichen und erschre
ckenden Aspekt unserer persönlichen Lebensgeschichte zu stellen,
erst einmal überwunden, scheint es nicht nur möglich, sondern
auch höchst logisch, dass unsere unbewusste Psyche ein Ereignis
dieser Größenordnung aufgezeichnet hat, und wir die Erinne
rungen daran ins Bewusstsein bringen und noch einmal durch
leben können.
Wenn die Regression in holotropen Zuständen noch tiefer
reicht, nämlich bis in frühe Stadien des embryonalen Lebens und
sogar bis zum Augenblick der Empfängnis selbst, nehmen die ge
danklichen Herausforderungen, vor die wir gestellt sind, enorm zu.
Je näher wir dem Anfang des Lebens kommen, desto unreifer und
primitiver ist das menschliche Nervensystem, bis es schließlich gar
nicht mehr existiert. Und trotzdem gibt es reichlich empirisches
Beweismaterial für Erinnerungen an die Morgendämmerung un
serer individuellen Existenz. Als einziger Kandidat, der als materi
eller Informationsträger in Frage kommt, bleibt uns dann nur noch
das Zellgedächtnis.
Auf den nächsten Seiten gebe ich aus der psychedelischen
Therapie und aus holotropen Atemsitzungen einige Beispiele dafür,
wie Menschen ihre Geburt, intrauterine Erfahrungen und ihre
Empfängnis noch einmal durchleben.
Eine schwierige Entbindung in der Mittagspause 141
Eine schwierige Entbindung in der Mittagspause
Lenis Geschichte
Um die Privatsphäre meiner Klientinnen und Klienten zu schüt
zen, ändere ich, wie in der psychiatrischen Literatur üblich,
ihre Namen. Bei dieser Geschichte jedoch mache ich eine Ausnah
me, denn ihre Protagonistin, die inzwischen verstorbene Leni
Schwartz, hat sie bereits in ihrem Buch Mit Liebe erwartet. Wir und
unser Baby vor der Geburt (München: Kösel-Verlag 1985, Anm.d.Ü.)
erzählt. Ich lernte Leni und ihren Mann Bob, die später enge und
liebe Freunde von mir wurden, 1971 bei einem meiner Vorträge in
Miami, Florida, kennen. Zu der Zeit, als ich Leni bei ihren LSD-
Sitzungen begleitete, war sie fünfzig Jahre alt und eine hochbegabte
Innenarchitektin. Aufgrund ihrer Erfahrungen in diesen Sitzungen,
die ich gleich beschreiben werde, begann sie mit einem Psycholo
giestudium und machte ihren Doktor in diesem Fach. Ihre Disser
tation mit dem Titel Bonding Before Birth beruhte auf einer langfris
tig angelegten Untersuchung über Paare, deren Entwicklung Leni
in wöchentlichen Gruppensitzungen vom Zeitpunkt der Empfäng
nis ihres Kindes an bis zur Entbindung und der ersten Zeit nach
der Geburt verfolgte.
Eine ihrer Sitzungen mit hochdosiertem LSD versetzte Leni bis
in die Erinnerung an ihre biologische Geburt zurück. Über zwei
Stunden erlebte sie, was ich die zweite perinatale Grundmatrix
nenne, die Einleitungsphase der Entbindung, in der der Uterus
142 Teil 2: Geburt und pränatales Leben erinnern
kontrahiert, der Gebärmutterhals aber noch nicht geöffnet ist (sie
he auch S. 382). Sie gehört zu den schwierigsten Erfahrungen, die
Menschen in einem holotropen Bewusstseinszustand machen kön
nen, und ist mit extremen Herausforderungen verbunden. Im ty
pischen Fall erlebt die betreffende Person große emotionale und
körperliche Qualen und hat das Gefühl, dass es aus dieser nicht
endenwollenden Situation keinen Ausweg gibt. Bei den extremsten
Erlebnissen mit dieser Matrix können Menschen das Gefühl haben,
sich in der Hölle zu befinden, und haben Visionen von Teufeln
und höllischen Unterwelten.
Im späteren Verlauf der Sitzung verlagerten sich Lenis Erfah
rungen zu dem, was ich die dritte perinatale Grundmatrix nenne.
Hier geht es um die nächste Phase der Entbindung, den Kampf des
Fötus im Geburtskanal, nachdem sich der Gebärmutterhals gewei
tet hat. Typisch dafür sind unter anderem gewaltige, aufeinander
prallende Kräfte, Bilder von gewalttätigen, destruktiven und selbst
zerstörerischen Szenen und eigenartige Formen von sexueller Erre
gung, die sich als reiches Spektrum an perversen erotischen Bil
dern manifestieren. Ist diese Phase erfolgreich abgeschlossen,
kulminiert sie in der Erfahrung von psychospirituellem Tod und
Wiedergeburt.
In Lenis Sitzung passierte das jedoch nicht. Nachdem sie lange
darum gekämpft hatte, geboren zu werden, fühlte sie sich plötzlich
umgeben von einer ominösen Dunkelheit, die sie verschluckt hatte
und gefangen hielt. Ihre Hoffnung, sich aus der Umklammerung
des Geburtskanals zu befreien, schwand, und sie befand sich wie
der in einer Situation, aus der sie keinen Ausweg sah. Die Wirkung
der Droge nahm allmählich ab, und Leni hatte zu keiner Lösung
ihrer prekären Lage gefunden. Nach der Sitzung war sie entmutigt
und sah ihr Leben ziemlich düster.
Wir beschlossen, eine Woche zu warten und dann eine weitere
Sitzung zu machen, damit Lenis frustrierende Erfahrung zu einem
klärenden Abschluss fand. Es dauert etwa eine Woche, bis nach der
Eine schwierige Entbindung in der Mittagspause 143
Einnahme von LSD die dadurch bewirkte pharmakologische Tole
ranz gegen eine weitere Dosis der gleichen Substanz abgebaut wor
den ist. Lenis nächste LSD-Sitzung begann erneut mit einer
intensiven Erfahrung der zweiten perinatalen Grundmatrix, ver
bunden mit Gefühlen von Hoffnungslosigkeit und Ausweglosig
keit. Dieses Mal jedoch dauerte diese Phase nicht lange, und wie
von Zauberhand verschwanden Lenis Qualen. Ein goldenes Licht
von ungewöhnlicher, fast göttlicher Leuchtkraft überflutete sie,
begleitet von einem überwältigenden Gefühl der Befreiung und
psychospirituellen Wiedergeburt. Bei dieser Sitzung traten die
Elemente der dritten perinatalen Grundmatrix gar nicht auf. Leni
erlebte einen raschen Übergang von tiefster Verzweiflung und Dun
kelheit zum ekstatischen Entzücken der Wiedergeburt.
Dieser merkwürdige Verlauf der Ereignisse stellte Leni vor ein
Rätsel, und sie beschloss, ihre Mutter anzurufen und über ihre
Geburt zu befragen, um zu verstehen, was da geschehen war. Sie
tat das nur zögerlich, denn ihre Mutter war ziemlich konservativ,
und Leni wusste, dass solche Gespräche nicht einfach für sie wa
ren. Sie hatte zum Beispiel mit Leni vor deren Heirat nie über Se
xualität gesprochen. Und natürlich hatte sie nie ein Wort über ihre
Schwangerschaft mit Leni und deren Geburt fallen lassen. Leni
wagte nicht, ihrer Mutter zu sagen, dass sie eine LSD-Sitzung
genommen hatte; stattdessen sprach sie von einer »hypnotischen
Rückführung«, bei der sie mit einer Erinnerung in Kontakt gekom
men sei, die sich wie ihre Geburt angefühlt habe. Wie wir vorher
vereinbart hatten, teilte sie ihrer Mutter jedoch keine spezifischen
Einzelheiten über den Inhalt ihrer Sitzung mit.
Die Äußerungen ihrer Mutter rückten Lenis Erfahrung in ein
erstaunliches Licht. Sie teilte ihrer Tochter mit, sie sei, da es um
ihre erste Schwangerschaft und Geburt ging, völlig unerfahren
gewesen und habe nicht gewusst, was da auf sie zukomme. Über
rascht und erstaunt nahm sie wahr, wie intensiv dieses Erlebnis
war, aber alles schien gut zu gehen. Und dann geschah etwas Uner
144 Teil 2: Geburt und pränatales Leben erinnern
wartetes. Der Gynäkologe und die Krankenschwester, die ihre Ent
bindung begleiteten, verkündeten plötzlich, es sei Mittagszeit und
sie würden eine Pause machen, um schnell »einen Happen zu
essen«. Der Gynäkologe bat sie, die Beine zu schließen und in die
ser Haltung zu warten, bis sie zurückkamen.
Als gehorsame Patientin protestierte Lenis Mutter nicht gegen
diese Anweisung. Gegen intensive Wehen ankämpfend, presste sie
fest ihre Beine zusammen und wartete auf die Rückkehr ihrer
Betreuer. Als der Arzt und die Schwester von ihrer Mittagspause
zurückkehrten, mussten sie ihr lediglich erlauben, die Beine zu
öffnen. Sowie sie das tat, schoss Leni buchstäblich aus dem Ge
burtskanal ans Tageslicht. Nach dem Telefonat mit ihrer Mutter
berichtete mir Leni von dieser überraschenden Erklärung für den
ungewöhnlichen Verlauf ihrer Sitzungen und bereicherte damit
meine lange Liste von Erinnerungen an die eigene Geburt, die von
unabhängiger Seite bestätigt wurden, um eine weitere.
Der Geruch von frischem Leder 145
Der Geruch von frischem LederKurts Geschichte
as zweite Beispiel stammt aus der holotropen Atemsitzung
von Kurt, einem Psychologen, der an unserem europäischen
Training teilnahm. In der zweiten Hälfte seiner Sitzung regredierte
Kurt bis zu seiner Geburt, die er so intensiv durchlebte, dass fünf
Personen ihn am Boden festhalten mussten, weil er mit seinen
heftigen Bewegungen in den Raum der Leute eindrang, die um ihn
herumlagen. Immer wieder nahm er mit dem Kopf Anlauf und
drehte sich mit spiralförmigen Bewegungen des ganzen Körpers
von der Rücken- in die Bauchlage und wieder zurück. Nach diesen
intensiven Kämpfen endete die Sitzung schließlich mit einem
bemerkenswerten Durchbruch. Kurt fühlte sich wie neugeboren
und emotional befreit.
Beim Gruppengespräch rekonstruierten wir, was in der Sitzung
passiert war. Kurt berichtete, er habe sich zu Beginn der Sitzung
gefühlt wie ein schuppiges, wurmartiges Geschöpf, das gleitende
Bewegungen machte. Plötzlich habe er an seinen Füßen und dem
restlichen Körper etwas wahrgenommen, was er als störend und
beengend empfand. Er wehrte sich dagegen, zunächst nur vorsich
tig, dann aber mit zunehmender Kraft, weil er das sichere Gefühl
hatte, um sein Leben kämpfen zu müssen. Er war fest entschlos
sen, auf keinen Fall aufzugeben, selbst wenn die ganze Welt gegen
ihn war. Mit lautem Gebrüll und heftigen, listigen Bewegungen
kämpfte er verzweifelt gegen seine mächtigen Widersacher an.
D
146 Teil 2: Geburt und pränatales Leben erinnern
Während wir ihn am Boden festhielten, konnte er innere und
äußere Erlebnisse nicht mehr auseinanderhalten, obwohl ich ihm
mehrmals sagte, wir seien nicht seine Feinde, sondern wollten ihm
da durchhelfen. Er brauchte eine Weile, bevor er begriff, was da
passierte, und erkannte, dass er mit diesem Kampf noch einmal
seine Geburt durchlebte. Das Gefühl der Hilflosigkeit löste heftigen
und entschlossenen Widerstand bei ihm aus, an keinem Punkt
jedoch Resignation. Er erzählte uns, dass er sich im täglichen Leben
oft ähnlich verhalte. Nach langen Kämpfen erreichten Kurts hek
tische Bewegungen und sein Gebrüll schließlich einen Höhepunkt
und hörten dann abrupt auf. Er kämpfte jetzt nicht mehr, sondern
ging über in eine Phase tiefer Entspannung.
An diesem Punkt beschloss er, sich hinzusetzen, die Augen zu
öffnen und sich umzuschauen. Ich sagte ihm, es sei dafür noch zu
früh und bat ihn, sich hinzulegen und wieder auf seine inneren
Erfahrungen zu konzentrieren. Plötzlich fiel ihm ein, dass er, wie er
aus Erzählungen wusste, eine Frühgeburt war. Auf diesem Hinter
grund ergab meine Bemerkung, es sei noch zu früh, für ihn einen
Sinn. Er legte sich wieder hin und deckte sich mit einer Decke zu.
Zusammengerollt wie ein Fötus, hatte er das Gefühl, entschädigt
zu werden für die Zeit, die ihm im Mutterleib verlorengegangen
war. Er fand diese Haltung befriedigend und schön und war zufrie
den und glücklich. Plötzlich nahm er zu seiner großen Überra
schung den intensiven und deutlichen Geruch von frischem Leder
wahr. Wieder und wieder stieg ihm dieser Duft in die Nase, was
Kurt äußerst angenehm fand.
Am Ende der Sitzung war Kurt völlig entspannt. Das kannte er
aus seinem sonstigen Leben nicht. Normalerweise fühlte er sich
immer sehr getrieben und genoss es, schwierigen Herausforde
rungen zu begegnen und Krisen zu meistern. Er erzählte der Grup
pe, bislang sei er immer unglücklich gewesen, wenn er in seinem
Leben keine Probleme lösen und keine Widersacher bekämpfen
musste.
Der Geruch von frischem Leder 147
Dann kam er auf den starken und intensiven Geruch von Leder zu
sprechen, der in der Sitzung so wichtig gewesen war. Nach seinem
Gefühl hing dieser Geruch mit dem Zustand angenehmer Entspan
nung zusammen, der für ihn, wie er immer wieder betonte, der
verblüffendste und bemerkenswerteste Aspekt seiner Sitzung war.
Er hatte keine Ahnung, warum es an diesem Punkt nach Leder ge
rochen hatte, und fand die Geschichte äußerst rätselhaft.
Beim Austausch in der Gruppe fragte er mich, ob ich ihm sa
gen könne, warum der Geruch von frischem Leder bei seiner Ge
burt offensichtlich eine so wichtige Rolle gespielt hatte. Ich versi
cherte ihm, frisches Leder oder der entsprechende Geruch sei keine
typische Begleiterscheinung der Geburt, und dieses Phänomen sei
für mich neu. Meine Vermutung war, dass es irgendwie mit den
konkreten Umständen seiner Geburt zusammenhing. Wir kamen
mit diesem Thema jedoch nicht weiter. Da Kurt diese Ungewissheit
nicht ertragen konnte, rief er später am Abend noch seine Mutter
an, um mit ihr über seine Geburt zu sprechen.
Wie sich herausstellte, hatte seine Mutter während ihrer
Schwangerschaft in einem Ledergeschäft gearbeitet. Am Tag seiner
Geburt war sie bis zum späten Abend dort beschäftigt und nähte
Tiroler Lederhosen, die auf ihrem Schoß lagen. Auch sie war hin
sichtlich der Geburt gänzlich unerfahren, denn Kurt war ihr erstes
Kind. Der Geburtstermin war noch nicht herangerückt, und als sie
einen Blasensprung hatte, glaubte sie, sie sei an der Blase erkrankt.
Als ihr klar wurde, was da passierte, war Kurt bereits unterwegs.
Die Entbindung passierte ziemlich schnell, und Kurt kam auf
dem Fußboden neben der unfertigen Lederhose zur Welt, einge
hüllt in den Geruch von frischem Leder, der die Werkstatt erfüllte.
Auch die erste Zeit nach seiner Geburt war eng mit diesem Geruch
verbunden, denn seine Mutter nahm ihre Arbeit an den Lederho
sen kurz nach Kurts Entbindung zu Hause wieder auf. Dieses wich
tige Detail überzeugte sowohl Kurt als auch die Gruppe davon,
dass sein Geburtserlebnis eine authentische Erinnerung war.
148 Teil 2: Geburt und pränatales Leben erinnern
Der Anblick der alten EicheAnne-Maries Geschichte
er dritte Bericht über eine Geburtserfahrung ist sogar noch
ungewöhnlicher als die ersten beiden, denn er verweist auf
die Möglichkeit, dass visuelle Wahrnehmungen der Mutter an den
Fötus weitervermittelt werden können. Er handelt von Anne-Marie,
einer dreißigjährigen Anthropologin, die in einer LSD-Sitzung mit
hoher Dosierung ihre Geburt noch einmal erlebte. Auch wenn wir
generell empfehlen, in den Sitzungen zu liegen, verspürte sie den
unwiderstehlichen Drang, aufzustehen und schnell im Zimmer hin
und her zu laufen. Eine Weile lachte sie auch übermütig und un
kontrolliert, ohne zu wissen warum. Als sie sich dann schließlich
hinlegen konnte, steuerte ihre Erfahrung sehr schnell auf einen
Höhepunkt zu, und Anne-Marie erlebte den Augenblick ihrer
Geburt. Beim Hervorkommen aus dem Geburtskanal sah sie eine
wunderschöne, riesige Eiche.
Das alles ergab nicht viel Sinn, und wie viele andere, die beim
Wiedererleben ihrer Geburt auf spezifische Details stießen, be
schloss auch Anne-Marie, ihre Mutter anzurufen, um herauszufin
den, wie ihre Entbindung verlaufen war. Anne-Marie stammte aus
einer sehr konservativen Familie. Ihre Mutter war äußerst purita
nisch eingestellt und hatte Gespräche über Sexualität immer ver
mieden. Es war das erste Mal, dass sie über Anne-Maries Geburt
sprachen. Obwohl ihre Mutter zögerte, zu sehr ins Detail zu gehen,
warf ihr Bericht ein interessantes Licht auf Anne-Maries LSD-Sit-
D
Der Anblick der alten Eiche 149
zung. Die Mutter erzählte, dass sie im Kreißsaal sehr ängstlich und
nervös gewesen sei und den Drang verspürte habe, ständig hin und
her zu laufen, um ihre Anspannung zu bewältigen. Sie bestätigte
auch, dass der Arzt ihr eine hohe Dosis Stickoxydul gegeben hatte,
das auch als »Lachgas« bekannt ist, weil es unkontrolliertes Ge
lächter auslöst.
Die Entbindung ging nur schleppend voran, und die Mutter
hörte das Gespräch von zwei Praktikanten mit an, von denen der
eine sagte: »Diese Mutter kann nicht pressen. Besser, sie lernt das
möglichst schnell, sonst verliert sie ihr Kind noch.« Da geriet sie in
Panik und beschloss, mit aller Kraft zu pressen. An dem Punkt
kam ihr plötzlich eine lebhafte Erinnerung aus ihrer Kindheit in
den Sinn. Als kleines Mädchen hatte sie viel Zeit bei einer wunder
schönen Eiche verbracht, die in unmittelbarer Nähe ihres Eltern
hauses stand. Oft lag sie unter dem Baum und stemmte ihre Beine
gegen den Stamm. Während sie in ihrer letzten Wehenphase
presste, stellte sie sich vor, es mit ihren Beinen genauso zu machen,
wie sie es als Kind schon immer bei der Eiche getan hatte.
Diese Mutter hatte sich also genau in dem Augenblick, als
Anne-Marie geboren wurde, eine Eiche vorgestellt; und das gleiche
Bild tauchte auf, als Anne-Marie ihre Geburt noch einmal durch
lebte. Wenn wir uns große Mühe geben, fallen uns vielleicht mate
rialistische Erklärungen dafür ein, dass Anne-Marie bei diesem Er
lebnis unkontrolliert lachen und hin und her rennen musste. Die
Übertragung des inneren Bildes der Eiche von der Mutter auf die
Tochter legt jedoch die Vermutung nahe, dass wir für Geburtserin
nerungen nach einem völlig anderen Mechanismus Ausschau hal
ten müssen - einem, der kein materielles Substrat erfordert.
150 Teil 2: Geburt und pränatales Leben erinnern
Pränataler Besuch des Jahrmarkts im Dorf
Richards Geschichte
ie nächste Geschichte führt uns zeitlich noch weiter zurück bis
zu einer fortgeschrittenen Schwangerschaft in der Phase un
mittelbar vor der Entbindung. Sie handelt von Richard, einem
klugen und attraktiven jungen Mann, der auf die offene Station des
psychiatrischen Forschungsinstituts in Prag überwiesen wurde,
weil er an schweren, chronischen Depressionen litt. Er hatte meh
rere Selbstmordversuche unternommen und versucht, sich mit
hohen Dosen von Östrogen selbst zu kastrieren, um seine starken
homosexuellen Impulse zu bekämpfen. Nach einer erfolglosen
Therapie mit konventionellen psychiatrischen Methoden bewarb
er sich freiwillig um eine Behandlung in unserem psychedelischen
Therapieprogramm.
In einer seiner Sitzungen machte Richard ganz offensichtlich
eine authentische intrauterine Erfahrung. Sein körperliches Er
scheinungsbild veränderte sich dabei völlig. Er wurde zum Fötus
und sah ganz anders aus als der erwachsene junge Mann. Er fühlte
sich sehr klein und empfand seinen Kopf im Vergleich zu seinem
Körper und seinen Extremitäten als unverhältnismäßig groß. Er
hatte das Gefühl, im Fruchtwasser zu schwimmen und mit seiner
Mutter über Plazenta und Nabelschnur verbunden zu sein. Er
nahm wahr, wie das Blut zwischen ihnen zirkulierte und Nahrung
in seinen Körper beförderte, die ihn am Leben erhielt. Diese Vor
D
Pränataler Besuch des Jahrmarkts im Dorf 151
gänge waren verbunden mit dem seligen Gefühl der symbiotischen
Verschmelzung mit seiner Mutter. Das Blut, das zwischen ihnen
floss, empfand er als mysteriöse und magische Flüssigkeit, die ein
heiliges Band zwischen ihnen schuf.
Während all dieser Erlebnisse vernahm er deutlich zwei ver
schiedene Herzschläge mit unterschiedlichen Frequenzen, die zu
einem einzigen wellenförmigen, akustischen Muster verschmolzen
und von merkwürdigen Geräuschen begleitet waren. Nach einiger
Überlegung erkannte er, dass letztere durch das Blut verursacht
wurden, das durch die Beckenarterien seiner Mutter schoss. Gele
gentlich hörte er auch hohle und röhrende Geräusche, die offen
sichtlich auf die Bewegung der Gase und Flüssigkeiten in den
Gedärmen direkt neben dem Uterus zurückgingen. Aufgrund die
ser und anderer differenzierter Erlebnisse kam er mit Hilfe seiner
erwachsenen Urteilskraft zu der Schlussfolgerung, dass er ein reifer
Fötus im fortgeschrittenen Stadium der Schwangerschaft kurz vor
der Entbindung war.
Plötzlich wurde er in seinem friedlichen, seligen Zustand durch
merkwürdige Geräusche aus der Außenwelt gestört. Sie hatten
einen seltsam hallenden Klang, als würden sie in einem weitläu
figen hohen Raum ertönen oder durch eine Schicht von Wasser zu
ihm dringen, und erinnerten ihn an spezielle Klangeffekte, wie die
moderne Tontechnik sie für bestimmte Aufnahmen mit elektro
nischen Mitteln erzeugt. Schließlich gelangte er zu dem Schluss,
dass die Bauch- und Uteruswand und das Fruchtwasser, in dem
der Fötus trieb, alle Geräusche von außen derartig verfremdeten.
Eine Zeitlang bemühte er sich herauszufinden, woher die Ge
räusche stammten und wer oder was sie erzeugte. Nach einer Wei
le konnte er zwei getrennte Geräusche ausmachen, die sich ver
mischten. Bei dem einem handelte es sich eindeutig um menschliche
Stimmen, die sich zuriefen und lachten. In regelmäßigen Abstän
den mischten sich weitere Klänge darunter, die offensichtlich von
Trompeten stammten. Plötzlich kam ihm ein Gedanke: Das muss
152 Teil 2: Geburt und pränatales Leben erinnern
ten die Geräusche des Jahrmarkts sein, der zwei Tage vor seinem
Geburtstag in seinem Heimatdorf immer stattfand. Als er all diese
verschiedenen Puzzlestücke erst einmal zusammengesetzt hatte,
wurde ihm klar, dass seine Mutter diesen Jahrmarkt im fortge
schrittenen Stadium der Schwangerschaft besucht haben musste.
Als ich Richards Mutter nach den Umständen seiner Geburt
befragte, ohne ihr von seiner LSD-Erfahrung zu erzählen, berichte
te sie mir unter anderem ganz unaufgefordert folgende Geschichte:
Im relativ eintönigen Alltag ihres Heimatdorfes war der Jahrmarkt
eins der wenigen aufregenden Ereignisse. Obwohl sie hochschwan
ger war, wollte sie sich ihn um nichts in der Welt entgehen lassen.
Trotz der eindringlichen Einwände und Warnungen ihrer Mutter
verließ sie das Haus, um an den Festlichkeiten teilzunehmen. Laut
Bericht ihrer Verwandten waren der Lärm und Tumult des Jahr
markts dafür verantwortlich, dass die Wehen bei ihr verfrüht ein
setzten. Richard sagte, er habe von dieser Geschichte noch nie
gehört, und seine Mutter konnte sich nicht erinnern, sie ihm jemals
erzählt zu haben.
Das Spermarennen gewinnen 153
Das Spermarennen gewinnenErfahrungen mit der zellulären Ebene
des Bewusstseins
Wenn wir zeitlich noch weiter zurückgehen, werden die Be
richte über pränatale Erfahrungen in holotropen Bewusst
seinszuständen immer phantastischer und unglaublicher. Und
doch vermitteln sie uns manchmal neue Informationen, die später
verifiziert werden können. Ich weiß noch, wie ich einmal bei einer
Konferenz der »Association of Pre- and Perinatal Psychology« (Ver
ein für Prä- und Perinatale Psychologie, Anm.d.Ü.) in San Diego,
Kalifornien, einen faszinierenden Bildvortrag des australischen
Therapeuten Graham Farrant besuchte. Er zeigte unter anderem
Videoaufnahmen von seiner Sitzung in Primärtherapie, bei der er
seine Empfängnis wiedererlebte.
Zu seiner Überraschung machte Graham in seiner Sitzung die
Erfahrung, dass er als Spermium nicht, wie es die Medizin in jener
Zeit lehrte, die passive Eizelle attackierte und in sie eindrang, son
dern dass das Ovum an der Vereinigung aktiv mitwirkte, indem es
eine Verlängerung seines Zytoplasmas aussandte und ihn ver
schlang. Das Videotape über seine Sitzung zeigte auf einer geteilten
Leinwand die ersten Filmaufnahmen, die von einer menschlichen
Empfängnis jemals gemacht wurden. Aufgenommen hatte sie vier
Jahre nach seinen Erlebnissen Lennart Nilsson mit Hilfe eines Elek
tronenmikroskops im Karolinska-Institut in Stockholm. Während
Graham mit Hilfe des Videotapes seine Erfahrungen beschrieb,
154 Teil 2: Geburt und pränatales Leben erinnern
konnten wir gleichzeitig sehen, wie Nilssons Film seine erlebnisbe
dingten Einsichten bestätigte.
Im folgenden gebe ich einen Auszug aus dem Protokoll einer
Sitzung mit hochdosiertem LSD wieder, die ein junger Psychiater
machte, der überzeugend beschreibt, wie er sich auf der zellulären
Ebene des Bewusstseins mit Ei und Spermium identifiziert. Nach
der Erfahrung des Spermarennens und der Vereinigung der beiden
Keimzellen bei der Empfängnis erlebte er noch einmal die Zell
teilungen des befruchteten Eis und die vollständige Entwicklung
des Embryos zum reifen Fötus:
»Mein Bewusstsein wurde immer undifferenzierter, und das Bild
meines Körpers veränderte sich radikal. Offensichtlich wurde ich
zu einem primitiven Organismus, vergleichbar einer Amöbe. Ich
verspürte eine merkwürdige Aufregung, die mit nichts vergleichbar
war, was ich in meinem Leben jemals empfunden hatte. Mir wurde
klar, dass ich an einem hektischen Superrennen teilnahm und da
bei irgendwelchen chemischen Botschaften folgte, die unwider
stehlich verlockend waren. Ein Teil von mir, der etwa dort angesie
delt war, wo sich sonst meine Wirbelsäule befand, erzeugte
rhythmische Pulsschläge, die mich durch Raum und Zeit einem
unbekannten Ziel entgegenschleuderten. Ich hatte nur vage Vor
stellungen von meinem Bestimmungsort, aber die Mission war of
fensichtlich von höchster Wichtigkeit. Nach einiger Zeit wurde mir
überraschend klar, dass ich ein Spermatozoid geworden war und
die mysteriösen, regelmäßigen Pulsschläge auf dessen Schrittma
cher zurückgingen. Sie stimulierten eine lange Geißel, die sich
wellenförmig bewegte und mich vorwärtsschleuderte.
Mit Hilfe meines erwachsenen Verstandes kam ich zu dem
Schluss, dass das Ziel, das ich so eifrig verfolgte, darin bestand,
zum Ei zu gelangen und es zu befruchten. Trotz der Tatsache, dass
dieses Szenario meinem wissenschaftlichen Denken absurd und
lächerlich vorkam, konnte ich der Verlockung nicht widerstehen,
Das Spermarennen gewinnen 155
mich auf dieses Rennen mit großer Ernsthaftigkeit und unter Ein
satz all meiner Kräfte einzulassen. Während ich mich als Sperma-
zoid im Wettrennen um das Ei erlebte, war ich mir der Komplexität
aller beteiligten Faktoren bewusst. Was da geschah, trug sämtliche
grundlegenden Züge des physiologischen Prozesses der mensch
lichen Befruchtung, wie er an den medizinischen Hochschulen ge
lehrt wird. Es enthielt jedoch noch viele zusätzliche Dimensionen,
die mein intellektuelles Wissen über diese Vorgänge bei weitem
übertrafen und auch über das hinausgingen, was ich mir mit Hilfe
meiner Phantasie in meinem gewöhnlichen Bewusstseinszustand
dazu hätte ausmalen können.
Die Spermazelle, zu der ich geworden war, stellte offensicht
lich einen komplizierten Mikrokosmos dar, ein ganzes Universum
für sich. Ich spürte die biochemischen Prozesse im Zellkernplasma
und stellte mir die Chromosomen und selbst die molekulare Struk
tur der DNA vor. Die ursprüngliche archetypische Struktur der
DNA-Moleküle war durchsetzt von holographischen Bildern der
verschiedensten Lebensformen. Die physiochemischen Konfigura
tionen schienen eng verbunden zu sein mit ursprünglichen phylo
genetischen Prägungen, Erinnerungen an Vorfahren, Mythen und
archetypische Bilder, die alle zusammen in ein und derselben un
endlich komplexen Matrix existierten. Biochemie, Genetik, Natur
geschichte und Mythologie schienen untrennbar miteinander ver
knüpft zu sein und waren lediglich verschiedene Aspekte ein und
desselben vielschichtigen kosmischen Gewebes.
Das Spermarennen schien auch von äußeren Kräften gesteuert
zu werden, die sein Ergebnis bestimmten. Ich spürte, dass sie mit
der Geschichte und mit den Sternen zusammenhingen, und schloss
daraus, dass es sich dabei um mysteriöse karmische und astrolo
gische Einflüsse handelte.
An einem Punkt dieses Rennens identifizierte ich mich auch
mit der Eizelle. Mein Bewusstsein oszillierte und wechselte zwi
schen dem eines Spermiums, das auf sein Bestimmungsziel zueilte,
156 Teil 2: Geburt und pränatales Leben erinnern
und dem eines Eis in der vagen, aber starken Erwartung eines Er
eignisses, das höchst wünschenswert und wichtig war. Die Aufre
gung über dieses Rennen wuchs mit jeder Sekunde, und sein hek
tisches Tempo steigerte sich dermaßen, dass es dem Flug eines
Raumschiffs glich, das sich in Lichtgeschwindigkeit seinem Ziel
näherte. Dann kam der Höhepunkt in Form einer triumphalen Im
plosion und der ekstatischen Verschmelzung des Spermiums mit
dem Ei. An diesem Punkt kamen die beiden gespaltenen Einheiten
des Bewusstseins zusammen, und ich war beide Keimzellen auf
einmal.
Merkwürdigerweise schien sowohl das Spermium als auch die
Eizelle ein und dasselbe Ereignis als individuellen Erfolg und ge
meinsamen Triumph zugleich zu erleben. Beide hatten ihre Missi
on erfüllt - das Spermium hatte das Ovum erreicht und war darin
eingedrungen, und das Ovum hatte das Spermium empfangen und
sich einverleibt. Ein einziger Akt, an dem zwei beteiligt waren,
führte zum Sieg und zur totalen Befriedigung beider. Ich empfand
diese Situation, in der beide nur gewinnen konnten, als ideales
Modell - nicht nur für das Zusammenwirken des Männlichen und
des Weiblichen in der Sexualität von erwachsenen Menschen, son
dern auch für zwischenmenschliche Beziehungen generell. Die
Aufgabe bestand offenbar darin, die Umstände so zu gestalten, dass
alle beteiligten Parteien am Ende zufrieden waren und das positive
Erlebnis als persönlichen Erfolg erlebten.
Nach der Verschmelzung der Keimzellen ging meine Erfah
rung im raschen Tempo des Spermarennens weiter. In verdichteter
und äußerst beschleunigter Form durchlebte ich die vollständige
Embryogenese, die auf die Empfängnis folgt, vom befruchteten Ei
über die ersten Zellteilungen, Morula, Blastula und weiter bis zum
voll entwickelten Fötus. Ich war mir des damit verbundenen bio
chemischen Prozesses, der Zellteilungen und des Gewebewachs
tums voll bewusst. Es gab zahlreiche Aufgaben zu bewältigen, He
rausforderungen zu bestehen und kritische Phasen zu überwinden.
Das Spermarennen gewinnen 157
Ich beobachtete und erlebte die Differenzierung von Gewebe und
die Herausbildung neuer Organe. Ich wurde zu den Kiemenbögen,
dem pulsierenden Herzen des Embryos, den Säulen der Leberzel
len, den Schleimhäuten der Gedärme und vielen anderen Teilen
des sich entwickelnden Organismus. Das explosionsartige Wachs
tum des Embryos setzte enorme Kräfte frei und ein intensives gol
denes Licht. Ich hatte das Gefühl, die biochemische Energie zu er
leben, die das rasche Wachstum von Zellen und Gewebe bewirkt.
An einem bestimmten Punkt wusste ich sicher, dass ich meine
fötale Entwicklung abgeschlossen hatte. Auch das erlebte ich als
eine große Errungenschaft - als individuellen Erfolg, der zugleich
ein Triumph der schöpferischen Kraft der Natur war.
Als ich in meinen gewöhnlichen Bewusstseinszustand zurück
kehrte, war ich überzeugt, dass diese Erfahrung nachhaltige und
dauerhafte Auswirkungen auf meine Selbstachtung haben würde.
Ganz gleich, wie mein Leben weiter verlaufen würde, zwei außer
ordentliche Meisterstücke hatte ich bereits geschaffen, einfach da
durch, dass ich meine Inkarnation vollbrachte: Ich hatte ein Ren
nen gewonnen, an dem sich Hunderte Millionen von Konkurrenten
beteiligten, und die schwierige Aufgabe der Embryogenese erfolg
reich abgeschlossen. Auch wenn der Wissenschaftler in mir sich
über diese einfältigen Gedanken amüsierte und herablassend darü
ber lächeln mochte, die damit verbundenen Emotionen waren
stark und überzeugend.«
Wiederholungsbesuche in der Geschichte
Die Reichweite des mensch
lichen Gedächtnisses
Teil 3
Teil'3: Wiederholungsbesuche in der Geschichte 161
obald ich mir klar gemacht hatte, dass wir in holotropen Be
wusstseinszuständen tatsächlich Zugang zu Erinnerungen an
unsere biologische Geburt und unser Leben als Embryo bekom
men, stand ich vor einer noch grundlegenderen gedanklichen
Herausforderung. Viele meiner Klientinnen und Klienten berichte
ten, sie hätten in psychedelischen Sitzungen Ausschnitte aus dem
Leben ihrer Vorfahren erlebt, die noch weiter zurückreichten als
der Zeitpunkt ihrer eigenen Empfängnis. Manche erlebten auch
Ereignisse, die sich in anderen historischen Zeiten und fremden
Gegenden abspielten, ohne das Gefühl zu haben, dass es zwischen
ihnen und den Protagonisten dieser Szenen eine biologische Ver
bindung gab. Bei ihren Erlebnissen identifizierten sie sich oft mit
Menschen, die anderen Rassen und Nationen angehörten.
Diese Erinnerungen an Vorfahren, Rasse und Kollektiv ent
hielten oft präzise historische und kulturelle Informationen, die
über das konkrete intellektuelle Wissen der Menschen, die sie
erlebten, weit hinausgingen. Die Betreffenden lieferten korrekte
Beschreibungen mit vielen spezifischen Details von Kostümen,
Waffen, Architektur, Ritualen und anderen Aspekten der histo
rischen Etappen und Länder, in denen sie sich aufhielten. All das
schien darauf hinzuweisen, dass diese Erfahrungen keine Phanta
sieprodukte oder eine symbolische Verarbeitung aktueller Pro
bleme waren, wie Mainstream-Psychiater meistens annehmen,
S
i62 Teil 3: Wiederholungsbesuche in der Geschichte
sondern einzigartige und faszinierende Phänomene sui generis, also
besonderer Art. Diese Beobachtungen waren starkes Beweismateri
al für die Existenz eines kollektiven Unbewussten, wie C.G. Jung
es beschrieben hat.
Zur Einschätzung dieser Erfahrungen und für den Nachweis
ihrer Authentizität war eine Bestätigung des so vermittelten Wis
sens erforderlich. Wir mussten aufzeigen können, dass meine Kli
entinnen und Klienten es nicht auf dem üblichen Informationsweg
erworben hatten. Das war natürlich keine leichte Aufgabe. Viele
der geschilderten Ereignisse hatten vor langer Zeit und in fremden
Ländern stattgefunden. Manchmal waren die Informationen, die
diese Schilderungen enthielten, nicht konkret oder präzise genug.
Andere waren sehr genau und detailliert, doch gab es kein Archiv
material oder andere Quellen, die uns helfen konnten, sie zu über
prüfen. Doch ab und zu kam es vor, dass eine dieser Erfahrungen
sämtliche Kriterien für ihre Verifizierung erfüllte - klare, eindeu
tige Informationen, angemessene Quellen für die Überprüfung
ihrer Richtigkeit von unabhängiger Seite und die Garantie, dass das
Individuum zu den entsprechenden Informationen nicht auf
üblichem Wege gelangt war. Im Folgenden schildere ich ein paar
Beispiele für einige bemerkenswerte Fälle dieser Art, die mir im
Laufe der Jahre begegnet sind.
Ein Erlebnis aus dem russisch-finnischen Krieg 163
Ein Erlebnis aus dem russischfinnischen Krieg
Ingas Geschichte
Die erste dieser Geschichten handelt von Inga, einer jungen
Frau aus Finnland, die in Stockholm einen unserer Work
shops besuchte. Ihre holotrope Atemsitzung ging sehr tief und
kreiste um ihre biologische Geburt. Als sie den Kampf im Geburts
kanal noch einmal durchlebte, die Entbindungsphase, die ich (wie
schon erwähnt) als dritte perinatale Grundmatrix bezeichne, er
weiterte sich ihre Erfahrung, und Inga sah Szenen, in denen es um
Aggression und um das Töten in verschiedenen Formen von Krieg
ging. Dieses parallele Auftauchen von perinatalen Erfahrungen und
Bildern der Gewalt aus dem kollektiven Unbewussten ist typisch
und kommt häufig vor. Eine der Szenen in Ingas Sitzung war je
doch ungewöhnlich und unterschied sich deutlich von den anderen.
Inga erlebte sich als jungen Soldaten, der an einer Schlacht des
Krieges zwischen Russland und Finnland teilnahm, der zu Beginn
des Zweiten Weltkriegs stattfand, vierzehn Jahre vor ihrer Emp
fängnis. Zu ihrer großen Überraschung wurde ihr plötzlich klar,
dass sie tatsächlich ihr eigener Vater war und diese Schlacht aus
seiner Sicht erlebte. Sie war völlig mit ihm identifiziert und spürte
seinen Körper, seine Emotionen und seine Gedanken. Sie konnte
auch ganz deutlich wahrnehmen, was in ihrer unmittelbaren Um
gebung passierte. Als sie/er sich einmal im Wald hinter einer Birke
versteckte, streifte eine Kugel ihre/seine Wange und ihr/sein Ohr.
Diese Erfahrung war extrem lebendig, authentisch und faszinie
rend. Inga wusste nicht, woher sie stammte und was sie damit an
fangen sollte. Rational war ihr klar, dass ihr Vater am russisch
finnischen Krieg teilgenommen hatte, war aber sicher, dass er über
dieses spezielle Erlebnis nie gesprochen hatte. Nachdem sie sich
mit der Gruppe über ihre Erfahrungen ausgetauscht hatte, gelangte
sie zu dem Schluss, dass es sich hier um ein tatsächliches Ereignis
aus dem Leben ihres Vaters handeln musste, und beschloss, telefo
nisch mehr darüber herauszufinden.
Als Inga nach dem Telefonat mit ihrem Vater in die Gruppe
zurückkehrte, war sie sehr aufgeregt und fast ehrfürchtig. Ihr Vater
war total erstaunt, als sie ihm am Telefon von ihrer Erfahrung er
zählte. Alles, was sie erlebt hatte, war ihm im Krieg tatsächlich pas
siert, und ihre Beschreibungen dieser Szene und der Umgebung
einschließlich der Birke trafen absolut zu. Er bestätigte auch, dass
er über dieses Ereignis nie mit ihr oder anderen Familienmitglie
dern gesprochen hatte, weil er nicht so schwer verletzt worden war,
dass er dieses Erlebnis besonders erwähnenswert fand.
164 Teil 3: Wiederholungsbesuche in der Geschichte
Das kleine Mädchen mit der weißen Schürze 165
Das kleine Mädchen mit der weißen Schürze
Nadjas Geschichte
Das zweite Beispiel handelt von der Erinnerung einer Vorfahrin
aus einer Zeit, die noch weiter zurückliegt als Ingas Erlebnis
mit ihrem Vater. Nadja, eine fünfzigjährige Psychologin, erlebte in
ihrer LSD-Sitzung eine sehr realistische Szene aus der frühen Kind
heit ihrer Mutter. Zu ihrem großen Erstaunen wurde sie plötzlich
zu ihrer Mutter als kleines Mädchen im Alter von 3 oder 4 Jahren,
das ein steifes Sonntagskleid trug und sich unter einer Treppe ver
steckte. Die Kleine hielt sich mit der Hand den Mund zu und war
ängstlich und einsam wie ein verschrecktes Tier. Sie hatte gerade
etwas gesagt, das aus der Sicht der Erwachsenen eine Frechheit
war, und sie hatten das Kind streng ermahnt. An Einzelheiten
konnte sie sich nicht erinnern, aber ihr war schmerzlich bewusst,
dass gerade etwas sehr Unangenehmes und Beängstigendes pas
siert war.
Aus ihrem Versteck überblickte sie eine Szene mit vielen Ver
wandten - Tanten und Onkeln -, die in altmodischen Kleidern,
wie sie für die damalige Zeit (zu Beginn des 20. Jahrhunderts) ty
pisch waren, auf der Veranda eines Fachwerkhauses saßen. Offen
sichtlich waren alle ins Gespräch vertieft, und niemand beachtete
sie. Sie hatte das Gefühl, alles falsch gemacht zu haben, und fühlte
sich von den übertriebenen Ansprüchen der Erwachsenen völlig
überfordert. Sie sollte ein gutes Mädchen sein, sich benehmen, das
i66 Teil 3: Wiederholungsbesuche in der Geschichte
Richtige sagen und sich nicht schmutzig machen. Es schien ihr un
möglich, die Erwachsenen jemals zufriedenzustellen. Sie fühlte
sich ausgeschlossen und geächtet und schämte sich sehr.
Neugierig geworden auf das, was da passiert war, wandte sich
Nadja nach der Sitzung an ihre Mutter, um entsprechende Einzel
heiten aus deren Kindheit zu erfahren, ein Thema, über das die
beiden bislang nie gesprochen hatten. Nadja wollte ihrer konserva
tiven Mutter, die das bestimmt missbilligt hätte, nicht sagen, dass
sie eine LSD-Sitzung genommen hatte. Stattdessen erzählte sie ihr,
sie habe von der Kindheit der Mutter geträumt und wolle wissen,
ob wirklich passiert sei, was sie da im Traum gesehen habe. Kaum
hatte sie mit ihren Beschreibungen angefangen, unterbrach ihre
Mutter sie und erzählte weiter. Ihr Bericht stimmte völlig überein
mit Nadjas inneren Erlebnissen. Die Mutter fügte noch viele Ein
zelheiten aus ihrer Kindheit hinzu, die Nadjas Erfahrungen in der
LSD-Sitzung logisch ergänzten.
Sie vertraute Nadja an, wie autoritär und streng ihre eigene
Mutter (Nadjas Großmutter) gewesen sei, und schilderte die über
triebenen Forderungen ihrer Mutter an sie in Bezug auf Sauberkeit
und anständiges Verhalten. Diese Ansprüche waren gebündelt ent
halten im Lieblingsspruch ihrer Mutter: »Kleine Kinder sollten zu
sehen, aber nicht zu hören sein.« Nadjas Mutter betonte, wie ein
sam sie sich in ihrer Kindheit immer gefühlt habe, da sie neben
zwei viel älteren Brüdern das einzige Mädchen war, und wie sehr
sie sich nach Spielgefährtinnen gesehnt habe. Wie ihre Mutter er
zählte, lud Nadjas Großmutter sonntags oft die Verwandtschaft zu
einem Familientreffen ein und kochte für alle. Sie beschrieb das
Haus genau so, wie Nadja es in ihrer LSD-Sitzung vor sich gesehen
hatte, und erwähnte auch die große Veranda und die Treppe, die
zu ihr führte. Auch die Kleider mit den steifen weißen Schürzen,
die für ihre Kindheit so typisch waren, beschrieb die Mutter. Es gab
von dieser Szene keine Familienfotos, und das Haus war lange
vor Nadjas Geburt abgerissen worden.
Erinnerungen der geraubten Generationen zurückbringen 167
Erinnerungen der geraubten Generationen zurückbringen
Mariannes Geschichte
Beim dritten Beispiel für persönliche Erfahrungen mit Erinne
rungen aus dem Leben der Vorfahren geht es um eine Famili
engeschichte, die mehrere Generationen zurückreicht. Erforscht
hat sie Marianne Wobcke, eine australische Hebamme, die unser
Training für Holotropes Atmen und Transpersonale Psychologie
mit Abschluss absolvierte und diese Arbeit schließlich selbst prak
tizierte. Ich nenne hier ihren tatsächlichen Namen, denn Marianne
hat ihre Geschichte im Juni 2004 bei der 16. Internationalen Trans
personalen Konferenz in Palm Springs, die ich zusammen mit
Christina organisierte, bereits selbst öffentlich vorgetragen.
Mariannes erstaunliche Ahnenforschung begann an ihrem 13.
Geburtstag. An diesem Tag erfuhr sie von ihren Eltern, dass sie ein
Adoptivkind war. Als sie dieses Geheimnis in der Schule preisgab,
verspotteten die anderen Kinder sie, und Marianne beschloss, es
nie wieder zu erwähnen. Später grübelte sie auch darüber nach,
warum so viele ihrer Träume und Alpträume sowie ihre Erlebnisse
mit magischen Pilzen und LSD, die sie als Jugendliche und als
Zwanzigjährige hatte, von australischen Aborigines handelten.
Ernsthaft nachzudenken begann sie über die Tatsache, dass sie ein
Adoptivkind war, jedoch erst, als sie bei ihrer Arbeit als Hebamme
eine Erfahrung machte, die mit sehr intensiven Gefühlen verbun
den war.
168 Teil 3: Wiederholungsbesuche in der Geschichte
Im April 1991 begann Marianne im Toowoobma-Base-Hospital
ihre Ausbildung zur Hebamme. Bei ihrer ersten Entbindung be
treute sie eine Vollblut-Aboriginefrau aus dem australischen Wes
ten, die nach einer Vergewaltigung schwanger geworden war. Ma
rianne war als Hebammenschülerin begeistert bei der Sache und
stürzte sich so eifrig darauf, diese Frau zu unterstützen, dass sie
immer wieder deren Grenzen verletzte. Nicht vertraut mit der Tra
dition der australischen Aborigines, versuchte sie unter anderem
Blickkontakt mit ihr aufzunehmen, was für Vollblut-Aborigines ein
Tabu ist.
Um sich zu schützen, drehte die Frau Marianne den ge
krümmten Rücken zu und bedeckte Nase und Gesicht mit den
Händen. Sie reagierte auch negativ auf Mariannes Geruch. Für sie
stank Marianne so sehr nach Seife und Parfüm, dass ihr davon übel
wurde. Schließlich erfasste Marianne die Situation intuitiv. Sie
hockte sich in respektvollem Abstand zu der entbindenden Frau
hin und gewährte ihr das Privileg, ihr Kind in Ruhe und ohne Ein
mischung von außen zu gebären.
Die Entbindung dieser australischen Aboriginefrau, die ihr
Baby schließlich im Stich ließ, wühlte Marianne sehr auf. Das Baby
blieb drei Wochen auf der Säuglingsstation, während der Familien
dienst nach der Mutter suchte, die sich tatsächlich aus dem Staub
gemacht hatte. Marianne reagierte darauf tief betroffen und war
ganz vernarrt in das Kind. Ihre Vernunft sagte ihr, dass die Anwe
senheit bei der Geburt dieses Kindes Mutterinstinkte bei ihr ausge
löst hatte, trotzdem war sie über die Heftigkeit ihrer Emotionen
erschrocken. Als drei Älteste, alle Großmütter, auf die Station ka
men, um ihr Anrecht auf den Säugling anzumelden, hatte Marian
ne zufällig gerade Dienst und überließ ihnen das Baby Anschlie
ßend verfiel sie in einen heftigen Kummer, der den Beginn ihrer
eigenen Reise zum Erbe ihrer Ahnen markierte.
Diese Erfahrung als Hebamme in der Ausbildung weckte in
Marianne eine heftige Neugier bezüglich der Tatsache, dass sie
Erinnerungen der geraubten Generationen zurückbringen 169
selbst ein Adoptivkind war. Da ihre Eltern auf dieses Thema nie
wieder zu sprechen gekommen waren, zögerte Marianne, sich mit
ihren Fragen an sie zu wenden. Schließlich schrieb sie an den Fa
miliendienst. Nach einer Weile kam per Post ein Päckchen, in dem
sich ein kurzes Schreiben mit Daten zu ihrem Adoptivstatus be
fand, das den Namen ihrer leiblichen Mutter und deren Alter zum
Zeitpunkt von Mariannes Geburt enthielt sowie ein Buch mit dem
Titel Keine Geheimnisse mehr. In den folgenden zehn Jahren kam
Marianne bei ihrer Odyssee immer wieder an einen Punkt, wo sie
aufgeben wollte, das Mysterium ihrer Vergangenheit zu entwirren.
Sie erlebte auf diesem Weg viele Enttäuschungen und landete oft in
der Sackgasse.
Neuen Antrieb bekam ihre Suche, als sie Mary Madden ken
nenlernte, eine Therapeutin, die in den Vereinigten Staaten bei uns
eine Ausbildung mit Abschluss gemacht hatte, was sie befugte,
selbst holotrope Atemsitzungen zu geben. Mary wurde Mariannes
Begleiterin beim Holotropen Atmen und schließlich eine enge
Freundin. Mit Marys Hilfe brach Marianne zur abenteuerlichen
Reise ihrer Selbsterforschung auf, auf der sie viele schwierige Er
fahrungen machen sollte, manche in holotropen Sitzungen, andere
in ihren Träumen und in ihrem realen Alltagsleben.
Dazu gehörten auch Erinnerungen an wiederholten sexuellen
Missbrauch als Kind und die Vergewaltigung durch einen Mann,
der Italienisch statt Englisch sprach. Marianne war verblüfft über
diese Erfahrungen, denn sie wusste ziemlich sicher, dass sie nicht
aus ihrem jetzigen Leben stammten. Sie bekam migräneartige
Kopfschmerzen, die offensichtlich mit ihrer schwierigen Geburt
zusammenhingen, die eine Zangengeburt gewesen war. Als sie die
sen Teil ihrer Geschichte noch einmal durchlebte, bildeten sich auf
ihrer Stirn und an anderen Körperteilen spontan Blutergüsse. Sie
versuchte verzweifelt, sich zu erinnern, ob diese Dinge ihr tatsäch
lich passiert waren und sie sie möglicherweise aus ihrem Bewusst
sein verbannt hatte.
In dieser schwierigen Phase ihrer Selbstfindung zog sich Marianne
von ihrem Partner, Familie und Freunden völlig zurück. Sie war
verwirrt und desorientiert, verlor gelegentlich den Boden unter
den Füßen und hatte keinen Lebenswillen mehr. Rückblickend be
richtete sie, sie habe diese Krise nur mit Hilfe der liebevollen Un
terstützung überlebt, die sie in der Gemeinschaft der Menschen
erfuhr, die wie sie Atemarbeit machten. Sie war überzeugt, dass sie
sich in dieser schwierigen Zeit ohne diese Zuwendung ihrer Beglei
terinnen und Leidensgenossen das Leben genommen hätte.
Auch wenn sie bis zu diesem Punkt nur sehr wenige Kontakte
zur Gemeinschaft der Aborigines hatte, spielten diese Menschen in
vielen ihrer inneren Erfahrungen eine wichtige Rolle, sei es in den
Atemsitzungen, in Träumen oder spontan in ihrem Alltag. Erstaun
lich eindringlich und deutlich stellte Marianne sich vor, dass Ältes
te der Aborigines sie aufsuchten und ihr ganz konkret zeigten, wie
sie ihre Arbeit als Hebamme verbessern konnte. Das inspirierte sie,
in Zusammenarbeit mit anderen Gruppen »Blue Care« ins Leben
zu rufen - Queenslands erstes, staatlich gefördertes, unabhängiges
Ausbildungsprogramm für Hebammen.
Mit der Suche nach ihrer leiblichen Mutter hatte sie in dieser
Zeit kein Glück. Aber sie schrieb ihre Erlebnisse sorgfältig in ihr
Tagebuch und zeichnete fleißig Bilder der Szenen, die sie innerlich
verfolgten. So entstand schließlich eine Reihe von bemerkenswer
ten Darstellungen, die ihren dramatischen inneren Prozess doku
mentierten und illustrierten.
1995 hatte Marianne ihren ersten entscheidenden Erfolg: Der
Suchdienst der Heilsarmee entdeckte ihre Großmutter und mehre
re Onkel, die in Sydney wohnten, und über diese Menschen fand
sie auch ihre leibliche Mutter, die in Neuseeland lebte. Ihre Ver
wandten wollten jedoch nichts mit ihr zu tun haben, und Marian
ne war durch diese Abfuhr völlig am Boden zerstört.
Ein halbes Jahr später schließlich erhielt sie einen distanzierten
Brief von ihrer leiblichen Mutter. Die spärlichen Angaben in die
170 Teil 3: Wiederholungsbesuche in der Geschichte
Erinnerungen der geraubten Generationen zurückbringen 171
sem Schreiben waren eine überraschende Bestätigung von Ma
riannes Erfahrungen. Ihre Mutter schrieb, dass sie mit Marianne
schwanger geworden war, nachdem ein Italiener, der kein Englisch
sprach, sie vergewaltigt hatte. Zu der Zeit war Mariannes Mutter
ein Teenager und lebte in einer kleinen Stadt im äußersten Norden
von Queensland. Neben der brutalen Traumatisierung durch die
Vergewaltigung musste sie auch noch Anschuldigungen und Vor
würfe seitens ihrer Eltern ertragen. Nach vergeblichen Versuchen,
eine Abtreibung zu organisieren, steckte man sie in ein Heim für
ledige junge Frauen.
Nach Mariannes Entbindung, einer traumatischen Zangenge
burt, berührte und sah die Mutter ihr Kind nie wieder. Die Familie
setzte die junge Frau in ein Schiff nach Neuseeland, wo sie sich
bemühte, ihre Vergangenheit zu vergessen, um neu anfangen zu
können. In ihrem Brief wünschte sie Marianne alles Gute, und ob
wohl diese sich wiederholt bemühte, den Kontakt fortzusetzen,
meldete ihre Mutter sich nicht wieder bei ihr.
Mariannes Suche war damit jedoch noch nicht zu Ende. Nach die
ser unerwarteten Bestätigung der Umstände ihrer Empfängnis und
Geburt gingen ihre Erfahrungen in der holotropen Atemarbeit mit
neuer Intensität weiter.
In einer ihrer Sitzungen erlebte sie sich als Vollblut-Aborigine-
frau, die von zwei uniformierten Männern zu Pferde gefesselt, ver
gewaltigt und geschlagen wurde. Man nahm ihr ihre beiden Kinder
weg, tauchte ihre Beine in Petroleum und zündete sie an, was zu
schweren Verbrennungen führte. Marianne fuhr fort, diese Erleb
nisse zu zeichnen und zu dokumentieren, um nicht verrückt zu
werden. Eines Tages, nach einer Therapiesitzung, in der es wieder
einmal um australische Ureinwohner ging, rief Marianne auf Mary
Maddens Vorschlag hin die Vermittlung an und meldete ein Fern
gespräch nach Neuseeland an. Diesmal hatte sie Erfolg: Ihre Mutter
kam ans Telefon.
172 Teil 3: Wiederholungsbesuche in der Geschichte
Bei diesem Gespräch erzählte Mariannes Mutter, ihre Urgroßmut
ter sei eine Vollblut-Aboriginefrau gewesen, und beschrieb den se
xuellen, emotionalen, körperlichen und spirituellen Missbrauch,
der das Leben dieser Frau gezeichnet hatte. Das Mysterium schien
sich endlich aufzuklären, und Marianne fasste wieder Hoffnung.
Nach diesem Gespräch zog sich ihre leibliche Mutter jedoch erneut
zurück und verweigerte jeden weiteren Kontakt. Verzweifelt wand
te Marianne sich an »Link Up«, eine Organisation der Aborigines,
und bat um Unterstützung für die Bestätigung ihres Status als Ur
einwohnerin. Ohne die Erlaubnis ihrer leiblichen Mutter konnte
man ihr hier jedoch nicht weiterhelfen. Auf diese Weise kam sie
nicht voran, und Mariannes Frustration wuchs.
Mariannes Adoptiveltern hatten sie während all dieser Ereig
nisse kontinuierlich unterstützt, und eines Tages gab ihr Vater ihr
eine Telefonnummer, auf die er zufällig gestoßen war. So kam Ma
rianne in Kontakt mit »Community and Personal Histories«, einer
Organisation, in der man bereit war, Nachforschungen für sie an
zustellen. Ein paar Monate später erhielt Marianne per Post eine
Dokumentation über die Jahre 1895 bis 1918, welche bis ins Detail
die Geschichte ihrer Urgroßmutter enthielt, die die illegale Tochter
eines älteren Junggesellen und Landbesitzers im äußersten Norden
von Queensland gewesen war. Dieser hatte eine Freistellung vom
Protektionsgesetz für Aborigines beantragt, damit er das Misch
lingskind zu sich nehmen und es bei ihm aufwachsen konnte.
Dieser Mann bekannte, sich eine Vollblut-Aboriginefrau zur
Geliebten genommen zu haben, und aus dieser Verbindung waren
zwei Mischlingskinder hervorgegangen. Es gab auch einen Polizei
bericht über zwei Offiziere, die um das Jahr 1900 herum zu Pferde
ausrückten, um »die Eingeborene und ihre Kinder« festzunehmen,
die man ins »Nigger Camp« brachte, wo sie für andere arbeiten
mussten. Marianne fand auch bestätigt, dass die Füße ihrer Ur
großmutter bei diesem Ereignis schwere Verbrennungen erlitten,
genauso, wie sie es in ihrer Atemsitzung erlebt hatte.
Erinnerungen der geraubten Generationen zurückbringen 173
Man vermittelte Marianne an einen Berater der Organisation »Sto
len Generations« (Geraubte Generationen, Anm.d.Ü.). Die Zusam
menarbeit mit ihm erwies sich als außerordentlich hilfreich und
brachte eine nachhaltige Wende der Ereignisse.
Im Juni 2003 begleitete ein Vertreter der Organisation »Link Up«
sie nach Sidney, wo sie drei Tage Wiedervereinigung mit ihrer
Großmutter und ihrem Onkel Robbie feierte. Die Gefühle, die Ma
rianne empfand, als sie das Haus ihrer Großmutter betrat, lassen
sich mit Worten kaum beschreiben. Ihre Großmutter nahm sie in
die Arme, weinte und sagte zu ihrem Sohn: »Endlich ist unsere
Kleine nach Hause gekommen.« Marianne fand heraus, dass ihre
Großmutter, unmittelbar nachdem sich die Heilsarmee vor Jahren
an sie wendete, einen Schlaganfall erlitten hatte. Als sie sich wieder
erholt hatte, erinnerte sie sich nicht mehr an dieses Ereignis und
wusste nicht, wo Marianne war und wie sie Kontakt zu ihr aufneh
men konnte. Als tief spiritueller Mensch hatte sie täglich darum
gebetet, dass Marianne zu ihnen zurückfinden möge.
Mariannes leibliche Mutter hat nur begrenzten Kontakt zu
ihrer Familie und weigert sich weiterhin, ihre Tochter anzuerken
nen. Aber die Akzeptanz und Liebe ihrer Großmutter und ihres
Onkels lassen Mariannes Schmerz über diese Ablehnung allmäh
lich verheilen. Ihr Onkel Robbie schrieb kürzlich in einem Brief:
»Ich habe mich immer wieder gefragt, warum unser Leben so
anders geworden ist, seitdem du bei uns warst. Dann kam mir
plötzlich der Gedanke, dass du, als du durch Großmutters Tür he
reinkamst, unsere Familie vollständig gemacht hast. Als habe der
Kreis sich endlich geschlossen. Wir haben dich von Herzen lieb.«
Marianne fand schließlich doch noch nach Hause - und damit ist
ihre Heldinnenreise zu Ende.
174 Teil 3: Wiederholungsbesuche in der Geschichte
Erinnerung an das Erlebnis eines Vorfahren oder Erfahrung aus einem eigenen früheren Leben?
Renatas Geschichte
Die im vierten Beispiel geschilderte Situation reicht in der Ge
schichte weit zurück und bringt uns an den Anfang des 17.
Jahrhunderts. An diesem Fall wird deutlich, wie groß die gedank
lichen Herausforderungen sind, vor die uns die Verifizierung der
hier enthaltenen Informationen stellt. Die Hauptfigur dieser Ge
schichte ist Renata, eine frühere Klientin von mir, die in Behand
lung kam, weil sie an einer Krebsphobie litt, die sie sehr belastete.
In ihrer LSD-Therapie durchlebte sie noch einmal verschiedene
traumatische Erfahrungen aus ihrer Kindheit und setzte sich wie
derholt mit der Erinnerung an ihre Geburt auseinander. Im fortge
schrittenen Stadium ihrer Selbsterforschung veränderten sich ihre
Sitzungen plötzlich dramatisch, und sie machte hier höchst unge
wöhnliche, beispiellose Erfahrungen.
In vier LSD-Sitzungen kam bei ihr fast ausschließlich Material
aus einer bestimmten historischen Epoche hoch. Viele dieser Er
lebnisse fanden im Prag des 17. Jahrhunderts statt, einer Zeit, die
für die tschechische Geschichte von entscheidender Bedeutung
war. Nach der verheerenden Schlacht am Weißen Berg im Jahr
1620, die den Verlauf des Dreißigjährigen Krieges in Europa mar
kierte, verlor das Land seinen Status als unabhängiges Königreich
und geriet unter die Hegemonie der Dynastie der Habsburger. Um
den Nationalstolz zu brechen und die Kräfte des Widerstands zu
zerschlagen, schickten die Habsburger Söldnertruppen aus, die die
mächtigsten Adeligen im Land gefangen nehmen sollten. 27 be
rühmte Aristokraten wurden in den Kerker geworfen und in einer
öffentlichen Hinrichtung auf einem Schafott im Altstadtviertel von
Prag geköpft.
Diese historischen Sitzungen vermittelten Renata bemerkens
wert viele Bilder und Einsichten in Bezug auf die Architektur, ty
pische Kleidungsstücke und Kostüme sowie Waffen und zahlreiche
alltägliche Gebrauchsgegenstände der erlebten Zeitepoche. Sie
konnte auch einige der für diese Zeit typischen komplizierten Be
ziehungen zwischen der königlichen Familie und den Vasallen be
schreiben. Renata hatte diese Epoche der tschechischen Geschichte
nie studiert und bislang auch kein Interesse daran gehabt. Ich
musste in der Bücherei Geschichtsforschung betreiben, um bestäti
gen zu können, dass ihre Informationen richtig waren.
Viele von Renatas Erfahrungen stammten aus den verschie
denen Lebensabschnitten eines jungen Edelmanns, der zu den ge
nannten Aristokraten gehörte, welche die Habsburger köpfen lie
ßen. In einer dramatischen Sequenz durchlebte sie schließlich mit
heftigen Emotionen und bis in alle Einzelheiten die tatsächlichen
Ereignisse, die mit der Hinrichtung verbunden waren, auch die
Todesangst und das qualvolle Sterben des Adeligen. Renata identi
fizierte sich in vielen Situation vollständig mit dieser Person. Sie
konnte nicht herausfinden, in welchem Zusammenhang diese Sze
nen zu ihrem jetzigen Leben standen, warum sie in ihrer Therapie
hochkamen und was sie ihr sagen sollten. Nach gründlichen Über
legungen gelangte sie zu dem Schluss, dass sie hier Ereignisse aus
dem Leben eines ihrer Vorfahren durchlebte. Das alles geschah in
der Anfangszeit meiner psychedelischen Forschungen, und ich
musste zugeben, dass ich für eine Interpretation dieser Art von
inneren Erlebnissen gedanklich noch nicht gerüstet war.
Erinnerung an das Erlebnis eines Vorfahren 175
176 Teil 3: Wiederholungsbesuche in der Geschichte
Da ich zumindest annähernd verstehen wollte, was sich da ab
spielte, versuchte ich zweierlei: Zum einen investierte ich viel Zeit
und Mühe, um die in diesen Erfahrungen auftauchenden histo
rischen Details zu verifizieren, und war zunehmend davon beein
druckt, wie richtig sie sich erwiesen. Zweitens versuchte ich mit
Hilfe der freudschen Methode des freien Assoziierens Renatas Ge
schichten mit ihr zusammen so zu bearbeiten, als handle es sich
um Träume. Vielleicht, so hoffte ich, konnten wir sie als symbo
lische Verkleidungen von Kindheitserlebnissen oder von aktuellen
Problemen in ihrem Leben entschlüsseln. Doch trotz dieser Bemü
hungen ergaben diese Erfahrungen in Renatas Sitzungen aus psy
choanalytischer Sicht nicht viel Sinn. Als in Renatas LSD-Sitzungen
dann neue Inhalte auftauchten, gab ich diese Versuche schließlich
auf. Ich dachte über die merkwürdigen Vorkommnisse nicht weiter
nach und konzentrierte mich stattdessen auf aktuelle gedankliche
Herausforderungen.
Zwei Jahre später, als ich bereits in den Vereinigten Staaten lebte,
bekam ich von Renata einen langen Brief mit der folgenden, unge
wöhnlichen Einleitung: »Lieber Dr. Grof, wenn ich Ihnen im Fol
genden die Ergebnisse meiner jüngsten persönlichen Nachfor
schungen mitteile, halten Sie mich wahrscheinlich für völlig
verrückt.« Dann beschrieb Renata, wie sie zufällig ihrem Vater wie-
derbegegnete, den sie seit ihrem 3. Lebensjahr, als ihre Eltern sich
scheiden ließen, nicht mehr gesehen hatte. Nach einem kurzen Ge
spräch lud ihr Vater sie zu einem Essen mit seiner Frau und den
gemeinsamen Kindern ein. Nach dem Essen verkündete er, er wol
le ihr etwas erzählen, das sie interessieren könne.
Im Zweiten Weltkrieg gaben die Nazis einen Befehl aus, der
sämtliche Familien in den besetzten Gebieten anwies, den deut
schen Autoritäten ihren Stammbaum vorzulegen, um nachzuwei-
sen, dass es in den letzten fünf Generationen keine Person jüdischer
Abstammung in der Familie gegeben hatte. Das war eine ernste
Erinnerung an das Erlebnis eines Vorfahren 177
Angelegenheit, denn konnte eine Familie ihre »Reinheit« nicht be
weisen, hatte das katastrophale Folgen für ihre Mitglieder. Als er
sich mit dieser obligatorischen Ahnenforschung beschäftigte, fand
Renatas Vater sie immer faszinierender. Nachdem er den verlangten
Stammbaum für fünf Generation fertiggestellt hatte, setzte er seine
Nachforschungen aus persönlichem Interesse weiter fort.
Dank der akribisch geführten Archive der europäischen Ge
meindehäuser, welche die Geburtsdaten sämtlicher Personen, die
in ihrer Gemeinde geboren waren, seit unzähligen Generationen
aufbewahrten, konnte er die Geschichte seiner Familie mehr als
drei Jahrhunderte zurückverfolgen. Und so war er jetzt imstande,
Renata die Früchte seiner jahrelangen Forschungen zu zeigen -
einen sorgfältig erstellten, komplexen Stammbaum ihrer Familie,
der zeigte, dass sie Abkömmlinge eines der Adeligen waren, die
nach der Schlacht am Weißen Berg in der Altstadt von Prag hinge
richtet worden waren.
Renata war erstaunt, dass die Informationen, zu denen sie in
ihren LSD-Sitzungen Zugang bekam, auf so unerwartete Weise
Bestätigung fanden. Nachdem sie mir in ihrem Brief von diesem
ungewöhnlichen Ereignis berichtet hatte, schrieb sie, sie sei fest
davon überzeugt, dass »sich emotional stark besetzte Erinnerungen
den genetischen Code einprägen und über Jahrhunderte hinweg
an zukünftige Generationen weitervermittelt werden können«.
Renatas Brief endete mit dem Triumphruf: »Ich habe es Ihnen doch
gesagt!« Für sie bekräftigten diese neuen, überraschenden Infor
mationen von ihrem Vater, was sie aufgrund ihrer intensiven Erfah
rungen bereits die ganze Zeit über vermutet hatte - sie war auf au
thentische Erinnerungen an ein Erlebnis eines ihrer Vorfahren
gestoßen. Wie bereits erwähnt, hatte ich selbst dieser Schlussfolge
rung damals skeptisch gegenübergestanden.
Nach meinem anfänglichen Staunen über dieses höchst unge
wöhnliche Zusammentreffen von Ereignissen entdeckte ich in Re
natas Bericht eine Reihe von schwerwiegenden Widersprüchen.
178 Teil 3: Wiederholungsbesuche in der Geschichte
Eine der Erfahrungen mit den historischen Ereignissen, die sie in
ihren LSD-Sitzungen machte, betraf die Hinrichtung des jungen
Adligen und sämtliche damit verbundenen Emotionen. Im 17.
Jahrhundert jedoch, einer Zeit lange vor den revolutionären Durch
brüchen der modernen Medizin (z.B. durch Stammzellenforschung,
Spermienkonservierung, Anm.d.Ü.), gab es keine Möglichkeit, die
Fortpflanzung einer Person über ihren Tod hinaus zu ermöglichen.
Der Tod zerstörte sämtliche materiellen Kanäle, durch die Informa
tionen über das Leben des Verstorbenen der Nachwelt hätten über
mittelt werden können.
Durch diese Erkenntnis wurde die Situation sogar noch kom
plizierter - »die Handlung wurde verwickelter«. Einerseits hatte
Renatas Erfahrung durch die Ahnenforschung ihres Vaters eine
eindeutige Bestätigung von unabhängiger Seite erfahren. Anderer
seits gab es kein materielles Substrat für die Speicherung, Über
mittlung und das Wiederauffinden der entsprechenden Informati
onen. Bevor wir jedoch die Informationen verwerfen, die in Renatas
Geschichte die Authentizität der Erinnerungen an Erlebnisse eines
Vorfahren beweisen, müssen wir einige weitere Fakten ernsthaft
berücksichtigen.
Keine und keiner der übrigen tschechischen Patientinnen und
Patienten, die insgesamt über 2000 Sitzungen machten, hat diese
historische Epoche jemals erwähnt. In Renatas Fall ging es in vier
aufeinander folgenden LSD-Sitzungen fast ausschließlich um his
torische Ereignisse aus dieser Zeit. Und die Wahrscheinlichkeit,
dass die Überschneidung von Renatas innerer Suche mit der Ah
nenforschung ihres Vaters ein bedeutungsloser Zufall war, ist so
gering, dass man diese Alternative kaum ernsthaft in Erwägung
ziehen kann. Wir stehen vor einer ungewöhnlichen Beobachtung,
für die das augenblickliche materialistische Paradigma keine Erklä
rung hat. Sie ist ein Beispiel für Beobachtungen aus der modernen
Bewusstseinsforschung, die man erst kürzlich als »anormale Phä
nomene« betitelt hat.
Haben wir schon einmal gelebt?
Reinkarnation und die
Akasha-Chronik
Teil 4: Haben wir schon einmal gelebt? 181
Zu den interessantesten Phänomenen, denen ich bei meinen
Forschungen über holotrope Bewusstseinszustände begegnet
bin, gehören mit Sicherheit Erfahrungen aus früheren Leben. Sie
kommen extrem häufig vor und zwar sowohl in den psychede
lischen Sitzungen meiner Klienten als auch in Sitzungen mit holo-
troper Atemarbeit und im Verlauf spontan auftretender psychospi-
ritueller Krisen (»spiritueller Krisen«) von Menschen, mit denen
wir therapeutisch gearbeitet haben. Und das trotz der Tatsache,
dass ich anfangs die Idee von Reinkarnation und Karma nicht be
sonders ernst genommen habe, sondern darin lediglich Produkte
der Wunschphantasien von Menschen sah, welche die düstere
Realität von Vergänglichkeit und Tod nicht annehmen können.
Außerdem widersprachen diese Erfahrungen dem Glaubenssystem,
mit dem ich aufgewachsen bin, denn sowohl die Mainstream-
Wissenschaft als auch die Theologen der bei uns vorherrschenden
Religionen lehnen den Gedanken der Reinkarnation ab. Er gehört
zu den seltenen Themen, über die materialistische Wissenschaft
und Christentum sich einig sind.
Viele Menschen machen ihre ersten Erfahrungen mit früheren
Leben, wenn sie ihre Geburt wiedererleben. Bei anderen treten sie
unabhängig davon auf. Im typischen Fall versetzen sie das betref
fende Individuum in hochemotionale Situationen zurück, die in
verschiedenen Ländern der Welt und unterschiedlichen histo
i82 Teil 4: Haben wir schon einmal gelebt?
rischen Epochen sowohl in der jüngsten als auch in ferner Vergan
genheit angesiedelt sind. Der Inhalt dieser Erfahrungen ist meist
völlig überraschend, und trotzdem gehen sie einher mit einem
merkwürdigen Gefühl von déjà vu oder déjà vecu: »Das passiert mir
nicht zum ersten Mal. Hier war ich schon einmal. Ich habe das in
einem meiner früheren Leben erlebt.« Oft bestand auch ein enger
Zusammenhang zwischen den wichtigsten Personen und Ereignis
sen in diesen Situationen und den augenblicklichen Erfahrungen
des Betreffenden.
Schon bald wurde mir bewusst, dass diese Erfahrungen aus
früheren Leben so viele typische Eigenschaften aufweisen, dass wir
sie schwerlich als kindliche Phantasien abtun können. Sie traten
auf einer kontinuierlichen Entwicklungslinie mit präzisen Erinne
rungen aus Jugendzeit, Kindheit, Kleinkindzeit, Geburt und die
intrauterine Existenz auf und konnten oft zuverlässig nachgeprüft
werden. Häufig hingen sie eng zusammen mit den emotionalen
und psychosomatischen Symptomen des Betreffenden sowie mit
wichtigen Themen und Umständen seines jetzigen Lebens. Wur
den diese karmischen Ereignisse der jeweiligen Person voll bewusst,
vermittelten sie ihr oft tiefe Einsichten in verschiedenste, bislang
unverständliche und rätselhafte Aspekte ihres Alltagslebens.
Dazu gehörten zahlreiche verschiedene psychische Probleme
und zwischenmenschliche Themen, für welche die traditionellen
psychotherapeutischen Schulen uns keine angemessenen Erklä
rungen liefern können. Ich habe auch wiederholt beobachtet, dass
Erfahrungen aus früheren Leben dem oder der Betreffenden nicht
nur ein intellektuelles Verstehen vermittelten, sondern verschie
dene, komplizierte emotionale und psychosomatische Symptome
abklingen oder ganz verschwinden ließen und zwischenmensch
liche Beziehungskonflikte lösten.
Außerdem vermittelten diese Erfahrungen, wie auch die be
reits erwähnten Erinnerungen an Leben von Vorfahren, Rasse und
Kollektiv, oft präzise Einsichten in die Zeit und Kultur, in der sie
angesiedelt waren. In vielen Fällen machten die Qualität und das
Wesen dieser Informationen es unwahrscheinlich, dass die betref
fenden Menschen sie durch die üblichen Kanäle empfangen hatten.
Im Folgenden schildere ich mehrere Beispiele für diese faszi
nierenden Erfahrungen, die entweder ganz bestimmte Informati
onen enthalten, welche später von unabhängiger Seite bestätigt
werden konnten, oder mit bemerkenswerten Synchronizitäten ver
bunden waren. Mit Ausnahme von Karls Geschichte geht es hier
um Erfahrungen und Ereignisse im Zusammenhang mit Karma
und Reinkarnation, die Christina und mich betreffen. Ich habe im
Laufe der Zeit schätzen gelernt und begriffen, wie machtvoll und
überzeugend diese erlebnisbedingten Phänomene sind.
Teil 4: Haben wir schon einmal gelebt? 183
184 Teil 4: Haben wir schon einmal gelebt?
Die Belagerung von Dún an ÒirKarls Geschichte
So beeindruckend und überzeugend Erlebnisse aus früheren
Leben auch sein mögen, der Traum jedes Forschers ist es, auf
Fälle zu stoßen, bei denen wichtige Aspekte dieser Erfahrungen
durch unabhängige historische Untersuchungen bestätigt werden
können. Für mich erfüllte sich dieser Traum, als Christina und ich
Karl kennenlernten und ihn bei seiner tiefen Selbsterforschung
und Heilung begleiten durften. Karl meldete sich für eines unserer
einmonatigen Seminare in Esalen an, nachdem er bereits in Kanada
in einer der abtrünnigen Primärtherapiegruppen an sich gearbeitet
hatte. Das waren die Gruppen, die das Primärinstitut in Los Angeles
nach heftigen ungeklärten Meinungsverschiedenheiten mit Arthur
Janov (dem Begründer der Primärtherapie, Anm.d.Ü.) verlassen
hatten.
In der Primärtherapie machten diese Menschen immer wieder ver
schiedene transpersonale Erfahrungen: Sie hatten archetypische
Visionen, identifizierten sich mit verschiedenen Tieren und erin
nerten sich an frühere Leben. Janov, der jedoch kein Verständnis
für die transpersonalen Ebenen des Unbewussten hatte, war ent
schieden gegen alles, was mit Spiritualität zu tun hatte, und inter
pretierte diese Erfahrungen als eine »Abkoppelung vom Ur
schmerz«. Viele Menschen, die die Primärtherapie als Methode
schätzten, Janovs eingleisiges Vorurteilsdenken aber ablehnten,
verließen sein Institut und gründeten ihre eigenen Gruppen.
Die Belagerung von Dün an Öir 185
Karl hatte mit seiner Selbsterfahrung in einer solchen Gruppe
angefangen. Nach einer Weile berührte sein innerer Prozess auch
die perinatale Ebene. Als er verschiedene Aspekte seiner biolo
gischen Geburt wiedererlebte, stellten sich begleitend dramatische
Szenen ein, die sich offensichtlich in einem anderen Jahrhundert
und in einem fremden Land abspielten. Sie waren mit heftigen
Emotionen und Körperempfindungen verbunden und standen of
fensichtlich in einem tiefen und engen Zusammenhang mit Karls
Leben, auch wenn sich keine dieser Szenen vor dem Hintergrund
seiner jetzigen Biographie sinnvoll entschlüsseln ließ. Vor seinem
inneren Auge sah er Tunnel, unterirdische Lagerräume, Militärba
racken, dicke Mauern und Festungswälle, welche offensichtlich
alle zu einer Burg gehörten, die auf einem Felsen hoch über einem
Meeresstrand stand. Dazwischen sah er immer wieder Bilder von
Soldaten in den unterschiedlichsten Situationen. Es verwirrte ihn,
dass diese Soldaten offensichtlich Spanier waren, obwohl die Land
schaft eher nach Schottland oder Irland aussah.
Genau zu der Zeit besuchte Karl unseren Workshop in Esalen
und wechselte von der Primärtherapie zum Holotropen Atmen.
Die Szenen, die er in den Sitzungen innerlich erlebte, wurden im
mer dramatischer und verwickelter. Häufig ging es um heftige
Kämpfe und blutige Metzeleien. Obwohl er von Soldaten umgeben
war, erlebte Karl sich selbst als Priester und sah sich unter anderem
in einer sehr bewegenden Szene mit Bibel und Kreuz in den Hän
den. Dabei entdeckte er an seinem Finger einen Siegelring und
konnte die eingravierten Initialen deutlich sehen.
Da er künstlerisches Talent hatte, beschloss er, diese merkwür
digen Vorgänge darzustellen, auch wenn er sie zu jener Zeit noch
nicht verstand. Er fertigte eine Reihe von Zeichnungen und sehr
kraftvollen und impulsiven Bildern mit Fingerfarben an. Einige
zeigten Teile der Festung, andere Schlachtenszenen, und wieder
andere stellten Karls eigene Erlebnisse dar, darunter, wie er - vom
Schwert eines britischen Soldaten durchbohrt - über die Festungs
186 Teil 4: Haben wir schon einmal gelebt?
mauern geworfen wurde und am Strand starb. Unter diesen Bil
dern befand sich auch eine Zeichnung seiner Hand mit dem Siegel
ring, in den die Namensinitialen dieses Priesters eingraviert waren.
Während er weitere Puzzlestücke dieser Geschichte sammelte,
erschlossen sich für Karl immer mehr Zusammenhänge zwischen
verschiedenen Aspekten dieser Szenen und seinem gegenwärtigen
Leben. Er vermutete, das Drama des spanischen Priesters in ferner
Vergangenheit könne die Quelle für viele seiner heutigen emotio
nalen und psychosomatischen Symptome sowie seiner zwischen
menschlichen Probleme sein. Als Karl dann, einem plötzlichen Im
puls folgend, beschloss, Urlaub in Irland zu machen, kam es zu
einer entscheidenden Wende: Nach seiner Rückkehr schaute er
sich die Dias an, die er an Irlands Westküste aufgenommen hatte,
und ihm fiel auf, dass er von ein und derselben Landschaft elf Auf
nahmen gemacht hatte. Das überraschte ihn, denn er konnte sich
nicht daran erinnern, diese Aussicht fotografiert zu haben, sie
schien ihm auch nicht besonders interessant zu sein.
Da er ein pragmatischer Mann war, ging er diese seltsame An
gelegenheit rational und analytisch an. Er betrachtete die Landkar
te und rekonstruierte, wo er zum Zeitpunkt der Aufnahmen ge
standen und in welche Richtung er fotografiert hatte. So entdeckte
er, dass sich an dem Ort, der seine Aufmerksamkeit gefesselt hatte,
die Ruinen einer alten Festung namens Dún an Òir oder Forte de
Oro (Goldene Festung) befanden. Aus der Entfernung, aus der er
die Aufnahmen machte, waren sie mit bloßem Auge kaum zu
erkennen, und er musste genau hinschauen, um sie auf dem Dia
entdecken zu können. Da er vermutete, dass zwischen diesen selt
samen Fotos und seinen Erlebnissen in der Primärtherapie und
den holotropen Atemsitzungen ein Zusammenhang bestand,
beschloss Karl, auf der Suche nach weiteren Anhaltspunkten die
Geschichte von Dün an Öir zu studieren.
Zu seiner großen Überraschung fand er heraus, dass 1580 eine
kleine Besatzungstruppe spanischer Soldaten im nahe gelegenen
Die Belagerung von Dun an Öir 187
Hafen von Smerwick gelandet war, um die Iren bei ihrem Aufstand
gegen Desmond zu unterstützen. Nachdem sich ihnen einige
irische Soldaten angeschlossen hatten, waren sie etwa 600 Mann.
Es gelang ihnen, sich hinter den Festungswällen von Dün an Öir
zu verschanzen, bevor sie von einer größeren englischen Truppe,
angeführt von Lord Grey, umzingelt und belagert wurden. Ein Wal
ter Raleigh, der Lord Grey begleitete, spielte in diesem Konflikt die
Rolle des Vermittlers und führte die Verhandlungen mit den Spani
ern. Er versprach ihnen freien Abzug aus der Festung, wenn sie
das Tor öffneten und sich ergaben, aber die Briten hielten sich nicht
an ihr Versprechen. Als sie erst einmal in die Festung eingedrun
gen waren, brachten sie sämtliche Spanier gnadenlos um und war
fen ihre Leichen über die Festungswälle ins Meer und an den
Strand.
Trotz dieser absolut erstaunlichen äußeren Bestätigung der
Geschichte, die er bei seinen inneren Forschungen so mühsam zu
rekonstruieren versuchte, war Karl noch nicht zufrieden. Er setzte
seine Studien in der Bücherei fort, bis er ein spezielles Dokument
über die Schlacht von Dún an Òir fand. Darin hieß es, ein Priester
habe die spanischen Soldaten begleitet und sei mit ihnen zusam
men umgebracht worden. Die Namensinitialen dieses Mannes wa
ren identisch mit denen, die Karl vor seinem inneren Auge auf dem
Siegelring gesehen und in einem seiner Bilder gezeichnet hatte.
i88 Teil 4: Haben wir schon einmal gelebt?
Das karmische DreiecksverhältnisEine Zeitreise in das alte Ägypten
ls ich 1967 in die Vereinigten Staaten auswanderte, hatte ich
damit zu kämpfen, dass mich wiederholt Klientinnen und Kli
enten mit Erinnerungen an frühere Inkarnationen konfrontierten.
Ich hatte derartige Erfahrungen bei ihnen öfter beobachtet und war
verblüfft über Umfang und Qualität der Informationen, die ans
Licht kamen, wenn Menschen sich diese Erlebnisse bewusst mach
ten. Dazu gehörten Details der sozialen Strukturen, des rituellen
und spirituellen Lebens sowie von Kostümen, Waffen und militä
rischen Strategien der Kulturen und historischen Epochen, die den
Kontext für die Erfahrungen bildeten. Das Wissen, zu dem uns die
se karmischen Ereignisse Zugang verschafften, ging weit über das
intellektuelle Niveau und die Ausbildung meiner Klienten hinaus.
Tief beeindruckt war ich auch von den Zusammenhängen
zwischen ganz bestimmten wichtigen Aspekten dieser karmischen
Erfahrungen und dem täglichen Leben meiner Klienten - ihren
emotionalen und psychosomatischen Problemen, Schwierigkeiten
in zwischenmenschlichen Beziehungen, merkwürdigen und uner
klärlichen Idiosynkrasien (spezifische Überempfindlichkeiten eines
Individuums gegen bestimmte Stoffe und Personen, Anm.d.Ü.)
oder Anziehungen und Reaktionen auf bestimmte Menschen und
Situationen. Noch bemerkenswerter war die therapeutische Wir
kung, die solche karmischen Erfahrungen hatten, wenn der Klient
sie noch einmal ganz durchlebte und verarbeitete.
A
Das karmische Dreiecksverhältnis 189
Trotz dieses beeindruckenden Beweismaterials konnte ich einfach
nicht akzeptieren, dass wir es hier mit einem authentischen Phäno
men zu tun hatten. Die begriffliche Barriere, auf die ich hier stieß,
war qualitativ eine völlig andere als die, die uns zögern lässt zu
akzeptieren, dass das Gehirn des Neugeborenen imstande ist, die
schwere Prüfung der Geburt zu verzeichnen. Ob nun schon voll
ständig ausgebildet oder nicht - das Gehirn des Neugeborenen ist
schließlich ein höchst komplexes materielles System. Aber dass es
möglich sein sollte, ganze Szenen aus Zeiten zurückzuverfolgen,
die oft Jahrhunderte vor der Empfängnis der betreffenden Person
lagen, schien einfach zu grotesk.
Wenn wir von der materialistischen Weltanschauung der west
lichen Wissenschaft ausgehen, müssten die Erinnerungen an
Erlebnisse aus der Zeit unserer Vorfahren und anderer Rassen
durch Spermium und Eizelle übermittelt werden, der einzigen ma
teriellen Verbindung, die uns zu Ereignissen, die vor unserer Emp
fängnis stattfanden, zur Verfügung steht. Träger dieser Informati
onen müssten die Chromosomen oder, genauer, die DNA sein.
Doch bei Erinnerungen an frühere Leben fehlt sogar diese schwache
materielle Brücke zur Vergangenheit, weil sie nicht nur die Verbin
dungslinie zu den Ahnen, sondern auch zu rassischen Zugehörig
keiten und erblichen Verwandtschaften überschreiten. Es kommt
zum Beispiel durchaus vor, dass sich Kaukasier an Erlebnisse aus
einem früheren Leben als Schwarze in Afrika, als amerikanische
Ureinwohner oder Asiaten erinnern - oder umgekehrt.
Ich musste erst selbst tiefe Erfahrungen mit vergangenen Leben
machen, bevor ich meine Einstellung dazu ändern konnte. Den
Weg dorthin bahnten mir die Erlebnisse in einer LSD-Sitzung, die
ich kurz nach meiner Ankunft in den Vereinigten Staaten nahm.
Die Ereignisse in dieser Sitzung und in deren Umfeld überzeugten
mich davon, dass Erfahrungen aus früheren Leben authentische
Phänomene sind und nicht aus dem Geschehen unseres Alltags
lebens abgeleitet werden können. Diese bemerkenswerten Erfah
190 Teil 4: Haben wir schon einmal gelebt?
rungen waren darüber hinaus mit erstaunlichen Synchronizitäten
verbunden, die Menschen betrafen, welche in meiner Sitzung nicht
anwesend waren und folglich auch nichts davon wissen konnten.
Meine Einwanderung in die Vereinigten Staaten im März 1967 be
deutete eine radikale Veränderung meiner persönlichen, beruf
lichen, politischen und kulturellen Umgebung. Als ich in Balti
more eintraf, hatte ich lediglich zwanzig Kilo persönliches Gepäck
bei mir. Die Hälfte davon bestand aus Dokumenten über meine
psychedelischen Forschungen in Prag, der Rest aus Kleidung und
einigen persönlichen Gegenständen. Mehr war von meinem alten
Leben in Europa nicht übriggeblieben. Ein großes Kapitel meines
Lebens war zu Ende gegangen, und das neue begann auf vielen
verschiedenen Ebenen gleichzeitig. Während ich mein engagiertes
und begeistertes Kollegenteam in Spring Grove kennenlernte, die
traumhafte Meinungsfreiheit und all die neuen Dinge, die ich in
meiner Umgebung entdeckte, total genoss, gelang es mir privat
nicht besonders gut, mein Leben befriedigend zu gestalten.
Alle Frauen in meiner Umgebung, die das richtige Alter für
mich hatten und meine Interessen teilten, waren verheiratet oder
in anderer Form gebunden. Das war für mich sehr frustrierend,
denn ich befand mich in einer Lebensphase, in der ich das starke
Bedürfnis nach einer Partnerschaft hatte und auch bereit war, mich
auf eine Frau einzulassen. Meinen Freunden und Kollegen in
Spring Grove schien das noch mehr Sorge zu bereiten als mir, und
sie bemühten sich sehr, mir weiterzuhelfen. Sie hielten nach po
tenziellen Partnerinnen für mich Ausschau und luden mich stän
dig zu entsprechenden Anlässen ein. Das fruchtete nicht wirklich,
sondern bescherte mir eher einige frustrierende und peinliche Si
tuationen. Doch dann nahmen die Dinge plötzlich eine überra
schende und sehr radikale Wende.
Die schwierige Beziehung meines Therapeutenkollegen Sey-
mour endete abrupt, und meine Freunde luden seine Ex-Freundin
Das karmische Dreiecksverhältnis 191
Monica und mich zum Abendessen ein. Als Monica und ich uns
schließlich gegenüberstanden, fühlte ich mich sofort zu ihr hinge
zogen und tief mit ihr verbunden. Es dauerte nicht lange, und ich
war rettungslos in sie verliebt. Sie war wie ich in Europa geboren,
alleinstehend, schön und intelligent. Ihr ungewöhnlicher Charme,
ihr Witz und ihre Wortgewandtheit ließen sie auf jeder Party zum
Mittelpunkt der Aufmerksamkeit werden. Ich fühlte mich wie
hineingesogen in diese Beziehung und konnte sie nicht objektiv
und realistisch betrachten.
Ich sah kein Problem darin, dass Monica beträchtlich jünger
war als ich. Auch die Tatsache, dass sie eine extrem traumatische
Kindheit hatte und ihre bisherigen Partnerschaften dramatisch ver
laufen waren, beschloss ich zu ignorieren, obwohl ich sie norma
lerweise als warnendes Zeichen genommen hätte. Irgendwie konn
te ich mir einreden, das seien unbedeutende Einzelheiten, nichts,
was wir nicht gemeinsam bewältigen und überwinden konnten.
Hätte ich die Situation objektiver und analytischer zu sehen ver
mocht, wäre mir aufgefallen, dass ich mit Monica einer Frau be
gegnet war, die C.G. Jung als »Animagestalt« bezeichnet. Monica
und ich fingen eine leidenschaftliche und ungewöhnlich stür
mische Beziehung an.
Ihre Stimmungen und ihr Verhalten wechselten von einem Tag
zum anderen oder sogar von Stunde zu Stunde. Intensive, spon
tane Zuneigungsbekundungen wechselten mit Kälte, Ausweichma
növern und Rückzug. Zwei ungewöhnliche äußere Umstände
erschwerten die Situation offensichtlich noch: Seit meiner Ankunft
in Baltimore wohnte ich in einem kleinen Einzimmer-Apartment,
das ich von Monicas Ex-Freund übernommen hatte. Beim Einzie
hen hatte ich Seymour seine alten Möbel und den Fernseher abge
kauft. Als Monica und er noch ein Paar waren, hatte sie ihn in
diesem Apartment immer besucht. Jetzt traf sie sich in derselben
Umgebung mit einem anderen Mann. Außerdem hasste mich
Monicas Bruder Wolfgang vom ersten Augenblick an. Er und
192 Teil 4: Haben wir schon einmal gelebt?
Monica hatten eine ungewöhnlich innige Beziehung mit eindeutig
inzestuösen Zügen. Wolfgang war demzufolge heftig gegen meine
Beziehung mit Monica und behandelte mich wie einen Rivalen.
Ich hatte mich sehr tief auf Monica eingelassen und war ent
schlossen, unserer Beziehung eine Chance zu geben, doch offen
sichtlich war unsere Achterbahnfahrt, die uns beide verrückt
machte, durch nichts aufzuhalten. Ich fühlte mich wie in einem
Wechselbad und fand unser Hin und Her sehr frustrierend, doch
gleichzeitig übte Monica eine seltsam magnetische Anziehung auf
mich aus, und ich war unfähig, diese verwirrende und unbefriedi
gende Beziehung zu beenden.
Verzweifelt versuchte ich mir Klarheit zu verschaffen über die
verblüffende Dynamik, in der ich gefangen war. Wie ich bereits an
früherer Stelle erwähnte, bot das Psychiatrische Forschungszen
trum von Maryland, wo ich zu jener Zeit arbeitete, ein Programm
an für Menschen, die im psychischen Gesundheitswesen tätig
waren; und dies enthielt auch die Möglichkeit, für Ausbildungs
zwecke bis zu drei hochdosierte psychedelische Sitzungen zu neh
men. Dieses Angebot galt auch für die Mitglieder unseres thera
peutischen Teams. Als sich die Schwierigkeiten in meiner Beziehung
zu Monica zuspitzten, beschloss ich, mich für eine LSD-Sitzung
anzumelden, um Klarheit für diese verwirrende Situation zu ge
winnen.
Etwa in der Mitte dieser Sitzung sah ich plötzlich einen dunklen
Felsen von unregelmäßiger Form, der aussah wie ein riesiger, ural
ter Meteorit. Der Himmel öffnete sich, und ein Blitzstrahl von enor
mer Intensität schlug auf der Oberfläche dieses Felsens ein und
brannte mysteriöse, geheimnisvolle Symbole in den Stein. Diese in
den Felsen geritzten merkwürdigen Hieroglyphen brannten weiter
und gaben ein gleißend weißes Licht von sich. Obwohl ich sie
nicht entziffern und lesen konnte, spürte ich, dass diese Hierogly
phen heilig waren, und verstand die Botschaft, die sie vermittelten.
Das karmische Dreiecksverhältnis 193
Sie lautete, dass ich vor diesem Leben bereits eine lange Reihe von
weiteren Leben gelebt hatte und laut karmischem Gesetz verant
wortlich für mein Verhalten in diesen Leben war, auch wenn ich
mich nicht an sie erinnern konnte.
Zuerst versuchte ich die Verantwortung für Dinge, an die ich
keinerlei Erinnerung hatte, von mir zu weisen, konnte aber dem
gewaltigen psychischen Druck nicht standhalten, sodass ich
schließlich nachgeben und mich fügen musste. Ich musste akzep
tieren, was offensichtlich ein uraltes universelles Gesetz war, vor
dem es kein Entkommen gab. Im selben Augenblick, wo ich mei
nen Widerstand aufgab, hielt ich auf einmal Monica in den Armen,
so wie ich sie am letzten Wochenende tatsächlich gehalten hatte.
Wir schwebten in einem riesigen archetypischen Abgrund und
stiegen in einer weitläufigen Spirale langsam nach unten. Ich wuss
te instinktiv, dass dies der Abgrund der Zeitalter war und wir in der
Zeit zurückreisten.
Dieser Abstieg dauerte eine Ewigkeit und schien kein Ende zu
nehmen. Schließlich landeten wir auf dem Boden der Grube.
Monica verschwand aus meinen Armen, und ich wanderte in einem
reich geschmückten Gewand durch die Halle eines alten ägyp
tischen Palastes. Die Wände, die mich umgaben, waren geschmückt
mit wunderschönen Flachreliefs, in die auch Hieroglyphen gemei
ßelt waren. Ihre Bedeutung war mir so klar wie die Worte auf dem
Werbeplakat einer Litfasssäule in Baltimore. Vom anderen Ende
der großen Halle sah ich langsam eine Gestalt auf mich zukommen.
Ich wusste intuitiv, dass ich der Sohn einer aristokratischen ägyp
tischen Familie war, und der Mann, der auf mich zukam, war in
jenem Leben mein Bruder.
Beim Näherkommen der Gestalt erkannte ich, dass es Wolf
gang war. Knapp drei Meter vor mir blieb er stehen und sah mich
hasserfüllt an. In dieser ägyptischen Inkarnation, so wurde mir
klar, waren Wolfgang, Monica und ich Geschwister. Ich war der
Erstgeborene. Als solcher hatte ich Monica geheiratet und besaß
194 Teil 4: Haben wir schon einmal gelebt?
viele weitere Privilegien, die mein Status mit sich brachte. Wolf
gang fühlte sich betrogen und empfand qualvolle Eifersucht und
heftigen Hass auf mich. Ich konnte deutlich sehen, dass diese
Gefühle die Grundlage eines destruktiven karmischen Musters wa
ren, das sich im Verlauf vieler Zeitalter in zahlreichen Variationen
wiederholte.
Ich stand in der Halle vor Wolfgang und spürte, wie sehr er
mich hasste. Um die schmerzliche Situation aufzulösen, schickte
ich ihm telepathisch die Botschaft: »Ich weiß nicht, in welcher
Gestalt ich hier bin oder hierher gekommen bin. Ich bin ein Zeit
reisender aus dem 20. Jahrhundert, wo ich eine hochwirksame,
bewusstseinsverändernde Droge genommen habe. Ich bin sehr un
glücklich über die Spannungen zwischen uns und möchte sie gern
auflösen.« Ich breitete meine Arme aus und teilte ihm auf dem
gleichen Weg mit: »Hier bin ich, das ist alles, was ich zu geben
habe! Bitte tue, was immer du tun musst, um uns beide aus dieser
Gefangenschaft zu befreien.«
Wölfgang reagierte sehr aufgeregt auf mein Angebot und nahm
es an. Sein Hass hatte jetzt die Form von zwei intensiven, kraft
vollen Lichtbahnen - Laserstrahlen vergleichbar, die meinen Kör
per verbrannten und mir extreme Schmerzen zufügten. Nach die
ser qualvollen Folter, die mir äußerst lange zu dauern schien,
verloren die Strahlen allmählich an Kraft und verloschen schließ
lich ganz. Wolfgang und die Halle verschwanden, und ich hielt
wieder Monica in den Armen und spürte, dass mir eine große Last
von den Schultern genommen war.
Wir schwebten durch denselben Abgrund der Zeitalter nach
oben und bewegten uns diesmal vorwärts in der Zeit. Die Wände
dieser archetypischen Grube öffneten sich und gaben den Blick frei
auf Szenen aus verschiedenen historischen Epochen, die Monica,
Wolfgang und mich in vielen früheren Leben zeigten. In allen ging
es um schwierige und destruktive Dreiecksverhältnisse, in denen
wir uns gegenseitig schwer verletzten. Es schien, ein starker Wind,
Das karmische Dreiecksverhältnis 195
ein »karmischer Hurrikan«, blies durch die Jahrhunderte, löste das
Leid auf, mit dem diese Situationen verbunden waren, und befreite
uns drei aus dieser fatalen, schmerzlichen Abhängigkeit.
Als diese Sequenz endete, und ich wieder in die Gegenwart
zurückkehrte, empfand ich eine unbeschreibliche Seligkeit und ein
geradezu ekstatisches Entzücken. Ich hatte das Gefühl, dass mein
Leben, selbst wenn ich für den Rest meiner Tage nichts weiter
erreichen würde, produktiv und gelungen war. In diesem Zustand
empfand ich die Auflösung und Befreiung von einem einzigen kar
mischen Muster als eine Errungenschaft, die für ein Leben voll
kommen ausreichte!
Monica war dabei so intensiv präsent gewesen, dass ich sicher war,
sie spürte die Auswirkungen meiner Erlebnisse ebenfalls. Als wir
uns in der folgenden Woche wiedersahen, beschloss ich herauszu
finden, was sie am Nachmittag meiner Sitzung erlebt hatte.
Zunächst erzählte ich ihr bewusst nichts von meinen Erfahrungen,
weil ich sichergehen wollte, dass ich sie nicht beeinflusste. Ich
fragte sie einfach, was sie an dem Tag, an dem ich in meiner LSD-
Sitzung die karmische Sequenz aus Ägypten erlebte, zwischen 16
Uhr und 16.30 Uhr getan habe.
»Merkwürdig, dass du mich danach fragst«, antwortete sie.
»Das war wahrscheinlich die schlimmste Zeit meines Lebens!«
Dann beschrieb sie mir eine dramatische Auseinandersetzung mit
ihrem Boss, die damit endete, dass sie aus dem Büro stürzte. Sie
war sicher, dass sie ihren Job los war. In ihrer Verzweiflung landete
sie schließlich in der Bar nebenan, wo sie sich betrank. Irgend
wann ging die Tür auf, und ein Mann kam herein. Monica erkann
te Robert, mit dem sie zur Zeit unseres Kennenlernens eine sexuel
le Beziehung gehabt hatte. Robert war sehr reich und hatte ihr viele
teure Geschenke gemacht, darunter einen neuen Wagen und ein
Pferd. Auch als wir beide uns näherkamen, hatte Monica die Bezie
hung zu Robert ohne mein Wissen fortgesetzt, da sie sich zwischen
196 Teil 4: Haben wir schon einmal gelebt?
uns nicht entscheiden konnte. Als sie jetzt Robert hereinkommen
sah, ging sie auf ihn zu, um ihn zu umarmen und zu küssen. Er
wich ihr aus und gab ihr lediglich die Hand. Monica sah, dass er in
Begleitung einer eleganten Frau war. Robert, dem die Situation
sichtlich peinlich war, stellte sie Monica als seine Frau vor. Für
Monica war das ein Schock, denn Robert hatte die ganze Zeit be
hauptet, er sei nicht liiert.
An diesem Punkt hatte Monica das Gefühl, den Boden unter
den Füßen zu verlieren. Sie rannte aus der Bar und setzte sich in
ihren Mustang, den Wagen, den Robert ihr geschenkt hatte. Bei
heftigem Regen raste sie mit einer Geschwindigkeit von über 100
Stundenkilometern betrunken die Straße entlang. Es reichte ihr
einfach, und ihr war alles egal. Sie war entschlossen, dem allem ein
Ende zu setzen. Genau in dem Augenblick, wo sich in meiner LSD-
Sitzung das karmische Muster auflöste, sah Monica mich plötzlich
innerlich vor sich. Sie nahm das als Anlass, über mich und unsere
Beziehung nachzudenken. Als ihr klar wurde, dass es in ihrem Le
ben immer noch einen Menschen gab, auf den sie sich verlassen
konnte, beruhigte sie sich. Sie drosselte das Tempo ihres Wagens
und parkte am Straßenrand. Als sie so weit zu sich gekommen war,
dass sie wieder einigermaßen sicher fahren konnte, kehrte sie nach
Hause zurück und legte sich ins Bett.
Am Tag nach diesem Gespräch mit Monica bekam ich einen
Anruf von Wolfgang, der mich um ein Treffen bat. Das war eine
absolut unerwartete und überraschende Wende der Dinge, denn
Wolfgang hatte mich bislang nie angerufen, geschweige denn sich
mit mir verabreden wollen. Als wir zusammensaßen, erzählte er
mir, er wolle gern eine sehr intime und peinliche Angelegenheit
mit mir besprechen. Die Psychoanalyse bezeichnet das Problem,
das ihn bedrückte, als Huren-Madonnen-Komplex. Er hatte in sei
nem Leben eine ganze Reihe von flüchtigen und oberflächlichen
sexuellen Beziehungen gehabt, darunter auch viele für eine Nacht,
und nie Schwierigkeiten erlebt, eine Erektion zu bekommen und
Das karmische Dreiecksverhältnis 197
zu halten. Jetzt glaubte er, die Frau seiner Träume gefunden zu
haben, und war zum ersten Mal in seinem Leben verliebt. Er konn
te jedoch nicht mit ihr schlafen und hatte sich im Bett mehrmals
schmerzlich als Versager erlebt.
Wolfgang war verzweifelt und hatte Angst, diese Frau zu ver
lieren, wenn er seine Impotenz nicht behandelte. Die Sache sei ihm
so peinlich, sagte er, dass er nicht mit einem fremden Menschen
darüber reden könne. Als ich ihm einfiel, hatte er den Gedanken,
mit mir über dieses Thema zu sprechen, zunächst verworfen, weil
ich so starke negative Gefühle in ihm auslöste. Aber dann hatte
sich seine Einstellung zu mir plötzlich radikal verändert. Wie durch
Zauberhand habe sich sein Hass auf mich aufgelöst, und er be
schloss, mich anzurufen und um Hilfe zu bitten. Als ich ihn fragte,
wann das gewesen sei, fand ich heraus, dass er diesen Wechsel ge
nau zu der Zeit erlebte, als ich unsere ägyptische Begegnung ab
schloss.
Wenige Wochen später fand ich auch das noch fehlende Puzz
lestück der ägyptischen Geschichte. Ich machte eine Hypnose-Sit
zung bei meiner Freundin Pauline McCirick, einer Psychoanalyti
kerin aus London. Sobald ich in Trance war, sah ich mich unter
einer sengenden Sonne im Wüstensand liegen. Ich hatte qualvolle
Schmerzen im Bauch, und mein ganzer Körper wand sich in
Krämpfen. Ich wusste, man hatte mich vergiftet, und ich würde
sterben. Mir war aus den Zusammenhängen klar, dass nur meine
Schwester und ihr Liebhaber mich vergiftet haben konnten. Laut
ägyptischem Gesetz hatte sie mich als ihren ältesten Bruder heira
ten müssen, aber ihre Zuneigung gehörte einem anderen Mann.
Ihr Geliebter war ein sehr attraktiver, sportlicher Mann, der im
königlichen Palast die wilden Tiere versorgte. Er gehörte also einer
anderen sozialen Klasse an, und seine Beziehung zu meiner Schwes
ter war nach altem ägyptischen Gesetz illegal. Ich hatte ihre Bezie
hung entdeckt und versucht, sie zu unterbinden. Das ließ ihnen
keine andere Wahl, als mich umzubringen. An einem Punkt sah
198 Teil 4: Haben wir schon einmal gelebt?
ich den ägyptischen Liebhaber meiner Schwester vor mir und
erkannte, dass es Seymour war, im jetzigen Leben Monicas Ex-
Geliebter. Das machte Sinn, denn Seymour war extrem sportlich
und trainierte mehrere Stunden am Tag Gewichtheben und Liege
stütze. Mit seinen enormen Muskelpaketen sah er eher wie ein pro
fessioneller Bodybuilder aus, und nicht wie ein Psychologe.
Während ich dort lag und unter heftigen Schmerzen starb, er
füllte mich die Erkenntnis, dass man mich betrogen und vergiftet
hatte, mit einer blinden, verzehrenden Wut. Ich starb allein in der
Wüste, mein ganzes Wesen war hasserfüllt. Doch durch das Wie
dererleben dieser Situation gewann ich eine hochinteressante Ein
sicht. Ich erinnerte mich daran, dass ich in meinem ägyptischen
Leben die Mysterien von Isis und Osiris praktiziert und ihre Ge
heimnisse gekannt hatte. Das Gift und der Hass auf meine Schwes
ter und ihren Geliebten, das wusste ich, vergifteten auch mein
Denken und umgaben mich mit einer Dunkelheit, in der mein
esoterisches Wissen verlorenging. Deshalb konnte ich mir diese ge
heimen Lehren zum Zeitpunkt meines Todes nicht zunutze ma
chen. Meine Kanäle zu diesem Geheimwissen waren brutal zerstört
worden.
Plötzlich sah ich, dass ich in meinem jetzigen Leben der kom
promisslosen Suche nach diesen verlorengegangenen Lehren viel
Energie gewidmet hatte. Jedesmal, wenn ich auf Informationen
stieß, die direkt oder indirekt mit diesem Thema zusammenhingen
- ob es nun die ägyptische Kultur und Geschichte, uralte Mysteri
en oder andere Hinweise auf mystische Erfahrungen und esote
risches Wissen betraf wurde ich ganz aufgeregt. Meine Suche
gipfelte darin, dass ich LSD entdeckte und erste Erfahrungen mit
kosmischem Bewusstsein machte. Im Licht dieser Einsicht betrach
tet, war meine Arbeit mit psychedelischen Substanzen, die um psy-
chospirituellen Tod und Wiedergeburt kreiste, offensichtlich eine
Wiederentdeckung und Neuformulierung der Abläufe, um die
auch die uralten Mysterien kreisten.
Das karmische Dreiecksverhältnis 199
In einer anschließenden Meditation strömten überraschend viele
Bilder auf mich ein, die Höhepunkte meiner Erfahrungen mit
Monica und Wolfgang zeigten - einige aus dem realen Leben, an
dere aus meinen Sitzungen. Intensität und Geschwindigkeit dieser
Rückblende steigerten sich rasch, bis sie einen explosiven Höhe
punkt erreichte. Ich fühlte mich, als sei eine riesige Blase geplatzt,
und ich war plötzlich völlig klar im Kopf. Übergangslos empfand
ich ein tiefes Gefühl von Befreiung und Frieden. Ich wusste, das
karmische Muster war jetzt vollständig aufgelöst.
Monica und ich blieben während meines restlichen Aufent
halts in Baltimore Freunde. Anspannung und Chaos verschwanden
aus unserem Zusammensein, und keiner von uns verspürte den
Drang, unsere Liebesbeziehung fortzusetzen. Wir hatten beide
begriffen, dass es für uns im jetzigen Leben nicht darum ging, eine
Paarbeziehung einzugehen.
200 Teil 4: Haben wir schon einmal gelebt?
In den Katakomben der Pecherskaya Lavra
Ein früheres Leben im zaristischen Russland
Von früher Kindheit an, soweit ich zurückdenken kann, war ich
fasziniert von fremden Ländern, ihrer Geographie, ihren Men
schen und ihrer Kultur. Die tiefe Sehnsucht, andere Länder zu
bereisen und die Welt zu erforschen, ist immer ein wesentlicher
Teil meiner Persönlichkeit gewesen. Aber in meinen jungen J ahren
schien es, als sei ich, was diese Leidenschaft betraf, zur falschen
Zeit am falschen Ort geboren. Die deutsche Besetzung der Tsche
choslowakei von 1939 bis 1945 und der Schrecken der Naziherr
schaft, die sie mit sich brachte, versetzten meinen Kindheitsträu
men von Reisen in die weite Welt einen schweren Schlag. Nach der
Niederlage Deutschlands durch die Alliierten erlebten unser Land
und seine Einwohner eine kurze erfreuliche Phase der Reisefreiheit.
Im Sommer 1947 konnten mein Bruder und ich in dem kleinen
Fischerdorf Trpanj auf der Halbinsel Peljesac in Jugoslawien fünf
Wochen Ferien machen.
Die Schönheit der Adria und der angrenzenden Gebirgszüge
machte einen tiefen Eindruck auf mich und weckte meine Lust auf
weitere, ausgedehntere Reisen. Meine Begeisterung und Hoffnung
währten jedoch nur kurze Zeit. Nach der Machtübernahme durch
die Kommunisten im Februar 1948, welche die Tschechoslowakei
der Vorherrschaft der Sowjetunion unterstellte, schlossen sich die
Grenzen unseres Landes erneut. Im folgenden Jahrzehnt wurden
In den Katakomben der Pecherskaya Lavra 201
die osteuropäischen Satellitenstaaten der (damaligen) Sowjetunion
nach und nach für Reisende geöffnet, die Sowjetunion selbst jedoch
blieb viele Jahre für tschechische Touristen geschlossen.
1959 hatte ich Gelegenheit, meine Sommerferien in Rumänien
zu verbringen, und hielt mich in der Zeit überwiegend in Mamaia
auf. Dieser internationale Ferienort, der größte am Schwarzen
Meer, war berühmt für seine breiten, kilometerlangen Strände aus
feinstem Sand, für geringe Niederschläge, einen wolkenlosen Him
mel und angenehme Wassertemperaturen. Diese idealen Bedin
gungen genießend, verbrachte ich täglich viele Stunden am Strand.
Hier lernte ich einen russischen Epidemiologen kennen, der Dozent
an der Universität von Kiew war und mit seiner Familie ebenfalls
in Mamaia Urlaub machte. Sie hatten die Strecke von Kiew nach
Mamaia in ihrem neuen Moskvitch zurückgelegt, der Belohnung
für viele Jahre Wartezeit und weitere Jahre, in denen sie einen spar
tanischen Lebensstil pflegten, um so viel Geld wie möglich für den
Wagen zu sparen.
Bei unseren Gesprächen zeigte es sich schnell, dass meine neu
en Freunde die Sowjetunion genauso hassten wie ich. Unser täg
licher Kontakt war für mich eine willkommene Gelegenheit, mein
Russisch zu üben und Insidergeschichten über das Leben in der
Sowjetunion zu erfahren. Wir sprachen über viele Themen, doch
eines machte besonders tiefen Eindruck auf mich. Denn als es um
Kiews historische Stätten ging, erwähnten meine russischen
Freunde die »Pecherskaya Lavra«, ein russisch-orthodoxes Kloster,
das im Inneren eines großen Berges lag. Dieses Kloster bestand aus
einem verschlungenen System von Katakomben und Grotten, die
das Innere des Berges in ein komplexes unterirdisches Labyrinth
verwandelten, das einem riesigen Schweizer Käse glich. An den
Wänden der Flure reihten sich offene Särge mit den Leichnamen
sämtlicher Mönche, die dort im Laufe der Jahrhunderte gelebt hat
ten. Ein ständiger Luftzug und günstige klimatische Bedingungen
mumifizierten die Leichen, sodass sie der Nachwelt erhalten blieben.
202 Teil 4: Haben wir schon einmal gelebt?
Die Pecherskaya Lavra war ursprünglich Teil eines großen religi
ösen Gebäudekomplexes, zu dem auch »Uspensky Sobor«, ein
prächtiger russisch-orthodoxer Tempel, eine Kerzenfabrik, ein
Unternehmen für die Großproduktion von Ikonen und andere
Einrichtungen gehörten. Mein Freund erzählte mir, die russischen
Bolschewiken hätten bei ihrem entschlossenen Kreuzzug gegen die
Religion, in der die Marxisten »Opium fürs Volk« sahen, sehr wohl
gewusst, welche Bedeutung dieses spirituelle Zentrum für das
ukrainische Volk hatte. Sie verzichteten jedenfalls auf brutale Über
griffe auf die dort lebenden Mönche und Nonnen und verhielten
sich, wenn auch widerstrebend, einigermaßen tolerant, weil sie
Volksaufstände befürchteten.
Die Beziehung zwischen dem ukrainischen Volk und der
Sowjetregierung war von Anfang an extrem angespannt. Seit 1922,
als die Sowjetunion die Ukraine annektierte, heizten sowjetische
Gräueltaten die Rebellion gegen die russische Vorherrschaft, die
noch aus zaristischen Zeiten stammte, immer weiter an. Dazu
gehörten auch zwei durch menschliches Verhalten verursachte
Hungersnöte, von denen die zweite von Josef Stalin und seinem
Gefolgsmann Lazar Kaganovich angezettelt wurde. Diese künst
lichen Hungersnöte, in deren Folge Millionen von Menschen star
ben, sollten vor allem den Geist der ukrainischen Bauern brechen
und sie zur Kollektivierung der Landwirtschaft zwingen sowie eine
Renaissance der ukrainischen Kultur verhindern.
Die Geschichten über die Pecherskaya Lavra faszinierten mich.
Während ich meine Freunde über das Kloster sprechen hörte, lie
fen mir kalte Schauer über den Rücken, und mein Herz begann
schneller zu schlagen. Diese Reaktionen erstaunten und verblüff
ten mich, denn sie waren sehr ungewöhnlich und untypisch für
mich. Mir war klar, dass es einen tiefen unbewussten Grund für
diese intensiven Emotionen geben musste, und ich verspürte den
starken Wunsch, die Pecherskaya Lavra zu besuchen und heraus
zufinden, was dahinter steckte.
In den Katakomben der Pecherskaya Lavra 203
Zwei Jahre später, als die Sowjetunion ihre Grenzen für tsche
chische Besucher öffnete, nahm ich an einer der ersten Rundreisen
für Touristen teil, zu der auch Besuche in Kiew, Leningrad und
Moskau gehörten. An sämtlichen Orten, die wir bereisten, über
wachten uns offizielle sowjetische Touristenführer, die uns strenge
Anweisungen gaben und uns nicht erlaubten, uns von der Gruppe
zu entfernen. Individuelle Besichtigungen auf eigene Faust waren
streng verboten, und der Verstoß gegen diese Regeln hätte schwere
politische Konsequenzen gehabt.
Ich nahm an dieser Reise vor allem deswegen teil, weil ich
Kiew besuchen und die Pecherskaya Lavra sehen wollte. Als ich
feststellen musste, dass diese wichtige historische Stätte nicht zu
den Sehenswürdigkeiten gehörte, die wir auf unserer Reise in die
Sowjetunion besuchen würden, war ich sehr enttäuscht. Auf meine
Nachfrage bekam ich von offizieller Seite zur Antwort, Uspensky
Sobor sei im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen zerstört wor
den und es gäbe dort nichts Interessantes zu sehen. Meine rus
sischen Freunde in Mamaia hatten mir jedoch etwas anderes
erzählt. Sie behaupteten, bevor sich die Sowjets aus Kiew zurück
zogen, hätten sie den Uspensky-Tempel mit Sprengstoff gefüllt und
ihn in die Luft gejagt, nachdem die Deutschen Kiew eingenommen
hatten. So schlugen die Sowjets zwei Fliegen mit einer Klappe: Sie
zerstörten das spirituelle Symbol der Ukraine und lenkten die Wut
der Ukrainer auf die Deutschen um.
Aber für mich und meine persönliche Suche war nicht so
wichtig, was mit Uspensky Sobor geschehen war. Mein primäres
Interesse galt der Pecherskaya Lavra und ihren Katakomben. Und
soweit ich wusste, existierte die Pecherskaya Lavra noch; sie hatte
sowohl die Sowjetherrschaft als auch die deutsche Besetzung un
beschadet überstanden.
Kaum war unser Zug in Kiew angekommen, ergriff mich eine
große Ruhelosigkeit. Mein leidenschaftlicher Wunsch, diesen mys
teriösen unterirdischen Friedhof zu besuchen, wurde zu einer ge-
204 Teil 4: Haben wir schon einmal gelebt?
radezu zwanghaften Besessenheit. Auch das war für mich höchst
ungewöhnlich und überhaupt nicht typisch. Ich galt als ein ratio
naler Mensch, der sein Leben relativ ausgeglichen und ohne größe
re emotionale Aufregungen lebte.
Obwohl das politisch sehr riskant war, beschloss ich schließ
lich, mich selbständig zu machen und die Pecherskaya Lavra auf
eigene Faust zu besuchen. Da ich zu der Zeit fließend Russisch
sprach, konnte ich mir ein Taxi organisieren und den Fahrer zum
Kloster dirigieren.
Ich betrat es und wanderte durch das Labyrinth der Katakom
ben, an deren Wänden sich die Mumien sämtlicher Mönche reih
ten, die in all den Jahrhunderten, in denen das Kloster existierte,
hier gelebt hatten und gestorben waren. Ihre knochigen Hände mit
der braunen, pergamentenen Haut waren gefaltet wie zu einem
letzten Gebet. Manchmal öffneten sich die Flure zu kleinen Höh
len, die geschmückt waren mit kerzenbeleuchteten Ikonen, die
eine starke Ausstrahlung hatten. Durch dichte Wolken von
duftendem Räucherwerk konnte ich Gruppen von Mönchen mit
langen Bärten sehen, vertieft in einen monotonen Gesang. Sie
schienen sich alle in tiefer Trance zu befinden, und ihr betörender
Gesang klang wie nicht von dieser Welt.
Mir wurde klar, dass ich mich selbst in einem seltsamen Be
wusstseinszustand befand. Ich wusste auf einmal, dass ich diesen
Ort kannte. Während ich durch die völlig dunklen Katakomben
wanderte, wusste ich, wie der Weg vor mir verlaufen würde. Das
Gefühl, all das schon einmal gesehen und schon einmal hier gewe
sen zu sein, war überwältigend. Einmal sah ich eine Mumie, deren
Hände eine seltsame Haltung einnahmen und nicht zum Gebet
gefaltet waren. Eine Welle von Emotionen stieg in mir auf, die aus
dem tiefsten Inneren meines Wesens zu kommen schien. Nie zuvor
hatte ich so etwas auch nur im Entferntesten erlebt.
Ich beendete meinen Ausflug und verließ den Ort eilig, inner
lich sehr aufgewühlt. Ich hatte keinerlei Zweifel daran, dass ich
In den Katakomben der Pecherskaya Lavra 205
floh, um nicht noch tiefere Reaktionen zu riskieren und völlig in
Verwirrung zu geraten. Mir war klar, dass mein illegaler Besuch in
der Pecherskaya Lavra und die widrigen Umstände nicht gerade
ideale Bedingungen für die tiefenpsychologische Verarbeitung mei
ner Erfahrungen boten.
Seltsam unzufrieden kehrte ich in mein Hotel zurück und
spürte deutlich, dass mein Besuch nicht abgeschlossen war. Ande
rerseits war ich angenehm überrascht, als ich feststellte, dass die
Touristenführer meine Abwesenheit nicht bemerkt hatten, was
bereits als solches ein kleines Wunder war. Ich verbrachte Silvester
in Moskau und hatte Freude an den Kulturschätzen dieser Stadt.
Gemäß dem alten Rat, »wenn du in Rom bist, tue es den Römern
gleich«, trank ich beeindruckende Mengen von Starka, dem ausge
zeichneten Wodka, der nach einem alten Rezept aus der Zarenzeit
hergestellt wird. Mein bemerkenswertestes Bewusstseinsabenteuer
während meines restlichen Aufenthalts in Moskau war der Besuch
der berühmtesten Attraktion der Stadt - einer Schwimmbad-Anla-
ge mit mehreren Becken unter freiem Himmel, wo man in heißem
Wasser baden konnte und in das man von Sprungtürmen hechtete,
auf denen man von der Eiseskälte eingehüllt wurde, die bis zu
minus 30 Grad Celsius erreichte.
Nach meiner Rückkehr aus Russland spielte ich das Erlebnis
in Kiew innerlich immer wieder durch und versuchte, die selt
samen Emotionen zu verstehen, die es bei mir ausgelöst hatte. Lan
ge beschäftigte ich mich jedoch nicht mit diesem seltsamen Inter
mezzo in meinem Leben. Mit großem Engagement wandte ich
mich am Psychiatrischen Forschungsinstitut in Prag der LSD-For-
schung zu. Ich leitete täglich zwei psychedelische Sitzungen und
versuchte herauszufinden, welchen Sinn die hier gemachten Beo
bachtungen ergaben. Diese Erfahrungen stellten mich täglich vor
so viele Herausforderungen und verstießen so beispiellos gegen
das alte Paradigma, dass mein russisches Abenteuer darüber schnell
in Vergessenheit geriet.
206 Teil 4: Haben wir schon einmal gelebt?
Viele Jahre später fand diese Geschichte jedoch eine überraschende
Fortsetzung. Zu der Zeit hatte ich die Tschechoslowakei bereits
verlassen und arbeitete am Maryland-Psychiatric-Research-Center
in Baltimore.
Der Direktor des Zentrums, Dr. Albert Kurland, lud Joan Grant
und Dennys Kelsey ein, ein Paar aus Europa, das bekannt war für
seine interessante Anwendung der Hypnosetherapie und uns vier
Wochen besuchen kam. Joan war Französin und besaß die außer
gewöhnliche Fähigkeit, sich selbst zu hypnotisieren und in eine
Trance zu versetzen, in der sie Erfahrungen aus anderen Zeiten und
Ländern wiedererlebte, die die Qualität von Erinnerungen an
frühere Leben hatten. Sie hatte mehrere Bücher veröffentlicht, die
auf der Rekonstruktion vollständiger früherer Leben basierten,
unter anderem Die Tochter des Pharao, Life As Carola und So Moses
Was Born.
Dennys war ein britischer Psychiater, ausgebildet in Hypnose.
In den gemeinsam mit Joan geleiteten Sitzungen bat Dennys hyp
notisierte Klienten, so weit zurückzugehen, wie es notwendig war,
um die Quelle der Probleme, die sie in die Therapie gebracht hat
ten, ausfindig zu machen. Joan besaß die bemerkenswerte Fähig
keit, sich auf die Erfahrungen der Klienten einzustimmen und
ihnen bei der Lösung ihrer Schwierigkeiten zu helfen. Eine Quelle
der emotionalen und psychosomatischen Symptome der Klienten
waren offensichtlich häufig Ereignisse aus vergangenen Leben. Des
halb gaben die Kelseys ihrem gemeinsam geschriebenen Buch, das
von ihrer Arbeit handelte, den Titel Many Lifetimes (Grant und Kel
sey 1967) (deutsch: Wiedergeburt und Heilung, Ed. Sven Bergh, Ber
lin 1987, Anm.d.Ü.).
Während des Aufenthalts der Kelseys im Zentrum hatten alle
Mitglieder unseres Teams Gelegenheit, in Einzelsitzungen selbst
Erfahrungen mit ihrer Methode zu machen. Ich wollte hier den
Konflikt zwischen Sinnlichkeit und Spiritualität bearbeiten, der
mir zu jener Zeit gerade zu schaffen machte. Meistens fand ich das
in den Katakomben der Pecherskaya Lavra 207
Leben aufregend und konnte die vielen angenehmen Seiten des
menschlichen Daseins begeistert genießen. Gelegentlich jedoch
verspürte ich den starken Impuls, mich aus dem Leben zurückzu
ziehen und mir einen einsam gelegenen Ashram zu suchen, um
dort mein Leben ganz der spirituellen Praxis zu widmen. Dennys
hypnotisierte mich und bat mich, mich zeitlich zurückzuversetzen,
um herauszufinden, wo dieses Problem begonnen hatte.
Sobald ich mich in hypnotischer Trance befand, erlebte ich
mich als kleinen Russenjungen, der in einem großen Garten vor
einem hochherrschaftlichen Haus stand. Ich wusste, ich war in
Russland und Sohn einer aristokratischen Familie. Ich hörte Joans
Stimme wie aus großer Entfernung zu mir sprechen. In einem
sanften, doch energischen Tonfall wiederholte sie immer wieder
den Satz: »Schau zum Balkon!« Ich tat, worum sie mich bat, ohne
mich zu fragen, woher sie wusste, dass ich ein Haus betrachtete,
das einen Balkon besaß. Ich schaute mir den Balkon näher an und
bemerkte dort eine alte Frau mit verkrüppelten, gekrümmten Fin
gern, die in einem Schaukelstuhl saß. Instinktiv wusste ich, sie war
meine Großmutter, und eine Woge von Liebe und Mitgefühl stieg
in mir hoch.
Dann veränderte sich meine Umgebung, und ich sah mich in
einem nahegelegenen Dorf eine Straße entlangwandern. Die ein
fache, aber bunte bäuerliche Welt der Muzhiks (russische Landbe
völkerung, Anm.d.Ü.) war für mich eine aufregende Möglichkeit,
dem strengen, langweiligen Leben meiner Familie zu entkommen.
Die Straßen im Dorf waren schlammig und voller Pfützen, und der
Geruch von Dung hing in der Luft. Die Häuser hatten strohbedeckte
Dächer, und die Menschen trugen schmutzige Lumpen, doch der
Ort pulsierte vor Leben.
Ich betrat die dunkle, primitive Werkstatt eines Schmiedes. Er
stand vor einem glühenden Schmelzofen - ein riesiger, muskulöser
Mann, halb nackt und mit dunkler, lockiger Körperbehaarung.
Durch kraftvolle Schläge mit einem schweren Hammer formte er
208 Teil 4: Haben wir schon einmal gelebt?
ein rot glühendes Stück Eisen, das auf dem Amboss lag. Ich erin
nerte mich plötzlich an eine Szene aus dem ersten Akt von Wag
ners Siegfried, in der Siegfried Nothung schmiedet, das zerbrochene
Schwert, das Wotan Siegfrieds Vater Sigmund gab. Diese Szene und
die mächtige Musik, in der Wagner meisterhaft sämtliche Klänge
ertönen lässt, die beim Schmieden entstehen, hatten mich immer
stark berührt. Dabei begann mein rechtes Auge regelmäßig zu
brennen, unkontrolliert zu zucken und zu tränen. Und jetzt pas
sierte mir plötzlich in der Sitzung genau das Gleiche, nur unver
gleichlich heftiger. Ich verspürte einen brennenden Schmerz in
meinem rechten Auge, meine rechte Gesichtshälfte zuckte, und
Tränen strömten mir über die Wangen.
Doch anders als in früheren Situationen wusste ich diesmal,
warum ich so reagierte. Während ich den Schmied völlig fasziniert
und wie gebannt anstarrte, flog mir ein Stück glühendes Eisen ins
Auge und verursachte schwere Verbrennungen. Weitere emotional
äußerst schmerzhafte Szenen folgten. Ich erlebte noch einmal das
Entsetzen meiner Mutter, als sie mein bis zur Unkenntlichkeit ver
branntes Gesicht sah und sich daraufhin von mir zurückzog und
mich mied. Ich machte noch einmal die Qualen des gespenstisch
entstellten, pubertierenden Jugendlichen durch, gefoltert von
unerfülltem sexuellem Verlangen und verletzt durch wiederholte
Zurückweisungen. Nachdem ich begriffen hatte, dass mir das welt
liche Leben keinen Platz mehr bot, flüchtete ich mich völlig ver
zweifelt und entmutigt ins Klosterleben. Die Scham und Demüti
gung, die das erzwungene Zölibat in mir auslösten, verbarg ich
hinter dem falschen Stolz der Entsagung, und ließ mich in der
Pecherskaya Lavra zum Mönch weihen.
Als ich mich bewusst auf die Erinnerung an mein Leben in
diesem Kloster einließ, verkrampften sich meine Hände. In den
Jahrzehnten, die ich in der Dunkelheit der Katakomben verbrachte,
so wurde mir klar, hatten meine Finger an beiden Händen starke
Verwachsungen erlitten. War das Arthritis, verursacht durch die
In den Katakomben der Pecherskaya Lavra 209
ungesunden Lebensbedingungen, oder die hysterische Reaktion
eines Neurotikers, in der seine tiefe Unzufriedenheit mit dem
Leben zum Ausdruck kam? Ist es möglich, dass ich mir für dieses
psychosomatische Symptom die organische Krankheit zum Vorbild
nahm, die auch die Hände meiner geliebten Großmutter verkrüp
pelt hatte?
Die letzte Szene meiner hypnotischen Rückführung zeigte
meinen Tod. Er beendete ein Leben voller Leid, und ich hätte ihn
als Befreiung aus dem Gefängnis eines für immer entstellten Kör
pers erleben können. Doch ein unerwartetes Hindernis nahm mir
diese Möglichkeit, in meinen letzten Stunden Frieden und Versöh
nung zu finden. In der Pecherskaya Lavra war es Sitte, die Körper
der Verstorbenen in offene Särge zu legen, die sich an den Wänden
der Katakomben reihten, und ihre Hände zum Gebet zu falten. Das
galt als symbolischer Ausdruck für den gelungenen Abschluss eines
guten, Gott geweihten Lebens.
Aber meine verkrüppelten Hände, die irgendein patholo
gischer Vorgang mit der Zeit in hässliche, deformierte Krallen ver
wandelt hatte, ließen sich nicht zu der symbolischen Segensgeste
falten, die meinen erfolgreichen Abschluss des Klosterlebens wider
gespiegelt hätte.
Ich begann zu weinen, überwältigt von einer Mischung aus
Wut, Kummer und Selbstmitleid. Ich hasste dieses Leben im Klos
ter und beneidete die glücklichen Menschen, die einen intakten,
schönen Körper besaßen und das Leben in der Welt da draußen
genossen. Mein Aufenthalt hier war keine freie Entscheidung. Ich
hatte mich aus der Welt zurückgezogen, um vor meinen Gefühlen
von Scham, Ablehnung und Demütigung zu fliehen. Und dass mir
jetzt auch noch die Möglichkeit verwehrt wurde, ein Leben, das
mir so unbeschreiblich viel Leid gebracht hatte, formal abzuschlie
ßen, war mehr, als ich ertragen konnte. Ich begann, unkontrolliert
zu schluchzen, mein ganzer Körper zuckte, und Tränen strömten
mir aus den Augen.
210 Teil 4: Haben wir schon einmal gelebt?
An diesem Punkt schaltete sich Joan mit ihrer unglaublichen Intu
ition ein. Sie nahm meine verspannten, verrenkten Hände und
massierte sie sanft und zärtlich. Als meine Hände sich schließlich
entspannten, faltete Joan sie zur Gebetshaltung und umschloss sie
mit ihren eigenen Händen, damit sie diese Position beibehalten
konnten. Ich spürte, dass ich mit ihrer Hilfe mein unglückliches
Leben in der Pecherskaya Lavra schnell zum Abschluss bringen
und mich damit versöhnen konnte. In den langen Jahren, die ich
unfreiwillig als Mönch verbrachte, hatten sich in meiner Psyche
und meinem Körper unglaublich viele negative Emotionen ange
staut, die sich nun lösten. Allmählich traten an ihre Stelle Gefühle
von tiefer Entspannung, innerem Frieden, Seligkeit und Liebe.
Ich hegte keinerlei Zweifel daran, dass ich hier eine tiefe Hei
lung erlebte. Mein Leben, wie es sich nach dieser Sitzung gestaltete,
bestätigte diese intuitive Gewissheit. Seit der Sitzung mit den Kel
seys habe ich mich nie wieder im Konflikt befunden zwischen Spi
ritualität und dem lustvollen Genuss all dessen, was das Leben uns
zu bieten hat - die Natur, Arbeit, Essen, Sexualität und vieles ande
re, »was unseres Fleisches Erbteil ist«.
Ich beendete die Sitzung in der Überzeugung, dieses Thema abge
schlossen zu haben. Jahre später jedoch tauchten einige Aspekte
dieser Geschichte mitten in einem der einmonatigen Workshops,
die Christina und ich am Esalen-Institut in Big Sur leiteten, überra
schend wieder auf. Wir hatten Dick Price, Mitbegründer von Esalen
und einer der ersten Schüler von Fritz Perls (Begründer der Ge
stalttherapie), als Gastdozent eingeladen, und er gab Caroline,
einer jungen Gruppenteilnehmerin, eine Gestaltsitzung. Vor Be
ginn der Sitzung beschrieb Caroline die unerklärliche Anziehung,
die sie zu Russland, seinem Volk und seiner Kultur verspürte. Sie
lernte Russisch und sang gern russische Lieder.
Sie wollte sich in ihrer Sitzung mit den schädlichen Folgen
auseinandersetzen, die ihr elfjähriger Aufenthalt in einem katho
In den Katakomben der Pecherskaya Lavra 211
lischen Nonnenkloster auf ihre Sexualität, ihre Lebendigkeit und
Lebenslust hatte. Als sie ihre enorme Wut und den Kummer zum
Ausdruck brachte, die bei dem Gedanken an diese vertanen Ju
gendjahre bei ihr hochkamen, fühlte ich mich ihr zunehmend ver
wandt. Ich wusste augenblicklich: Diese Gefühlsverwandtschaft
beruhte darauf, dass ihr Leben und mein früheres Leben in Russ
land sich so ähnlich waren. Mich überraschte jedoch, wie heftig ich
reagierte. Wieder begann mein rechtes Auge zu brennen, das Augen
lid zuckte unkontrolliert, und Tränen strömten mir übers Gesicht.
Während ich Caroline durch den Tränenschleier beobachtete,
veränderte sich ihr Gesicht ständig, bis sie aussah wie meine Mut
ter in der russischen Inkarnation. Plötzlich war ich wieder der
russische Junge, den man nach dem Unfall in der Werkstatt des
Schmiedes nach Hause brachte, wo meine Mutter mit meiner Ent
stellung konfrontiert war. Obwohl Caroline eindeutig Emotionen
aus ihrem jetzigen Leben verarbeitete, sah ich sie zugleich als mei
ne Mutter, der in meinem früheren Leben beim Anblick meines
entstellten Gesichts das Herz brach. Als Carolines Sitzung beendet
war, war ich völlig aufgewühlt. Erschüttert und verwirrt machte
ich mich auf den Weg zum Mittagessen und ging auf die Tür zu.
Ich öffnete sie - und erstarrte.
Vor mir sah ich das unglaublich entstellte Gesicht einer jungen
Frau, die den Raum genau in dem Augenblick betreten wollte, als
ich im Begriff war, ihn zu verlassen. Ich war innerlich immer noch
so beschäftigt mit meinem russischen Leben, dass ich einen
Moment lang glaubte, in den Spiegel zu schauen. Wie sich später
herausstellte, handelte es sich bei der Besucherin, die den Schau
platz genau in diesem Augenblick betrat, um Carolines Freundin
Victoria. Sie hatte vom Maryland-Programm gelesen, das Krebs
kranken die Möglichkeit bot, psychedelische Sitzungen zu nehmen,
und war gekommen, um sich nach einer LSD-Sitzung zu erkundigen.
Als wir uns zusammensetzten, erzählte sie mir ihre unglaubliche
Geschichte.
212 Teil 4: Haben wir schon einmal gelebt?
Sie wurde als eineiiger Zwilling geboren, doch ihre Zwillingsschwes
ter starb kurz nach der Entbindung. Zu ihrer großen Bestürzung
fanden die Eltern später heraus, dass man im Krankenhaus die Na
mensschilder verwechselt hatte und das überlebende Mädchen den
Namen ihrer toten Schwester trug. Als sie 4 Jahre alt war, fiel Vic
toria aus dem Heckfenster eines fahrenden Wagens und wäre an
den Folgen dieses Unfalls fast gestorben. Kurz nach der Genesung
von ihren Verletzungen traten bei ihr Symptome einer sehr seltenen
Form von Hautkrebs auf. In den folgenden Jahren schritt die
Krankheit immer weiter fort, und Victoria hatte mehrere plastische
Operationen, die ihr Gesicht in ein Flickwerk aus tiefen Narben
und transplantierten Hautfetzen verwandelten.
Sie hatte sich zu ihrer mysteriösen Krankheit eine höchst selt
same Theorie zugelegt. Sie glaubte, dass sie bei ihrer Nahtoderfah-
rung mit dem Jenseits Kontakt aufgenommen und die Identität ih
rer toten Zwillingsschwester angenommen hatte, deren Namen sie
trug. Diesem Umstand verdankte sie die wachsende Zerstörung
ihres Körpers. Sie identifizierte sich stark mit dem geächteten
Phantom der Oper, litt unter schweren Depressionen und über
legte ernsthaft, ob sie ihrem Leid nicht durch Selbstmord ein Ende
setzen sollte.
Keine der bislang ausprobierten Behandlungsmethoden hatte
ihren emotionalen Zustand nachhaltig verbessert. Als sie von den
tiefen Wirkungen der psychedelischen Therapie las, beschloss sie,
sie selbst auszuprobieren.
Christina und ich erklärten uns einverstanden, ihr eine Sitzung
mit hochdosiertem LSD zu geben. Es war für uns alle eine inten
sive und bedeutungsvolle Erfahrung, denn in Victorias Sitzung
ging es um ein breites Spektrum an Themen. Sie setzte sich mit
dem Schmerz und dem Kummer ihres tragischen Zustands ausei
nander, schaute sich noch einmal den Unfall an, den sie als Kind
hatte, und kam in Kontakt mit dem Trauma ihrer Geburt und dem
Tod ihrer Zwillingsschwester. Doch sie blieb nicht sehr lange bei
in den Katakomben der Pecherskaya Lavra 213
diesen Themen, sondern verbrachte ihre Sitzung überwiegend in
einem Zustand von Seligkeit und kosmischem Einssein. Durch
dieses außergewöhnlich tiefe Erlebnis hatte Victoria das Gefühl,
sich mit ihrem jetzigen tragischen Leben und mit Gott zu ver
söhnen.
Während sie diese tiefe ekstatische Freude erlebte, schien sie
eine Aura von leuchtender Kraft zu umgeben. Obwohl Christina
und ich dicht neben ihr saßen, sahen wir ihre Narben nicht mehr.
Victorias Gesicht war absolut glatt und wunderschön. Das ging,
was uns betraf, eindeutig auf das Phänomen zurück, das wir
»contact high« (das Phänomen, vom durch Drogen ausgelösten
»High« anderer Menschen angesteckt zu werden, ohne selbst wel
che genommen zu haben, Anm.d.Ü.) zu nennen pflegten. Ein paar
Stunden später war unsere Wahrnehmung wieder auf dem norma
len Level. Victoria jedoch konnte von der neuen Lebenseinstellung,
die sie in ihrer Sitzung gewonnen hatte, vieles mitnehmen. Für
mich stellte der Anblick von Victorias geheiltem, schönem Gesicht
den endgültigen Abschluss meines Abenteuers mit dem früheren
russischen Leben dar.
Obwohl seit unserer Sitzung mit Victoria inzwischen mehr als
ein Vierteljahrhundert vergangen ist, bin ich nicht auf weitere Teile
dieses karmischen Puzzles gestoßen. Ich bin dieses ungewöhnliche
Abenteuer innerlich wiederholt durchgegangen, um genau zu
verstehen, wie die Beziehungen zwischen den Hauptfiguren dieser
Geschichte in dem früheren und im jetzigen Leben Zusammen
hängen.
Während die Verbindung zwischen meiner Identität in diesem
Leben und dem unglücklichen Dasein als Mönch ziemlich eindeu
tig ist, bleibt jedoch rätselhaft und verschwommen, wie Victoria
und der entstellte Mönch, wie Caroline und meine russische Mut
ter, wie mein jetziges Ich und Victoria sowie Victoria und Caroline
in dieser Geschichte Zusammenhängen und welche Rolle Christina
darin spielt.
214 Teil 4: Haben wir schon einmal gelebt?
Auch wenn die in dieser Geschichte beschriebenen Erfahrungen,
die mit außerordentlichen Synchronizitäten verbunden waren, uns
einen Einblick in das komplizierte unsichtbare Gewebe hinter un
serer alltäglichen Realität gewähren, ist diese tiefe Dynamik doch
so weit verborgen, dass die mysteriösen Naturgesetze, die in der
karmischen Welt wirken, geschützt bleiben.
Wenn spirituelle Erfahrungen gefährlich werden 215
Wenn spirituelle Erfahrungen gefährlich werden
Wiederholungsbesuch bei der
Hexenverfolgung in Salem
hristina und ich wohnten 1976 mehrere Monate im »Round
House« des Esalen-lnstituts in Big Sur, Kalifornien. Dieses be
zaubernde kleine Gebäude lag an dem Bach, der das Grundstück
von Esalen in zwei Hälften teilte. Das munter dahineilende Wasser
des Baches kam oben vom Bergkamm und bildete, kurz bevor es in
den Pazifischen Ozean floss, einen Wasserfall. Aus einer Öffnung
im Boden vor dem Haus schoss heißes Mineralwasser in Fontänen
und plätscherte in einen kleinen privaten Pool. Laut lokaler Sage
entsprangen die heißen Quellen von Esalen unterirdischen, mitei
nander verbundenen Höhlen vulkanischen Ursprungs, die unter
weiten Teilen Kaliforniens verliefen.
Das Rauschen des Baches und das Tosen des Wasserfalls waren
starke sinnliche Eindrücke. Noch beeindruckender war jedoch die
energetische Ausstrahlung dieses Ortes. Wir haben im Laufe der
Jahre viele Menschen mit übersinnlichen Fähigkeiten als Gastdo
zenten in unsere Workshops nach Esalen eingeladen - Hellsichtige,
Schamanen aus vielen verschiedenen Teilen der Welt, Mitglieder
der Spiritistischen Kirche, indische Yogis und tibetische Meister.
Sie alle stimmten darin überein, dass das Gelände, auf dem das
Round House stand, ein »Kraftplatz« war, ein Ort, an dem außer-
C
216 Teil 4: Haben wir schon einmal gelebt?
gewöhnliche spirituelle Energien wirkten. Wer die Wirkung dieses
Ortes auf Menschen wissenschaftlich zu erklären suchte, schrieb
sie der hohen Konzentration von negativen Ionen zu, die darauf
beruhte, dass das Haus in unmittelbarer Nähe zum Ozean, dem
tosenden Wasserfall und den gigantischen Redwood-Bäumen lag,
die beide Ufer des Baches säumten.
Welche Gründe auch immer dafür verantwortlich sein moch
ten, das Leben im Round House hatte bei uns beiden tiefe Auswir
kungen auf unsere Psyche. Man kam hier ungewöhnlich leicht in
einen meditativen Zustand. Oft glitt ich übergangslos in Trance,
vergaß unsere geographischen und historischen Koordinaten und
hatte das Gefühl, unser kleines Feenreich läge irgendwo an einem
archetypischen Ort jenseits von Zeit und Raum. Für Christina, die
damals ihre spirituelle Krise durchmachte, sahen die Auswirkungen
so aus, dass sich ihre inneren Prozesse erheblich verstärkten. An
einem Wochenende machte sie so intensive Erfahrungen, dass es
einer psychedelischen Sitzung gleichkam.
Nach einer Zeit heftiger Ängste und unangenehmer Körper
empfindungen hatte sie ein tiefes Erlebnis, das sie als Erinnerung
an eines ihrer früheren Leben empfand. In diesem Leben wohnte
sie als heranwachsendes Mädchen in Salem, Neuengland, und er
lebte wiederholt außergewöhnliche Bewusstseinszustände. Für ihre
Nachbarn, die als christliche Fundamentalisten einem bigotten
Wahn anhingen, waren diese Zustände ein Zeichen dafür, dass das
Mädchen vom Teufel besessen war. Sie klagten sie als Hexe an, und
zwei Richter in zeremoniellen Roben verhörten sie und verurteilten
sie zum Tod durch Ertrinken.
Diese Erinnerung an ein früheres Leben gipfelte in Christinas
Hinrichtung durch Ertrinken. Sie erlebte, wie man sie zu einem
Teich trug, an einem Balken festband und dann mit dem Kopf zu
erst unter Wasser tauchte. Sie konnte noch sehen, dass um den
Teich lauter Birken standen. Während sie ihren Tod durch Ertrin
ken noch einmal durchlebte, schrie und würgte sie, und dabei floss
Wenn spirituelle Erfahrungen gefährlich werden 217
ihr aus Mund und Nase sehr viel Schleim. Vor allem aus der Nase
sonderte sie enorme Mengen an Sekreten ab. Ich trug an dem Tag
ein Flanellhemd, dessen Vorderseite, als Christinas Erlebnis ende
te, regelrecht imprägniert war von getrocknetem Schleim.
Als sie noch auf Hawaii lebte, hatte Christina unter schweren
Allergien und chronischer Nasennebenhöhlen-Entzündung gelit
ten. Man hatte sie mehrfach untersucht und getestet und viele
Behandlungen ausprobiert, darunter auch eine Reihe von Injekti
onen für eine Desensibilisierung. Die Ärzte, frustriert, weil ihre Be
handlungsversuche nichts fruchteten, schlugen schließlich eine
Operation vor, bei der die Nebenhöhlen ausgeschabt und gereinigt
werden sollten. Christina hatte sich gegen diese Radikalkur ent
schieden und ihre Beschwerden schließlich einfach akzeptiert.
Nach diesem inneren Erlebnis mit ihrer Verurteilung und ihrem
Tod in Salem stellte sie zu ihrer großen Überraschung fest, dass
ihre Nasennebenhöhlen-Entzündung verschwunden war.
Glücklicherweise war mein Glaube an die über jeden Zweifel
erhabene und streng bewiesene »wissenschaftliche Weltanschau
ung«, die ich einmal vertreten hatte, inzwischen durch viele ähn
liche Beobachtungen ernsthaft ins Wanken geraten. Sonst hätte
mich dieses Erlebnis in eine schwere Denkkrise gestürzt. Es ent
behrte durchaus nicht eines gewissen kosmischen Humors, dass
Christinas Beschwerden, die gegen die geballten Anstrengungen
wissenschaftlicher Experten resistent geblieben waren, durch ein
karmisches Erlebnis verschwanden, bei dem es um Ignoranz, reli
giösen Fanatismus und die falsche Anklage wegen Hexerei ging.
Jahre später, als Christina und ich in Boston einen Workshop für
Holotropes Atmen gaben, hatte diese Episode ein interessantes
Nachspiel: Der Workshop endete abends, und unser Flug zurück
nach San Francisco ging erst am Spätnachmittag des folgenden
Tages. Deshalb hatten wir noch Zeit, uns die Stadt anzuschauen.
Wir beschlossen, Marilyn Hershen anzurufen, eine Psychologin
218 Teil 4: Haben wir schon einmal gelebt?
und gute Freundin von uns, die auch zu Swami Muktanandas
innerem Kreis gehört hatte. Wir waren ihr zu Beginn der 1980er-
Jahre, als wir in Bombay zusammen eine große internationale Trans
personale Konferenz organisierten, sehr nahe gekommen. Marilyn
war ganz aufgeregt vor Freude und bot uns an, den Tag mit uns zu
verbringen und uns die Gegend zu zeigen.
Als wir überlegten, wo wir mittags essen gehen könnten, schlug
Marilyn ihr Lieblingsrestaurant vor, das in der Nähe von Salem am
Meer lag. Als wir dort ankamen, stellten wir fest, dass es »Haw-
thorne Inn« hieß. Natürlich fiel uns sofort Nathaniel Hawthorne
ein mit seinem Buch Der scharlachrote Buchstabe, das von Hexen
handelt. Beim Essen erzählte Christina Marilyn von ihrer Erinne
rung an das frühere Leben, in dem es um die Hexenverurteilungen
von Salem ging. Marilyn reagierte erstaunt, denn sie hatte in einer
ihrer Meditationen im Siddhi-Yoga-Ashram ein ähnliches Erlebnis
gehabt.
Da Salem nur wenige Meilen entfernt lag, schien es plötzlich
naheliegend, die Stadt zwischen Mittagessen und dem Abflug nach
Kalifornien zu besichtigen. Als wir dort ankamen, erkundigte sich
Christina bei Marilyn, ob es in Salem einen Teich gäbe. Marilyn,
die ihre Kindheit in Salem verbracht hatte, verneinte diese Frage
entschieden. Doch dann bog sie plötzlich falsch ab, was sie selbst
überraschte, da sie die Stadt gut kannte. Dieser ungeplante Abste
cher brachte uns zu einem Teich in der Nähe des Ozeans. Es sah
aus, als sei dieser kleine See ursprünglich eine Bucht gewesen, die
man vor langer Zeit durch einen Steindamm vom Meer abgetrennt
hatte.
Christina stieg wie benommen aus dem Wagen. Sie blickte sich
um und wirkte enttäuscht. »Ich sehe keine Birken«, sagte sie und
begann um den Teich herumzuwandern. »Wo gehst du hin?«,
fragten wir sie. »Hier müssen welche sein«, sagte sie und setzte
ihren Rundgang fort. Wir parkten den Wagen und schlossen uns
ihr an. Schließlich entdeckte Christina auf der anderen Seite des
Wenn spirituelle Erfahrungen gefährlich werden 219
Teiches eine Birke. Ihr Stamm war umgeknickt und die Krone ins
Wasser getaucht. »Seht ihr, da standen sie«, sagte sie. »Das muss
die letzte sein.«
Wir kehrten zum Wagen zurück und beschlossen, das Ge
richtsgebäude zu besuchen, in dem die Prozesse stattgefunden
hatten. Auf dem Weg dorthin erzählte Christina Marilyn, dass sie
in den beiden Richtern aus ihrem früheren Leben ihren Ex-Ehe-
mann und ihren Vater aus ihrem jetzigen Leben erkannt habe.
»Aber die Urteile hat immer nur ein Richter gefällt«, protestierte
Marilyn. »Es waren zwei Richter!«, sagte Christina bestimmt. Als
wir am Gerichtsgebäude ankamen, stellten wir fest, dass es ge
schlossen war. Doch neben dem Haupteingang stand eine große
Tafel, auf der die Hexenprozesse beschrieben wurden. Hier bestä
tigte sich Christinas Erfahrung, dass zwei Richter die Urteile von
Salem verhängt hatten.
Bevor wir zum Wagen zurückkehrten, kaufte ich in einem
Souvenirladen eine illustrierte Broschüre über Salem, in der auch
die Geschichte der Hexenverurteilungen stand. Während Marilyn
uns zum Flughafen fuhr, las ich den beiden Frauen aus diesem
Buch vor. Wir fanden heraus, dass die Mädchen, die man wegen
Hexerei verurteilte, häufig die Sklavendienerin Tituba besucht hat
ten, die angeklagt war, mit dem Teufel im Bunde zu stehen. Tituba
war eine Indianerin aus einem Dorf der Arawak in Südamerika, wo
sie als Kind in Gefangenschaft geriet, nach Barbados verschleppt
und als Sklavin verkauft wurde. Wir kamen zu dem Schluss, dass
Tituba den Mädchen schamanistische Künste beibrachte, in denen
unwissende Nachbarn ein Werk des Teufels gesehen hatten.
Die interessanteste Information in diesem kleinen Führer war,
dass Old Salem, wo viele dieser historischen Ereignisse stattfanden,
heute Danvers hieß. Das war ein richtiger Schock für uns. ln Dan-
vers hatten wir 1978 eine große Konferenz der »International Trans
personal Association« (ITA) veranstaltet. Bei dieser Konferenz
stellten wir zum ersten Mal unser Konzept der »spirituellen Krise«
220 Teil 4: Haben wir schon einmal gelebt?
vor, dessen Kernaussage war, dass die Mainstream-Psychiater viele
außergewöhnliche Bewusstseinszustände, die in Wirklichkeit Aus
druck einer psychospirituellen Krise sind, als Psychosen diagnosti
zieren und oft mit drastischen Methoden wie Insulinkoma und
Elektroschocks behandeln.
Bei unserem Vortrag in Danvers hatten wir dargelegt, dass die
se Krisen der spirituellen Öffnung, wenn wir sie richtig verstehen
und begleiten, tatsächlich heilsame und transformative Erlebnisse
sein und die Entwicklung der davon betroffenen Menschen för
dern können. Wir hielten diesen Vortrag in einem Saal, von dem
aus man eine altmodische psychiatrische Klinik am anderen Ende
des Tals sehen konnte, die den übelsten Ruf im ganzen Land hatte.
Man setzte dort immer noch Schocktherapien ein, die große Ähn
lichkeit mit den Foltermethoden hatten, die in der Inquisition und
bei den Hexenverfolgungen üblich gewesen waren.
Wir waren völlig verblüfft über diese unglaubliche Synchroni-
zität. Ohne dass Christina damals darum wusste, stellten wir unser
modernes Plädoyer für eine radikale Änderung der Einstellung zu
außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen ausgerechnet an dem
Ort vor, wo sich ihr früheres Leben abgespielt hatte. Und die Ursa
che für ihr Leiden und ihren Tod in dieser karmischen Episode
waren die Missverständnisse in Bezug auf außergewöhnliche Be
wusstseinszustände und deren Fehlinterpretation.
Völlig beschäftigt mit diesem Drama, erreichten wir den Flug
hafen in letzter Minute. Wir rannten durch die Sperre, und sowie
wir das Flugzeug betraten, schlossen sich die Türen hinter uns. Wir
ließen uns in unsere Sitze fallen, legten die Sicherheitsgurte an und
begannen die ungewöhnlichen Ereignisse dieses Tages im Gespräch
zu verarbeiten. Sobald wir unsere Flughöhe erreicht hatten, trug
die Stewardess aus der ersten Klasse Gläser mit Rotwein und Weiß
wein auf einem Tablett in die Touristenklasse.
Ich glaubte meinen Augen nicht zu trauen: Sie hatte sehr dunk
le Haut, und um ihren Kopf wogte eine wirre Korona aus langen,
Wenn spirituelle Erfahrungen gefährlich werden 221
ungekämmten Rastalocken, die in alle Richtungen abstanden. Un
fassbar, dass sie mit dieser Frisur vor dem strengen Blick ihrer Vor
gesetzten, die doch immer peinlich genau auf die äußere Erschei
nung ihres Personals achteten, hatte bestehen können. »Da kommt
Tituba, dein Mädel aus Barbados«, sagte ich witzelnd zu Christina.
Die Stewardess kam auf uns zu und warf Christina einen langen,
bedeutungsvollen Blick zu. »Wir haben aus der ersten Klasse ein
paar Gläser Wein übrig«, sagte sie. »Hätten Sie vielleicht gern
eins?« Und als sei diese Frage von großer Bedeutung, fügte sie nach
einer kleinen Pause in einem ernsten Tonfall hinzu: »Möchten Sie
roten oder weißen Wein?«
Wir nahmen uns beide ein Glas und grübelten über diese wei
tere eigenartige Synchronizität nach. Die Stewardess kam noch ein
mal zu uns, diesmal trug sie auf ihrem Tablett Nelken. Sie lächelte
uns an und sagte: »Wir haben auch ein paar Blumen übrig.« Sie
hielt Christina das Tablett hin und sagte ebenso ernst wie zuvor:
»Hätten Sie gern eine rote oder eine weiße?« Christina zögerte ei
nen Moment und nahm dann eine weiße. Später erzählte sie mir,
nach alledem, was an diesem Tag passiert war, habe sie das Gefühl
gehabt, dass diese simple Entscheidung von großer karmischer
Bedeutung sei. Sie wählte die weiße Nelke (engl.: carnation, also
wortverwandt mit incarnation = Inkarnation, Anm.d.Ü.), weil sie
ihr wie ein Symbol für den gelungenen Abschluss dieser drama
tischen Ereignisse in ihrem Leben vorkam.
Dass diese Erinnerungen an Erlebnisse aus früheren Leben mit all
ihren bemerkenswerten und typischen Eigenschaften existieren, ist
eine unbezweifelbare Tatsache, die jeder ernsthafte Forscher, der
geistig aufgeschlossen und daran interessiert ist, das Beweismateri
al zu überprüfen, bestätigen kann. Klar ist auch, dass es im theore
tischen Rahmen der Mainstream-Psychiatrie und -Psychologie kei
ne plausible Erklärung für diese Phänomene gibt. Selbst wenn die
beeindruckenden Fakten nicht unbedingt definitiv »beweisen«,
222 Teil 4: Haben wir schon einmal gelebt?
dass wir den Tod überleben und uns als ein und dieselbe Bewusst
seinseinheit oder individuelle Seele reinkarnieren, stellen sie für
die traditionelle Wissenschaft eine enorme gedankliche Herausfor
derung dar und haben das Potenzial, das augenblickliche Paradig
ma radikal in Frage zu stellen.
Nachdem ich Hunderte von diesen Erfahrungen aus früheren
Leben miterlebt und selbst viele eigene gemacht habe, muss ich
Chris Bache zustimmen, der sagt, dass »das Beweismaterial auf die
sem Gebiet so reich und außergewöhnlich ist, dass Wissenschaft
ler, die das Problem der Reinkarnation als ernsthaftes Studienobjekt
verwerfen, entweder uninformiert oder borniert sind« (Bache
1988).
Teil 5
Außersinnliche Wahrnehmungen und Jenseits
Die Welt des Paranormalen
erforschen
Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und Jenseits 225
n diesem Teil des Buches schildere ich Ereignisse und Erfah
rungen mit Phänomenen, die als paranormal, außersinnlich oder
PSI bekannt sind. Die systematische wissenschaftliche Erforschung
außersinnlicher Phänomene geht vor allem auf Parapsychologen
zurück, doch auch in der Literatur anderer Disziplinen wie An
thropologie und vergleichender Religionswissenschaft finden wir
viele Formen dieser Forschungsrichtung. Im gesamten 20. Jahr
hundert war die Parapsychologie Gegenstand hitziger Kontrover
sen, weil sie sich auf die Erforschung von außersinnlichen Wahr
nehmungen (ESP) - (extrasensory perception, Anm.d.Ü.) und
weiterer Fähigkeiten, Ereignisse und Vorgänge spezialisiert hat, die
wir mit Hilfe der existierenden wissenschaftlichen Theorien nicht
erklären können.
Aus der Sicht der traditionellen Wissenschaftler sind außer
sinnliche Phänomene unmöglich, weil es hier um einen Wissens
transfer oder eine Beeinflussung materieller Vorgänge geht, die
nicht über die bekannten Kanäle und Kräfte erfolgen. Ein gemein
samer Nenner der Erfahrungen und Ereignisse, die wir zu dieser
Kategorie rechnen, ist, dass sie die üblichen Grenzen von Raum
und Zeit überschreiten. Außersinnliche Phänomene können sich
unter ganz gewöhnlichen Umständen manifestieren und beruhen
nicht zwangsläufig auf einer Veränderung des Bewusstseins. Holo-
trope Zustände begünstigen ihr Auftreten jedoch deutlich.
I
226 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und Jenseits
Um einen Rahmen für die Berichte in diesem Teil des Buches zu
schaffen, möchte ich einige außersinnliche Ereignisse, die das Inte
resse und die Aufmerksamkeit der Parapsychologen auf sich gezo
gen haben, kurz beschreiben und definieren:
Telepathie ist der direkte Zugang zum Denkprozess einer anderen
Person ohne Benutzung von Worten, nonverbalen Hinweisen,
Signalen oder anderen üblichen Kommunikationsmitteln. Bei
außerkörperlichen Erfahrungen ist das vom Körper gelöste Bewusst
sein imstande, sich im Raum zu bewegen und seine Umgebung
präzise wahrzunehmen. Schließt diese Form der Wahrnehmung
weit entfernte Orte ein, bezeichnen wir sie als astrale Projektion.
Präkognition ist die präzise Vorausahnung zukünftiger Ereig
nisse ohne objektive Hinweise. Der Begriff Hellsichtigkeit bezeich
net die Fähigkeit, ohne Hilfe der üblichen Kanäle Zugang zu Infor
mationen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu gewinnen
und dabei räumliche oder zeitliche Grenzen oder beides zu über
winden. Psychometrie nennen wir den Vorgang, bei dem durch
gründlichen taktilen Kontakt (also durch Abtasten) mit einem
Objekt Informationen über dieses Objekt oder Tatsachen und Ein
drücke über die Person gewonnen werden, die dieses Objekt
besitzt. Der Begriff Psychokinese bezeichnet Situationen, in denen
materielle Objekte oder Prozesse durch psychische Kräfte beein
flusst werden.
Ein weiteres Thema, das die Parapsychologen fasziniert, seit
1882 zwei Gelehrte aus Cambridge die »Society for Psychic
Research and Parapsychology« (Gesellschaft zur Erforschung para
psychologischer Phänomene, Anm.d.Ü.) gründeten und die Para
psychologie eine eigenständige Disziplin wurde, ist das mögliche
Überleben des Bewusstseins nach dem Tod.
Der Glaube an die Weiterexistenz nach dem biologischen Ab
leben findet sich in allen alten Kulturen, vorindustriellen Gesell
schaften und spirituellen Traditionen der Welt. Früher haben die
Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und Jenseits 227
Wissensgemeinschaft und akademische Kreise die Bemühungen
der Parapsychologen, Beweismaterial für die Weiterexistenz aufzu
spüren, verhöhnt und lächerlich gemacht, ln der zweiten Hälfte
des 20. Jahrhunderts jedoch hat die Bewusstseinsforschung sehr
viele Beobachtungen gesammelt, die diesen Gedanke nicht so ab
wegig erscheinen lassen, wie er einem Menschen Vorkommen mag,
dessen geistige Umgebung von der materialistischen Wissenschaft
geprägt ist. Auch wenn diese neuen Daten nicht als »Beweise« für
die Weiterexistenz des individuellen Bewusstseins nach dem Tod
gelten können, stellen sie die traditionelle Wissenschaft mit Sicher
heit vor eine große theoretische Herausforderung. Und mit Hilfe
der Bewusstseinsforschung können wir auch verstehen, warum
dieser Glaube so universell verbreitet ist und sich beharrlich hält.
Der Gedanke, dass das Bewusstsein den Tod zu überleben ver
mag, ist in Wirklichkeit kein Glaube, keine völlig unbegründete
Wunschphantasie von naiven Menschen, die ihre eigene Vergäng
lichkeit und den Tod nicht akzeptieren können. Er beruht vielmehr
auf zahlreichen, außergewöhnlichen Erfahrungen und Beobach
tungen, die sich den rationalen Erklärungsmodellen der materialis
tischen Wissenschaft nicht fügen. Wir haben uns in diesem Buch
bereits an früherer Stelle Beobachtungen und wissenschaftliche
Forschungen über Erinnerungen an frühere Leben und die Frage
der Reinkarnation angeschaut.
Eine weitere wichtige Quelle für wissenschaftliche Informati
onen zu der Frage, ob das Bewusstsein nach dem Tod weiterexis
tiert, ist die thanatologische Forschung über Nahtoderfahrungen
(NDEs). Etwa ein Drittel der Menschen, die mit lebensbedroh
lichen Situationen wie Autounfällen, Beinah-Ertrinken, Herzanfäl
len oder Herzstillstand während einer Operation konfrontiert sind,
machen diese faszinierende Erfahrung.
Raymond Moody, Kenneth Ring, Michael Sabom, Bruce Grey-
son und viele andere (Moody 2002, Ring 1982, Sabom 1987, Grey-
son und Bush 1992) haben dieses Phänomen gründlich erforscht
228 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und Jenseits
und den typischen Ablauf einer Nahtoderfahrung beschrieben. Bei
der vollständigen Form finden wir die außerkörperliche Erfahrung,
die Lebensrückschau und die Durchquerung eines dunklen Tun
nels. Das Erlebnis gipfelt in der Begegnung mit einem strahlenden
Lichtwesen, dem göttlichen Gericht, bei dem das eigene Leben eine
ethische Einschätzung erfährt, und Besuchen in zahlreichen,
verschiedenen transzendentalen Reichen. Seltener sind schmerz
liche Nahtoderfahrungen, die Angst auslösen oder einem Inferno
gleichen.
Ende der 1990er-Jahre ergänzte Kenneth Ring diese Beobach
tungen mit seinen Untersuchungen um eine weitere interessante
Dimension: Ring konnte aufzeigen, dass Menschen, die aus orga
nischen Gründen von Geburt an blind sind, bei der Nahtoderfah
rung Bilder sehen, von denen einige später mündlich bestätigt wer
den konnten (»wahre außerkörperliche Erfahrungen«, siehe Ring
und Cooper 1999).
Wahre außerkörperliche Erfahrungen (OOBEs) (Abkürzung
für »out-of-body-experiences«, Anm.d.Ü.) passieren nicht nur bei
Nahtoderlebnissen oder beim klinischen Tod. Sie können auch in
der spirituellen Praxis und bei tiefgreifenden Formen von erlebnis
orientierter Psychotherapie wie Primärtherapie, Rebirthing oder
dem Holotropen Atmen auftauchen. Bei Einnahme von psychede
lischen Substanzen - insbesondere des dissoziativen Betäubungs
mittels Ketamin - treten sie mitunter vermehrt auf. Solche außer
körperlichen Erfahrungen können aber auch mitten im Alltagsleben
passieren, entweder als vereinzelte Vorkommnisse oder wiederholt,
wie im Fall von Krisen, die eine psychische Öffnung begleiten,
oder anderen Formen von spirituellen Krisen.
Wahre außerkörperliche Erfahrungen sind für die Frage, ob
das Bewusstsein nach dem Tod weiterexistiert, besonders wichtig,
denn sie zeigen, dass das Bewusstsein unabhängig vom Körper
agieren kann. Besonders interessant sind sie für Thanatologen und
andere Bewusstseinsforscher, denn sie stellen ein Phänomen dar,
Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und Jenseits 229
das sich für die wissenschaftliche Untersuchung und objektive
Nachweisbarkeit besonders gut eignet. Der übliche Einwand gegen
die Beweise, die diese Forschungsrichtungen für das Weiterexistie
ren des Bewusstseins nach dem Tod erbringen, lautet, dass Men
schen mit Nahtoderfahrungen dem Tod zwar nahe gekommen,
aber nicht tatsächlich gestorben sind. Wenn aber unser Bewusst
sein imstande ist, unabhängig vom Körper zu agieren, solange wir
am Leben sind, lässt sich daraus logisch schließen, dass es das auch
nach unserem Tod vermag.
Ein weiteres Interessengebiet der Parapsychologen, das eng mit der
Frage zusammenhängt, ob das Bewusstsein nach dem Tod weiter
existiert, sind Begegnungen und Kommunikation mit Verstorbenen. Bei
Nahtoderfahrungen und Sterbebett-Visionen erscheinen häufig
Tote. Meistens handelt es sich dabei um Verwandte und Freunde
des oder der Sterbenden. Die Toten (das »Empfangskomitee«) wol
len denjenigen, dem der Tod unmittelbar bevorsteht, offensichtlich
willkommen heißen und ihm den Übergang in die nächste Welt
erleichtern. Hier müssen wir das entsprechende Beweismaterial be
sonders sorgfältig und kritisch überprüfen. Visionen von Ver
storbenen besagen meist nicht viel. Wir können sie leicht als
Wunschphantasien oder Halluzinationen abtun, die das Gehirn
sich aus Erinnerungen zusammenbastelt. Sollen solche Erfah
rungen interessantes Forschungsmaterial darstellen, müssen noch
einige weitere wichtige Faktoren hinzukommen.
Deshalb haben Forscher auf dem Gebiet der außersinnlichen
Phänomene sich häufig auf die Tatsache konzentriert, dass das
»Empfangskomitee« ausschließlich aus Verstorbenen besteht, da
runter auch Personen, von deren Tod der Sterbende bislang gar
nichts wusste. Solche Erlebnisse wurden als Fälle von »Peak in
Darien« bezeichnet (nach dem Buch von Frances Power Cobbe:
The Peak in Darien, 1877, in dem die Autorin ihren Glauben an die
persönliche Unsterblichkeit mit entsprechenden Erlebnissen aus
führt, Anm.d.Ü.).
230 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und Jenseits
Bestimmte Formen des kommunikativen Austauschs, deren Rich
tigkeit objektiv bestätigt werden kann, stellen ebenfalls wichtiges
Forschungsmaterial dar. Von besonderem Interesse sind hier die
quasi-experimentell gewonnenen Beweise für das Weiterexistieren
des Bewusstseins nach dem Tod, die auf dem hochkontroversen
Phänomen der spiritistischen Sitzungen mit mentalen oder in
Trance arbeitenden Medien basiert. Die besten Medien waren im
stande, Stimme, Sprachmelodie, Gesten, individuelle Eigenarten
und andere typische Züge der verstorbenen Person, die ihnen bis
lang unbekannt war, präzise wiederzugeben.
In jüngster Zeit hat ein weltweites Netzwerk von Forschern
gemeinsame Anstrengungen unternommen, um die sogenannte
»interdimensionale Transkommunikation« zu entwickeln, darun
ter Ernest Senkowski, George Meek, Mark Macy, Scott Rogo und
andere (Senkowski 1994, Füller 1951, Macy 2001 und 2005, Rogo
und Bayless 1979). Sie behaupten, mit Hilfe von elektronischen
Medien wie Kassettenrecorder, Telefon, Faxgerät, Computer und
Fernsehbildschirm zahlreiche paranormale verbale Mitteilungen
und Bilder von Verstorbenen empfangen zu haben.
Eine weitere interessante Innovation auf dem Gebiet der Kon
takte mit Verstorbenen beschreibt Raymond Moody in seinem
Buch Blick hinter den Spiegel. Botschaften aus einer anderen Welt
(Moody 1996). In der Vorbereitungsphase für seine Forschungen
sichtete Moody systematisch die existierende Literatur über Wahr
sagerei mit Hilfe von Kristallen oder Glaskugeln (Beobachtungen
entfernter Ereignisse mit Hilfe außersinnlicher Fähigkeiten) und
ähnliche Vorgehen. Mit einem großen Spiegel und schwarzem Samt
gestaltete er daraufhin einen speziellen Raum (ein sogenanntes
Psychomanteum), der, so behauptet er, hellseherische Begegnungen
mit verstorbenen Angehörigen begünstigt.
Ein weiteres Phänomen, das in diesem Kontext erwähnt wer
den muss, ist das Channeling. Hierbei übermittelt ein Individuum
mit Hilfe von automatischem Schreiben, Sprechen oder Handeln
Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und Jenseits 231
Botschaften aus einer Quelle jenseits seiner Alltagspersönlichkeit.
Diese Quelle gibt sich oft selbst als Wesen aus einem außerkörper
lichen Reich zu erkennen; das hierarchische Spektrum dieser
Wesenheiten rangiert von archetypischen Figuren (Gottheit oder
Engel) und hochentwickelten übermenschlichen Wesen bis hin zu
nicht inkarnierten oder sogar noch lebenden Menschen. Die Qua
lität dieser Übermittlungen variiert ebenfalls stark und bewegt sich
zwischen trivialem Geschwätz und tiefen oder bemerkenswerten
psychologischen oder spirituellen Mitteilungen.
Das reiche Material, das die moderne Bewusstseinsforschung zu
sammengetragen hat, hat für die Parapsychologie seltsam zwiespäl
tige Implikationen. Einerseits enthält es überzeugende Beweise für
die Phänomene, die Parapsychologen üblicherweise untersuchen.
Andererseits bedroht es die Existenz der Parapsychologie als eigen
ständige Disziplin.
Denn wenn wir erst einmal akzeptieren, dass es transpersonale Er
fahrungen gibt, wird auch klar, dass diese Erlebnisse uns fast im
mer Zugang zu neuen Informationen vermitteln - und das über
Kanäle, die der landläufigen Wissenschaft unbekannt sind, ganz
gleich, ob diese Vermittlung nun durch andere Menschen, andere
Lebensformen, archetypische Gestalten und Reiche oder verschie
dene Zeitalter der menschlichen Geschichte erfolgt. Und wenn wir
erst einmal generell akzeptieren, dass die menschliche Psyche ohne
Einschaltung der Sinne Zugang zu neuen Informationen gewinnen
kann, besteht kein Bedarf mehr an einer Disziplin, die sich auf die
Untersuchung einer relativ engen Auswahl von außersinnlichen
Phänomenen spezialisiert hat. Was bislang als »paranormal« galt,
betrachten wir dann als normale Fähigkeit der menschlichen
Psyche.
232 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und Jenseits
Ohne Augen sehen (Innere Sicht)Teds Geschichte
Ein interessantes Beispiel für eine wahre außerkörperliche Er
fahrung in einer Nahtodsituation ist die Geschichte von Ted,
einem 26-jährigen afro-amerikanischen Lehrer, der an inoperablem
Krebs litt. Im Verlauf seiner Krankheit nahm Ted drei Sitzungen
mit hochdosiertem LSD, die er als große Hilfe für den Umgang mit
seiner Krebserkrankung und seiner Angst vor dem Tod empfand.
Später verschlechterte sich sein Zustand, und eines der Tochterge
schwüre verstopfte Teds Harnleiter. Dadurch kam es zu einem ge
fährlichen Urinstau im Nierenkelch, sodass sich giftige Stoffwech
selprodukte im Blut ansammelten.
Nachdem sich Teds Harnvergiftung eine Woche lang täglich
verschlimmert hatte, rief uns seine Frau Lilly an. Ted bat durch sie
darum, dass ich und Joan, die zu jener Zeit meine Frau und Co-
Therapeutin war, ihn besuchen kommen, weil er etwas mit uns
besprechen wollte, das für ihn von höchster Wichtigkeit war. Als
wir auf der Intensivstation des Hospitals eintrafen, hatte sich Teds
Zustand beträchtlich verschlechtert, und er lag im Koma. Mehrere
Verwandte waren bei ihm und versuchten, mit ihm Kontakt aufzu
nehmen. Ted reagierte nicht auf diese Versuche und murmelte nur
gelegentlich Unverständliches vor sich hin. Es war ganz offensicht
lich, dass sein Tod unmittelbar bevorstand.
Während ich Lilly und die anderen Familienmitglieder tröstete
und ihnen zu helfen versuchte, die Situation zu akzeptieren, setzte
Ohne Augen sehen (Innere Sicht) 233
sich Joan zu Ted ans Bett und sprach freundlich mit ihm, wobei sie
sich an ihre ganz persönliche, auf westliche Menschen zugeschnit
tene Version der Anleitungen aus dem Bardo Thödol (dem Tibe
tischen Totenbuch, Anm.d.Ü.) hielt. Die zentrale Botschaft für Ted
war, dass er sich auf das Licht zubewegen und damit verschmelzen
solle, ohne Angst vor seinem eigenen Leuchten zu haben.
Als es so aussah, als ob alle Anwesenden Teds nahen Tod
akzeptierten, passierte etwas völlig Unerwartetes. Das Chirurgen
team beschloss im allerletzten Augenblick, Ted doch noch zu ope
rieren. Ohne jede Vorwarnung stürmten plötzlich zwei Kranken
pfleger ins Zimmer, hoben Ted auf eine Trage und brachten ihn in
den OP-Saal. Alle im Raum waren schockiert über dieses Verhalten,
das sie als brutalen Eingriff in eine besondere und intime Situation
empfanden. Später erfuhren wir, dass Ted bei der Operation zwei
Herzstillstände hatte, die zum klinischen Tod führten, und dass die
Ärzte ihn beide Male wiederbelebten.
Wir fuhren nach Hause, um zu duschen und unsere Kleidung
zu wechseln, denn wir wollten abends noch ausgehen. Auf dem
Weg in die Stadt beschlossen wir, noch einmal im Krankenhaus
Zwischenstation zu machen, um zu sehen, wie es Ted ging. Als wir
dort ankamen, lag er auf der Intensivstation und erholte sich von
seiner Narkose. Dieses Mal war er bei Bewusstsein und konnte
sprechen. »Hallo. Danke, dass ihr mich heute zweimal hier be
sucht«, begrüßte er uns. Er schaute Joan an und überraschte sie
mit der Bemerkung: »Du hast dich umgezogen, geht ihr heute
Abend noch aus?« Dann erzählte er uns, dass er uns bei unserem
ersten Besuch an diesem Tag zwar hatte kommen sehen, er jedoch
nicht mit uns kommunizieren konnte, weil sein Bewusstsein oben
unter der Zimmerdecke schwebte und er keine Verbindung zu sei
nem Körper aufnehmen konnte.
All das geschah Jahre, bevor die Thanatologie durch ihre For
schungen nachwies, dass außerkörperliche Erfahrungen eine
klinische Tatsache sind. Wir konnten nicht glauben, dass jemand,
234 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und Jenseits
der im Koma gelegen hatte, seine Umgebung so präzise wahrnahm
und sich an solche Feinheiten erinnerte, deshalb stellten wir Ted
zu diesem Phänomen einige Fragen. Bis in kleinste Details be
schrieb er uns die Kleidung, die wir bei unserem ersten Besuch
getragen hatten. Es war ganz offensichtlich, dass er die Menschen
in seinem Zimmer genau wahrgenommen hatte, obwohl seine Au
gen die ganze Zeit geschlossen gewesen waren. Er hatte sogar be
merkt, dass Joan einmal Tränen über die Wangen gelaufen waren.
Während er seine Umgebung vollständig bewusst registrierte,
machte er zugleich weitere ungewöhnliche Erfahrungen: Während
er wahrnahm, was in seinem Zimmer geschah und Joans Stimme
hören konnte, folgte er innerlich ihren Anweisungen. Die anfäng
liche Dunkelheit wich einem strahlenden Licht, dem Ted sich nä
herte, um dann damit zu verschmelzen. Dieses Eingehen ins Licht
war ein heiliger Vorgang, und er empfand dabei einen tiefen inne
ren Frieden. Gleichzeitig sah er an der Zimmerdecke einen Film
laufen, eine lebendige Darstellung sämtlicher Übeltaten, die er in
seinem Leben begangen hatte. Er sah die Gesichter all der Men
schen, die er im Krieg getötet hatte, und auch der jungen Leute,
die er als jugendlicher Raufbold verprügelte. Er musste den
Schmerz und die Qual sämtlicher Menschen erleiden, die er in
seinem Leben jemals verletzt hatte. Dabei war er sich der Gegen
wart Gottes bewusst, der seine Lebensrückschau beobachtete und
beurteilte.
»Ich bin so froh über die LSD-Reisen mit euch beiden«, sagte
er zu uns, bevor wir gingen. »Was ich heute erlebt habe, hat sich
am selben Ort abgespielt wie diese Reisen. Ich habe es euch zu
verdanken, dass ich diesen Ort schon kenne. Ich hätte mich sonst
sehr vor allem gefürchtet, was da mit mir passiert ist, aber da ich
diese inneren Räume kannte, hatte ich überhaupt keine Angst.«
Botschaften aus dem Astralreich 235
Botschaften aus dem AstralreichRichards Geschichte
Eine meiner interessantesten Beobachtungen in Bezug auf die
Weiterexistenz des Bewusstseins nach dem Tod stammt aus der
LSD-Therapie mit Richard, einem schwer depressiven, homosexu
ellen jungen Mann, der selbstmordgefährdet war. Es handelt sich
hier um denselben Richard, dessen »pränatalen Besuch« auf dem
dörflichen Jahrmarkt ich in diesem Buch schon auf Seite 150 ff.
geschildert habe. In einer seiner LSD-Sitzungen machte Richard
eine sehr ungewöhnliche Erfahrung, die sich in einem seltsamen,
unheimlichen Astralreich abspielte. Plötzlich befand er sich in
einem Raum mit schaurigem Licht, der bevölkert war von nicht
inkarnierten Wesen, die mit ihm kommunizieren wollten und ihn
dabei heftig bedrängten. Er konnte diese Wesen weder sehen noch
hören, spürte aber ihre Anwesenheit fast greifbar und empfing
telepathische Botschaften von ihnen.
Eine dieser Botschaften war sehr speziell, sodass ich sie auf
schrieb. Sie konnte später bestätigt werden. Eines der nicht inkar
nierten Wesen beschwor Richard, mit seinen Eltern in Kromeriz,
einer Stadt in Moravien, Kontakt aufzunehmen und ihnen mitzu
teilen, ihrem Sohn Ladislav ginge es gut und er sei dort, wo er sich
befände, bestens aufgehoben. Die Botschaft enthielt auch den
Namen und die Telefonnummer des Paares - Details also, die wir
beide nicht kannten und die für uns bedeutungslos waren. Dieses
Erlebnis war in Richards Sitzung wie ein Fremdkörper, denn es
236 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und lenseits
stand in keinerlei Zusammenhang mit seinen Problemen und sei
ner Behandlung insgesamt. Das Ganze war sehr verwirrend und
mysteriös.
Nach der Sitzung beschloss ich, einen Schritt zu tun, der mich,
hätten sie davon erfahren, bei meinen Kollegen sicher zur Ziel
scheibe ihres Spottes gemacht hätte. Ich nahm das Telefon, wählte
die Nummer in Kromeriz und fragte, ob ich mit Ladislav sprechen
könne. Zu meinem Erstaunen begann die Frau am anderen Ende
der Leitung zu weinen. Als sie sich beruhigt hatte, erzählte sie mir
mit gebrochener Stimme: »Unser Sohn ist nicht mehr bei uns. Er
ist gestorben. Wir haben ihn vor drei Wochen verloren.«
Man könnte die Meinung vertreten, diese Mitteilung sei kein wirk
licher Beweis dafür, dass der verstorbene Sohn seinen Eltern eine
Botschaft aus dem Jenseits schickte, aber die Wahrscheinlichkeit,
dass es sich hier um einen bedeutungslosen Zufall handelt, ist
äußerst gering.
Ein Beweis für die Existenz des Jenseits? 237
Ein Beweis für die Existenz des Jenseits?
Walters Geschichte
Eine weitere ungewöhnliche Beobachtung dieser Art betrifft
meinen engen Freund und Kollegen Walter N. Pahnke, der am
Maryland-Psychiatric-Research-Center in Baltimore als Psychiater
Mitglied unseres psychedelischen Forschungsteams war. Er war
außerdem der Initiator und die treibende Kraft für das LSD-Pro-
gramm für Krebskranke im Endstadium am Maryland-Psychiatric-
Research-Center in Catonsville. Walter hatte großes Interesse an
Parapsychologie, vor allem an der Frage des Bewusstseins nach
dem Tod; er arbeitete mit vielen bekannten Medien und anderen
Menschen mit außersinnlichen Fähigkeiten zusammen, unter an
derem mit unserer gemeinsamen Freundin Eileen Garrett, der Be
gründerin der Parapsychology-Foundation.
Im Sommer 1971 fuhr Walter mit seiner Frau Eva und den
drei Kindern nach Maine, wo sie in ihrem Wohnwagen am Atlantik
die Ferien verbringen wollten. Vor seiner Abreise aus Baltimore
hatte er von einem Freund eine Taucherausrüstung gekauft und
ein paar Tauchstunden genommen. Als er eines Tages ganz allein
und ohne Markierer tauchen ging, kehrte er nicht zurück. Bei der
gründlichen und gut organisierten Suchaktion fand man weder
seinen Körper noch Teile seiner Taucherausrüstung.
Eva fiel es unter diesen Umständen schwer, seinen Tod zu
akzeptieren und zu verarbeiten. Ihr letztes Bild von ihm war, wie er
energiegeladen und bei bester Gesundheit den Wohnwagen ver
ließ. Sie konnte einfach nicht begreifen, dass er nicht mehr Teil
ihres Lebens war. Und da dieses Kapitel ihres Lebens für sie nicht
wirklich abgeschlossen war, fühlte sie sich nicht frei, das nächste
zu beginnen.
Selbst Psychologin, war sie berechtigt zu einer LSD-Sitzung für
Ausbildungszwecke, wie sie das Programm an unserem Institut für
Fachkräfte im psychischen Gesundheitswesen anbot. Sie beschloss,
eine psychedelische Sitzung zu nehmen, weil sie hoffte, dadurch
etwas mehr Klarheit für ihre Situation zu gewinnen, und bat mich,
sie dabei zu begleiten. Eva war eine enge, liebe Freundin, und ich
sagte ihr gern zu. In der zweiten Hälfte der Sitzung hatte sie eine
sehr beeindruckende Vision von Walter und führte einen langen
und wichtigen telepathischen Dialog mit ihm. Er erteilte ihr für
jedes ihrer drei gemeinsamen Kinder spezielle Anweisungen und
gab sie frei, ein neues, eigenes Leben zu beginnen, ohne sich durch
die Erinnerung an ihn zu binden. Das war für Eva eine sehr tiefe
und befreiende Erfahrung.
Gerade als sie sich fragte, ob das Ganze nicht einfach ein Pro
dukt ihres eigenen Wunschdenkens war, erschien Walter noch ein
mal kurz und bat Eva, einem Freund von ihm das Buch zurückzu
geben, das er sich von ihm ausgeliehen hatte. Er teilte ihr den
Namen des Freundes und den Titel des Buches mit, beschrieb das
Zimmer und das Regal und sagte ihr, zwischen welchen Büchern es
dort stand. Neugierig geworden, machten wir uns nach der Sit
zung gleich auf den Weg zu Evas Haus, um herauszufinden, ob
diese erstaunliche Botschaft stimmte. Eva konnte das Buch, von
dessen Existenz sie bislang nichts gewusst hatte, nach Walters An
weisungen tatsächlich finden und zurückgeben.
Es war sehr typisch für Walter, Eva auf diesem Weg zu bewei
sen, dass ihr Austausch authentisch war. Er hatte in seinem Leben
viel Kontakt mit medial begabten Menschen aus allen Teilen der
Welt und verfolgte fasziniert die Vorstellungen des berühmten Zau
238 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und Jenseits
Ein Beweis für die Existenz des Jenseits? 239
berers Harry Houdini, der mit seinen Experimenten die Existenz
eines Jenseits beweisen wollte. Ich war persönlich anwesend, als
Walter versuchte, ein ähnliches Experiment mit Eileen Garrett zu
verabreden, nachdem sie uns erzählt hatte, dass sie bald sterben
würde. »Eileen«, bat Walter sie, »du musst mir versprechen, dass
du mir, wenn du kannst, ein paar klare Zeichen gibst, die bewei
sen, dass das Jenseits wirklich existiert.« Eileen, bekannt für ihren
köstlichen Humor, schien Walters Anliegen nicht besonders ernst
zu nehmen. »Du kannst sicher sein, Walter«, entgegnete sie, »dass
du deinen Beweis bekommst. Ich werde in deiner nächsten LSD-
Sitzung erscheinen und mir mit meiner kalten, klammen Hand
deinen Schwanz schnappen!«
Da Walter selbst immer auf Beweise aus war, ist es durchaus
plausibel, dass er die Buchrückgabe inszenierte, um den eigenen
posthumen Mitteilungen mehr Gewicht zu verleihen.
240 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und Jenseits
Rosenschnitt in Tante Annes Garten
Kurts Geschichte
Die nächste Geschichte betrifft Kurt, einen Psychologen, der an
unserem dreijährigen professionellen Training für Transperso
nale Psychologie und Holotropes Atmen teilnahm. Als Kurt sich
für diese Ausbildung anmeldete, war er mit seiner wissenschaft
lichen Orientierung das bei weitem skeptischste Mitglied unserer
Ausbildungsgruppe. Seine Beobachtungen und eigenen Erlebnisse
bei diesem Training hatten jedoch tiefe Auswirkungen auf das
Glaubenssystem, das er von seinen Hochschullehrern übernom
men hatte. Ich habe auf Seite 145 ff. schon einmal Kurts Geburts
erlebnis beschrieben, das mit dem Geruch von frischem Leder ver
bunden war. Bereits damals war seine Überzeugung, dass unser
Bewusstsein und unser psychisches Leben sich erst nach der Ge
burt zu entwickeln beginnen, schwer ins Wanken geraten.
Die im Folgenden beschriebene Erfahrung konfrontierte ihn
mit einer weiteren theoretischen Herausforderung und zwang ihn,
seinen wissenschaftlichen Denkhorizont zu erweitern. Er hatte zu
kämpfen mit der Frage nach der Natur transpersonaler Erfah
rungen. Waren das reale, ontologische Phänomene, die auf die Exis
tenz transzendentaler Bereiche verwiesen, welche normalerweise
unsichtbar blieben? Oder reine Produkte menschlicher Einbildung?
In seiner Ausbildung hatte er bei Kolleginnen und Kollegen zahl
reiche, verschiedene transpersonale Erlebnisse beobachtet, selbst
Rosenschnitt in Tante Annes Garten 241
aber bislang keine derartigen Erfahrungen gemacht. Also beharrte
er weiterhin auf der Einstellung, die man ihm an der medizinischen
Hochschule beigebracht hatte: dass das alles »Hirngespinste«
seien.
In einer seiner holotropen Sitzungen machte Kurt dann selbst
eine intensive Erfahrung und erlebte anschließend eine bemer
kenswerte Synchronizität. Das überzeugte ihn davon, dass das
menschliche Bewusstsein weiter reichte, als er bislang gedacht hat
te, und dass er seinen geistigen Horizont erweitern musste. Gegen
Ende der Sitzung hatte er eine lebhafte Begegnung mit seiner Groß
mutter, die seit vielen Jahren tot war. Kurt war ihr in seiner Kind
heit besonders nahe gewesen, und die Möglichkeit, sich mit ihr
tatsächlich wieder austauschen zu können, wühlte ihn sehr auf.
Doch obwohl ihn diese Erfahrung emotional stark berührte, be
trachtete er sie anschließend erneut mit der üblichen professio
nellen Skepsis.
Wie er der Gruppe in der Nachbesprechung erläuterte, hegte
er den Verdacht, sich diese Begegnung aus alten Erinnerungen
selbst zusammengebastelt zu haben, da er mit seiner Großmutter,
als sie noch am Leben war, tatsächlich viele derartige Begegnungen
gehabt hatte. Aber dieses Treffen mit seiner toten Großmutter ging
emotional so tief, berührte sein Herz so stark und war so überzeu
gend, dass er es einfach nicht als Wunschphantasie abtun konnte.
Gegen Ende dieser Begegnung beschloss er, seine Großmutter zu
bitten, sie möge ihm beweisen, dass sein Erlebnis real war und
nicht nur auf seiner Einbildung beruhte.
Kaum hatte er diese Bitte telepathisch geäußert, erhielt er
folgende Botschaft: »Besuche Tante Anne und schau dich nach ab
geschnittenen Rosen um.« Immer noch skeptisch, beschloss er am
folgenden Wochenende einfach »aus Jux und Dollerei« seine Tante
Anne zu besuchen und zu sehen, was passierte. Zu seinem Erstau
nen traf Kurt seine alte Tante bei der Gartenarbeit an. Sie trug Gar
tenkleidung und hielt in der einen Hand eine Gartenschere und in
der anderen eine Rose. Überall auf dem Rasen und den Wegen im
Garten lagen abgeschnittene Rosen. Ohne es gewusst zu haben, fiel
Kurts Überraschungsbesuch ausgerechnet auf den einen Tag im
Jahr, an dem seine Tante beschloss, ihre Rosen radikal zurückzu
schneiden.
Materialistisch orientierte Wissenschaftler lehnen die Möglichkeit
ab, dass das Bewusstsein nach dem Tod weiterexistiert, und ma
chen sich oft lustig darüber, denn sie passt mit ihren eigenen,
grundlegenden metaphysischen Annahmen über die Existenz nicht
zusammen. Ihre Einstellung beruht nicht auf wissenschaftlichen
Beweisen, die zeigen, dass ein Weiterexistieren nach dem Tod - in
welcher Form auch immer - nicht möglich ist. Tatsächlich können
sie ihre Schlussfolgerungen nur ziehen, weil sie Beobachtungen
wie die oben geschilderte, von denen es viele gibt und für die das
augenblickliche Paradigma keine angemessenen Erklärungen fin
den kann, schlichtweg ignorieren.
242 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und Jenseits
Luiz Gasparetto 243
Luiz GasparettoMaler und Gemälde aus dem Jenseits
bwohl Freunde uns bereits viel von Brasilien erzählt hatten,
waren wir in keinster Weise auf den Kulturschock vorbereitet,
der uns bei unserem ersten Besuch in diesem ungewöhnlichen
Land traf. Durch unsere Beschäftigung mit psychedelischer For
schung und transpersonaler Psychologie hatten wir täglich Kontakt
mit vielen Menschen, die geistig sehr aufgeschlossen waren, und
für die Spiritualität ein wichtiger Aspekt ihres Alltagslebens war. Es
war jedoch klar, dass diese Menschen im größeren Kontext der
westlichen industriellen Zivilisation Ausnahmen darstellten - In
seln im Ozean einer überwiegend pragmatisch orientierten Kultur.
Bei unseren Begegnungen und Gesprächen mit brasilianischen
Menschen hatten wir nun das Gefühl, uns auf einem anderen Pla
neten zu befinden. Die Mehrzahl der Brasilianer, einschließlich der
Mitglieder der gesellschaftlichen Oberklasse und der gebildeten
Elite, akzeptierten offensichtlich die Existenz von Realitäten, die
unsere europäisch-amerikanische Kultur ins Reich kindlichen Un
sinns verweist und als Phantasien, primitiven Aberglauben oder
geisteskrank verwirft - nicht inkarnierte Wesen, Besessenheit von
Geistern, gütige oder zornige Gottheiten, Geistheilung, erfolgreiche
Operationen durch Geistchirurgen, UFO-Landungen und vieles
mehr.
All diese Phänomene schienen im Rahmen des brasilianischen
Weltbilds völlig normal zu sein. In vielen Fällen beruhte die Über
O
244 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und Jenseits
zeugung, dass sie existieren, auf persönlichen Erfahrungen und
nicht auf unbegründeten Glaubensvorstellungen, Aberglauben
oder den Sensationsmeldungen der Boulevardpresse.
Offensichtlich hing dies eng mit der Tatsache zusammen, dass
die Brasilianer leicht Zugang zu holotropen Bewusstseinszustän
den finden und somit Gelegenheit haben, reiche Erfahrungen auf
transpersonalem Gebiet zu machen. Viele von ihnen nehmen zum
Beispiel an Ritualen teil, die verbunden sind mit der Einnahme von
Ayahuasca, einem in diesem Buch bereits erwähnten psychede
lischen Getränk, das im Amazonasgebiet seit Jahrhunderten als
heiliges Sakrament und wirksames Medikament Anwendung fin
det. Die brasilianische Regierung hat diese Rituale legalisiert, und
sowohl Eingeborenen-Heiler (Ayahuasqueros) als auch die Mit
glieder der Santo-Daime-Kirche und einer weiteren wichtigen
Gruppe namens »Uniao do Vegetal« praktizieren sie regelmäßig.
Außerdem hängt ein bedeutender Anteil der Bevölkerung Kul
ten wie Umbanda, Candomble und Macumba an, die Elemente von
afrikanischen Stammesreligionen mit Aspekten des Glaubens der
brasilianischen Ureinwohner und der christlichen Religion kombi
nieren. Besonderes Interesse weckte bei uns der Spiritismus - eine
faszinierende spirituelle Bewegung, die auf den französischen Er
ziehungswissenschaftler und Philosophen Allan Kardec zurück
geht, der im 19. Jahrhundert lebte und lehrte. Der Spiritismus geht
davon aus, dass der Geist von Verstorbenen mit lebenden Men
schen kommunizieren und die materielle Welt durch medial be
gabte Personen beeinflussen kann. Die Spiritistische Kirche ist vor
allem bekannt geworden durch ihre berühmten Geistchirurgen,
zum Beispiel den Philippinen Tony Agpaoa und den Brasilianer Ze
Arigó, den »Chirurgen mit dem rostigen Messer«.
Während unseres Aufenthalts in Sao Paulo hörten wir von Luiz
Antonio Gasparetto, einem Psychologen und Mitglied der Spiritis
tischen Kirche, der seine medialen Fähigkeiten auf einzigartige
Weise nutzte. Er war bekannt dafür, dass er eine ganze Reihe von
Luiz Gasparetto 245
berühmten, verstorbenen Malerinnen und Malern channelte und
Bilder in vielen verschiedenen und bekannten Stilrichtungen malte.
Mit Hilfe unserer brasilianischen Freunde gelang es uns, Kontakt
zu ihm aufzunehmen und mit Luiz einen Besuch in seinem Haus in
einem Vorort von Sao Paulo zu vereinbaren.
Luiz war ein großer, attraktiver Mann mit dunklem Haar und
ausdrucksstarken Augen. Lässig gekleidet mit bequemen Hosen
und einem weißen Hemd, war er im Umgang mit uns höflich,
warmherzig und liebenswert. Er sah eher aus wie ein ganz gewöhn
licher Akademiker als ein exzentrischer Individualist mit medialen
Fähigkeiten und abenteuerlichem Ruf. Nichts an seiner äußeren
Erscheinung oder der Einrichtung seines Hauses wies auf das hin,
was uns hier erwartete, außer vielleicht die vielen Regale mit gro
ßen Stapeln von Papier. Wie wir bald herausfinden sollten, hatte
Luiz diese Regale extra anfertigen lassen, um seine über 5000 »Ge
mälde aus dem Jenseits« unterzubringen.
Nachdem er Tee gekocht hatte, zeigte uns Luiz seine bemer
kenswerte Gemäldesammlung. Wir kamen in den Genuss von Bil
dern im Stil der großen Meister aus sämtlichen Epochen und Län
dern. Es handelte sich hier nicht um Kopien existierender Gemälde,
sondern um neue Motive - im leicht erkennbaren Stil einzelner
Künstler und Künstlerinnen gemalt: Da gab es Monets üppige Blu
mensträuße, Modiglianis schmale junge Frauen, Toulouse-Lautrecs
Tänzerinnen und andere Sonderlinge vom Moulin Rouge, Henri
Rousseaus naive Dschungelszenen mit wilden Tieren, Rembrandts
Porträts mit ihrem Spiel von Licht und Schatten, Leonardo da Vin
cis androgyne Gesichter, Picassos Stillleben und figurative Gemäl
de, Georgia O’Keefes Blumen, Frida Kahlos expressive Kompositi
onen und viele weitere.
Gelegentlich waren diese Bilder nicht im reifen Stil der verstor
benen Meisterinnen und Meister gemalt, für den diese weithin be
kannt waren, sondern gaben frühere Phasen ihrer künstlerischen
Entwicklung wieder. Als wir Luiz später näher kennenlernten und
246 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und jenseits
Gelegenheit hatten, ihn häufiger bei der Arbeit zu beobachten,
mussten wir manchmal in Bildmonographien der Maler nach
schauen, die Luiz zu channeln behauptete, um bestätigt zu finden,
dass er tatsächlich ihren frühen Stil aufgriff.
Während wir in dieser erstaunlichen Sammlung von großar
tigen Werken schwelgten, erzählte Luiz uns von seinem Leben und
seiner Arbeit. Er war von Kind an medial begabt. Die Linie der
Familie Gasparetto war in Brasilien berühmt für ihre paranormalen
Talente. Luiz’ Mutter besaß ebenfalls außersinnliche Fähigkeiten,
die sie durch automatisches Zeichnen umsetzte. Sie brachte ihrem
Sohn vieles bei und unterstützte ihn darin, sein eigenes Talent zu
entwickeln. Luiz’ Erlebnisse mit nicht inkarnierten Künstlerinnen
und Künstlern begannen, als er dreizehn Jahre alt war. Regelmäßig
erschienen sie ihm und lehrten ihn viel über die Existenz des
astralen Reiches und den Sinn des Lebens. Manche dieser Wesen
waren sehr berühmt, und er kannte sie und ihre Kunst. Andere
waren ihm völlig fremd, und er forschte in kunsthistorischen Bü
chern nach, um ihre Echtheit zu überprüfen.
Die Geister der toten Meisterinnen und Meister erzählten ihm,
sie wollten ihr Werk noch einmal zeigen und die Botschaft über
mitteln, dass sie weiterexistierten. Sie nahmen Kontakt zu Luiz auf,
um Menschen greifbare Beweise für die Existenz eines Jenseits zu
geben. Sie hätten das bereits vor seiner Geburt geplant, eröffneten
sie ihm. Luiz wusste nie, was sie als Nächstes tun würden. Er konn
te nicht einfach aus sich heraus malen. Ohne Anleitung der malen
den Geister brachte er kein Bild zustande. Waren sie jedoch anwe
send, konnte er fühlen, was sie fühlten, und die Welt mit ihren
Augen sehen. Er verglich diese Erlebnisse mit einem Orgasmus.
Die Erfahrungen hatten seine Sicht der Welt verändert und seine
Augen für deren zauberhafte Schönheit geöffnet.
Wir waren sehr beeindruckt von Luiz und seiner Kunst und
beschlossen, ihn als Gastdozent für unser nächstes einmonatiges
Seminar einzuladen. Es war Teil einer Reihe von experimentellen
Luiz Gasparetto 247
Weiterbildungen, die wir am Esalen-Institut in Big Sur, wo wir
auch lebten, zweimal im Jahr durchführten. Diese Veranstaltungen
gaben uns Gelegenheit, eigene Interessensgebiete zu verfolgen und
dazu als Gastdozenten Menschen einzuladen, die für ihr Fach
repräsentativ waren und zum Thema unseres Workshops eine spe
zielle Beziehung hatten.
Zu den eingeladenen Gästen gehörte ein großes Spektrum an
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, von Fritjof Capra,
Karl Pribram und Gregory Bateson bis hin zu tibetischen Lamas,
spirituellen indischen Lehrern, amerikanischen Ureinwohnern,
mexikanischen Schamanen und christlichen Mystikern. Die The
men waren ebenfalls breit gefächert. Die einmonatigen Seminare
beschäftigten sich mit Buddhismus und westlicher Psychologie,
Schizophrenie und visionärem Denken, Landkarten des Bewusst
seins, Heilungsmethoden der Aborigines und moderner Medizin,
uraltem Wissen und moderner Wissenschaft, höheren Formen von
Kreativität und Grenzbereichen der Wissenschaft.
Das Thema des bevorstehenden Seminars war Energie: phy
sisch, emotional und spirituell betrachtet. In dem kurzen Ankün
digungstext im Prospekt von Esalen hieß es, dass wir diese ver
schiedenen Formen von Energie theoretisch und praktisch
erforschen sowie vermitteln würden, wie wir damit arbeiten kön
nen. Luiz war zweifellos ein idealer Gastlehrer für dieses Programm.
Unser Budget erlaubte es uns, ihm ein Honorar anzubieten, das
seine Reisekosten decken würde, und er fand die Aussicht auf eine
Reise nach Kalifornien aufregend.
Unsere einmonatigen Seminare fanden im »Big House« statt,
das auf einer wunderschönen, von Zypressen bewachsenen Klippe
über dem Pazifischen Ozean lag. Ein Bach grenzte es ab vom rest
lichen Gelände. Der Name des Esalen-Instituts ging auf einen India
nerstamm zurück, der vor dem Eintreffen der europäischen Siedler
hier gelebt hatte. Für die Indianer war dieses Land, auf dem die
heißen Quellen entsprangen, heiliger Boden, der Heilung brachte,
und auf dem sie ihre Toten bestatteten. Beim Bau des Fundamentes
für das Big House stießen die Arbeiter daher auf viele Skelette von
Esalen-Indianern in einer fötalen Position, nach Westen ausgerich
tet. Bei anderen Gelegenheiten entdeckte man auf dem Land zwei
weitere Bestattungsplätze, die mit dem ersten zusammen ein Drei
eck bildeten.
Unseren ersten unmittelbaren Eindruck von Luiz’ medialen Fähig
keiten bekamen wir sofort nach seinem Eintreffen im Big House. Er
wanderte um das Haus herum und schritt suchend das Gelände
ab. Wir fragten ihn, was er da tue. »Wisst ihr, dass hier viele India
ner gelebt haben und gestorben sind?«, sagte er. »Dieser Ort ist
bevölkert von indianischen Geistern. Ich kann sie hier überall spü
ren.« Das war ziemlich bemerkenswert, denn bis zu diesem Au
genblick hatte Luiz über die Geschichte von Esalen nichts ge
wusst.
In unserem gemeinsamen Monat gab er Teilnehmern an
unserem Workshop Heilungssitzungen, in denen er seine bemer
kenswerte paranormale Begabung noch weiter unter Beweis stellte.
Unser ungewöhnlichstes Erlebnis mit Luiz war jedoch sein Auftritt
in Huxely, dem großen Versammlungsraum, der an Esalens Lodge
im Hauptgebäude grenzte. Diese Veranstaltung war zwar Teil un
seres Seminars, doch wir öffneten sie für die Esalen-Gemeinschaft.
Wir stellten einen Tisch und zwei Stühle in die Mitte des Raumes,
einen für Luiz und einen für Christina, die Luiz Papier reichen
sollte. Während der Vorführung waren alle Lichter ausgeschaltet,
bis auf eine Lampe mit roter Glühbirne, die auf dem Tisch stand,
auf dem Luiz malte.
Auf seinem Weg nach Big Sur hatte Luiz in Los Angeles bei
einer guten Freundin von mir Halt gemacht, der Psychologin und
parapsychologischen Forscherin Thelma Moss. Während Luiz’ De
monstration in Thelmas engstem Freundeskreis waren im gesam
ten Wohnblock für einige Zeit die Lichter ausgegangen. Zu ihrem
248 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und Jenseits
Luiz Gasparetto 249
Erstaunen (dem der Gäste und von Luiz selbst) hatte das seine
Arbeit aber in keiner Weise behindert. Er malte einfach weiter,
wählte die richtigen Farben und stellte im Dunkeln mehrere wun
derschöne Bilder fertig.
Eine Demonstration von Luiz’ Fähigkeiten bei totaler Dunkel
heit wäre auch hier in Esalen ein beeindruckendes Experiment
gewesen, doch dann hätten seine Zuschauerinnen und Zuschauer
ihn nicht bei der Arbeit beobachten können. Das rote Licht war ein
Kompromiss, denn so konnten wenigstens die Leute Luiz sehen,
ihn aber hinderte es wirksam daran, Farben zu unterscheiden. Luiz
bat uns, während seiner Sitzung Vivaldis Vier Jahreszeiten zu spie
len, denn diese Musik fand er für seine Arbeit besonders inspirie
rend. Wenige Minuten, nachdem die Musik begonnen hatte, zuck
ten Luiz’ Kopf und Körper ein paar Mal, und er schien in Trance zu
gehen. Gleichzeitig spürte Christina, die dicht neben ihm saß, dass
von seinen Händen eine enorme Hitze ausging, und das blieb die
ganze Sitzung über so.
Luiz begann zu malen und produzierte mit erstaunlicher Ge
schwindigkeit ein großartiges Bild nach dem anderen, jedes im Stil
eines anderen berühmten Malers - van Gogh, Picasso, Gauguin,
Rembrandt, Monet und viele andere. Dabei benutzte er beide Hän
de und malte manchmal zwei Bilder gleichzeitig, mit jeder Hand
eines. Meistens schaute er gar nicht auf das Blatt, sondern schloss
die Augen und legte den Kopf zurück oder beugte ihn zur Seite.
Ein Monet-Porträt malte er tatsächlich mit seinem rechten Fuß un
ter dem Tisch von oben nach unten, ohne überhaupt hinzuschau
en. Seine erstaunliche Vorführung dauerte eine gute Stunde. Als sie
endete, war der Fußoden um Luiz herum bedeckt mit 26 großen
Gemälden. Trotz des roten Lichts waren alle Bilder in den ihnen
entsprechenden Farben gemalt.
Die Menschen wurden unruhig, sie wollten gern aufstehen
und die Bilder inspizieren. Für Luiz war die Veranstaltung jedoch
offensichtlich noch nicht zu Ende. Er saß eine Weile in stiller
250 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und jenseits
Meditation und verkündete dann: »Hier ist ein Geist, der sich Fritz
Perls nennt. Er möchte gern, dass Toulouse-Lautrec sein Porträt
malt.« Und dann malte er ein Bild des legendären, südafrikanischen
Therapeuten und Begründers der Gestalttherapie, der seine letzten
Lebensjahre in Esalen verbracht hatte. Es war nicht nur ein sehr
genaues Porträt von Fritz, sondern zeigte auch unzweifelhaft alle
typischen Züge von Toulouse-Lautrecs Malstil.
Als Luiz das Bild beendet hatte, machte er keinerlei Anstalten
aufzuhören. Nach einem kurzen Moment des Innehaltens sagte er:
»Hier ist noch ein weiterer Geist. Der von Ida Rolf. Sie hätte auch
gern ein Porträt von sich, nicht aus der Zeit unmittelbar vor ihrem
Tod, sondern im Alter von vierzig Jahren.« Auch Ida Rolf war eine
Legende und ein Idol von Esalen. Als deutsche Physikerin hatte sie
die bekannte Form von Körperarbeit entwickelt, die ihren Namen
trägt (Rolfing, Anm.d.Ü.). Viele Jahre hatte sie in einem Haus von
Esalen gewohnt, das etwa anderthalb Meilen vom Hauptgebäude
entfernt lag, und in das wir einzogen, als Ida Esalen verließ.
Fritz sah auf seinem Porträt so aus, wie Menschen ihn erin
nerten oder von Fotos her kannten. Das Porträt von Ida war künst
lerisch sehr interessant und zeigte eine weibliche Gestalt im mittle
ren Lebensalter, doch konnte man nicht feststellen, ob es wirklich
Ida war. Keiner aus der Gemeinschaft von Esalen wusste, wie Ida
Rolf im Alter von vierzig Jahren ausgesehen hatte, denn als sie hier
aus Deutschland eintraf, war sie bereits eine alte Frau gewesen.
Dick Price, ein Mitbegründer von Esalen, war tief beeindruckt
von Luiz’ Vorführung, besonders aber von diesen Porträts zweier
Menschen, die für die Geschichte von Esalen eine wichtige Rolle
spielten und die Luiz gar nicht kannte. Deswegen investierte Dick
viel Zeit und Mühe, um aus Deutschland ein Foto von der 40-jäh-
rigen Ida zu beschaffen. Als es schließlich eintraf, sah man deut
lich, dass das »Porträt aus dem Jenseits« dieser Ida im mittleren
Lebensalter bemerkenswert ähnlich war - ein weiterer Beweis für
Luiz’ außergewöhnliches mediales Talent.
Eine Party für Exu 251
Eine Party für ExuInterview mit den Orixäs
n der nächsten Geschichte schildere ich eine weitere außerge
wöhnliche Erfahrung, die Christina und ich bei unserem ersten
Besuch in Brasilien machten. In den Jahren, in denen wir am Esalen-
Institut in Big Sur lebten, waren wir finanziell sehr knapp. Ein
Grund dafür war, dass unsere Scheidungsprozesse uns beide viel
Geld kosteten, und außerdem hatten wir uns bewusst für »selbst
gewählte Einfachheit« entschieden, wie der Autor und Dozent Du-
ane Eigin das nannte. Wir hatten beschlossen, in der wunderschö
nen kalifornischen Küstenlandschaft von Big Sur ein einfaches
Leben zu führen, statt in die Stadt zu ziehen und dort einen lukra
tiveren Lebensstil zu pflegen.
Esalen stellte uns im Austausch für eine bestimmte Anzahl von
Workshops, die wir hier gaben, ein Haus zur Verfügung, das auf
einer steilen Klippe an der pazifischen Küste lag, mit einer atembe
raubenden Aussicht auf den Ozean, bei der das Auge im 200-Grad-
Winkel schweifen konnte. Hier lebten wir im engen Kontakt mit
der örtlichen Tierwelt. Wir konnten das spektakuläre Spiel von
Robben, Seelöwen und Delphinen beobachten. Wir sahen Möwen,
Kormorane, Pelikane und andere Seevögel vorbeifliegen und in rie
sigen Feldern von Seetang auf dem Ozean schaukeln. Auf ihrem
Weg von Alaska nach Baja California und zurück zogen zweimal
im Jahr mehrere Wochen lang Grauwale vorbei, und hin und wie
der bereicherten Killerwale dieses außergewöhnliche zoologische
I
252 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und jenseits
Schauspiel mit ihrem Anblick. Big Sur war auch eine wichtige Zwi
schenstation für eine weitere Gruppe unermüdlicher Migranten -
die zauberhaften Monarchschmetterlinge.
Die Schattenseite dieses Lebens im Paradies war, dass man hier
nicht viel Geld verdienen konnte. Esalen stellte Unterkunft und
Verpflegung, aber unser Einkommen durch die Workshops war
nach Abzug der Miete für unser Haus ziemlich mager. Die Work
shopleiter bekamen zwanzig Prozent des Geldes, das Esalen von
den Teilnehmern einnahm, was im weltweiten Vergleich mit Ab
stand die schlechtesten Konditionen waren. Trotzdem gab es für
Gastlehrerinnen und -lehrer viele Gründe, nach Esalen zu kom
men und hier zu lehren.
Die Küste von Big Sur gehört mit Sicherheit zu den schönsten
Landschaften der Welt. Der Landstreifen, auf dem das Esalen-Insti-
tut steht, galt (wie schon erwähnt) bei den Esalen-Indianern, deren
Namen es trägt, als heilig und ist ohne Zweifel ein »Kraftplatz«.
Außerdem ist Esalen, das legendäre »Mekka der Human Potential
Bewegung«, weltweit bekannt als aufregendes Labor für mensch
liches Verhalten, Bewusstsein und Denken in Grenzbereichen -
verbunden mit Namen wie Aldous Huxley, Alan Watts, Abraham
Maslow, Gregory Bateson, Fritz Perls, Moshe Feldenkrais und Ida
Rolf.
Aus den oben genannten wirtschaftlichen Gründen mussten
wir uns in anderen Teilen der USA und im Ausland nach zusätz
lichen Einkommensquellen umsehen. Wir versuchten, unsere Rei
sen immer so zu arrangieren, dass unsere Einnahmen mindestens
unsere Kosten deckten und wir keine zusätzlichen Ausgaben hat
ten. So war die Situation, als wir zum ersten Mal nach Brasilien
flogen, um dort in Belo Horizonte die Vierte Internationale Trans
personale Konferenz zu besuchen. Wir hatten geplant, in verschie
denen Teilen Brasiliens Vorträge zu halten und eine Reihe von
Workshops zu geben, um mit diesen Einnahmen unsere Reisekos
ten zu decken.
Eine Party für Exu 253
Aber wir stießen auf unerwartete Hindernisse. Ohne dass wir da
von gewusst hatten, überschnitt sich unser Workshop in Rio de
Janeiro mit einem Fußballspiel zwischen Brasilien und Peru, das
Teil der Weltmeisterschaften war. Und wenn in Südamerika ein
Fußballspiel stattfand, so mussten wir feststellen, hatten wir mit
unserem Workshop keine Chance. Schließlich kamen fünf Per
sonen zu unserem Wochenende für Holotropes Atmen, was unter
diesen Umständen fast schon ein Wunder war, doch diese Teilneh
merzahl war nicht ausreichend für den Workshop. Wir mussten
uns bei der kleinen Gruppe von Menschen, die sich um uns ver
sammelt hatten, entschuldigen und ihnen absagen in dem schmerz
lichen Bewusstsein, dass dies für uns auch beträchtliche finanzielle
Einbußen bedeutete.
Wir hatten also plötzlich viel Zeit, um uns Rio anzuschauen
oder um andere Dinge zu unternehmen. Unter den Menschen, die
am Workshop teilnehmen wollten, war auch Sergio, ein junger
brasilianischer Psychologe. Als wir mit ihm ins Gespräch kamen,
erzählte er uns, dass er den brasilianischen Umbanda-Kult erfor
sche, einen sehr populären synkretistischen, afro-brasilianischen
Kult, der Elemente der traditionellen afrikanischen Stammesreligi
onen mit Aspekten des römisch-katholischen Glaubens und der
Kulturen der brasilianischen Ureinwohner-Indianer kombinierte.
Sergio betrieb seine Forschungen vor dem Hintergrund der jung-
schen Psychologie und wollte die archetypischen Abläufe beschrei
ben, die sich in diesen Ritualen manifestierten. Als er spürte, dass
wir Interesse an diesem Thema hatten, lud er uns ein, ihn zu einer
Umbanda-Zeremonie zu begleiten.
Der Umbanda-Kult entstand in den 20er-Jahren des letzten
Jahrhunderts und hat sich seitdem in ganz Brasilien verbreitet. Ge
leitet werden die Umbanda-Gemeinschaften von Pais de Santos
(»Väter der Heiligen«) oder Maes de Santos (»Mütter der Heiligen«),
die über die Filhos und Filhas de Santos (»Söhne und Töchter der
Heiligen«) wachen. Diese Väter und Mütter der Heiligen sind Me
254 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und Jenseits
dien und speziellen Gottheiten westafrikanischen Ursprungs oder
orixäs geweiht, wie Xango, Oxum und Iemanjä (brasilianische
Gottheiten, Anm.d.Ü.). Die Rituale finden in speziell dafür einge
richteten Zentren statt, die terreiros oder tendas heißen. Begleitet
von Trommeln oder atabaques, die für jeden orixä in einem ande
ren Rhythmus erklingen, singen und chanten die Versammelten in
Yoruba. Die Medien fallen in Trance und verkörpern ihre jeweilige
Gottheit.
Theoretisch wussten wir bereits einiges über Umbanda. Das
verdankten wir den Vorträgen von Stanley Krippner, einem be
kannten amerikanischen Parapsychologen, der sehr an Anthropo
logie interessiert war und in Esalen mehrmals als Gastdozent an
unseren einmonatigen Seminaren mitgewirkt hatte. Außerdem
hatten wir bereits vor zehn Tagen bei unserem Besuch in Belo
Horizonte Gelegenheit gehabt, persönliche Eindrücke bei einem
Umbanda-Ritual zu sammeln und dabei auch einen interessanten
Einblick in die Komplexität akademischer Kreise in Brasilien be
kommen.
Als wir bei der Konferenz der ITA unser Interesse bekundeten,
an einem Umbanda-Ritual teilzunehmen, hatte unser brasilia
nischer Gastgeber, der als Psychologe an der Universität von Belo
Horizonte am Fachbereich Psychologie unterrichtete, uns zunächst
davon abraten wollen. Aus seiner professionellen Sicht, so erzählte
er uns, beruhe Umbanda auf dem Aberglauben einfacher Men
schen, und ausgebildete Fachleute wie wir könnten da nichts Inte
ressantes erfahren. Als wir auf unserem Vorhaben beharrten, stellte
sich heraus, dass sein Cousin die örtliche Umbanda-Gruppe leite
te, und er uns über diesen Kontakt ohne weiteres eine Erlaubnis
für den Besuch eines Rituals beschaffen konnte.
Das Haus, in dem das Ritual stattfand, hatte zwei Stockwerke und
einen Keller. Der zweite Stock stellte den Himmel dar; Decken und
Wände waren in leuchtendem Weiß und Rosa bemalt und mit
Eine Party für Exu 255
großen Rosen und Blumengirlanden aus dick vergoldetem Stuck
geschmückt. Der Keller symbolisierte die Hölle und war als Gegen
pol zum Himmel entsprechend gestaltet: Die Wände waren in
Schwarz und Dunkelrot gehalten, und auf dem Fußboden häuften
sich Gaben für die dunklen Gottheiten, Zigarettenstummel und
Flaschen mit Aquavit, hochprozentigem Alkohol. Das Erdgeschoss,
in dem das Ritual stattfand, war üppig geschmückt mit Bäumen
und Büschen in großen Töpfen, zwischen denen man kleine Teiche
angelegt hatte.
Der etwas kitschige Eindruck, den diese Einrichtung auf uns
machte, verflog, als das Ritual begann. Die Gesänge und das Trom
meln waren sehr kraftvoll, und schon bald fielen die ersten Anwe
senden in Trance. Wir konnten beobachten, dass viele Menschen
emotionale und körperliche Prozesse durchliefen, die zweifellos
authentisch waren und ein starkes Heilungspotenzial besaßen. Tat
sächlich waren viele dieser Reaktionen denen vergleichbar, die wir
im Laufe der Jahre in psychedelischen Sitzungen und beim Holo
tropen Atmen beobachtet hatten.
Am nächsten Tag erzählten wir unserem Gastgeber, wie beein
druckt wir von dem Umbanda-Ritual waren. Als er das hörte,
rückte er allmählich mit der Wahrheit heraus. Er erzählte uns, auf
grund eigener Erfahrungen sei er persönlich von den Umbanda-
Ritualen und ihrem Heilungspotenzial überzeugt. Wenn ein Mit
glied seiner Familie emotionale oder psychosomatische Probleme
hatte, schickte er es nicht in die freudsche Analyse oder in die Ver
haltenstherapie, sondern in eine Umbanda-CaMIdo (Cabildo =
wörtlich »Stadtrat«, Anm.d.Ü.). Er erwähnte sogar, seine Familie
habe einmal einen Umbanda-Heiler ins Krankenhaus geschmug
gelt, damit er dort für eines ihrer Mitglieder ein privates Ritual ab
hielt.
Die Erfahrung in Belo Horizonte hatte unsere Neugier noch
angestachelt, deshalb nahmen wir Sergios Einladung zu einem
weiteren Umbanda-Ritual gerne an. Am späten Nachmittag stiegen
256 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und jenseits
wir in seinen Wagen und fuhren von der City in die Außenbezirke
der Stadt. Unser Ziel lag am äußersten Stadtrand, und wir brauchten
ziemlich lange dorthin. Als wir am Ritualplatz ankamen, waren wir
überrascht. Während das Ritual in Belo Horizonte in Oberschichts
kreisen stattfand, waren wir hier in der Unterschicht gelandet.
Wir betraten den Platz durch eine dunkle Garage, geschmückt
mit farbigen Weihnachtslichtern, die in langen Schnüren kreuz
und quer unter der Decke angebracht waren. Vor einer der Wände
befand sich ein dreiteiliger Altar, auf dem kleine Gipsfiguren stan
den - Nachbildungen der orixás, die sich hier paarweise zusam
menfanden mit kleinen Skulpturen von katholischen Heiligen,
ihren christlichen Gegenspielern. Wir erkannten Xango, die Gott
heit des Zorns, der sich zusammentat mit dem Heiligen Georg, und
Iemanja, die Göttin der Meere, die neben der Heiligen Jungfrau
Maria stand. Wir sahen auch Caboclo, den wir bereits kannten, den
dunkelhäutigen Mann mit dem Lendentuch, der einen Kopf
schmuck aus Federn trug und Pfeil und Bogen schwang, und Preto
Velho, den gedrungenen, alten schwarzen Mann, der mit einer Pfei
fe zwischen den Lippen auf einem kleinen Stuhl saß.
Sergio zeigte uns zwei Figuren aus Eisen in Rot und Schwarz,
mit Hörnern und betont gestalteten Sexualorganen, die eine Teufe
lin und einen Teufel darstellten. Er machte uns auch mit Pomba
Gira bekannt, einer Gottheit in Gestalt einer sexuell attraktiven
Frau, die mit ihrem kurzen Kleid und dem spöttischen Lachen wie
eine Prostituierte aussah. Dann brachte er uns zu einem großen
angrenzenden Gelände, dem »Raum der Verkörperungen«, der
Stätte für das Ritual, das gleich beginnen sollte. Dort stellte er uns
einer alten, hexenhaften Frau mit wirrem Haar vor, die nur ein
Auge hatte. Sie war als Mae de Santos, als »Mutter der Heiligen«,
die führende Kraft bei dieser Zeremonie.
Während wir beobachteten, wie sie ein schwarzes Huhn
schlachtete und verschiedene Gegenstände mit dem Blut des Tieres
einschmierte, erklärte Sergio uns, dies sei ebo oder despacho, eine
Eine Party für Exu 257
zeremonielle Gabe. Diese Zeremonie würde einen anderen Ablauf
haben als die von uns bereits besuchte, denn sie fand am Baräs-Tag
oder Sankt-Antonios-Tag statt und war ein Fest zu Ehren von Exu
(Geistwesen, Magier, Trickster, Sendbote zu Orixä, den Göttern,
Anm.d.Ü.). Sergio erzählte uns, Exu sei ein verantwortungsloser,
hinterhältiger Gauner, der Probleme stifte und sich an der Verwir
rung seiner Opfer labe. Manche sähen in ihm eine Brücke zwischen
Mensch und Orixá, für andere sei er eine dunkle Naturgewalt, ver
gleichbar mit dem christlichen Teufel.
Als die Trommeln und Gesänge einsetzten, begannen die Filhos
und Filhas de Santos zu tanzen und fielen in Trance. Mehrere Hel
ferinnen und Helfer überwachten die »Gefallenen« auf dem Fuß
boden, und wenn sie bei ihnen Grimassen, Gesten und Verhaltens
weisen erkannten, die typisch für einen bestimmten orixá waren,
zogen sie ihnen entsprechende Kostüme an. Zwei Frauen fielen
durch ihr provokatives, obszönes Verhalten auf. Sergio erzählte
uns, sie verkörperten Pomba Gira. Bevor sie in Trance fielen, waren
sie äußerst manierliche, zurückhaltende Frauen gewesen, doch
jetzt lüfteten die beiden ihre Röcke und zeigten ihre Unterwäsche,
brüllten Obszönitäten durch den Raum und bedrängten Männer
mit lüsternen Gesten, die den Beischlaf symbolisierten. Wir
beobachteten, wie jede von ihnen drei große Flaschen Aquavit hi
nunterkippte, einen starken Schnaps mit 45 % Alkohol, ohne
irgendwelche Anzeichen von motorischer Unsicherheit zu zeigen.
Es ging wild zu, die Atmosphäre war aufgeladen und bizarr. Es
gelang Christina und mir jedoch, Abstand zu halten und relativ
gelassen zu bleiben. Wir verfolgten das Ganze wie zwei Anthropo
logen, die Feldforschung betrieben. Das änderte sich aber, als die
hexenhafte Mae de Santos mit einem bedeutungsvollen Grinsen
auf uns zukam und fragte, ob wir eine consultata wollten. So heißt
im Umbanda das Gespräch mit den Orixás, deren Botschaften und
Ratschläge das Medium den Ritual-Teilnehmern channelt. Ja, wir
258 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und jenseits
wollten »mit den Geistern sprechen«, denn wir witterten eine in
teressante Erfahrung. Wie sich herausstellen sollte, waren wir aller
dings nicht im Geringsten gefasst auf das, was uns nun erwartete.
Die Alte brachte uns zu einer der beiden Frauen, die sich so
obszön gebärdeten und große Mengen Aquavit konsumiert hatten.
Sie schubste uns von hinten auf eine von ihnen zu, bis wir dicht
vor dem Medium standen. Das Gesicht der Frau war seltsam ver
zerrt, sie kaute und rauchte eine große Zigarre. »Ihr wollt also mit
den Geistern sprechen?«, fragte sie uns mit einem höhnischen
Grinsen. Ohne eine Antwort abzuwarten, griff sie Christina frech
unter den Rock und berührte und drückte ihren Unterleib. »Frau
enleiden, was?«, gackerte sie. »Schmerzen und Blut. Und viel Ener
gie!« Sergio übersetzte uns ihre in Portugiesisch abgegebenen
Kommentare.
»Du bist traurig, sehr traurig und aufgebracht«, fuhr sie mit
krächzender Stimme fort. »Es ist schwer, von deinen beiden Kin
dern getrennt zu sein, stimmt’s? So weit weg, wie sie sind, auf einer
Insel?« Wir staunten nicht schlecht. Christina befand sich auf dem
Höhepunkt ihres Kundalini-Erwachens und hatte mit starken
Energien zu kämpfen. In dieser Phase konzentrierte sich der Pro
zess auf ihren Unterleib und löste zahlreiche gynäkologische Be
schwerden aus, für die es keine medizinischen Gründe gab. Außer
dem hatte sie bei einem Gerichtsprozess gerade das Sorgerecht für
ihre Kinder verloren, das an ihren Ex-Ehemann ging. Die beiden
lebten jetzt bei ihrem Vater auf Hawaii. Diese Umstände waren für
Christina eine ständige Quelle von Ärger und Depressionen.
Der Blick der Frau wanderte zu mir, und sie sah mich mit
einem spöttisch-neckenden Ausdruck an: »Es geht dir gut in Brasi
lien, stimmt’s? Dir schmeckt das brasilianische Essen mit all seinen
tollen Gewürzen, was? Mach dir einfach keine Sorgen um Finan
zen, das würde dir den Spaß verderben! Keine Angst, du wirst auf
dieser Reise kein Geld verlieren!« Das war ein weiterer Volltreffer.
Die Liebe zum Essen gehört zu meinen größten Schwächen, wie
Eine Party für Exu 259
Christina und meine Freunde wissen. Wenn ich in ein fremdes
Land komme, kann ich es kaum erwarten, seine Küche auszupro
bieren. Wir waren gerade in Bahia gewesen, wo ich begeistert die
ungewöhnlichen Mixturen aus afrikanischen und brasilianischen
Gewürzen gekostet hatte. Und da unser Workshop in Rio ausfallen
musste, machte ich mir insgeheim tatsächlich Sorgen um unsere
finanzielle Situation.
Es war erstaunlich, auf alle diese Dinge angesprochen zu wer
den, denn unsere einzige Verbindung zu dieser Umbanda-Gemein-
de war Sergio, und der wusste nichts von dem, was die Frau in
Trance für uns channelte. Die bemerkenswerten hellsichtigen oder
telepathischen Fähigkeiten dieses Mediums, für das wir so durch
sichtig waren, ließen alles, was hier geschah, für uns in einem
anderen Licht erscheinen. Plötzlich hatten wir viel mehr Respekt
für das Ritual, und es schien uns authentischer und seriöser zu
sein, als wir bislang angenommen hatten. Dass wir hier in einem
unbekannten Vorort von Rio de Janeiro in einer grotesken Umge
bung eine Party für Exu feierten, umgeben von Menschen, die der
artige paranormale Fähigkeiten besaßen, löste in uns sogar eine
gewisse Paranoia aus.
Es zeigte sich, dass die Frau, die Pomba Gira channelte und
mir beruhigend sagte, ich bräuchte mir um die finanzielle Seite
unserer Brasilienreise keine Sorgen zu machen, damit völlig richtig
lag. Obwohl uns der ausgefallene Workshop finanziell zurückge
worfen hatte, gelang es uns, ohne Minus abzuschließen. Am Ende
der Reise stellten wir fest, dass sich unsere Ausgaben und Einnah
men fast deckten.
2öo Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und jenseits
Das Tabu unserer eigenen Hellsichtigkeit
Sitzungen mit Anne Armstrong
n den Jahren, in denen ich am Maryland-Psychiatric-Research-
Center arbeitete, lernte ich über meinen Freund Walter Pahnke
viele bekannte, medial begabte Menschen unserer Zeit kennen, da
runter Eileen Garrett, Hugh und Charles Cayce, Joan Grant und
andere. Während unserer vierzehn Jahre am Esalen-Institut in Big
Sur, Kalifornien, begegneten Christina und ich vielen weiteren
Menschen mit außergewöhnlichen paranormalen Fähigkeiten -
darunter Luiz Gasparetto, Uri Geller, Helen Palmer, Keith Harray
und Jack Schwartz.
Die überzeugendsten und beharrlichsten Beweise dafür, dass
wir auf paranormalem Weg Zugang zu Informationen über andere
Menschen und die Welt bekommen können, erhielten wir jedoch
im Rahmen unserer langjährigen Freundschaft mit Anne Armstrong.
Annes bemerkenswertes mediales Talent kam im Verlauf ihrer »spi
rituellen Krise« zutage, die zwanzig Jahre dauerte. Ihre innere Ent
wicklung begann, als sie und ihr Mann Jim auf der Suche nach
Heilung für ihre qualvollen Migräneanfälle erste Experimente mit
Hypnose machten.
Ihr therapeutischer Erfolg bestand darin, dass sie durch diese
Experimente die Spur von Annes Kopfschmerzen zurückverfolgen
konnten; sie reichte bis zu ihrer Erinnerung an ein früheres Leben
als Athlet, der zum römischen Kolosseum Verbindung hatte und
I
Das Tabu unserer eigenen Hellsichtigkeit 261
heftig gefoltert wurde, weil seine Feinde ihn zwingen wollten, eine
wichtige, geheime Information preiszugeben. Zur großen Überra
schung der beiden stellte sich heraus, dass Annes Flauptverfolger
in dieser karmischen Erinnerung Jim war. Die Ehe der Armstrongs
überlebte trotz dieser Entdeckung, und die beiden begaben sich
zusammen auf eine spirituelle Forschungsreise. Nach jahrelangen
inneren Kämpfen begann Anne, als Medium zu arbeiten. Sie war
dabei immer gut geerdet, und ihre Angaben waren erstaunlich zu
verlässig.
Anne und Jim kamen regelmäßig als Gastdozenten in unsere
einmonatigen Workshops, meistens in der letzten Woche. Bevor
sie zu unserer Gruppe stießen, hatten die Teilnehmer im Schnitt
täglich zehn Stunden tiefe, gemeinsame Forschungsreisen unter
nommen, unter anderem auch in Form von regelmäßigen Sit
zungen in Holotropes Atmen. Anne kannte anfangs außer Christi
na und mir niemanden in der Gruppe. Trotzdem hatte sie sofort
Zugang zu intimen Informationen über die Gruppenmitglieder, die
für alle neu waren. Ihre Spezialität war die Erforschung und
Klärung zwischenmenschlicher Beziehungen. Für ihre »Readings«,
wie sie das nannte, brauchte sie lediglich die Namen der Menschen,
mit denen sie arbeitete. Sie konnte sogar in telefonischen Sitzungen
präzise und zuverlässige Angaben machen.
Neben diesen überraschend aufschlussreichen und zutref
fenden, individuellen Readings für Gruppenmitglieder leitete sie
die Teilnehmenden mit Jims Hilfe auch zu einer Reihe von Übungen
an, in denen sie ihre eigenen medialen Fähigkeiten entdecken
konnten, um sich dann dazu zu bekennen und zu lernen, sie prak
tisch anzuwenden. Eine Lieblingsübung der Armstrongs war das
»Gruppenscanning«, das diese beiden Schritte miteinander kombi
nierte. Die Teilnehmer legten dafür kleine, zusammengefaltete Zet
tel mit ihrem Namen in einen Hut. Dann forderte Anne ein Grup
penmitglied auf, aus dem Hut blind den Namen der Person zu
ziehen, die ein Gruppenreading bekommen sollte. Diese Person er
262 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und Jenseits
läuterte dann ihr Problem, für das sie mediale Informationen und
Unterstützung wünschte.
Jetzt wies Anne die anderen in der Gruppe an, ihre Zweifel an
den eigenen medialen Fähigkeiten loszulassen und alles aufzu
schreiben, was ihnen zu der fragenden Person in den Sinn kam,
ohne sich zurückzuhalten oder Selbstzensur zu üben. Nachdem
die Teilnehmer ihre Gedanken und Einsichten zu dem dargestell
ten Problem geäußert hatten, machte Anne selbst ein Reading,
sodass wir anderen unsere eigenen Einsichten mit ihren verglei
chen konnten. Im letzten Teil der Übung gab die Person, die von
uns Informationen empfangen hatte, uns Feedback und teilte uns
mit, was an unseren Informationen zutreffend für sie war und was
nicht.
Annes Deutungen trafen immer den Punkt und waren oft wirklich
bemerkenswert. Doch auch die Bilder und Einsichten der Grup
penmitglieder, die bislang gar keine medialen Fähigkeiten bei sich
vermutet hatten, waren erstaunlich präzise. Eine der größten
Schwierigkeiten bei den Sitzungen bestand darin, auftauchende
Bilder und Assoziationen korrekt zu interpretieren, was Anne
unglaublich leicht fiel. Ich möchte das verdeutlichen anhand eines
eigenen psychometrischen Versuchs, den ich unter Annes und Jims
Anleitung unternahm.
Bei dieser Übung saß sich die Gruppe in zwei Reihen gegenüber.
Dann bekamen wir Anweisung, einen Gegenstand in die Sitzung
einzubringen, der für uns von emotionaler Bedeutung war, ohne
dass die anderen Näheres darüber wussten oder den Gegenstand
sahen. Dazu gab Jim jeder Gruppenhälfte eine große Einkaufsta
sche, in die wir unsere Gegenstände legen sollten, ohne dass die
anderen sie zu sehen bekamen. Dann tauschte er die Taschen aus,
und jeder nahm einen Gegenstand heraus, der einer Person aus der
Reihe gegenüber gehörte. Jetzt sollten wir dieses Objekt in der
Hand halten und ein psychometrisches Reading machen, das heißt,
Das Tabu unserer eigenen Hellsichtigkeit 263
alle Assoziationen und Bilder aufschreiben, die uns zu dem Gegen
stand in den Sinn kamen.
Ich zog einen kleinen runden Metallanhänger von knapp drei
Zentimetern Durchmesser aus der Tasche. In diesem Kreis ertastete
ich die Umrisse einer stilisiert dargestellten menschlichen Gestalt
mit ausgestreckten Armen und Beinen, der allseits bekannten
Zeichnung des vitruvianischen Mannes von Leonardo da Vinci
ähnlich. Annes Anweisungen folgend, hielt ich den Anhänger in
der linken Hand, konzentrierte mich auf ihn und ließ meinen
Gedanken freien Lauf, wie ich es in meiner freudschen Ausbil
dungsanalyse gelernt hatte. Mit der rechten Hand schrieb ich mei
ne Assoziationen auf. Ich war überrascht, mit welcher Leichtigkeit
und Fülle sie sich einstellten.
Als Erstes erinnerte ich mich an die idyllischen deutschen
Kleinstädte mit ihren Kopfsteinpflasterstraßen und malerischen,
mit Wandgemälden, Holzschnitzereien und Blumenkästen
geschmückten Häusern, die ich auf meinen Europareisen besuchte.
Von dort trug mich der Strom meiner Gedanken zu meinem Me
dizinstudium und den Instituten, an denen ich als Student Vor
träge hörte oder Praktiken absolvierte. Als genereller Überblick
beginnend, konzentrierte sich diese Rückschau schnell und unge
wöhnlich intensiv auf meine Erinnerungen an die Anatomie und
Physiologie bösartiger Tumore. Dann gingen meine Assoziationen
über zu meiner Arbeit mit Krebskranken im Endstadium am Mary-
land-Research-Center und verweilten dort eine Zeitlang. Und
plötzlich kam mir ohne Vorwarnung oder Überleitung ein Witz in
den Sinn, den ich kürzlich erst gehört hatte, und über den ich
lachen musste:
Ein Abenteuerreisender, der Nordafrika besuchte, wandte sich an einen
arabischen Händler, um ein Kamel zu kaufen. Er wollte die Sahara
durchqueren und machte dem Händler klar, dass er ein wirklich gutes
Kamel brauche, das lange ohne Wasser auskam. Der Araber brachte ein
Tier, von dem er behauptete, es sei sein kräftigstes und zuverlässigstes
Kamel, und der Mann zahlte dafür die geforderte Summe, die beträcht
lich war. Dann brach er unverzüglich zu seinem Wüstenabenteuer auf.
Unangenehm überrascht, musste er erleben, dass das Kamel nach eini
gen Tagen immer schwächer und langsamer wurde. Obwohl er ihm den
gesamten Wasservorrat für die Reise zu trinken gab, schien das Tier dem
Verdursten nahe zu sein. Es hechelte, und seine trockene Zunge hing ihm
aus dem Maul. Wenige Tage später weigerte es sich, auch nur einen
Schritt weiterzugehen, und brach in der Wüste zusammen.
Beide wären umgekommen, wenn nicht eine Karawane vorbeigezo
gen wäre, die in die entgegengesetzte Richtung reiste und genügend Was
servorräte bei sich hatte. Das rettete ihnen das Leben. Nach seiner Rück
kehr von dieser unglückseligen Wüstendurchquerung suchte der Mann
den arabischen Händler auf und verlangte wütend sein Geld zurück.
»Was haben Sie mir dafür ein Kamel verkauft?«, schimpfte er. »Nach
wenigen Tagen ist es in der Wüste zusammengebrochen und keinen
Schritt weitergegangen. Ich wäre dort fast umgekommen!«
»Das verstehe ich nicht«, sagte der Händler und schüttelte den Kopf.
»Haben Sie den Ziegelstein-Trick mit ihm gemacht?« »Was meinen Sie
mit ›Ziegelstein-Trick‹?«, fragte der unglückliche Reisende völlig ver
wirrt. »Ich werde es Ihnen zeigen«, sagte der Araber und führte das Tier
zum nächsten Brunnen. Kaum begann das Kamel zu trinken, näherte
sich ihm der Araber mit einem großen Ziegelstein in jeder Hand und
wartete geduldig. Sobald das Tier mit dem Trinken fertig war, drückte er
seine Hoden mit den Ziegelsteinen zusammen. Das Kamel gab einen
tierischen Schrei von sich und schlürfte noch viele weitere Liter Wasser.
Die Pointe dieses Witzes lässt sich schriftlich nicht so leicht vermit
teln. Um sie zu veranschaulichen, muss der Erzähler den Schrei
nachahmen, den das Kamel ausstößt, wenn der Händler seine
Hoden zusammendrückt. Der Luftstrom, den das Tier bei diesem
Schrei gewaltsam einsaugt, macht deutlich, welche Mengen an
Wasser das Kamel nach dem »Ziegelstein-Trick« noch trinken muss.
264 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und Jenseits
Das Tabu unserer eigenen Hellsichtigkeit 265
Dieser Witz war meine letzte Assoziation bei der psychometrischen
Übung. Er geisterte noch minutenlang in meinem Kopf herum.
Unter Annes und Jims Anleitung fanden wir als nächstes die
Besitzer unserer Gegenstände heraus und tauschten uns mit ihnen
aus. Ich konnte kaum glauben, wie oft ich mit meinen Assoziati
onen den Nagel auf den Kopf traf, denn ich hatte mich noch nie für
medial begabt gehalten. Ich war an unser mediales Spiel mit einer
gesunden Skepsis herangegangen und fragte mich, ob dabei über
haupt etwas herauskommen würde. Doch ich hatte mich geirrt!
Wie sich herausstellte, stammte die Besitzerin des Anhängers, den
ich für mein psychometrisches Experiment benutzte, aus Deutsch
land. Myra war in einer Kleinstadt aufgewachsen, die genauso aus
sah wie die, die vor meinem inneren Auge auftauchte. Als Ärztin
hatte sie erst kürzlich ihr Interesse an alternativen Heilungsmetho
den entdeckt und damit begonnen, »New Age«-Worskhops und -
Seminare zu besuchen.
Der Kamelwitz erwies sich als weiterer, unglaublicher medialer
Volltreffer, obwohl die Informationen so humorvoll verkleidet da
herkamen. Tatsächlich war die Situation, auf die diese Assoziation
anspielte, noch erstaunlicher und komischer als der Witz: Der An
hänger war das Abzeichen des »Center for the Whole Person«
(etwa: Zentrum für den ganzen Menschen, Anm.d.Ü.), einer Grup
pe, die mit einer tiefgreifenden Methode der Selbsterforschung ar
beitete, welche auf eine weitverbreitete, abgewandelte Form von
Primärtherapie zurückging. Myra hatte an einem Wochenend-
Workshop mit Bill Swartley teilgenommen, einem der Gruppenlei
ter dieser Organisation. Dieser Workshop, ein Nacktmarathon,
fand in der Nähe von Atlantic City, New Jersey, statt.
Ein Nacktmarathon ist eine radikale Form von Therapie, die
der kalifornische Psychologe Paul Bindrim in den 1960er-Jahren
entwickelte. Er kombinierte Nacktheit, Schlafentzug und Fasten
mit experimenteller Gruppenarbeit im körperwarmen Wasser eines
Swimmingpools. Das Becken hatte eine gleichmäßige Tiefe von
266 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und Jenseits
etwa anderthalb Metern. Zu Beginn dieses Marathons zeigte Bill
Swartley den Teilnehmerinnen und Teilnehmern das Abzeichen für
sein Zentrum und verkündete, am Ende des Workshops würde er
mit diesem Anhänger die Person belohnen, die das ungeheuer
lichste Verhalten an den Tag legte. Da Bill nicht wusste, wie aben
teuerlustig und wagemutig Myra sein konnte, hatte er auch keine
Ahnung, was er sich da selbst einbrockte.
In einer der Übungen bei diesem Nacktmarathon, die tiefe
Emotionen auslösen sollte, inspizierte die Gruppe die im Wasser
treibenden, nackten Körper der einzelnen Teilnehmer. Dazu bil
deten die Gruppenmitglieder zwei Reihen, die sich im Becken ge
genüberstanden. An einem Ende beginnend, schoben sie einen
Körper nach dem anderen mit dem Bauch nach oben wie im Spieß
rutenlauf durch diese Gasse. War die Reise beendet, stellte man
sich am anderen Ende der Reihe wieder auf. Die Genitalien beider
Geschlechter und die Brüste der Frauen waren bei dieser Übung
allen Blicken preisgegeben. Bei vielen Menschen löste dieses rück
sichtslose Eindringen in ihre Intimsphäre äußerst heftige Emoti
onen aus.
Es kam durchaus vor, dass einzelne Teilnehmerinnen und Teil
nehmer diese Situation nicht aushielten und emotional zusammen
brachen oder »in den Prozess gingen«, wie man das nannte. In
diesem Fall versammelte sich die restliche Gruppe um diese Person
und unterstützte sie bei der Verarbeitung der hochkommenden
Themen und Gefühle. War dieser Prozess abgeschlossen, stellten
sich die beiden Reihen wieder auf, und der oder die nächste trieb
durch die Wassergasse.
Der Workshopleiter war einer von ihnen, was er nicht nur
durch die eigene Nacktheit demonstrierte, sondern auch, indem er
an der Übung aktiv teilnahm. Als die Gruppe Bill Swartley durch
die Gasse schob, sah Myra ihre Chance gekommen, den Preis zu
gewinnen, der für das Wochenende ausgeschrieben war. Sie warf
sich auf Bill Swartley und machte sich mit Mund und Zähnen über
Das Tabu unserer eigenen Hellsichtigkeit 267
seine Hoden und seinen Hodensack her. Natürlich wurde sie zur
unangefochtenen Siegerin und erhielt den Anhänger.
Bei unserer Gruppensitzung hatten viele von uns Assozia
tionen, die über die Persönlichkeit und das Leben der jeweiligen
Besitzer des entsprechenden Gegenstands etwas aussagten. Doch
der Hauptunterschied zwischen uns und Anne bestand nicht nur
darin, dass sie eine reichere Imagination besaß als wir, sondern
ihre Bilder und Assoziationen auch entschlüsseln und klar und zu
sammenhängend formulieren konnte, was uns nicht so leicht fiel.
Auch wenn sich die meisten meiner Assoziationen als erstaunlich
zutreffend erwiesen, nachdem ich die Besitzerin des Anhängers erst
einmal gefunden hatte und von ihr ein Feedback bekam, hätte ich
meine inneren Bilder ohne Hilfe nicht übersetzen und sie zu kon
kreten, präzisen und klaren Aussagen formulieren können.
Überraschenderweise enthielt meine psychometrische Deu
tung auch eine Information, von der sich erst später zeigte, wie
wichtig sie war. Die Erinnerungen an mein Medizinstudium und
meine spätere berufliche Arbeit, die um Krebserkrankungen
kreisten, waren weit mehr als lediglich Anspielungen auf Myras
Arbeit als Ärztin. Mehrere Monate nach unserem Workshop in
Esalen diagnostizierten die Ärzte bei Myra eine Krebserkrankung,
der sie schließlich erlag.
268 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und Jenseits
Ameisen der Großen MuttergöttinEin Besuch in Palenque
ie nächste Geschichte macht deutlich, dass uns transpersonale
Erfahrungen in holotropen Bewusstseinszuständen »paranor
malen« Zugang zu neuen Informationen über archetypische und
historische Sphären des kollektiven Unbewussten verschaffen kön
nen. In vielen Fällen ist es möglich, die Richtigkeit dieser Informa
tionen über Gottheiten und mythologische Reiche anderer Kul
turen und auch zahlreiche Epochen der menschlichen Geschichte,
die auf diese Weise gewonnen wurden, später zu verifizieren. Diese
Beobachtungen weisen Parallelen zu C.G. Jungs Entdeckungen auf
und bestätigen sie - dass nämlich die Psyche jedes Menschen nicht
nur zum freudschen individuellen Unbewussten, sondern auch zu
einem kollektiven Unbewussten Zugang hat, welches das histo
rische und mythologische Erbe der Menschheit bewahrt.
Die im Folgenden beschriebenen Ereignisse spielten sich Ende
November 1971 ab, als mein Bruder Paul und ich den Fünften
Weltkongress der Psychiatrie in Mexico City besuchten. Paul, selbst
Psychiater wie ich, arbeitete zu jener Zeit am Psychiatrischen Kran
kenhaus der McMasters-Universität in Hamilton, Ontario, und ich
lebte und arbeitete in Baltimore. Der Kongress war für uns eine
willkommene Gelegenheit, wieder einmal zusammenzukommen.
Wir beschlossen, die Zeit nach der Konferenz für eine gemeinsame
Reise zur Yucatan-Halbinsel zu nutzen, wo wir die Ruinen der alten
Maya-Städte besichtigen wollten.
D
Ameisen der Großen Muttergöttin 269
Nach Abschluss des Kongresses mieteten wir uns einen Wagen und
erreichten nach langer Fahrt Merida, die Hauptstadt von Yucatan.
Unser Hotel in Merida als Ausgangsstation benutzend, sahen wir
uns die Ruinen in der Umgebung an - Chichén Itzá, Dzibilchaltün,
Uxmal und Tulúm. Während dieser Besichtigungstouren zog ich
mir eine Grippe zu und bekam starke Halsschmerzen. Ich wollte
jedoch unsere Besuche bei den Monumenten der alten Mayas nicht
abbrechen, denn ich hatte an dieser Kultur seil meiner Jugend
großes Interesse. Durch das hohe Fieber und die Mengen an Dai
quiri, die ich trank, um die Entzündungen in Hals und Kehlkopf
zu bekämpfen, bekamen meine Erfahrungen eine zusätzliche inte
ressante Note. Ich kam in Kontakt mit Erinnerungen an frühere
Leben und hatte einige intuitive, interessante Einsichten in Bezug
auf die von uns besuchten Stätten.
Obwohl ich nur nachts ruhte, gelang es mir, vor unserer Rück
kehr nach Mexico City wieder weitgehend gesund zu werden. Auf
dem Rückweg entschieden wir, in Villa Hermosa Halt zu machen
und Palenque zu besuchen, eine der bemerkenswertesten Ruinen
der Maya. Obwohl ich körperlich noch nicht ganz wieder herge
stellt war, beschloss ich wider besseres Wissen, Methylenedioxy-
Amphetamin (MDA) zu nehmen - eine psychedelische Substanz
oder ein Entheogen, die/das der Droge Ecstasy verwandt ist.
Eigentlich hatte ich das Mittel in Chichén Itzá nehmen wollen,
doch da fühlte ich mich noch zu krank. Ich wollte in dieser außer
gewöhnlichen Umgebung eine Sitzung machen, um die Erfor
schung der kulturellen Auswirkungen von psychedelischen Sub
stanzen fortzusetzen und zu vertiefen. Ich wusste aus früheren
Erfahrungen, dass Substanzen wie diese dem Menschen bemer
kenswert tiefe Einsichten in die archetypische Dynamik heiliger
Stätten verschaffen können.
Mir war zwar klar, wie wichtig ein sicherer Rahmen und eine
sichere Umgebung für psychedelische Erfahrungen sind, doch
wollte ich die Gelegenheit, die sich mir hier bot, nicht verpassen.
Da ich bereits früher in eigenen Sitzungen Erfahrungen mit MDA
gesammelt hatte, war ich sicher, dass ich mit den Wirkungen der
Droge an einem öffentlichen Ort zurechtkommen würde, ohne zu
viel Aufmerksamkeit zu erregen. Ich verbarg meine Augen hinter
dunklen Brillengläsern, damit die anderen Besucher meine
erweiterten Pupillen nicht sahen, und nahm 125 Milligramm der
Substanz. Ob nun aufgrund meiner noch nicht ganz wiederherge
stellten Gesundheit, der speziellen Kräfte dieser Stätte oder macht
voller astrologischer Transite - die Wirkung der Droge war unver
gleichlich stärker als in sämtlichen früheren Sitzungen.
Meine Erfahrungen setzten erstaunlich plötzlich und dramatisch
ein. Mir fiel es zunehmend schwer, mich in den Ruinen wie ein
bewundernder Besucher zu bewegen. Wellen von heftiger Angst
durchfluteten mich, und ich empfand eine nahezu metaphysische
Beklemmung. Mein Wahrnehmungsfeld verdunkelte sich mehr
und mehr, und mir fiel auf, dass von den mich umgebenden Din
gen eine schreckliche Kraft ausging und sie sich auf höchst omi
nöse Weise wellenförmig bewegten.
Mir wurde klar, dass hier in Palenque Tausende von Menschen
geopfert worden waren und das ganze Leid von Jahrhunderten im
mer noch wie eine schwere dunkle Wolke über dem Platz hing. Ich
spürte die Anwesenheit rachsüchtiger Gottheiten der Mayas und
deren Blutdurst. Sie flehten um weitere Opfer und schienen mich
als ihr nächstes heiliges Opfer zu betrachten. Obwohl mich dieses
Gefühl total packte, war ich noch zu der vernünftigen Einsicht fä
hig, dass ich hier eine innere symbolische Erfahrung machte und
mein Leben nicht tatsächlich in Gefahr war.
Ich schloss die Augen, um herauszufinden, was in meiner Psy
che vor sich ging. Plötzlich schien es, als würde die Geschichte
lebendig. Ich sah Palenque nicht in Ruinen vor mir liegen, sondern
als blühende, heilige Stadt auf dem Höhepunkt ihres Glanzes. Ich
war Zeuge eines Opferrituals, doch war ich nicht nur Beobachter,
270 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und jenseits
Ameisen der Großen Muttergöttin 271
sondern erlebte mich zugleich als das heilige Opfer. Sofort schloss
sich eine ähnliche Szene an und dann noch eine weitere. Während
ich erstaunliche Einsichten in die präkolumbianische Religion und
die Rolle der Opferrituale in diesem System gewann, schienen sich
meine individuellen Grenzen völlig aufzulösen, und ich fühlte
mich immer stärker verbunden mit allen Geschöpfen, die in Palen
que im Laufe der Jahrhunderte gestorben waren. Das ging so weit,
dass ich zu diesen Geschöpfen wurde.
Ich erlebte mich als enormes Gefäß, angefüllt mit sämtlichen
Emotionen, die diese Menschen jemals empfunden hatten - Be
dauern über den Verlust ihres noch jungen Lebens, ängstliche Er
wartung und eine merkwürdig zwiespältige Einstellung zu ihren
Scharfrichtern, doch auch eine seltsame Hingabe an ihr Schicksal
und sogar Aufregung und neugierige Erwartung auf die Erfahrung,
die ihnen bevorstand. Ich hatte das starke Gefühl, dass man den
Opfern bei den Vorbereitungen auf das Ritual eine bewusstseins
verändernde Droge gab, durch deren Einnahme ihr Erleben auf
eine andere Ebene rückte.
Ich war fasziniert von der Vielschichtigkeit meines Erlebens
und der Fülle der damit verbundenen Einsichten. Ich sonderte
mich ein wenig ab von den anderen, kletterte auf den Hügel und
legte mich allein vor dem Sonnentempel auf den Boden, um mich
besser auf meine inneren Erfahrungen konzentrieren zu können.
Weitere Szenen aus der Vergangenheit bombardierten mein Be
wusstsein mit ungewöhnlicher Heftigkeit. Meine Faszination wich
schnell einer tiefen, geradezu metaphysischen Angst. Ich glaubte
laut und deutlich eine Botschaft zu vernehmen: »Du bist an dieser
Stätte nicht als Tourist auf den Spuren der Geschichte, sondern als
heiliges Opfer, wie all die anderen, die hier in der Vergangenheit
geopfert wurden. Du wirst diesen Platz nicht lebend verlassen.«
Ich spürte die überwältigende Präsenz der Gottheiten, die weitere
Blutopfer verlangten, und selbst die Mauern der Gebäude schienen
nach mehr Blut zu dürsten - meinem Blut.
272 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und Jenseits
Ich hatte in meinen psychedelischen Sitzungen auch früher schon
veränderte Bewusstseinszustände erlebt und wusste, dass selbst die
schlimmsten Ängste bei diesen Erfahrungen keine objektiv beste
henden Gefahren widerspiegeln und sich meist auflösen, sobald
das Bewusstsein zum Normalzustand zurückkehrt. So überzeu
gend die jetzige Erfahrung sich mir auch präsentierte, ich wollte
glauben, dass sie »einfach war wie alle anderen«. Doch das Gefühl
eines drohenden Verhängnisses wurde immer realer. Ich öffnete die
Augen, und eine grauenhafte Panik erfasste mich: Mein Körper war
über und über bedeckt mit Riesenameisen, die Haut übersät mit
kleinen roten Schwellungen Hunderter von Einstichen. Das hier
fand nicht nur in meiner inneren Welt statt; es geschah wirklich.
Mir wurde klar, dass durch diese unerwartete Komplikation
ein neues Element in meine Erfahrungen kam, das in früheren Sit
zungen fehlte, sodass meine Ängste in solchen Situationen bislang
nicht wirklich überzeugend geworden waren. Bislang hatte ich be
zweifelt, dass MDA mich umzubringen vermochte, doch jetzt
wusste ich einfach nicht, was große Giftmengen durch die Bisse
von Hunderten von mexikanischen Riesenameisen bei einem Men
schen bewirkten, dessen Nervensystem durch MDA bereits stark
aktiviert war. Die Ameisen brachten eine unbekannte Größe in die
Gleichung ein - die chemischen Bestandteile ihres Giftes und seine
Vermischung mit der Substanz, die ich genommen hatte. Ich be
schloss, aus den Ruinen zu flüchten und mich dem Einfluss der
Gottheiten zu entziehen. Doch hatte sich die Zeit scheinbar derma
ßen verlangsamt, dass sie fast ganz zum Stillstand gekommen war,
und mein Körper fühlte sich bleischwer an.
Verzweifelt versuchte ich, so schnell zu rennen, wie ich konn
te, aber ich schien nur wie in Zeitlupe voranzukommen. Ich fühlte
mich wie in einer Baggerschaufel. Die Gottheiten und die Mauern
der Ruinen hatten mich fest im Griff, hielten mich in ihrem Bann
gefangen. Während dieser Ereignisse flimmerten vor meinem inne
ren Auge weitere Bilder aus der Geschichte von Palenque. Ich
Ameisen der Großen Muttergöttin 273
konnte den Parkplatz mit den Autos der Besucher sehen, von den
Ruinen mit einer dicken Kette abgetrennt. Da lag sie vor mir, die
berechenbare, rationale Welt meiner Alltagswirklichkeit.
Ich konzentrierte mich innerlich auf die Aufgabe, dorthin zu ge
langen, denn ich hatte das Gefühl, dass mein Leben davon abhing.
Die Absperrungskette kam mir in diesem Augenblick wie die Gren
ze vor, hinter der die magische Welt der alten Götter und ihr Ein
fluss endeten. Hatte unsere moderne Welt die Weltreiche, die auf
dem Glauben an diese mythischen Realitäten gründeten, nicht ero
bert und als unglaubwürdig verworfen?
Meine Annahme erwies sich als richtig. Nach einer Ewigkeit,
wie mir schien, erreichte ich unter enormen Anstrengungen den
Parkplatz. Im selben Augenblick war es, als würde mein ganzes
Wesen - körperlich, psychisch, spirituell - von einer schweren Last
befreit. Ich fühlte mich leicht, ekstatisch, wie neugeboren und pul
sierend vor überschießender Lebenskraft. Meine Sinne waren wie
gereinigt und weit offen: Der prachtvolle Sonnenuntergang wäh
rend unserer Rückfahrt, das Abendessen in einem kleinen Restau
rant, bei dem ich das pulsierende Leben in den Straßen beobachten
konnte, der Geschmack der Fruchtsäfte in den jugerias der Stadt -
all das waren wirklich ekstatische Erlebnisse.
Die Nacht jedoch verbrachte ich überwiegend unter der kalten
Dusche, um die durch die Ameisenbisse hervorgerufenen Schmer
zen und das Brennen zu lindern. Während die Wirkung des MDA
abklang, bedeckten Hunderte von juckenden, kleinen Stichen mei
nen Körper und wurden für mich zur vorherrschenden Realität.
Mehrere Jahre später erzählte mir Christian Raetsch, ein deutscher
Freund, bekannter Anthropologe und Ethnobotaniker, der mittel
amerikanische Kulturen studiert und lange Zeit bei den Lacandon-
Mayas gelebt hatte, dass Ameisen in der Mythologie der Mayas eine
wichtige Rolle spielen und in engem Zusammenhang stehen mit
der Erdgöttin und dem Prozess von Tod und Wiedergeburt.
274 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und Jenseits
Uluru und AlcheringaEin Abenteuer in der Traumzeit
n dieser Geschichte schildere ich einige bemerkenswerte Aben
teuer in außergewöhnlichen Realitäten, die Christina und ich bei
unserem Besuch in Australien erlebten. Diese Erfahrungen sind
deswegen besonders interessant, weil wir von unabhängiger Seite
eine Bestätigung der neuen Informationen über die archetypische
und rituelle Welt der Aborigines bekamen, die wir beide im holo
tropen Bewusstseinszustand empfingen - ich in einer psychede
lischen Sitzung und Christina bei spontanen Erlebnissen, die im
Umfeld ihrer spirituellen Krise auftraten.
Australien hat viele Gesichter, die es zu einem einzigartigen
und bemerkenswerten Land machen - seine isolierte Lage in der
südlichen Hemisphäre, die Weite seiner Wüste in der Mitte des
Landes, der riesige, malerische Ayers Rock mitten im Kontinent
und besonders seine Tierwelt, die in der Welt ihresgleichen sucht
- das Känguru, das Beuteltier, der Beutelteufel (auch Tasmanischer
Teufel genannt), das Schnabeltier und der Ameisenigel, beide aus
der Familie der Kloakentiere. Doch für Anthropologen, Psycholo
gen und Bewusstseinsforscher sind das Faszinierendste an diesem
Kontinent seine Ureinwohner - die australischen Aborigines.
Dieses bemerkenswerte Volk von Jägern und Sammlern lebt
seit mindestens 50.000 Jahren in Australien und hat sich im We
sentlichen zusammen mit diesem Kontinent entwickelt. Die Abori
gines haben sich an die harten Bedingungen ihrer australischen
I
Uturu und Alcheringa 275
Umgebung angepasst, indem sie in halbnomadischen Gruppen le
ben, die sich äußerlich nicht von den Menschen des Steinzeitalters
unterscheiden. Und doch hatten sie schon immer ein außerordent
lich reiches Innenleben. Ihre faszinierende rituelle und spirituelle
Welt und ihre komplexe Mythologie sind eng verbunden mit dem
Land, in dem diese Menschen zu Hause sind. Forscherinnen und
Forscher, die mit den Aborigines gelebt und sie studiert haben, be
richten, dass sie viel Zeit in einem bemerkenswerten Bewusstseins
zustand verbringen, der bei ihnen alcheringa oder Traumzeit heißt.
Wir haben viele Geschichten über die bemerkenswerten au
ßersinnlichen Fähigkeiten der Aborigines gehört und gelesen, die
schildern, wie diese Menschen ohne physische Hilfsmittel wie Bo
ten, Geräusche oder Rauchsignale miteinander kommunizieren
können. Sie können Gedanken, Gefühle und Ideen präzise an
Freunde und Verwandte übermitteln, die sich Hunderte von Mei
len entfernt befinden. Die intuitive Naturverbundenheit der Abori
gines ist ebenso erstaunlich. Sie wissen zum Beispiel, wenn einige
Meilen entfernt ein kurzer, lokaler Regenschauer niedergeht - in
der Wüste ein äußerst seltenes Ereignis -, und rennen genau zum
richtigen Zeitpunkt zu diesem Ort, um das kostbare Nass aufzu
fangen. In anderen Geschichten heißt es, dass sie Verbrechen auf
klären und Verbrecher identifizieren und aufspüren können sowie
auch verlorengegangenes Vieh und Wertsachen. Auch haben sie
ein unglaubliches Talent, kleine Dinge auf große Entfernungen hin
zu erkennen.
Diese Berichte hatten zusammen mit unserem eigenen Wissen
über die Mythologie, die Bilder und die Musik dieser außerge
wöhnlichen Menschen ein großes Interesse in uns geweckt, sie ge
nauer kennenzulernen. Eine erste Gelegenheit dazu bot sich, als
uns unsere Freunde Alf und Muriel Foote einluden, in ihrem Zen
trum in Blackwood in der Nähe von Melbourne einen Workshop
durchzuführen. Ein weiterer Grund für unseren Besuch war, dass
wir Vorbereitungen treffen wollten für eine Konferenz der »Inter
276 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und jenseits
national Transpersonal Association« (ITA), die in Phillip Island
nahe der australischen Küste stattfinden sollte.
Während unseres Aufenthalts in Blackwood erkundigten wir
uns mit unseren Freunden nach Möglichkeiten, Aborigines ken
nenzulernen und mit ihren Ältesten in Kontakt zu kommen. Das
gestaltete sich viel schwieriger, als wir erwartet hatten. Die Abori
gines, so fanden wir heraus, waren keine homogene Gruppe. Die
mehreren hunderttausend Aborigines sprechen untereinander über
200 Sprachen. Außerdem verteilen sie sich auf zahlreiche so ge
nannte »skin groups«, von denen jede ihre eigene Mythologie, Ri
tuale und strengen Heiratsregeln besitzt. Es war grundsätzlich
schwierig, »kulturelle Vermittler« zu finden, die Kontakte zu den
verschiedenen Aborigine-Gruppen hersteilen. Die wenigen, die wir
fanden, waren sehr bemüht, diese Menschen zu schützen, denn sie
hatten in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen mit Fremden
gemacht und waren diesen gegenüber sehr auf der Hut.
Wir hatten bereits in Kalifornien beschlossen, bei unserer Rei
se auch Zentral-Australien zu besuchen und den Ayers Rock - die
einzigartige geologische Formation in der Mitte des Kontinents -,
den die Aborigines Uluru nennen und als ihren »kosmischen Berg«
betrachten. Da all unsere Versuche, brauchbare Kontakte zu knüp
fen, fehlgeschlagen waren, mussten wir diese Fahrt auf eigene Faust
unternehmen. Wie sich heraussteilen sollte, gestaltete sich unsere
Begegnung mit der Kultur der australischen Ureinwohner völlig
anders, als wir uns das vorgestellt hatten. Sie fand eher in Form
von tiefen inneren Erlebnissen als von äußeren Kontakten statt.
Wir flogen von Melbourne nach Alice Springs, und statt für die
Fahrt zum Ayers Rock ein kleines Flugzeug zu benutzen, beschlos
sen wir, uns einen Wagen zu mieten. Wir wollten mit der ehrfurcht
gebietenden roten Wüste, die den größten Teil Australiens aus
macht, möglichst eng in Kontakt kommen. Die Entfernung
zwischen Alice Springs und Uluru beträgt fast 500 Kilometer, und
die Fahrt bei sengender Hitze dauerte viele Stunden.
Uluru und Alcheringa 277
Die Aborigines nehmen im Wüstengebiet viele interessante Einzel
heiten wahr und verbinden damit eine Fülle von mythologischen
Geschichten. Sie gehen davon aus, dass bedeutsame Ereignisse
dort, wo sie stattfinden, Vibrationen in der Erde ablagern - ähnlich
wie Pflanzen in ihren Samen ein Bild von sich hinterlassen. Die
Landschaft birgt und reflektiert in ihrer Gestalt neben diesen
Vibrationen, die wie Echos der Ereignisse sind, durch die sie her
vorgerufen wurden, auch die Fußabdrücke der mythologischen
Wesen, die dabei mitwirkten. Das so entstandene energetische Mus
ter, guruwari oder auch Kraft des Samens genannt, ist unlösbar mit
der Landschaft verbunden und verleiht ihr eine tiefe mythologische
Bedeutung.
Uns westlichen Beobachtern erscheint die Landschaft zwar
wunderschön und Respekt einflößend, aber auch eintönig. Gele
gentlich bemerkten wir gebleichte Skelette von Dingos, Kamelen
und anderen Tieren am Straßenrand. Eine weitere willkommene
Ablenkung auf unserer Reise war die Begegnung mit einer riesigen
Waran-Eidechse (Varanus giganteus), die wenige Meter von der
Straße entfernt ein Sonnenbad nahm. Später erfuhren wir, dass das
Fleisch dieser Tiere bei den Aborigines als Delikatesse gilt.
Ayers Rock oder der Uluru ist der weltweit größte Monolith
und von fast ovaler Form. Dieses spektakuläre Sandsteingebilde
von etwa 10 Kilometern Durchmesser thront auf einer roten Wüs
te, die sich über Hunderte von Kilometern erstreckt. Es gilt als
Gipfel eines Berges, der unter der Erdoberfläche kilometerweit ver
läuft. Als wir nach vielen Stunden Fahrt durch die Wüste erschöpft
dort ankamen, entdeckten wir zu unserer großen Freude nur etwa
200 Meter von dem majestätischen Monolithen entfernt ein kleines
Motel. Wir mieteten uns dort ein Zimmer und beschlossen, noch
einen Spaziergang zu machen, um einen ersten Eindruck von un
serer Umgebung zu gewinnen.
Die Sonne ging gerade unter, und wir liefen weit in die Wüste,
um eine gute Aussicht auf den Berg zu haben. In einiger Entfer
278 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und Jenseits
nung vom Motel bot das Panorama von Uluru, der mit seinem
kräftigen Orange einen scharfen Kontrast zum tiefblauen Himmel
bildete, einen absolut zauberhaften Anblick. Es ist bekannt, dass
dieses Naturwunder bei Sonnenauf- und -Untergang in seiner
ganzen atemberaubenden Schönheit erstrahlt. Das Motel an die
sem verheißungsvollen Ort bot den perfekten Rahmen für eine
psychedelische Erfahrung. Ich hatte noch etwas LSD bei mir, das
von meinen Forschungen in der (damaligen) Tschechoslowakei
übriggeblieben war, wo ich als leitender Forscher ein Programm
für psychedelische Forschung durchgeführt und unbegrenzt Zu
gang zu dieser Substanz hatte.
Obwohl ich nach der langen Fahrt durch die Wüste etwas
müde war, beschloss ich, diese einzigartige Gelegenheit zu nutzen
und mich auf eine innere Reise zu begeben. Christina, die zu der
Zeit in Folge ihres Kundalini-Erwachens sehr offen war und viele
spontane innere Erlebnisse hatte, wollte sich mir bei diesem Aben
teuer nicht anschließen. Sie bot mir an, ich könne sie wecken,
wenn ich jemanden brauchen sollte, der »meine Drachenschnur
festhielt«, wie wir das nannten. Ich nahm 400 Mikrogramm LSD
und machte es mir auf meinem Motelbett bequem.
Nachdem ich etwa 45 Minuten still meditiert hatte, begann die
Substanz zu wirken, und mein Bewusstseinszustand durchlief sehr
rasche und tiefe Veränderungen. Ich hatte das Gefühl, innerlich
schnell in die Traumzeit und zum Anfang der Welt befördert zu
werden. Ich besaß einige flüchtige Kenntnisse der australischen
Mythologie, doch was ich hier innerlich vor mir sah, überstieg al
les, was ich jemals darüber gelesen oder gehört hatte. Und doch
zweifelte ich nicht im Geringsten daran, dass meine Erfahrungen
im mythischen Reich der Aborigines absolut authentisch waren.
Ich sah die Erdoberfläche, flach, nichtssagend und ohne be
stimmte Merkmale, auf der viele mythische Gestalten von sehr un
terschiedlicher Gestalt eintrafen. Sie sangen mysteriöse Lieder und
Uluru und Alcheringa 279
schienen mit ihren Gesängen die Landschaft zu formen und Felsen,
Berge, Täler und Wasserlöcher ins Leben zu rufen. Einige von
ihnen waren von menschlicher Gestalt, manche sahen aus wie
Schlangen oder andere Tiere. Unter ihnen befanden sich mehrere
riesige, menschenähnliche Geschöpfe, die meine besondere Auf
merksamkeit erregten. Ich hatte nie zuvor gehört, dass es in der
Mythologie der Aborigines auch Riesen gab.
Anfangs spielte ich die Rolle des Beobachters und war ledig
lich Zeuge dieser phantastischen Aufführung von Szenen aus der
Traumzeit. Plötzlich aber veränderte sich das: Die Bewohner der
Welt der Traumzeit wandten sich jetzt gegen mich, weil sie in mir
einen unwillkommenen Eindringling sahen. Sie drohten mich zu
vernichten und forderten mich auf, ihnen die Gründe für mein
verwegenes Eindringen darzulegen. Ich erklärte ihnen, ich sei mit
viel Respekt und Demut und in freundlicher Absicht zu ihnen
gekommen - der einzige Beweggrund meines Kommens sei die
Suche nach Wissen. Nachdem die mythischen Wesen mich dieser
strengen psychologischen und spirituellen Prüfung unterzogen
hatten, erlaubten sie mir schließlich den Zugang zu ihrem Reich
Einzige Bedingung war, dass ich mich den hier herrschenden Re
geln vollständig unterwarf.
Nachdem ich diesen schwierigen Engpass überwunden hatte,
konnte ich meine Reise durch das Große Träumen (oder die Traum
zeit) ungehindert fortsetzen. Vor meinen Augen erhob sich aus
dem Urgrund aller Existenz die majestätische Masse des Uluru, der
irgendwo jenseits von Zeit und Raum, wie wir sie kennen, existierte.
Hier war er nicht die anorganische geologische Masse, als die er in
unserer Welt erscheint, sondern ein riesiges, kriechendes Geschöpf,
ein erschreckendes, monströses Reptil. Als es sein gewaltiges Maul
öffnete, hörte ich ohrenbetäubende Donnerschläge und konnte in
seinen Rachen blicken. Er war gefüllt mit einer Substanz, die stru
delndem, vulkanischem Magma glich, und die das Tier von Zeit zu
Zeit in riesigen Mengen ausspie.
28o Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und Jenseits
Doch wenn ich das Racheninnere dieses Tieres mit vulkanischem
Magma vergleiche, beschreibe ich diese mysteriöse Substanz nur
äußerlich. Wie auch heiße Lava besaß sie das Potenzial, zu zerstö
ren oder zu erschaffen, jedoch auf einer viel tieferen und breiteren
Skala. Es handelte sich hier offensichtlich um die archetypische
Substanz, die allen vulkanischen Aktivitäten zugrundeliegt. Wie
die ursprüngliche Materie der Alten Griechen, hyle, oder die prima
materia der Alchimisten war sie das universelle Prinzip von Schöp
fung und Zerstörung. Während ich dieses ehrfurchtgebietende
Schauspiel betrachtete, hatte ich das Gefühl, Zeuge des höchsten
Mysteriums des Kosmos’ zu sein.
Und bevor ich mich von dieser erschütternden Begegnung mit
dem ursprünglichen Uluru erholt hatte, stand schon ein weiteres
riesiges Geschöpf vor mir: die Große Muttergöttin in Gestalt eines
weiblichen Kängurus. Plötzlich bemerkte ich, dass ich zum win
zigen Kängurufötus in ihrem Schoß geworden war und meine Ge
burt erlebte. Die Reise durch den Geburtskanal verlief im Vergleich
zu meiner menschlichen Geburt, wie ich sie in früheren psychede
lischen Sitzungen erlebt hatte, relativ leicht.
Die folgende Klettertour zu ihrem Beutel und der Kampf um
ihre nährenden Zitzen jedoch waren eine extreme Feuerprobe und
ein wirklicher Übergangsritus. Diese Reise war dermaßen anstren
gend, dass ich mehrmals das Gefühl hatte, das Ziel nie zu erreichen
und auf dem Weg dorthin zu sterben. Doch schließlich kam ich an,
und die nährende Milch, die in Strömen aus der Brustwarze der
Großen Mutter Känguru floss, schmeckte wie Ambrosia und ließ
mich die Härten meiner aufreibenden Reise vergessen. Dieses eks
tatische Einssein mit der Känguru-Gottheit war meine letzte wich
tige Erfahrung in dieser Sitzung.
Die Morgendämmerung brach schon an, und Christina wachte auf,
neugierig auf die Abenteuer, die ich auf meiner nächtlichen Reise
erlebt hatte. Ich erzählte ihr kurz einige Höhepunkte meiner Er
Uluru und Alcheringa 281
fahrung, und dann beschlossen wir, den Ayers Rock zu besteigen,
um uns von dort oben den Sonnenaufgang anzuschauen und die
Aussicht auf die umliegende Wüste zu genießen. Der Weg war
ziemlich steil, und wir mussten uns immer wieder an den Ketten
festhalten, die man hier für Besucher angebracht hatte. Als wir etwa
ein Drittel der Strecke zum Gipfel zurückgelegt hatten, schlug das
Wetter plötzlich um, und immer wieder erfassten uns heftige
Windböen.
Christina hatte plötzlich das Gefühl, dass sie vor einem un
durchdringlichen Kraftfeld stand und ihre Klettertour nicht fort
setzen konnte. Es war, als wollten unsichtbare Hände sie vom Fel
sen schieben. Sie beschloss, sich zu fügen, zum Fuß des Berges
zurückzukehren und dort auf mich zu warten. Ich jedoch war noch
nicht wieder ganz zu meinem gewöhnlichen Bewusstseinszustand
zurückgekehrt und verspürte große Entschlossenheit, meinen Auf
stieg fortzusetzen und den Gipfel zu erklimmen. Während ich ge
gen den Wind ankämpfte, empfing ich aus einer unbekannten
Quelle die Botschaft, dass das Besteigen des Felsens bei den Abori
gines als besonderes Privileg galt, ich mir aber mit dem Übergangs
ritus, dem ich mich die Nacht zuvor unterzog, das Recht auf diesen
Aufstieg erworben hatte.
Die Aussicht auf die weite Wüste, von der aufgehenden Sonne
in orangerotes Licht getaucht, war umwerfend. Mehrere Touristen
erreichten nach mir den Gipfel. Sie fotografierten sich und unter
hielten sich dabei mit lauten Stimmen. Unter ihnen befand sich
eine Frau, die ein T-Shirt mit der stolzen Aufschrift trug: »Ich habe
Ayers Rock bestiegen.« Ich hielt mich nicht sehr lange dort oben
auf und begann mit dem Abstieg, denn ich wollte mit Christina
Zusammensein und sehnte mich nach Stille, um über das Erlebte
nachzudenken. Ich fand Christina unten in einer kleinen Höhle,
tief in Meditation versunken.
Sie erzählte mir, sie habe, innerlich sehr offen und empfäng
lich wie sie war, eigene tiefe Erfahrungen gemacht und rituelle Mu
282 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und Jenseits
sik und Gesänge gehört. Sie hatte sich gefragt, ob sie von einer
corroboree, einer Zeremonie der Aborigines, stammten, und war in
die Richtung gegangen, aus der die Töne zu kommen schienen,
um das herauszufinden. Aber da waren nirgendwo Aborigines.
Christina zeigte mir einige besondere Plätze, die sie für Ritualstät
ten hielt. Später fanden wir im Motel heraus, dass die Aborigines
hier in der Gegend, seitdem der Uluru zur Touristenattraktion
geworden war, keine Zeremonien mehr abhielten. Diese Situation
blieb bestehen bis zum Oktober 1985, als die Aborigines den
Rechtsanspruch auf das Land erhielten, auf dem Uluru steht.
Christina waren, während sie auf mich wartete, auch einige
interessante Einsichten in Bezug auf die Erfahrungen gekommen,
die sie bei ihrem Aufstieg machte. »Ich verstehe jetzt, warum ich
den Felsen nicht besteigen konnte«, erklärte sie. »Für die Abori
gines war der Gipfel ein Platz für männliche Initiationsrituale, zu
denen Frauen keinen Zugang hatten. Ich empfing eine eindeutige
Botschaft: ›Du bist eine Frau. Du hast hier nichts zu suchen.‹« Wir
beschlossen, den restlichen Tag damit zu verbringen, um Ayers
Rock herumzufahren und mit Hilfe des kleinen Reiseführers, den
wir im Motel erwarben, die Umgebung zu erkunden. Wir brachen
also auf und hielten häufig, um staunend die köstlichen Wunder
werke der Natur zu betrachten.
Es war verständlich, dass Uluru die Imagination der Abori
gines so eindringlich und tief beschäftigt hatte. Die Oberfläche des
riesigen Felsens war stark verwittert zu einer Fülle von bizarren
Kliffs und tiefen Höhlen. Durch die Launen des Wetters hatten sich
aus der oberen Schicht des weichen Sandsteins unzählige, phan
tastische Formationen gebildet. Unser Reiseführer enthielt genaue
Beschreibungen der wichtigsten Strukturen in der Felsoberfläche
sowie der Mythen, die für die Aborigines damit verbunden waren.
Diese Mythen verzeichneten jede dieser deutlich sichtbaren For
menkombinationen und erzählten, wie sie durch ein Ereignis in
der Traumzeit entstanden waren. Staunend stellten wir fest, dass
Uluru und Alcheringa 283
diese kleine Broschüre viele der Informationen bestätigte, zu denen
wir durch unsere inneren Erfahrungen in der letzten Nacht und am
frühen Morgen dieses Tages Zugang bekommen hatten.
Hier stand, dass die Mitglieder der Stämme dieser Gegend, die
Pitjantjatjara und Yankunytjatjara, auch als Anangu bekannt, den
Uluru als riesiges, urwüchsiges Reptil darstellten, welches das Prin
zip von Schöpfung und Zerstörung verkörperte. Unter den Gestal
ten, die in der Traumzeit auftauchten, waren auch fast drei Meter
große Riesen, genauso, wie ich sie in meiner Sitzung gesehen hatte.
Der Aufstieg zum Uluru war ein jährliches Ritual und eine Ehre,
die nur ausgewählten Stammesmitgliedern zuteil wurde. Eine der
Höhlen, die wir bei unserer Rundtour um den Felsen sahen, hatte
als Initiationshöhle für Übergangsriten gedient und trug den Na
men »Känguru-Beutel«. Die Broschüre bestätigte darüber hinaus
Christinas Vermutungen: Die Plätze, an denen sie Musik und Ge
sänge gehört hatte, waren zeremonielle Stätten, an denen die Abo
rigines heilige Rituale durchführten. Auch die Plätze für männliche
Initiationsriten, die für Frauen verboten waren, hatte Christina
richtig geortet.
Ich dachte über die Touristen nach, die in Bussen hierher ka
men. Für sie war Uluru lediglich eine Sehenswürdigkeit und sein
Besteigen eine sportliche Übung. Vor allem fragte ich mich, was in
der jungen Frau mit der triumphierenden Aufschrift auf dem T-
Shirt vorgegangen war, der ich oben auf Uluru begegnete. Ihr
schien nicht weiter schwerzufallen, was Christina unmöglich war.
Sie konnte sich dort oben bewegen, ohne dass sie von den uralten
Tabus auch nur etwas ahnte. Doch nicht der Wind, mangelnde
körperliche Kräfte oder fehlender Mut hinderten Christina, die
durch jahrelanges Hatha Yoga abgehärtet war, den Aufstieg fortzu
setzen, sondern etwas viel Mysteriöseres, Tieferes.
In ihrem außergewöhnlichen Bewusstseinszustand, der ihre
übersinnlichen Wahrnehmungskräfte verstärkte und ihr bemer
kenswerte Einsichten in die heiligen Stätten dieses Ortes verschaff
te, war sie offenbar auch empfänglich für die Tabus, die für die
Eingeborenen dieses Landes Gebote darstellten. Es war ganz offen
sichtlich so, dass die industriellen Zivilisationen die intuitiven Fä
higkeiten ihrer Mitglieder verkümmern lassen, sodass sie blind
werden für die verborgenen Dimensionen der Wirklichkeit. Sie
waren immun geworden gegen die numinösen Aspekte der Exis
tenz. Wenn wir spontan in außergewöhnliche Bewusstseinszustän
de gelangen oder uns diese Zustände durch bewusstseinsverän
dernde Techniken erschließen, lüftet sich der Schleier, und wir
öffnen uns für Realitäten, die für uns normalerweise nicht sicht-
und hörbar sind.
Für unsere Rückkehr nach Alice Springs nahmen wir eine andere
Strecke und verbrachten die Nacht in einer der Farmen, die in der
Wüste liegen. Als wir Uluru verließen, war Christina innerlich
noch immer tief mit ihren Erfahrungen beschäftigt. Wir gingen da
von aus, dass der Einfluss, den dieser Kraftplatz auf sie hatte, sich
mit zunehmender Entfernung davon abschwächen würde. Aber
das war nicht der Fall. Im Rückspiegel unseres Wagens wurde der
orangerote Felsen immer kleiner, um schließlich ganz zu ver
schwinden. Doch auf Christinas Zustand schien das keine wahr
nehmbaren Auswirkungen zu haben.
Der Bann, in den Christina vom Uluru gezogen worden war,
brach schließlich, als wir in Collin Springs eintrafen, einer kleinen
Oase in der Wüste, wo wir Halt machten, um kalte Getränke und
ein paar Snacks zu kaufen. Als wir uns auf dem Gelände die Füße
vertraten, entdeckten wir die Vögel, die der Besitzer des Anwesens
hielt. Die meisten saßen in einem großen Käfig, doch mehrere
Pfauen liefen frei auf dem Grundstück herum. Christina staunte
und wurde beim Anblick der Tiere ganz aufgeregt. Der Anblick
von Pfauen mitten in der australischen Wüste war nicht nur ziem
lich ungewöhnlich, sondern diese Vögel waren auch von großer
Bedeutung für Christinas spirituelle Reise.
284 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und Jenseits
Uluru und Alcheringa 285
Bei den meisten ihrer wichtigsten und tiefsten inneren Erfahrungen
waren Pfauen ein zentrales Element gewesen, und die mit diesen
Tieren verbundene Symbolik tauchte oft in den Bildern auf, die sie
malte. Außerdem war der Pfau ein wichtiges Symbol des Siddha
Yoga, Christinas primärer spiritueller Disziplin. Wie bereits in der
Geschichte auf Seite 69 f. erwähnt, benutzte ihr Lehrer, Swami
Muktananda, oft einen mit Pfauenfedern geschmückten und mit
Sandelholzöl parfümierten Stab, um Shaktipal zu geben, das heißt,
seinen Schülerinnen und Schülern spirituelle Energie zu übertra
gen und sie zu aktivieren.
Christina beschloss, Brot zu kaufen und die Pfauen damit zu
füttern. Den Vögeln bewusst und meditativ Brot zu reichen, gab ihr
das Gefühl, sich an ihre eigene spirituelle Tradition anzuschließen:
ihren Lehrer, Siddha Yoga, Indien und alles, was für sie damit ver
bunden war. Gleichzeitig half ihr dieses kleine Ritual offensichtlich,
in ihren gewöhnlichen Bewusstseinszustand zurückzukehren und
ihre Reise in die Welt der Aborigines abzuschließen.
Wir verbrachten die Nacht auf einer gastfreundlichen Ranch in
der Wüste, die für ihre Gäste einen Swimmingpool mit warmem
Wasser hatte und ihnen zum Abendessen Grillgerichte servierte.
Zu meiner großen Freude entdeckte ich auf der Speisekarte die
gegrillten Larven des Holzbohrers (Schmetterlingsart, Anm.d.Ü.),
eine Delikatesse der australischen Aborigines, auf die ich neugierig
war und die ich gern probieren wollte. Das war das Ende meiner
Reise in die Traumzeit, das sich weniger spektakulär und spirituell
gestaltete als Christinas Pfauen-Ritual. Am nächsten Tag kehrten
wir nach Alice Springs zurück und landeten wieder in der »großen,
weiten Welt«, wie wir unsere moderne, technologische Gesellschaft
in Zeiten unserer inneren Forschungsreisen humorvoll nannten.
286 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und Jenseits
Versuchungen eines nicht lokalen Universums
Ein fehlgeschlagenes Experiment
mit astraler Projektion
Eines der ungewöhnlichsten Bewusstseinsabenteuer, das ich im
Laufe meiner über 50-jährigen inneren Forschungsreise erlebte,
war eine tiefe Erfahrung mit dem Phänomen, das in der spiritu
ellen Literatur (und auch in diesem Buch auf Seite 226) als astrale
Projektion bezeichnet wird. Sie trat auf in einer psychedelischen Sit
zung mit hoher Dosierung, die ich 1967 in der Forschungsabtei
lung des Spring-Grove-State-Hospitals machte, die später in das
neue Maryland-Psychiatric-Research-Center umzog, das auf dem
selben Gelände in Baltimore errichtet wurde. Wie ich bereits er
wähnte, ermöglichte eines der hier durchgeführten Forschungs
programme Psychiatern, Psychologen und anderen Fachkräften im
psychischen Gesundheitswesen, für Ausbildungszwecke bis zu
drei psychedelische Sitzungen mit hoher Dosierung zu nehmen.
Kurz nachdem ich in den Vereinigten Staaten eintraf und Mitglied
der Belegschaft wurde, beschloss ich, diese einzigartige Gelegen
heit für mich zu nutzen.
Die Studien in Spring Grove beruhten auf einer Methode, die
wir als »psychedelische Therapie« bezeichnen. Dabei verabreichte
man den Probanden eine hohe Dosis LSD (400 bis 600 Mikro
gramm) und legte ihnen eine Augenbinde und Kopfhörer an, da
Versuchungen eines nicht lokalen Universums 287
mit sie sich ganz auf ihre inneren Erfahrungen konzentrierten. Eine
alternative Methode, die psycholytische Therapie, vor allem von eu
ropäischen Therapeutinnen und Therapeuten praktiziert, bestand
aus einer Reihe von Sitzungen mit psychedelischen Substanzen in
niedrigerer Dosierung.
Die Experimentteilnehmer standen während der Sitzungen
unter ständiger Supervision eines männlich-weiblichen Zweier
teams, bestehend aus einem Therapeuten und einer Kranken
schwester. Eine mehrstündige Vorbereitungssitzung diente vor
allem dem Zweck, eine gute Verbindung und Arbeitsbeziehung
zwischen dem Klienten, seiner Betreuerin und seinem Betreuer zu
schaffen. Meine Begleiter waren der Psychologe Sandy Unger, der
die Spring-Grove-Studien entwickelt und geplant hatte, und Nan
cy Jewell, eine Krankenschwester in den mittleren Jahren, die aus
dem baptistischen Süden der USA kam und eine warme, mütter
liche Ausstrahlung hatte.
Wie ich erwartet hatte, ging die Erfahrung sehr tief. Die dabei ver
wendete Dosis von 400 Mikrogramm entsprach dem, was psyche
delische Therapeuten ganz richtig als »single overwhelming dose«
(einmalige hohe Dosierung, Anm.d.Ü.) bezeichnen. Und doch un
terschieden sich meine Erfahrungen in den ersten Stunden nicht
von denen, die ich bei meinen früheren Prager Experimenten ge
macht hatte. Aber irgendwann in der zweiten Hälfte dieser Sitzung
geriet ich in einen sehr seltsamen, ungewöhnlichen inneren Zu
stand. Er war geprägt von heiterer Gelassenheit, Seligkeit und na
iver Einfachheit, vermischt mit Ehrfurcht vor dem Mysterium der
Existenz. Was ich da erlebte, so mein Gefühl, ähnelte den Erfah
rungen, welche die ersten Christen gemacht haben mussten.
In dieser Welt waren Wunder möglich, akzeptabel und sogar
plausibel. Ich begann in diesem inneren Zustand über das Wesen
und den Ursprung von Zeit und Raum und die damit verbundenen
Rätsel und Paradoxe nachzudenken, zum Beispiel das Mysterium
von Ewigkeit und Unendlichkeit. Ich musste lachen, als ich daran
dachte, dass ich einmal geglaubt hatte, die lineare Zeit und der
dreidimensionale Raum seien absolute und zwingende Dimensi
onen der Wirklichkeit. Jetzt war für mich ziemlich offensichtlich,
dass es im Reich des Geistes keinerlei Grenzen gab, und Zeit und
Raum willkürliche Konstrukte der Psyche waren.
Plötzlich wurde mir klar, dass ich durch die Grenzen von Zeit
und Raum nicht gebunden war und mich im Raum-Zeit-Kontinu-
um frei und unbehindert bewegen konnte. Dieses Gefühl war so
überzeugend und überwältigend, dass ich es mit einem Experi
ment testen wollte. Ich beschloss, herauszufinden, ob ich in die
Tausende von Kilometern entfernte Prager Wohnung meiner Eltern
reisen konnte. Nachdem ich die Richtung bestimmt und die Ent
fernung abgeschätzt hatte, stellte ich mir vor, wie ich zu meinem
Zielort flog. Mit enormer Geschwindigkeit bewegte ich mich durch
den Raum, kam aber zu meiner Enttäuschung nirgendwo an.
Ich konnte nicht verstehen, warum das Experiment nicht
klappte, denn das Gefühl, dass solche Raumreisen möglich sein
mussten, war sehr überzeugend. Plötzlich realisierte ich, dass ich
noch immer unter dem Einfluss meiner alten Vorstellungen von
Raum und Zeit stand. Ich dachte weiterhin in Begriffen wie Rich
tung und Entfernung und ging entsprechend an die Aufgabe heran.
Die richtige Methode - so erkannte ich - bestand darin, mir selbst
klarzumachen, dass der Ort, an dem meine Sitzung stattfand, tat
sächlich identisch mit meinem Zielort war. Ich sagte zu mir: »Dies
ist nicht Baltimore, dies ist Prag. Direkt hier und jetzt befinde ich
mich in der Wohnung meiner Eltern in Prag.«
Als ich so an die Sache heranging, erlebte ich merkwürdige
und bizarre Dinge. Ich befand mich an einem seltsamen Ort, voll
gestopft mit Kabeln, Röhren, Drähten, elektrischen Widerständen
und Kondensatoren. Nach einer kurzen Phase der Verwirrung be
griff ich, dass mein Bewusstsein in dem Fernsehapparat einge
schlossen war, der in der Wohnung meiner Eltern in einer Zim
288 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und Jenseits
Versuchungen eines nicht lokalen Universums 289
merecke stand. Ich bastelte am Lautsprecher und an der Bildröhre
herum, damit ich sie zum Hören und Sehen benutzen konnte.
Nach einer Weile musste ich lachen, denn mir wurde klar: Dieses
Experiment war ein symbolischer Witz, der mich humorvoll da
raufhinweisen sollte, dass ich in Bezug auf Raum, Zeit und Materie
immer noch in meinen alten Überzeugungen befangen war.
In meiner Vorstellungswelt war die Fernsehtechnik das einzige
Medium, um Dinge an entfernten Orten erleben zu können. Nur
in der Form konnte mein Verstand das akzeptieren. Natürlich stell
te die Geschwindigkeit der dabei entstehenden elektromagne
tischen Wellen für diese Form der Übermittlung eine Einschrän
kung dar. Dem menschlichen Denken und Bewusstsein jedoch
waren selbst durch die Lichtgeschwindigkeit keine Grenzen aufer
legt. Im selben Augenblick, wo ich erkannte und glauben konnte,
dass mein Bewusstsein sämtliche Grenzen welcher Art auch immer
zu überwinden vermochte, änderte sich meine Erfahrung drama
tisch. Der Fernseher stülpte sich nach außen wie ein dreidimensio
nales Möbiusband (ein dreidimensionales Objekt, das keine Rück
seite hat, Anm.d.Ü.), und ich spazierte in das Prager Wohnzimmer
meiner Eltern.
An diesem Punkt spürte ich die Wirkung der Droge überhaupt
nicht, und die Situation war für mich ebenso real wie jede andere
in meinem Leben auch. Die Tür zum Schlafzimmer meiner Eltern
stand halb offen. Ich warf einen Blick hinein und sah die beiden in
ihren Betten liegen und hörte sie atmen. Ich trat ans Wohnzimmer-
fenster und schaute hinaus. Die Uhr an der Straßenecke zeigte
sechs Zeitstunden Differenz zu der Zeit in Baltimore, wo dieses Ex
periment stattfand. Obwohl ich damit den tatsächlichen Zeitunter
schied zwischen den beiden Zonen vor Augen hatte, überzeugte
mich das nicht als Beweis dafür, dass meine Erfahrung real war. Da
mein Verstand von dieser Zeitverschiebung wusste, konnte ich mir
dieses Detail in meinem Kopf selbst zusammengebastelt haben. Ich
legte mich im Wohnzimmer aufs Sofa, um über meine Erfahrung
290 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und jenseits
nachzudenken. Mir war klar, dass es sich hier um dasselbe Sofa
handelte, auf dem ich vor meiner Abreise in die Vereinigten Staaten
meine letzte psychedelische Sitzung erlebte. Kurz davor hatten die
tschechischen Autoritäten meinen Antrag auf eine Reise dorthin,
wo man mir ein Stipendium angeboten hatte, abgelehnt. Als ich
meine letzte Sitzung in Prag machte, wartete ich auf die Antwort
der Behörden bezüglich meines gegen diese Ablehnung eingelegten
Widerspruchs. In dem Augenblick, wo mir das einfiel, stieg plötz
lich eine überwältigende Welle von Angst in mir hoch.
Mit großer Wucht und Überzeugungskraft kam mir ein alar
mierender Gedanke: Vielleicht hatte ich ja die Tschechoslowakei
nie verlassen und beendete gerade meine psychedelische Sitzung
in Prag. Vielleicht waren die positive Antwort auf meinen Wider
spruch, meine Reise in die Vereinigten Staaten, die Zusammenarbeit
mit dem Team in Baltimore und die psychedelische Sitzung dort ja
nur eine visionäre Reise, ein illusorisches Produkt meines starken
Wunschdenkens. Ich war gefangen in einer tückischen Schleife, in
einem raum-zeitlichen Teufelskreis - unfähig, meine realen histo
rischen und geographischen Koordinaten bestimmen zu können.
Lange hatte ich das Gefühl, zwischen zwei Realitäten festzu
hängen, die beide gleich überzeugend waren. Ich hätte nicht sagen
können, ob ich in meiner Sitzung in Baltimore eine astrale Projek
tion auf Prag erlebte, oder in Prag aus einer Sitzung zurückkam, in
der ich eine Reise in die Vereinigten Staaten erlebt hatte. Mir fiel
der chinesische Philosoph Chuang Tzu ein, der aus einem Traum
erwachte, in dem er ein Schmetterling gewesen war. Eine Zeitlang
konnte er nicht sagen, ob er ein Mensch war, der gerade geträumt
hatte, ein Schmetterling zu sein, oder ein Schmetterling, der träum
te, ein Mensch zu sein.
Ich brauchte weitere überzeugende Beweise, um die Frage be
antworten zu können, ob das, was ich erlebte, im üblichen Sinne
»objektiv real« war. Schließlich beschloss ich, einen Test zu ma
chen - ich würde ein Bild von der Wand nehmen und später meine
Versuchungen eines nicht lokalen Universums 291
Eltern fragen, ob zu diesem Zeitpunkt in ihrer Wohnung etwas Un
gewöhnliches passiert sei. Ich streckte die Hand nach dem Bild aus,
aber bevor ich den Rahmen berühren konnte, packte mich das
alarmierende Gefühl, dass ich mich hier auf ein höchst riskantes
und gefährliches Unternehmen einließ. Plötzlich fühlte ich mich
attackiert von bösen Mächten und bedrohlicher, schwarzer Magie.
Mir war, als sei ich im Begriff, einen Schritt zu tun, der so gewagt
war, dass ich damit meine Seele aufs Spiel setzte.
Ich hielt inne und bemühte mich verzweifelt, zu verstehen,
was da vor sich ging. Bilder der berühmtesten Casinos der Welt
blitzten vor meinen Augen auf - Monte Carlo, der Lido in Venedig,
Las Vegas, Reno. Ich sah Roulettekugeln mit schwindelerregender
Schnelligkeit kreisen, sah, wie sich die Hebel der Spielautomaten
hektisch auf und ab bewegten und Würfel auf den grünen Filzbe
lag eines Spieltisches rollten. Gruppen von Bakkarat-Spielern beo
bachteten die auf den Lottotafeln aufflackernden Zahlen und ver
teilten fieberhaft ihre Karten. Ich spürte die Verlockungen von
Reichtum, Luxus und der grenzenlosen Möglichkeiten, die Geld
uns bieten kann.
Dann sah ich vor meinem inneren Auge Versammlungen von
geheimen Organisationen, die hinter dem Vorhang die Geschichte
der Menschheit lenkten, internationale Gipfeltreffen von Staats
oberhäuptern, Konferenzen von mächtigen Politikern und den
Vertretern von multinationalen Konzernen, Innenansichten von
militärischen Kommandozentralen und den Denkfabriken der
Spitzenwissenschaftler. Diesmal winkten eher die Verlockungen
von Macht als die von Reichtum, doch waren sie ebenso verführe
risch und berauschend. Dabei fiel mir Goethes Faust ein - der Su
cher, der seine Seele für grenzenlose Möglichkeiten verkauft. Der
Gedanke an ihn verfolgte mich regelrecht.
Verzweifelt versuchte ich herauszufinden, warum es mir so ab
grundtief gefährlich vorkam, die Grenzen von Zeit und Raum zu
überwinden. Und mit einem Mal stand mir mein eigenes Vorurteil
absolut klar und deutlich vor Augen. Die Bilder sollten mir zeigen,
dass ich meinen Egoismus noch nicht überwunden hatte und dass
ich den Verlockungen von Geld und Macht nicht widerstehen
konnte. Die Versuchung, paranormale Fähigkeiten für meine per
sönlichen Ziele zu nutzen und Missbrauch zu betreiben mit dem
gerade entdeckten Potenzial - das war das eigentlich Gefährliche
an dieser Situation.
Wenn ich die Grenzen eroberte, die Zeit und Raum uns aufer
legten, würden mir auch grenzenlose finanzielle Mittel zufließen
und ich könnte alles erwerben, was mit Geld zu kaufen war. Ich
müsste dann lediglich ins nächste Casino, in die nächste Börse oder
in die nächste Lottoannahmestelle gehen. Ich hätte Zugang zu
grenzenlosen Ressourcen, und meine Welt wäre ein einziges Füll
horn voll überquellender Möglichkeiten. Wenn ich die Herrschaft
über Zeit und Raum gewann, gab es für mich keine Geheimnisse
mehr. Ich könnte dann den Gipfeltreffen politischer Führungskräf
te lauschen und hätte Zugang zu hochgeheimen Entdeckungen.
Ich könnte das Weltgeschehen in einem Maße mitbestimmen, wie
ich es mir bislang nicht einmal erträumt hatte.
Ich erinnerte mich an spirituelle Schriften, in denen die Auto
ren davor warnen, mit übernatürlichen Kräften herumzuspielen,
bevor wir die Grenzen überwunden haben, die unser Ego uns auf
erlegt, und spirituell gereift sind. Plötzlich wusste ich genau, was
sie damit meinten. Doch meine Angst vor den ethischen Konse
quenzen meiner spirituellen »Unreife« war nur ein Teil des Bildes.
Mir wurde klar, dass ich auch in Bezug auf das Ergebnis meines
Tests höchst ambivalente Gefühle hatte. Zwar schien mir die Mög
lichkeit, mich aus der Sklaverei von Zeit und Raum zu befreien,
äußerst verlockend. Doch andererseits war klar, dass ein positives
Ergebnis dieses Experiments weitreichende und schwere Konse
quenzen haben würde. Es ging hier eindeutig um weit mehr als um
ein isoliertes Experiment, mit dem ich den Beweis erbrachte, dass
Raum und Zeit willkürliche Phänomene waren.
292 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und Jenseits
Versuchungen eines nicht lokalen Universums 293
Wenn ich die Bestätigung erhielte, dass es möglich ist, die phy
sische Umgebung über eine Entfernung von Tausende von Kilome
tern hinweg zu manipulieren, würde in Folge dieses einen Experi
ments mein ganzes Universum zusammenbrechen. Die Welt, wie
ich sie bislang kannte, würde aufhören zu existieren. Alle Landkar
ten, auf die ich mich bislang verlassen und mit denen ich mich in
dieser Welt zu Hause gefühlt hatte, würden ungültig werden, was
mich in einen Zustand äußerster metaphysischer Verwirrung stür
zen würde. Ich würde nicht mehr wissen, wer und wo ich wann
war, und herumirren in einer total neuen, beängstigenden Wirk
lichkeit, deren Gesetze mir fremd und unheimlich waren. Und
wenn ich diese Kräfte besaß, verfügten wahrscheinlich auch viele
andere darüber. Es gäbe für mich keine Privatsphäre mehr, Türen
und Wände würden mich nicht mehr schützen. Meine neue Welt
wäre voll potenzieller, unberechenbarer Gefahren von unvorstell
baren Ausmaßen.
Ich sah mich außerstande, dieses Experiment bis zum Ende
durchzuführen, und beschloss, die Frage nach der Objektivität
und Realität dieser Erfahrung offen zu lassen. So konnte ich mit
dem Gedanken spielen, dass es mir tatsächlich möglich gewesen
war, Zeit und Raum zu überwinden. Und gleichzeitig ließ ich
mir mit dieser Haltung die Möglichkeit offen, diese Episode als
eine Phantasiereise zu betrachten, ausgelöst durch eine hochwirk
same psychedelische Substanz. Die objektive Bestätigung der Tat
sache, dass die Wirklichkeit, wie ich sie kannte, eine Illusion war,
schien mir erschreckender, als ich unter diesen Umständen ertra
gen konnte.
Im selben Augenblick, wo ich das Experiment aufgab, befand ich
mich wieder in dem Zimmer in Baltimore, wo ich LSD genommen
hatte. Nach wenigen Stunden war ich zu meinem normalen Be
wusstseinszustand und damit in die vertraute »objektive Realität«
der materiellen Welt zurückgekehrt. Ich hatte keinerlei Zweifel
294 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und Jenseits
mehr daran, dass ich tatsächlich in die Vereinigten Staaten einge
reist war und mich in Baltimore befand. Ich habe mir nie verzie
hen, dass ich die einzigartige und phantastische Möglichkeit, das
Phänomen der astralen Projektion experimentell zu überprüfen,
nicht wahrgenommen habe. Die Erinnerung an den metaphy
sischen Schrecken jedoch, der mit diesem Test verbunden war,
lässt mich bezweifeln, dass ich mutiger wäre, sollte ich in Zukunft
noch einmal eine ähnliche Chance bekommen.
In den uralten indischen Lehren heißt es, die phänomenale
Welt sei leela, das göttliche Spiel, geschaffen von Absolutem Be
wusstsein, von Brahman. Und sie betrachten unsere Wahrnehmung
der materiellen Welt als kosmische Illusion oder maya. Im 20. Jahr
hundert hat die relativistische Quantenphysik diese Sicht der
Wirklichkeit durch wichtige Beweise untermauert.
Mein Erlebnis mit dieser astralen Projektion nach Prag hat mir
gezeigt, wie tief verwurzelt unser Glaube an eine objektiv existie
rende und voraussagbare materielle Welt ist; wie stark unsere Ver
pflichtung auf diese Illusion ist und wie sehr wir uns emotional
dafür engagieren, dass sie erhalten bleibt. Werden unsere Vorstel
lungen vom Wesen der Realität plötzlich erschüttert und Alan
Watts »Tabu, zu wissen, wer wir sind« verletzt, kann das ein unbe
schreibliches metaphysisches Erschrecken auslösen und uns in pa
nische Angst versetzen.
Kanal sein für den Avatar 295
Kanal sein für den AvatarMeine Mutter, Sai Baba und
das Holotrope Atmen
nde der 1960er-Jahre erlebte die (damalige) Tschechoslowakei
eine Liberalisierungswelle, die 1968 im berühmten »Prager
Frühling« gipfelte. Vorangegangen waren dieser Bewegung die
zwanzig Jahre von Michail Gorbatschows »Perestroika« und »Glas-
nost«, ähnlichen Befreiungsbewegungen in Russland, die schließ
lich zur Auflösung der Sowjetunion führten. Führende tsche
chische Politiker engagierten sich für ein bislang nie dagewesenes
Experiment: Sie wollten den so genannten »Sozialismus mit
menschlichem Antlitz« schaffen. 1967 konnten mein Bruder Paul
und ich die Tschechoslowakei verlassen und auf dem nordameri
kanischen Kontinent ein neues Leben beginnen: Paul in Kanada
und ich in den Vereinigten Staaten.
Am 21. August des folgenden Jahres machte der militärische
Einmarsch der Sowjets die Hoffnungen der tschechischen und slo
wakischen Menschen auf Freiheit und Demokratie brutal zunichte.
Was für uns als legaler Besuch in den USA begann, wurde durch
diese Umstände zu einer Immigration, die für die tschechischen
Autoritäten illegal war. Paul und ich konnten jetzt zwischen der
Tschechoslowakei und den Vereinigten Staaten bzw. Kanada nicht
mehr frei hin und her reisen. Wir blieben jedoch in Kontakt mit
unseren Eltern, indem wir uns häufig schrieben und gelegentlich
außerhalb der Tschechoslowakei zusammentrafen.
E
Da unsere Eltern beide Rentner waren, durften sie ins Ausland rei
sen. Das kommunistische Regime hatte kein Interesse daran, Men
schen im Land festzuhalten, die keinen produktiven Beitrag zur
Gesellschaft leisteten. Tatsächlich legten sie diesen Bürgern sogar
eine Ausreise nahe, denn dann konnten sie deren Wohnungen
konfiszieren, die in der kommunistischen Welt Mangelware waren,
und mussten für sie keine Rente mehr zahlen oder für andere sozi
ale Begünstigungen aufkommen. Unsere Eltern konnten also Paul
und mich in Amerika besuchen und sich mit uns in Westeuropa
treffen, wenn wir dort reisten.
Obwohl also meine Eltern eine Reiserlaubnis hatten, konnten
sie keine harte Währung kaufen. Sie waren bei ihren Auslandsauf
enthalten völlig auf unsere finanzielle Unterstützung angewiesen.
Das war für Paul und mich ein Leichtes, brachte meine Mutter je
doch in emotionale Konflikte. Sie war ein äußerst großzügiger
Mensch, und es fiel ihr bei weitem leichter, anderen zu geben, als
selbst etwas anzunehmen. Deshalb war es ihr immer ein großes
Bedürfnis, sich erkenntlich zu zeigen, indem sie auf andere Weise
zu unserem Leben beisteuerte. Dieser Charakterzug meiner Mutter
spielt für die Geschichte, die ich nun erzählen werde, eine wichtige
Rolle.
Als ich 1973 nach Big Sur in Kalifornien zog, stellte mir das
Esalen-Institut - wie bereits in diesem Buch erwähnt - für eine
bestimmte Anzahl von Workshops, die ich dort hielt, ein bezau
berndes Haus zu Verfügung, das auf den Klippen stand und einen
Ausblick auf den Pazifischen Ozean bot. Als Christina dann hier
einzog, um mit mir zu leben und zu arbeiten, konnten wir das
Stück Land zwischen unserem Haus und dem Ozean in einen
schönen Gemüsegarten um wandeln. Das war ziemlich harte Arbeit,
denn der Boden war überwachsen von wilden Rosen, Disteln und
Ginster, Pflanzen mit Stacheln und Dornen und der tückischen
Gifteiche. Das Gärtnern war für uns ein ständiger Kampf, da die
Natur immer wieder versuchte, sich dieses Land zurückzuerobern.
296 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und Jenseits
Kanal sein für den Avatar 297
Als uns meine Mutter nach dem Tod meines Vaters zum ersten Mal
allein in Big Sur besuchte, entdeckte sie schnell, dass unsere kleine
Pflanzung über dem Pazifik eine energische Gärtnerhand brauchte.
Ohne sich mit uns abzusprechen, stürzte sie sich auf dieses Projekt
- entschlossen, unseren Garten und seine unmittelbare Umgebung
von allem zu befreien, was sie für nutzloses Unkraut hielt. Alle, die
in Big Sur lebten, kannten die Gifteiche gut, den botanischen Quäl
geist, der uns das Leben im Paradies zur reinsten Hölle machen
konnte. In ihrer anfänglichen Unwissenheit lernten viele von uns
die verheerende Wirkung der Gifteiche durch schmerzhafte Erfah
rung am eigenen Leib kennen. Meine Mutter war ebenfalls Neuling
auf diesem Gebiet und besaß nicht das notwendige Wissen, um
sich vor diesem Gewächs zu schützen.
Die meisten Menschen, die mit dem Harz der Blätter und Äste
der Gifteiche in Berührung kommen, reagieren mit Hautausschlä-
gen, deren nässende Pusteln einen qualvollen Juckreiz auslösen.
Meistens dauert es drei bis vier Wochen, bis diese Beschwerden
wieder abklingen. In schweren Fällen ist die Wirkung so heftig,
dass sie auf den ganzen Körper übergreift. Atmet man Rauch von
brennenden Ästen der Gifteiche ein, kann dies Lungenödeme ver
ursachen. Alte Menschen, die noch die Tradition der mündlichen
Geschichten-Überlieferung aus der Gegend von Big Sur pflegen,
erzählen vom Horrorerlebnis zweier naiver und argloser Touristen
an der Ostküste - Vater und Sohn -, denen bei ihrer Reise durch
Kalifornien das Toilettenpapier ausging und die für diese Zwecke
zu den Blättern der Gifteiche griffen ...
Meine Mutter litt an zahlreichen Allergien, und ihre Reaktion auf
den Kontakt mit der Gifteiche war grauenhaft. Ihr ganzer Körper
war mit rotem Hautausschlag und nässenden Pusteln bedeckt, der
Juckreiz unvorstellbar qualvoll. Nachdem sie mit dem Gewächs in
Berührung gekommen war, befand sie sich tagelang in einem solch
kritischen körperlichen Zustand, dass sie intensive Visionen hatte.
298 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und Jenseits
Mitten in der Nacht kamen tote Verwandte zu ihr zu Besuch - ihre
Eltern und ihr Bruder. Auch mein toter Vater erschien ihr. Er traf in
einem altmodischen Fiaker ein, wie er, von zwei Pferden gezogen,
in europäischen Städten vor der Benutzung von Taxis als Trans
portmittel üblich war. Er trug einen Smoking und einen Zylinder
hut und wollte sie überreden, zu ihm ins Jenseits zu kommen.
Stundenlang saß ich am Bett meiner Mutter, und meine Sorge
um sie wuchs. Durch meine intensive Arbeit mit Krebspatienten
im Endstadium und meine Kenntnisse der Literatur über Thanato-
logie war mir sehr bewusst, dass die Erscheinungen meiner Mutter
den Visionen von »Empfangskomitees« ähnelten, die ich von mei
nen Beobachtungen am Sterbebett von Menschen kannte (siehe
auch Seite 229). Zufällig hatte ich mehrere Ampullen Kortison im
Haus, ein wirkungsvolles Mittel gegen die Gifteiche, und beschloss,
ihr dieses Medikament intramuskulär als letzte Hilfsmaßnahme zu
verabreichen, bevor wir die Fahrt zum Carmel-Hospital antraten,
der nächsten Möglichkeit zur ärztlichen Behandlung.
Innerhalb einer Stunde verbesserte sich jedoch der Zustand
meiner Mutter wie durch Magie. Sie gewann ihre körperlichen
Kräfte zurück und wurde klarer im Kopf. Bei Tagesanbruch be
schloss sie, sich auf die große Veranda vor unserem Haus zu setzen
und sich von dort aus den Sonnenaufgang über der Ventana-Wild-
nis anzuschauen und die Aussicht auf den Pazifischen Ozean zu
genießen. Sie befand sich in einem geradezu ekstatischen Zustand,
und ihre Augen strahlten. »Stan, du wohnst an einem unglaub
lichen Ort!«, sagte sie begeistert. »Die Luft hier ist so klar, und alle
Farben leuchten. Hast du schon mal das Funkeln in den Ästen die
ser Pinien bemerkt? Und schau, wie sich das Licht auf den Wellen
spiegelt!«
Dies waren eindeutige Anzeichen dafür, dass meine Mutter er
lebte, was ich bei meiner Arbeit mit psychedelischen Substanzen
und in jüngster Zeit in holotropen Atemsitzungen Hunderte von
Malen beobachtet hatte - eine tiefe spirituelle Wiedergeburt!
Kanal sein für den Avatar 299
Am folgenden Tag erzählte uns meine Mutter ausführlich, welche
Erfahrungen sie in der kritischen Nacht machte, nachdem ich ihr
eine Kortisonspritze gegeben hatte: Kurz nach der Injektion hatte
sie eine eindringliche Vision von einem indischen Heiligen. An sei
nem üppigen Haar und der langen, roten Robe erkannte sie ihn
unschwer als Sathya Sai Baba. Er griff in ihren Körper und voll
brachte eine Wunderheilung. Sie hatte keinerlei Zweifel daran,
dass sein Eingriff für ihren körperlichen und emotionalen Zustand
die entscheidende Wende brachte. Sie war fest davon überzeugt,
dass Sai Baba und nicht das Kortison sie von der Schwelle zum Tod
zurückgeholt hatte.
In Indien gilt Sathya Sai Baba als Inkarnation von Sai Baba aus
Shiridi in Maharashtra, der ein berühmter indischer Heiliger war.
Er ist in der ganzen Welt bekannt für seine Siddhis, das heißt über
natürliche Taten, in denen sich die Macht seines Geistes über die
materielle Welt manifestiert. Dazu gehört auch die Fähigkeit, Din
ge zu materialisieren - von Goldringen und kleinen Götterfiguren
bis hin zu großen Mengen heiliger Asche, die visuddhi heißt. Er
steht auch in dem Ruf, an mehreren Orten gleichzeitig erscheinen
zu können. Viele Menschen glauben, er sei der Avatar der moder
nen Zeit, eine der seltenen Erscheinungen in der menschlichen Ge
schichte, in der das Göttliche sich in menschlicher Gestalt inkar
niert hat, um den Verlauf des Weltgeschehens zu beeinflussen.
Als wir 1980 durch Indien reisten, begegneten Christina und
ich Sai Baba persönlich in Puttaparthi, wo er in einem palastähn
lichen Wohnsitz residiert. Unser einwöchiger Aufenthalt dort fiel
in die Weihnachtsferien und damit in die Zeit, in der Sai Baba sich
vor allem westlichen Menschen zuwendet. Wir hatten Gelegenheit,
aus nächster Nähe mitzuerleben, was offensichtlich Siddhis in
Aktion waren: Mit raschen Armbewegungen produzierte Sai Baba
große Mengen Süßigkeiten, die er an die anwesenden Kinder ver
teilte, und Hände voll von visuddhi, womit er seinen Anhängern
die Stirn einrieb. Und das alles in einem Gewand mit kurzen Ar
300 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und Jenseits
mein, in dem heimliche Zaubertricks schwierig waren - vor allem,
was die Asche betraf.
Das Wissen meiner Mutter über Sai Baba stammte von Al Dru
cker, der zu jener Zeit als Rolfer, Akupunkteur und Seminarleiter
in Esalen arbeitete. Al war früher als Mathematiker und Physiker
für die U.S.-Regierung tätig gewesen, und zwar als Experte für das
Berechnen von Raketenflugbahnen. Aufgrund einer tiefen spiritu
ellen Erfahrung, die es ihm aus ethischen Gründen versagte, weiter
für das Militär zu arbeiten, gab er seinen Beruf auf und kam nach
Esalen. Als er von Sai Baba hörte, beschloss er, selbst nach Putta
parthi zu fahren und sich anzuschauen, ob die Behauptung stimmte,
dieser Mann könne Dinge materialisieren, denn als Physiker faszi
nierte Al dieses Phänomen.
Tatsächlich wurde er bei seinem Besuch in Puttaparthi persön
lich Zeuge vieler außergewöhnlicher Taten von Sai Baba, der unter
anderem vor seinen Augen einen silbernen Ring materialisierte,
um ihn anschließend in einen goldenen zu verwandeln. Al kehrte
als glühender Anhänger von Sai Baba nach Kalifornien zurück und
verbreitete entschlossen seine Botschaft. Meine Mutter und Al
freundeten sich an. Er erzählte ihr viel über Sai Baba und lieh ihr
Bücher von ihm. Er selbst fühlte sich Sai Baba so stark verbunden,
dass er später nach Indien zog, die indische Staatsbürgerschaft an
nahm und Sai Babas »rechte Hand« wurde.
Das Interesse meiner Mutter an östlicher Religion und Philoso
phie bestand schon längere Zeit. Sie gehörte zu einer Gruppe tsche
chischer Anhänger von Paul Brunton, einem britischen Philo
sophen und Autor, der die indische Philosophie im Westen bekannt
gemacht hatte. Sie hatte auch Sri Ramana Maharshi, Sri Aurobindo,
Rabindranath Tagore und andere spirituelle Lehrer gelesen. Ende
der 1960er-Jahre begleitete ich sie auf ihre Bitte hin bei drei LSD-
Sitzungen mit hoher Dosierung, die sich für sie als sehr tiefe, spiri
tuelle Erfahrungen erwiesen. Sie weckten bei ihr auch das Interesse
an Tiefenpsychologie, einem breiten Spektrum an psychologischen
Kanal sein für den Avatar 301
Methoden zur Erforschung der unbewussten Motive für mensch
liches Handeln und zur Behandlung emotionaler Störungen. Wäh
rend ihres Aufenthalts in Esalen nahm sie an unseren einmonatigen
Workshops teil, zu denen wir als Gastdozenten spirituelle Lehrer,
Wissenschaftler des neuen Paradigmas und transpersonale Psycho
logen einluden.
Sie hatte große Freude an den theoretischen Vorträgen, die
dort gehalten wurden, besonders fasziniert war sie jedoch von den
holotropen Atemsitzungen, die ein wichtiger Bestandteil unseres
Programms waren. Meine Workshops in Skandinavien und der
Schweiz, zu denen ich sie einlud, waren für sie weitere Gelegen
heiten, mit der Atemarbeit Erfahrungen zu machen - sowohl eige
ne als auch in der Rolle der »Begleiterin« für andere Menschen. Ich
wusste zwar, dass sie diese Arbeit liebte, hatte aber zu der Zeit kei
ne Ahnung, wohin dieses Interesse sie führen würde.
Als meine Mutter nach Prag zurückgekehrt war, schrieben wir uns
regelmäßig. Doch ihre Briefe wurden immer trauriger und pessimis
tischer. Sie schilderte mir, wie ihr Freundeskreis nach dem Tod
meines Vaters erbarmungslos zusammenschrumpfte - bei einem
Menschen, der auf die Achtzig zugeht, eine unvermeidliche Ent
wicklung. Ich bekam viele Berichte über die Krankheiten und Ope
rationen von Verwandten und Bekannten - Schlaganfälle, Herzan
fälle, Arthritis und Rückenoperationen. Hin und wieder enthielten
die Briefe meiner Mutter Todesanzeigen, die das Hinscheiden wei
terer Nachbarn und Bekannter verkündeten.
Dann änderte sich der Tonfall ihrer Briefe plötzlich. Sie schrieb
mir, dass sie beschlossen habe, mit einigen Freunden und Be
kannten, darunter auch frühere Patienten von mir, das Holotrope
Atmen auszuprobieren. Durch erste Erfolge bei diesem Pionierun-
ternehmen ermutigt, entschied sie, weiterzumachen. Die Neuig
keiten über die holotrope Atemarbeit verbreiteten sich in ihrem
Umfeld durch Mundpropaganda, und schon bald gehörten zu dem
302 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und Jenseits
wachsenden Kreis der Klienten meiner Mutter auch junge Psychia
ter und Psychologinnen, die erpicht darauf waren, mit dieser neu
en Methode Erfahrungen zu machen und sie selbst zu lernen.
Die Berichte über Altern, Krankheiten und Tod verschwanden
aus den Briefen meiner Mutter. Stattdessen erzählte sie mir jetzt
von den Erlebnissen, die sie in den holotropen Atemsitzungen be
obachtete. Ständig fragte sie mich nach neuer Musik für die Sit
zungen, weil sie es monoton und langweilig fand, immer dieselben
Stücke zu spielen. Sie holte sich in ihren Briefen auch praktischen
Rat für bestimmte Situationen, die ihr bei der holotropen Atemar
beit begegneten. Einmal schrieb sie mir stolz, dass in ihrer Gruppe
jetzt vierzig (meist junge) Menschen seien. Es war ganz deutlich,
dass sie sich in der Welt jetzt so radikal anders bewegte, als hätte
sie ein neues Leben angefangen. Plötzlich empfand sie eine inten
sive, neue Daseinsberechtigung, Elan und große Lebensfreude.
Als meine Mutter ihren 85. Geburtstag feierte, hatte sich die
Situation in Tschechien so weit geändert, dass ich nach Prag reisen
und diesen besonderen Tag mit ihr begehen konnte. Bei dieser Ge
legenheit lud man mich ein, am psychiatrischen Fachbereich der
Karls-Universität für Medizin in meiner alten Alma Mater einen
Vortrag und ein Seminar über das Holotrope Atmen zu halten. Zwei
der Psychiater, die am Seminar teilnahmen, reisten extra aus der
Slowakei an. Sie erzählten mir, sie hätten vor mehreren Wochen
einen ähnlichen Workshop in der Slowakei besucht, der unter der
Leitung meine Mutter stattfand. Dieses Seminar über Holotropes
Atmen mit anschließender theoretischer Diskussion sei speziell für
slowakische Psychiater und Psychologen gewesen.
Ich glaubte, meinen Ohren nicht zu trauen: Bevor sie meinen
Vater kennengelernt und geheiratet hatte, war meine Mutter eine
begabte und erfolgreiche Konzertpianistin gewesen. Doch trotz
ihres großen Talents und ihrer technischen Brillanz trat sie nicht
gern öffentlich auf und litt unter Lampenfieber. Die Vorstellung,
dass sie für Psychiater und Psychologen ein Fachseminar abhielt,
Kanal sein für den Avatar 303
ohne eine entsprechende Ausbildung zu haben, war zu phantas
tisch, um wahr zu sein! Aber meine slowakischen Kollegen versi
cherten mir, der erlebnisorientierte Workshop sei ein großer Erfolg
gewesen, und meine Mutter habe bei der anschließenden Diskussi
on sämtliche theoretischen und praktischen Fragen zur Zufrieden
heit aller Anwesenden beantwortet.
Ich war ziemlich verblüfft und brachte noch am selben Abend
nach dem Essen mit meiner Mutter das slowakische Seminar zur
Sprache. »Wenn ich es richtig verstanden habe, hast du kürzlich
für slowakische Psychiater und Psychologen einen Workshop für
Atemarbeit geleitet. Wie lief es denn?«, fragte ich, sobald wir mit
dem Essen fertig waren.
»Wunderbar«, sagte meine Mutter etwas kleinlaut, vielleicht
weil sie wusste, dass wir nur voll ausgebildeten Begleitern mit Zer
tifikat erlauben, öffentliche Workshops zu leiten. »Es hat ihnen of
fensichtlich gefallen.«
»Die slowakischen Kollegen, die in meinem Workshop in der
psychiatrischen Klinik waren, sagten mir, im Anschluss an das Se
minar habe es noch eine Diskussion gegeben, bei der du Fragen
beantwortet hast. Wie lief denn das für dich? Waren darunter auch
schwierige methodische Fragen?«, bohrte ich weiter.
»Das war keine große Sache«, antwortete meine Mutter und
schwieg eine ganze Weile. Offenbar wollte sie noch etwas sagen
und suchte nach den passenden Worten. Schweigend saß ich ihr in
meinem Sessel gegenüber und wartete geduldig. »Na, so ganz
stimmt das auch nicht«, sagte sie schließlich schuldbewusst. »Ei
gentlich hatte ich oft keine Ahnung, wovon sie sprachen. Aber
dann war die Antwort plötzlich da. Ich glaube aber, ehrlich gesagt,
sie kam nicht von mir.«
»Du glaubst, du hättest die Antworten nicht selbst gegeben?«,
fragte ich höchst erstaunt. »Wenn nicht du, wer denn sonst?«
»Er«, sagte meine Mutter in einem Tonfall, der keinen Raum
für Zweifel ließ. »Sai Baba!«
Seit Sai Baba ihr in Big Sur erschienen sei, so erzählte sie weiter,
spüre sie in ihrem Alltag oft seine Gegenwart, vor allem beim Ho
lotropen Atmen. Das Seminar in der Slowakei war nur eine von
vielen ähnlichen Situationen. Das Gleiche passierte regelmäßig bei
der Körperarbeit in den Atemsitzungen. Musste bei den Teilneh
mern körperlich interveniert werden, damit sie ihre Erfahrungen
besser verarbeiten konnten, wartete meine Mutter ein paar Sekun
den und bekam dann Anweisungen von Ebenen, mit denen sie
normalerweise nicht in Kontakt war. Ohne zu zögern, setzte sie
diese dann bei der Körperarbeit um - und war damit meistens und
zur großen Zufriedenheit der Gruppenteilnehmer erfolgreich.
Ihre Interventionen waren für die Beteiligten oft ungewöhnlich
und überraschend. Mein Bruder Paul hatte einmal Gelegenheit
mitzuerleben, welch ausgezeichnete Begleiterin unsere Mutter bei
den Atemsitzungen war. Das war 1992, als wir vor dem Treffen der
»International Transpersonal Association« (ITA) in Prag einen
Workshop für Holotropes Atmen gaben. Es war eine der größten
Gruppen, die wir je leiteten, mit 330 Teilnehmenden aus 36 ver
schiedenen Ländern der Welt und 35 Begleiterinnen und Beglei
tern - darunter auch Paul und meine Mutter.
Dabei kam Paul, ein kräftiger Mann und ausgebildeter Psychi
ater, an einen schwierigen Punkt. Eine der Teilnehmerinnen, eine
junge russische Gynäkologin, war in der Sitzung kaum zu bändi
gen und brachte sich körperlich in Gefahr. Sie war extrem aktiv, ihr
Körper zuckte, drehte und wendete sich, schnellte vom Boden
hoch, und sie trat mit den Füßen in alle Richtungen. Auf Pauls
Vorschläge in fließendem Russisch reagierte sie nicht, und er konn
te sie selbst durch Einsatz seines gesamten Körpergewichts nicht
dazu bringen, auf dem Boden liegen zu bleiben. Als Mutter, zu
dieser Zeit 85 Jahre alt, das sah, kam sie zu den beiden und beru
higte die junge Frau, indem sie einfach eine Hand auf ihren Körper
legte und ein paar Worte in Tschechisch zu ihr sprach, die die rus
sische Ärztin gar nicht verstand.
304 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und Jenseits
Kanal sein für den Avatar 305
Die Menschen in der Gruppe, die meine Mutter in Prag gegründet
hatte, liebten sie. Sie war für sie wie eine Mutter, vielleicht sogar
eine archetypische, weise alte Frau. Später, nach dem Sturz des
kommunistischen Regimes, absolvierten zwölf Mitglieder ihrer
Gruppe in den Vereinigten Staaten und Europa das gesamte Trai
ning und machten ihr Zertifikat als offizielle Begleiter für Sitzungen
in Holotropem Atmen.
Meine Mutter starb plötzlich - ein paar Tage, nachdem sie ihre
letzte Sitzung in Atemarbeit gegeben hatte; und etwa eine Stunde,
nachdem sie zwei Freunde, einen Arzt und seine Frau, zum Kaffee
trinken eingeladen hatte, für das sie eine ihrer Spezialitäten, eine
Süßspeise, zubereitet hatte. Sie ist für mich immer noch ein großes
Vorbild dafür, wie ein Mensch in Würde und Anmut altert und
sein Leben dem Dienst an anderen widmet.
306 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und Jenseits
Wenn alles eins ist, gibt es kein Problem
Meisterstücke des koreanischen
Schwertkünstlers
nser sechswöchiger Workshop »Buddhismus und westliche
Psychologie« in Esalen wies eine Starbesetzung und ein be
merkenswertes Programm auf. Die Co-Leitung hatte Jack Korn-
field, ein enger Freund von uns, Psychologe, Vipassana-Lehrer und
buddhistischer Mönch, der den Teilnehmern die Grundlagen der
Einsichtsmeditation vermittelte, Vorträge über Buddhismus hielt,
persönliche Darshans gab und ein neuntägiges Sesshin leitete - eine
Phase intensiver Meditation, welche zum festen Bestandteil dieser
sechs Wochen zählte. Eine weitere Attraktion war die Mitwirkung
der tibetisch-buddhistischen, spirituellen Lehrer Chögyam Trungpa,
Tarthang Tulku und Sogyal Rinpoche. Lama Govinda wohnte mit
seiner Frau Li während zwei der sechs Wochen in Esalen und hielt
in dieser Zeit täglich einen Vortrag über tibetischen Buddhismus.
Der Religionswissenschaftler und Philosoph Huston Smith sprach
über Buddhismus, und Joseph Campbell gab der Gruppe mit einer
Reihe von Bildvorträgen eine Einführung in die buddhistische My
thologie.
Der Zen-Buddhismus war vertreten durch den Abt des Zen-
Zentrums von San Francisco, Reb Anderson, den koreanischen
Zen-Meister Seung Sahn Nim und Kobun Chino, der die Zen-Kunst
U
Wenn alles eins ist, gibt es kein Problem 307
des Bogenschießens vorführte. Der taoistische Lehrer Chungliang
Al Huang gab den Workshopteilnehmern eine Einführung in Tai
Chi Chuan und chinesischer Kalligraphie. Am meisten Aufmerk
samkeit erregte jedoch in unserer Gruppe und bei der restlichen
Esalen-Gemeinschaft Kwan Ja Nim, ein koreanischer Kampfkünst
ler und Schwertmeister. Er kam mit Seung Sahn Nim und in Be
gleitung von zwei Schülern nach Esalen. Wir hatten bereits von
seinen erstaunlichen Fähigkeiten gehört, und seine Vorführung
versprach so Außergewöhnliches, dass wir beschlossen, sie nicht
nur der Gruppe, sondern auch öffentlich zugänglich zu machen.
Sie fand auf der großen ovalen Rasenfläche vor dem Büro von
Esalen statt.
Kwan Ja Nim begann seine Vorführung mit einem Schaukampf,
bei dem er und seine beiden Schüler zunächst mit Schwertern und
danach mit langen Stäben kämpften. Dann zog einer der Schüler,
ein schlaksiger junger Mann aus Polen, sein Hemd aus und legte
sich auf den Rasen. Der andere Schüler brachte ein großes Schwert,
geschmückt mit schönen Gravuren. Kwan Ja Nim demonstrierte
uns die Schärfe des Schwertes, indem er ein Haar durchschnitt, das
er zwischen dem Daumen und dem Zeigefinger seiner linken Hand
hielt. Dann legte er auf den Bauch seines polnischen Schülers eine
Serviette sowie einen Apfel und schnitt die Frucht mit einem
raschen Schwerthieb durch. Der Apfel zerfiel in zwei Hälften, und
wir sahen, dass das Schwert auf der Serviette eine kleine Kerbe
hinterlassen hatte.
Die Menge johlte und klatschte, beeindruckt davon, wie gut
der Schwertmeister seine prächtige Waffe beherrschte. Kwan Ja
Nim dämpfte die Begeisterung der Gruppe: »Das war nur zum
Aufwärmen ... beruhigt euch wieder ... wartet!« Jetzt trug der
kleinere Schüler zwei Stühle, drei große Wassermelonen und einen
Beutel aus dickem schwarzem Samt herbei. Einen Stuhl stellte er,
mit einer Wassermelone bestückt, am Kopf des anderen Schülers
ab, und platzierte den zweiten auf die gleiche Weise zu dessen Fü
308 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und Jenseits
ßen. Die dritte Wassermelone unterlegte er mit einer Serviette und
drapierte sie auf dem Bauch des jungen Mannes.
Inzwischen schritt Kwan Ja Nim die Menschenreihe ab, die
sich am Rasenrand eingefunden hatte, und ließ seine Zuschauer
den schwarzen Beutel aus Samt sehen und betasten. Zwei Lagen
dicker, schwarzer Samt, so wurde dabei deutlich, machten den
Stoff völlig blickdicht. Dann kappte Kwan Ja Nim die Enden der
beiden Wassermelonen auf den Stühlen und brachte sie in eine
stabile, vertikale Position. Nach diesen Vorbereitungen entfernte er
sich etwa fünf Meter von seinem polnischen Schüler, der auf dem
Rasen lag, zog sich den schwarzen Beutel über den Kopf und be
festigte ihn mit Hilfe der in die Öffnung eingenähten Schnur um
seinen Hals. Er nahm die formale Haltung eines Kriegers ein, griff
sein Schwert mit der rechten Hand und hielt es aufrecht vor sich.
So blieb er minutenlang regungslos und absolut still stehen.
Die Zuschauer beobachteten ihn gespannt und wagten kaum zu
atmen. Plötzlich begannen zu ein und demselben Zeitpunkt sämt
liche Hunde von Esalen zu jaulen. Kwan Ja Nim gab einen gräss
lichen Kriegsschrei von sich, der sich mit dem winselnden Chor
der Hunde zu einem Missklang vermischte, der uns alle in Alarm
bereitschaft versetzte. Sein Schwert in der rechten Hand dicht vor
dem Körper haltend, benutzte er seine linke Hand als Drehachse
und ruderte auf seinen Schüler zu. Vor ihm angekommen, nahm er
den Griff des Schwertes in beide Hände und hieb mit verbundenen
Augen die Wassermelonen auf den Stühlen, die am Kopf und zu
Füßen seines Schülers standen, in zwei Hälften. Mit einem wei
teren mächtigen Hieb spaltete er anschließend die dritte Melone
auf dem Bauch des Schülers, der vertrauensvoll dalag.
Die Melone fiel in zwei Hälften zu beiden Seiten des Körpers
auf den Rasen. Wie bereits bei der Apfelvorführung zeigte die Ser
viette auch jetzt nur eine leichte, kaum sichtbare Kerbe. Die Menge
raste und johlte. Wir alle hatten gesehen, welch prächtige Waffe
Kwan Ja Nims Schwert war und was es anzurichten vermochte. Ein
Wenn alles eins ist, gibt es kein Problem 309
winziger Fehler, eine minimale Abweichung auf der fünf Meter lan
gen Strecke, die Kwan Ja Nim ohne Hilfe der Augen bewältigte,
hätten eine tödliche Verletzung zur Folge haben können. Das außer
ordentliche Meisterstück, das wir da zu sehen bekommen hatten,
grenzte an ein Wunder!
Kwan Ja Nim zog sich den Beutel vom Kopf und erbot sich,
Fragen zu beantworten. Alle wollten wissen, wie er sein Schwert
kunststück zustande gebracht hatte. »Konnten Sie Ihre Umgebung
mit verbundenen Augen sehen, weil Sie außersinnliche Fähigkeiten
haben?« »Haben Sie sich ein dreidimensionales Bild der gesamten
Szene eingeprägt und sich ständig bewusst gemacht?« Die Men
schen bombardierten ihn mit Fragen. Kwan Jan Nim reagierte mit
einem herzhaften, gesunden Lachen. »Nein«, sagte er mit einer
wegwerfenden Geste. »Meditiert einfach und wartet, bis alles eins
ist - der Schwertmeister, das Schwert, die Melone und der Schüler
dann gibt es kein Problem.«
In östlichen spirituellen Schriften heißt es, dass fortgeschrittene
Yogis und vor allem Siddhas - Tantra-Meister - übernatürliche
Kräfte entwickeln, die siddhis heißen. An den außergewöhnlichen
Dingen, die diese Menschen vollbringen können, wird deutlich,
dass der Geist imstande ist, die Materie zu beherrschen. So präzise
und sicher, wie Kwan Ja Nim mit verbundenen Augen sein Schwert
führte, wo nur die geringste Abweichung schwere Verletzungen
oder sogar den Tod seines Schülers zur Folge hätte haben können,
gehörte seine Kunst mit Sicherheit in diese Kategorie. Jene, die
Kwan Ja Nims Vorführung in Esalen miterlebten, gelangten zu der
Überzeugung, dass sein Meisterstück nicht auf gewöhnlichem
Wege zu erreichen war, sondern das Ergebnis einer langen, schwie
rigen Schulung sein musste.
310 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und Jenseits
Ein seltsames Vermächtnis der alten Mayas
Das Mysterium des Kristallschädels
n schamanistischen Sagen, religiösen Traditionen, anthroposo
phischer Literatur und in der Weltmythologie finden wir zahl
reiche Hinweise auf unterschiedlichste, sowohl von Menschen her
gestellte als auch natürliche magische Gegenstände, denen man
außergewöhnliche Kräfte zuschreibt - Fetische, Zubehör für Ritua
le, Amulette, Ringe, Waffen, Kristalle oder Steine und Pflanzen.
Laut Hindu-Tradition zum Beispiel haben die salagram - Steine
oder Fossilien, deren natürliche Form wichtigen tantrischen Sym
bolen gleicht oder entsprechende Bilder enthält - besondere Eigen
schaften. Viele Muslime glauben, dass der Schwarze Stein, aus dem
die Ecksteine der Kaaba, des höchsten Heiligtums und Pilger
schreins des Islam bestehen, die Kraft besitzt, Betende von ihren
Sünden zu befreien, indem er sie in sich aufnimmt. Der Schwarze
Stein, so heißt es, sei früher einmal von blendend weißer Farbe
gewesen und habe sich durch die vielen Sünden, die er im Laufe
der Jahre aufgesogen hat, schwarz gefärbt.
Im Christentum sagt man von den Reliquien der Heiligen -
wie den weinenden oder blutenden Statuen der Jungfrau Maria so
wie dem Leichentuch von Turin, einem jahrhundertealten Stück
Leinen, das den Abdruck eines Gekreuzigten zeigt -, sie könnten
Wunder vollbringen. An den Gräbern der Märtyrer sollen »Blinde
und Krüppel ihre Gesundheit wiedererlangen, Tote wieder zum
I
Ein seltsames Vermächtnis der alten Mayas 311
Leben erweckt und Menschen, die davon besessen sind, der Teufel
ausgetrieben werden«. Laut Legende verlieh der »Schicksalsspeer«
- die Waffe, die Gaius Cassius Longinus angeblich dem gekreu
zigten Jesus in den Körper stieß - seinem Besitzer die Macht, die
Welt zu erobern, brachte ihm jedoch, falls er ihn verlor, den sofor
tigen Tod. Weitere Beispiele für mythologische Gegenstände mit
übernatürlichen Kräften sind König Artus’ Schwert Excalibur und
der Heilige Gral.
Für die Azteken und Mayas hat der menschliche Schädel eine
große symbolische Bedeutung und ist deshalb in der präspanischen
Kunst von Mittelamerika ein verbreitetes Motiv. Archäologen ha
ben zahlreiche Nachbildungen von menschlichen Schädeln ausge
graben, von denen viele aus prähistorischen Zeiten stammen. Es
gibt sie in ganz verschiedenen Größen und aus unterschiedlichen
Materialien - Silber, Gold, Bronze, Obsidian, Onyx, Malachit,
Lapis, Türkis, Rubin, Saphir, Topas und Quarzkristall. Die seltenen
Exemplare, die in Lebensgröße aus Quarzkristall hergestellt wur
den, haben dabei besondere Aufmerksamkeit erregt. Sie sind The
ma vieler Bücher und Texte, in denen neben den unvergleichlichen
künstlerischen Fähigkeiten, die sie verraten, auch die bemerkens
werten Wirkungen beschrieben werden, die sie auf Menschen ha
ben können.
Bei einem Workshop, den ich Anfang der 1970er-Jahre am
Esalen-Institut hielt, erfuhr ich vom Mitchell-Hedges-Schädel,
einem außergewöhnlichen Kunstwerk aus der Tradition der Mayas,
das nach dem britischen Lord E A. Mitchell-Hedges und seiner Ad
optivtochter Anna benannt ist. Es handelte sich hier um die per
fekte Nachbildung eines menschlichen Schädels, die aus einem
einzigen Stück natürlichem Quarzkristall gefertigt ist. Angeblich
haben dabei viele Menschen in Gegenwart dieses mysteriösen Kunst
werks tiefe, außergewöhnliche Bewusstseinszustände erlebt. Wer
den Schädel eine Weile beobachtete und sich dabei auf die mil
chigen Stellen, leicht trübe Bereiche oder andere Unreinheiten im
312 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und Jenseits
Inneren des Kristalls konzentrierte, fiel in Trance und erstarrte oder
geriet in große Erregung.
Diese Menschen hatten Visionen von komplexen historischen
Ereignissen oder begegneten verschiedenen mythologischen We
sen, was oft heftige Emotionen auslöste, die von ekstatischem Ent
zücken bis hin zu großem Entsetzen reichten. Zu den berichteten
Wirkungen gehörte auch das Erwachen der Kundalini, begleitet
von kriyas - ganzen Wellen von unmotivierten Emotionen sowie
unwillkürlichen Tönen, starken Energien, Vibrationen und Wahr
nehmungsverzerrungen. Weitere Erlebnisse reichten von mys
tischem Entzücken, visionären Zuständen und außersinnlichen
Phänomenen bis hin zu psychotischen Schüben. Manche dieser
Menschen landeten schließlich tatsächlich in der Psychiatrie.
Der Schädel wies darüber hinaus einige bemerkenswerte op
tische Besonderheiten auf: Die Jochbeine des Gesichts dienten als
»Lichtröhren«, ähnlich wie moderne Lichtleitfasern. Sie leiteten
von unten Licht in die Augenhöhlen und endeten in zwei Mini
aturlinsen. Die beiden Höcker am unteren Schädelrand, die auf
dem Atlaswirbel ruhten, hatten die Form von kleinen Pyramiden,
die das Licht bündelten und ins Innere des Schädels warfen. Bei
richtiger Beleuchtung glühte der Schädel blassgrün, und die Au
genhöhlen leuchteten rot.
In seltenen Augenblicken soll der Totenkopf auch von einer
weißglühenden Aura umgeben gewesen sein, die weit über seine
Oberfläche hinausreichte und sogar beweglich war und ihre Größe
veränderte. Menschen, denen die merkwürdigen Wirkungen, die
man diesem Objekt zuschrieb, Angst einjagten, nannten ihn den
»Schädel des Verhängnisses«.
Eine Aura des Mysteriösen umgab den Schädel und inspirierte
viele Menschen zu Spekulationen über seinen Ursprung, sein Alter,
seine Herstellung und seine bemerkenswerten Wirkungen auf die
menschliche Psyche. In den 1970er-Jahren zog er die Aufmerk
samkeit vieler Wissenschaftler, Journalisten und anderer Autoren
Ein seltsames Vermächtnis der alten Mayas 313
auf sich. Nachdem ich all diese Gerüchte über den Mitchell-Hedges-
Schädel gehört hatte, wuchs mein Interesse, ihn selbst zu studieren
und Erfahrungen damit zu machen. Wie ich herausfand, lebte der
Verwalter und Kurator des Schädels, Frank Dorland, am Panora-
mic-Highway in Mill Valley, Kalifornien. Ich besuchte ihn und
lauschte mehrere Stunden seinen Erzählungen über den Schädel.
Dorland war geradezu besessen von dem Kristallschädel. Er
studierte ihn seit fünf Jahren und verbrachte jede wache Minute
seines Lebens mit ihm. Er war zu dem Schluss gelangt, dass die
technischen Probleme bei der Herstellung dieser Skulptur so be
trächtlich gewesen sein mussten, dass es ihn eigentlich gar nicht
geben konnte. Quarzkristall ist ein extrem hartes Material. Auf der
Härteskala der Zehn-Punkte-Skala des Geologen Friedrich Moh
rangiert er bei 7 und damit nur drei Punkte hinter dem Diamanten.
Kein Messer kann ihm Kratzer zufügen. Dorland hatte ihn mit
einem Binokular-Mikroskop untersucht, ohne auf der makellos
glatten Oberfläche Werkzeugspuren zu finden. Jede Bearbeitung
mit einem Meißel hätte mit Sicherheit Spuren auf der Oberfläche
hinterlassen und im Kristall Risse gezogen, vor allem, weil der
Schädel gegen die Körnung des Steins gemeißelt war.
Die Mayas kannten weder Karborund (ein Schleifmittel, Anm.
d.Ü.) noch Schleifstein. Und die Herstellung des Schädels in Hand
arbeit mit Sand und Wasser hätte Generationen gedauert. Dorland
spielte mit dem Gedanken, dass die Mayas bei der Bearbeitung des
Kristalls möglicherweise eine Art Paste verwendet hatten, die sie
nach einem überlieferten, uralten Geheimrezept herstellten, doch
bislang ist nichts Derartiges bekannt. Er entdeckte, dass man Kri
stall bei hohen Temperaturen, wie sie zum Beispiel ein Schneid
brenner erzeugt, schmelzen kann; doch ist es höchst unwahr
scheinlich, dass den Mayas ein so modernes technisches Gerät zur
Verfügung stand. Und selbst wenn, hätte es die Entstehung des
Schädels nicht hinreichend erklärt.
314 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und Jenseits
Dorland zeigte mir einen detaillierten Bericht der Untersuchungen,
die man im Kristall-Labor von Hewlett-Packard in Santa Clara, Ka
lifornien, durchgeführt hatte. Die Experten des Instituts waren zu
dem Schluss gelangt, dass man mit keiner der ihnen bekannten
modernen Technologien eine exakte Replik der menschlichen
Schädelform aus einem Stück Quarzkristall herstellen könne. Sie
lehnten sogar Dorlands Angebot ab, ihnen für ein Duplikat des
Schädels eine halbe Million Dollar zu zahlen. Quarz mit seinen
vielen Unreinheiten und kleinen Wasserablagerungen in der inne
ren Struktur war viel zu schwierig zu bearbeiten.
Nachdem er jahrelang vergebens versuchte hatte, eine Erklä
rung für die Herstellung des Schädels zu finden, dachte sich Dor
land immer phantastischere Theorien aus. Er kam zu dem Schluss,
dass Individuen aus einer fortgeschrittenen Zivilisation mit großen
geistigen Kräften und einer überlegenen Intelligenz den Schädel
hergestellt hatten. Er dachte, man könne mit Hilfe des Schädels
möglicherweise über die Grenzen von Raum und Zeit hinweg oder
aus parallelen Universen kommunizieren. Er hatte sogar den Ver
dacht, dass uns möglicherweise die Schöpfer des Schädels durch
dessen Augen immer noch beobachteten und Einfluss auf uns neh
men konnten. Doch war er sich nicht sicher, ob diese Einflüsse von
anderen Planeten, aus anderen Dimensionen oder sogar anderen
Zeiten stammten - der Vergangenheit oder vielleicht der Zukunft.
Dorland hatte im Laufe der Jahre selbst viele merkwürdige Er
lebnisse mit dem Schädel gehabt, die er schließlich vor allem »be
drückend« und »unheimlich« fand. Er erzählte mir von seiner
letzten Erfahrung nur wenige Wochen vor unserem Treffen: Mitten
in der Nacht war er aufgewacht, weil er im Erdgeschoss seines
Hauses merkwürdige Geräusche gehört hatte. Als er nachschauen
ging, erstarrte er vor Schreck. Vom Treppenabsatz aus sah er unten
im Wohnzimmer einen großen Jaguar herumspringen, der dort
großes Chaos anrichtete. Dorland rannte zurück in sein Schlafzim
mer, verriegelte die Tür und verbrachte den Rest der Nacht in
Ein seltsames Vermächtnis der alten Mayas 315
einem geradezu metaphysischen Entsetzen. Am Morgen stellte er
fest, dass in seinem Wohnzimmer ein ziemliches Durcheinander
herrschte und viele Möbel umgefallen waren.
Dorland fand nie heraus, was in jener Nacht wirklich gesche
hen war. Doch sie war auf jeden Fall für ihn »der Tropfen, der das
Fass zum Überlaufen bringt«. Nach einigem Kopfzerbrechen fasste
er den schmerzlichen Entschluss, das Kunstwerk an Miss Mitchell-
Hedges zurückzugeben. Wenn ich den Schädel sehen wollte, wür
de ich also nach Kitchener in Ontario, Kanada, fahren müssen, wo
Anna Mitchell-Hedges seit dem Tod ihres Pflegevaters lebte. Faszi
niert von Frank Dorlands Berichten, beschlossen mein Bruder Paul
und ich bei meinem nächsten Besuch in Kanada, sie anzurufen und
zu fragen, ob wir sie vielleicht aufsuchen dürften. Zu unserer gro
ßen Überraschung stellten wir fest, dass sie in einem Motel lebte,
das sie nach dem Tod ihres Adoptivvaters gekauft hatte und seit
dem betrieb.
Das war sehr ungewöhnlich, da sie doch von Lord Mitchell-
Hedges, einem sehr reichen britischen Adeligen, ein sagenhaftes
Vermögen geerbt hatte. Sie erklärte uns, das sei ihre Art, ihren toten
Vater zu ehren. Als er sie damals adoptierte, hatte sie als zehnjähri
ges, hungriges und heimatloses Waisenmädchen in diesem Teil
Kanadas gelebt. Nach seinem Tod wollte sie Menschen mit einer
Unterkunft und Verpflegung versorgen, ähnlich wie ihr Vater es
getan hatte.
Wir saßen im Büro des Motels, das mit Sicherheit ein kurioser
Ort war. Zu den einzigartigen Kunstwerken, die es schmückten,
gehörten ein großer Silberbecher aus dem Besitz König Ludwigs
von Bayern sowie ein Spiegel mit reich verziertem Rahmen, den
Königin Marie Antoinette einmal benutzt hatte. Anna Mitchell-
Hedges brachte uns eine große Sammlung von Zeitungsausschnit
ten mit Berichten über die Abenteuer, die sie und ihr Pflegevater in
verschiedenen Teilen der Welt erlebt hatten - Segeltouren zu exo
tischen Plätzen, Fangfahrten auf Haie und andere große Fische,
31.6 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und Jenseits
Tigerjagden, Aufenthalte bei südamerikanischen Indianern und
Ausgrabungen an historischen Stätten aus der Zeit vor der spa
nischen Eroberung.
Der interessanteste Artikel berichtete von der Ausgrabung in
Lubaantun, der Stadt der gefallenen Steine, die Lord Mitchell-
Hedges bei seiner Suche nach Atlantis im Dschungelgebiet von Bri
tish Honduras (Belize) entdeckte. Hier kam auch der Kristallschä
del auf mysteriöse Weise zum Vorschein. Laut Bericht hatte Anna
ihn an ihrem siebzehnten Geburtstag in den Ruinen gefunden, wo
er vergraben lag. Anna ging jeden Zeitungsausschnitt einzeln mit
uns durch und erzählte uns die faszinierenden Geschichten, von
denen hier berichtet wurde. Diese Zeitungsartikel und die Erinne
rungen, die Anna damit verband, bildeten eindeutig den Mittel
punkt ihres jetzigen Lebens. Sie hatte nie geheiratet. Ein Grund
dafür war wahrscheinlich ihr starker »Elektrakomplex«, da kein
Mann an ihren außergewöhnlichen Vater heranreichen konnte, der
im Laufe der Jahre zu einer mythischen Figur wurde. Der Nachmit
tag mit Anna Mitchell-Hedges in ihrem Motel in Kitchener war ein
faszinierendes Erlebnis, doch den Schädel bekamen wir leider
nicht zu sehen. Er war nicht mehr in Kitchener.
Wir fanden heraus, dass Anna ihn kurz vor unserem Besuch
dem Museum-of-the-American-Indian in New York City gestiftet
hatte. Ihrer Meinung nach besaß dieses Kunstwerk zu starke Kräf
te, um sich im Privatbesitz eines einzelnen Menschen zu befinden,
und brauchte einen unpersönlichen Eigentümer. Als wir Genaueres
wissen wollten, wischte sie unsere Fragen mit einer Handbewe
gung weg. Sie wollte über diese Dinge offenbar nicht sprechen.
Kurz nach unserem Besuch bei Anna musste ich nach New York
City, um dort einen Vortrag zu halten. Zu meinen ersten Unterneh
mungen gehörte, dass ich mir ein Taxi zum besagten Museum
nahm, denn ich wollte meine Suche unbedingt zu einem erfolg
reichen Abschluss bringen.
Ein seltsames Vermächtnis der alten Mayas 317
Dort sah ich dann endlich den Mitchell-Hedges-Schädel, das mys
teriöse Kunstwerk, dessen Spur ich schon so lange verfolgte. Er
stand in einer Vitrine, in deren Glaswänden sich das Licht und die
anderen Objekte spiegelten, die ihn umgaben, sodass er nicht sehr
deutlich zu sehen war. Außerdem zogen Scharen von Besuchern
durch das ziemlich beliebte Museum und sorgten für weitere
Ablenkungen. Das war mit Sicherheit kein günstiges Umfeld für
konzentrierte Wahrsagerei mit einem Kristall. Ich beschloss, bei
Dr. Frederick Dockstader, der weltweit größten Autorität für die
Kunst der amerikanischen Indianer und Kurator des Museums, die
Erlaubnis einzuholen, eine Nacht allein und in stiller Meditation
mit dem Schädel verbringen und ihn dafür aus der Vitrine nehmen
zu dürfen.
Leider hatte Dr. Dockstader nicht viel Verständnis für mein
unorthodoxes Anliegen. Auf meine Referenzen als Psychiater und
Bewusstseinsforscher ging er nicht weiter ein und beharrte darauf,
dass ich mich wie alle anderen Besucher auch an die Museumsre
geln zu halten hätte. Seine energische Absage setzte meiner Verfol
gungsjagd auf den Kristallschädel ein definitives Ende. Viele Jahre
später sublimierte ich meine Frustration über diese Abfuhr, indem
ich mein Interesse an dem Kristallschädel in die ersten Entwürfe
für einen Science-Fiction-Roman mit dem Titel Der Ruf des Jaguars
einfließen ließ.
318 Teil 5: Außersinntiche Wahrnehmungen und Jenseits
Materie und Bewusstsein:Ketamin und die Wiederverzauberung der Welt
m Herbst 1972 lernte ich eine der merkwürdigsten psychoak-
tiven Substanzen kennen, mit denen ich in meinen fünfzig Jah
ren Bewusstseinsforschung jemals Erfahrungen gemacht habe. Die
Wirkungen dieses Präparats sind so ungewöhnlich, dass sie selbst
in der Gruppe der psychedelischen Substanzen oder Drogen, für
die der deutsche Pharmakologe Louis Lewin den Begriff Fantastica
prägte, eine Sonderstellung einnehmen. Es handelt sich bei dieser
Substanz um Ketamin, die im Handel unter verschiedenen Namen
(verschreibungspflichtig!) geführt wird.
Salvador Roquet, ein umstrittener mexikanischer Psychiater,
bekannt für seine abenteuerlichen Experimente mit psychede
lischen Drogen, machte unser Team am Maryland-Psychiatric-Re-
search-Center auf die bemerkenswerten psychoaktiven Eigen
schaften von Ketamin aufmerksam. Salvador pflegte Sitzungen mit
großen Gruppen von Menschen abzuhalten, die er verschiedene
psychoaktive Substanzen einnehmen ließ (LSD, Psilocybin, Peyote,
Datura und andere), um ihnen dann schockierende Filme mit ge
walttätigen oder sexuellen Inhalten zu zeigen. Damit wollte er bei
seinen Klienten tiefe Erlebnisse mit dem Ego-Tod und psychospiri-
tueller Wiedergeburt auslösen. Salvador hatte seine Kolleginnen
und Kollegen in Mexico City auch dadurch gegen sich aufgebracht,
dass er ihnen bei einer Party in seinem Haus (ohne ihr Wissen)
belegte Häppchen servierte, die mit psychedelischen Pilzen gar
I
Materie und Bewusstsein 319
niert waren. Er kam nach Baltimore, um an unserem LSD-Ausbil-
dungsprogramm für Fachleute teilzunehmen.
Ketamin ist ein kurzfristig wirkendes Anästhetikum, verwandt
dem Phencyclidin, einem Beruhigungsmittel für Tiere. Calvin Ste
vens von der Wayne-State-University entdeckte Ketamin 1961.
Jahrelang stand es in dem Ruf, ein ungewöhnlich sicheres Betäu
bungsmittel zu sein, da es Kreislauf, Atmung und den Schluckre
flex nur minimal unterdrückt. Zu großer Popularität als Anästheti
kum gelangte es durch die Mediziner, die es auf den Schlachtfeldern
von Vietnam in großen Mengen verabreichten, ln späteren Jahren
nahm seine Benutzung rapide ab, vor allem wegen der eigenartigen
psychischen Erlebnisse, »emergency syndrome« getauft, von de
nen Patienten nach dem Erwachen aus der Narkose berichteten
(siehe auch die Geschichte auf Seite 104 f.). Heute verabreicht man
es in vielen Ländern bei kurzen chirurgischen Eingriffen immer
noch, vor allem Kindern und älteren Menschen, für die das »emer
gency syndrome« kein größeres Problem zu sein scheint.
Die Mitglieder unseres Teams hatten bereits vor Salvadors Be
such von Ketamin gehört und wussten, dass Chirurgen dieses Mit
tel als generelles Anästhetikum einsetzen. Auch das »emergency
syndrome« - eine ungünstige Komplikation bei Verabreichung von
Ketamin, die man routinemäßig mit Tranquilizern behandelte - war
ihnen bekannt. Bei seiner Präsentation für unsere Belegschaft
machte Salvador Roquet uns jedoch mit einer völlig neuen Sicht
weise dieser Substanz bekannt. Er erklärte, das »emergency syn
drome« sei keine Nebenwirkung von Ketamin, sondern Teil seiner
faszinierenden, grundlegenden Wirkung. Ketamin sei ein »dissozi
atives Anästhetikum«, das sich in seinem Wirkmechanismus von
sämtlichen anderen Anästhetika radikal unterscheide. Die Einnah
me dieses Mittels führe nicht zu einem Bewusstseinsverlust, son
dern bewirke, dass das Bewusstsein sich vom Körper löse.
Das medizinische Personal könne nicht deshalb chirurgische
Eingriffe beim Patienten vornehmen, weil dessen Bewusstsein wie
320 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und jenseits
bei der Einnahme von konventionellen Betäubungsmitteln ausge
löscht sei, sondern weil es seinen Körper verlassen habe. Die Pati
enten erlebten phantastische Reisen in einem großen Spektrum
von anderen Realitäten - in außerirdischen Zivilisationen und Par-
alleluniversen, in der astrophysischen Welt und der Mikrowelt, im
Reich der Tiere, Pflanzen und Mineralien, in anderen Ländern und
historischen Epochen sowie den archetypischen Dimensionen vie
ler verschiedener Kulturen. Salvadors Klienten, die Ketamin nicht
als Anästhetikum, sondern zu therapeutischen Zwecken und zur
Unterstützung ihrer philosophischen und spirituellen Suche nah
men, machten tiefe mystische Erfahrungen, und viele von ihnen
glaubten, sie seien auf diesen Reisen Gott begegnet. Manche be
richteten auch, sie hätten den Bardo besucht - das Reich zwischen
den einzelnen Inkarnationen - und behaupteten, keine Angst mehr
vor dem Tod zu haben.
Salvadors Vortrag weckte bei mehreren Mitgliedern unseres
Teams, darunter auch bei mir, große Neugierde und den starken
Wunsch, selbst Erfahrungen mit Ketamin zu machen. Zufällig hat
te Salvador ausreichende Mengen der Substanz bei sich und bot
uns Interessierten entsprechende Trainingssitzungen an. Unsere
persönlichen Erfahrungen bestätigten Salvadors Darlegungen voll
und ganz. Ketamin war eindeutig eine faszinierende Substanz und
hochinteressant für jeden, der sich ernsthaft mit Bewusstseinsfor
schung beschäftigte. Auch wenn es völlig anders wirkte als LSD,
konnte kein Zweifel daran bestehen, dass es für das Instrumentari
um der psychedelischen Substanzen eine wichtige Ergänzung dar
stellte. Die erstaunlichen Erfahrungen, die Ketamin auslöste, schie
nen viel mehr zu wiegen als seine Nachteile, wie zum Beispiel
Schwindel, Beeinträchtigung der körperlichen Koordination und
Nuscheln.
Ich setzte im Laufe der Jahre meine persönlichen Experimente
mit Ketamin fort und habe nicht aufgehört zu staunen über die mit
dieser Substanz gemachten Erfahrungen und die tiefen Einsichten,
Materie und Bewusstsein 321
die sie mir über die Wechselbeziehung von Bewusstsein, mensch
licher Psyche und Materie verschafften.
Die Wirkungen von Ketamin waren höchst unberechenbar,
selbst im breitesten Sinne. Bei meinen Experimenten mit anderen
psychedelischen Substanzen hatte ich meistens zumindest eine un
gefähre Vorstellung davon, in welcher Phase meiner Selbsterfor
schung ich mich befand und wie die nächste aussehen würde (Er
forschung der eigenen Biographie, Wiedererleben der Geburt,
archetypische Erlebnisse usw.). Die Erfahrungen mit Ketamin wa
ren wie Besuche in einem kosmischen Disneyland. Ich wusste nie,
was kommen und um welches Thema es bei diesem »Trip« gehen
würde. Und das erlebte Spektrum reichte von extrem sublim und
erstaunlich bis zu völlig banal und trivial.
Ich möchte dafür ein paar Beispiele geben. Ein guter Ausgangs
punkt ist das großartige Potenzial von Ketamin, astrale Projekti
onen zu vermitteln. Manche dieser Erfahrungen sind ziemlich di
rekt, andere gestalten sich bizarr und absurd, wie wir gleich sehen
werden. Eines Abends nahm ich Ketamin in unserem Haus in Big
Sur, Kalifornien, als wir gerade einen unserer einmonatigen Work
shops in Esalen hielten. In dieser Sitzung machte ich unter ande
rem die Erfahrung, mich etwa anderthalb Kilometer von unserem
Haus entfernt im Big House aufzuhalten, das zu Esalen gehörte
und wo alle Gruppenveranstaltungen unseres einmonatigen Semi
nars stattfanden. Ich sah bis in alle Einzelheiten, wie sich mehrere
Gruppenmitglieder miteinander austauschten. Am nächsten Tag
konnte ich meine Wahrnehmungen bestätigt finden. Doch zu der
Zeit, als ich während der Sitzung Zeuge dieser Begegnungen war,
erlebte ich mich als Kissen in einer Zimmerecke im Big House;
meine körperliche Erscheinung hatte vollends die Form dieses
Gegenstandes angenommen.
Bei anderer Gelegenheit hatte ich ein ähnliches Erlebnis, das
sich, da ich es zusammen mit Christina hatte, noch erstaunlicher
322 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und jenseits
gestaltete: Mitten in einer gemeinsamen Ketamin-Sitzung im
Schlafzimmer unseres Hauses in Big Sur befand ich mich plötzlich
im Baderaum von Esalen und stellte fest, dass ich ein nasses Hand
tuch war, das über dem Geländer hing, von wo man auf den Ozean
blickte. Aus dieser Perspektive war ich Zeuge sämtlicher Ereignisse
in diesem Raum und konnte die Menschen, die sich zu jener Zeit
im Bad aufhielten, genau erkennen. Als ich Christina am Ende der
Sitzung diese bizarre Erfahrung erzählte, stellten wir erstaunt fest,
dass sie genau das Gleiche erlebt hatte. Am folgenden Morgen
sprachen wir mit den beteiligten Leuten und konnten unsere ge
meinsame Erfahrung auf diese Weise bestätigen.
Wie diese beiden Beispiele deutlich machen, ist ein ungewöhn
licher und typischer Aspekt von Ketamin-Erfahrungen die überra
schende Möglichkeit, sich experimentell mit verschiedenen Din
gen und Abläufen zu identifizieren, die wir im Allgemeinen für
unbewusst halten, weil sie unorganisch sind, und wir nur höheren
Lebensformen ein Bewusstsein zuschreiben. Doch Ereignisse wie
diese treten in Ketamin-Sitzungen ebenso häufig wie authentisch
und überzeugend auf. Sie helfen uns, die animistische Weitsicht
vieler Eingeborenenkulturen zu verstehen, für die nicht nur sämt
liche Tiere und Pflanzen, sondern auch Sonne und Sterne, Ozeane,
Berge, Flüsse und andere Teile der anorganischen Natur ein Be
wusstsein haben.
Zu meinen vielen denkwürdigen Erfahrungen dieser Art gehört
die Identifizierung mit dem Bewusstsein des Ozeans, der Wüste,
von Granit, eines Atomreaktors in einem U-Boot unter dem ark
tischen Eis, einer Metallbrücke, über die schwere Lastwagen fuh
ren, von hölzernen Pfählen - mit Schlägen von riesigen Hämmern
in die Erde getrieben -, brennenden Kerzen, des Feuers einer Fa
ckel, von Edelsteinen und Gold. Zu meiner Liste gehört sogar die
Identifizierung mit einem Skistiefel am Fuß eines Langläufers und
all den wechselnden, körperlichen Spannungszuständen, die mit
seinen Bewegungen beim Skifahren verbunden waren.
Materie und Bewusstsein 323
Genauso häufig identifizierte ich mich mit anderen Lebensformen.
In einer meiner Sitzungen mit Ketamin wurde ich zur Kaulquappe
und erlebte deren Metamorphose zum Frosch; in einer anderen
zum riesigen Flachland-Gorilla, der sein Revier behauptete. In
mehreren Fällen bescherte mir der Wirkmechanismus dieses Mit
tels bemerkenswerte Einsichten in die Welt der Delphine und Wale.
Ein weiteres Beispiel war das absolut authentische und glaubwür
dige Erlebnis, eine Raupe zu sein, die sich in einen Kokon ein
spann und in einer amorphen Flüssigkeit auflöste, aus der sie in
Gestalt eines Schmetterlings wieder auftauchte. Bei einer beson
ders eindrucksvollen Erfahrung dieser Art war ich eine Venusflie-
genfalle - eine fleischfressende Pflanze, die eine Fliege fing und
verdaute und dabei Geschmackserlebnisse hatte, die ich mir als
Mensch noch nicht einmal in meiner Phantasie hätte ausdenken
können.
Die obigen Beispiele stehen in starkem Kontrast zu mehreren wei
teren Ketamin-Sitzungen, die absolut trivial und geradezu langwei
lig verliefen. Hier sah ich endlose Bilder von Backsteinmauern, as
phaltierten Flächen und Straßen oder hässlichen, fluoreszierenden
Farben in den Vororten einer großen Stadt und fragte mich, warum
ich überhaupt Ketamin genommen hatte. In einer bestimmten Zeit
meines Leben waren die Sitzungen mit Ketamin mehrmals hinter
einander so scheußlich und abstoßend, dass ich beschloss, diese
Substanz nie wieder zu nehmen. Sie kreisten um fossile Brennstoffe,
die für das Leben auf unserem Planeten ein Fluch sind. Im Fol
genden schildere ich eine diese Sitzungen:
Die Atmosphäre war dunkel, verhängnisvoll und ominös. Sie
schien sowohl in chemischer Hinsicht zersetzend und vergiftet als
auch in einem metaphysischen Sinne gefährlich und böse zu sein.
Anfangs erlebte ich sie als Teil meiner Umgebung von außen, aber
allmählich zog sie mich in ihren Bann, bis ich tatsächlich identisch
mit ihr war. Ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass ich
Erdöl war, das in riesigen unterirdischen Höhlen lagerte. Während
ich diese Identifikation mit Erdöl als physischem Stoff intensiv
erlebte, darunter auch seinen penetranten Geruch, wurde mir klar,
dass ich gleichzeitig ein metaphysisches oder archetypisches We
sen von unvorstellbaren Ausmaßen und voll übler Absichten war.
Ich wurde überflutet von faszinierenden Einsichten, in denen Che
mie, Geologie, Biologie, Psychologie, Mythologie, Geschichte,
Ökonomie und Politik Zusammenflüssen.
Plötzlich verstand ich Dinge, über die ich bislang nie nachge
dacht hatte. Erdöl war ein Fett biologischen Ursprungs, das sich in
ein Mineral verwandelt hat. Damit war es dem unausweichlichen
Zyklus von Tod und Wiedergeburt entkommen, diesem »Recyling«,
dem die restliche lebende Materie unterworfen ist. Trotzdem war
das Element des Todes aus diesem Ablauf nicht eliminiert, sondern
hatte sich lediglich verlagert. Das destruktive, plutonische Potenzi
al existierte in Erdöl weiter als monströse Zeitbombe, die auf ihre
Gelegenheit wartete, in der Welt zu explodieren.
Während ich das Gefühl hatte, das Bewusstsein von Erdöl von
innen zu erleben, sah ich, wie der mit dieser Materie unlösbar ver
bundene Tod sich als das Böse und das Morden derjenigen manifes
tierte, die gierig auf die astronomischen Profite waren, die dieser
Rohstoff versprach. Ich war Zeuge unzähliger politischer Intrigen,
wirtschaftlicher Schurkenstreiche und hinterhältiger diploma
tischer Machenschaften, die alle durch die Gier nach »Öldollars«
motiviert waren. Ich sah auch die unzähligen Leidtragenden der
Kriege um Erdöl auf dem Opferaltar dieses üblen Monsters liegen.
Es war nicht weiter schwer, sich vorzustellen, wie diese Verknüp
fung von Ereignissen zum Weltkrieg führte, der um die schwin
denden Vorräte eines Rohstoffs ausgefochten wurde, welcher für
das Überleben und den Wohlstand der Industrienationen notwen
dig geworden war.
Mir war ganz klar, dass das Umschwenken der Wirtschaft auf
Sonnenenergie und andere erneuerbare Ressourcen für die Zukunft
324 Teil 5: Außersinniiche Wahrnehmungen und Jenseits
Materie und Bewusstsein 325
unseres Planeten ausschlaggebend war. Eine eingleisige Politik,
welche die begrenzten Vorräte an fossilen Brennstoffen plünderte,
mit deren giftigen Abfällen die Erdölindustrie dann die Umwelt
verschmutzte, war grundlegend falsch, und mir war unbegreiflich,
dass dies für Ökonomen und Politiker nicht offen auf der Hand lag.
Diese kurzsichtige Politik war unvereinbar mit der kosmischen
Ordnung und der zyklischen Natur des Lebens. Auch wenn die
Ausbeutung fossiler Brennstoffe im historischen Kontext der indus
triellen Revolution verständlich war - sie fortzusetzen, nachdem
man ihre tödlichen Konsequenzen erkannt hatte, war ebenso
selbstzerstörerisch wie mörderisch und kriminell.
In einer langen Reihe von scheußlichen und äußerst unange
nehmen Erlebnissen wurde ich durch Bewusstseinszustände der
Erdöl verarbeitenden chemischen Industrie geschleust. Ich nannte
das Bewusstsein, das diese Erfahrungen vermittelte, nach dem
Namen eines bekannten deutschen Chemiekonzerns. Es bestand
aus einer schier endlosen Folge von inneren Zuständen, in denen
ich die lebensfeindlichen Eigenschaften von Anilinfarbstoffen,
ätzenden Lösungsmitteln, Herbiziden, Pestiziden und Giftgasen er
lebte. Ich machte nicht nur Erfahrungen mit zahlreichen verschie
denen Industriegiften als solchen, sondern identifizierte mich auch
mit den Bewusstseinszuständen der vielen Lebensformen, die un
ter Erdölprodukten litten. Ich wurde zu jedem Juden, der in den
Gaskammern der Nazis umkam, jeder Ameise und Küchenschabe,
die man mit Insektenspray vernichtete, jeder Fliege, die in kleb
rigen Fliegenfallen hängenblieb, und jeder Pflanze, die durch Her
bizide starb. Und hinter alldem lauerte die düstere Zukunft, die
allem Leben auf diesem Planeten höchst wahrscheinlich drohte -
der Tod durch industrielle Umweltvergiftung.
Das war eine unglaubliche Lektion. Ich ging aus dieser Sitzung mit
einem tiefen, ökologischen Bewusstsein hervor und ich hatte ein
sehr klares Gefühl dafür, in welche Richtung die wirtschaftliche
326 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und Jenseits
und politische Entwicklung gehen musste, damit das Leben auf
unserem Planeten erhalten blieb.
Durch diese Sitzungen, in denen ich, wie gerade geschildert,
die Fallgruben des industriellen Zeitalters erforschte, gelangte ich
an einen Punkt, an dem ich beschloss, dass ich mit Ketamin keine
weiteren Erfahrungen machen wollte. Mein letztes Selbsterfor-
schungsexperiment mit Hilfe von Ketamin zeigte mir jedoch die
andere Seite des Spektrums. Es war so ekstatisch und ungewöhn
lich, dass ich beschloss, diese Tür nicht hinter mir zuzuschlagen.
Im Folgenden schildere ich kurz den Inhalt dieser Sitzung:
Ich spürte die Anwesenheit von vielen Freunden, die mein In
teresse für Transpersonale Psychologie, meine Werte und meine
Orientierung im Leben teilten. Obwohl ich sie nicht sah, nahm ich
ihre Gegenwart mit Hilfe außersinnlicher Kanäle deutlich wahr.
Wir machten eine komplexe Entwicklung durch, bei der wir he
rausfanden, wo wir uns einig und wo wir unterschiedlicher Mei
nung waren, um dann Reibungspunkte mit Hilfe eines nahezu al-
chemistischen Verfahrens der Auflösung und Neutralisierung zu
beseitigen. Schließlich gelang es uns offenbar, ein völlig einiges
Netzwerk zu schaffen - vergleichbar einem einzigen Wesen, das
ohne die geringsten inneren Widersprüche eine klare Aufgabe ver
folgte.
Und dann wurde dieses Kollektiv zu einer Art »Raumschiff im
Bewusstsein«, wie ich das nannte. Wir erfanden eine Bewegung,
durch die wir das Element des räumlichen Fluges mit einer ab
strakten Darstellung der Evolution des Bewusstseins verbanden.
Diese Bewegung beschleunigte sich ständig, bis sie offensichtlich
eine absolute Grenze erreicht hatte, ähnlich wie die Lichtgeschwin
digkeit im einsteinschen Universum. Wir hatten das Gefühl, auch
diese Grenze überschreiten zu können, doch waren die Folgen ab
solut nicht voraussagbar und potenziell gefährlich. Weil sich diese
Freundesgruppe durch einen großen Abenteuergeist auszeichnete,
beschlossen wir jedoch, uns dem Unbekannten zu stellen.
Materie und Bewusstsein 327
Es gelang uns, die Grenze zu überschreiten und weiter vorzudrin
gen, was unsere Erfahrung auf eine Art und Weise, die sich schwer
beschreiben lässt, in andere Dimensionen verlagerte. Statt sich
durch Raum und Zeit zu bewegen, schien sich das Bewusstsein
jetzt enorm auszudehnen. Die Zeit stand still, und wir befanden
uns in einem inneren Zustand, den ich als das Bewusstsein von
Bernstein erkannte. Das machte durchaus Sinn, denn Bernstein ist
die materielle Verkörperung einer Situation, in der die Zeit fest
friert. In dieser mineralisierten organischen Substanz (Harz) sind
zahlreiche verschiedene Lebensformen, wie zum Beispiel Pflanzen
und Insekten, über Millionen von Jahren hinweg unverändert er
halten geblieben.
Nachfolgend erlebten wir offensichtlich eine Art Reinigung,
die jeden Zusammenhang mit organischem Leben auslöschte. Die
Erfahrung wurde kristallklar und unglaublich schön. Wir befan
den uns offenbar im Inneren eines riesigen Diamanten. Unzählige
feine, sich überlagernde Gitter explodierten in einem flüssigen Me
dium von unglaublicher Reinheit zu sämtlichen Farben des Spek
trums. Wie der ultimative Computer enthielt dieser Diamant in
reiner, abstrakter und unendlich verdichteter Form sämtliche In
formationen über Leben und Natur. Dabei schien relevant zu sein,
dass Diamanten aus reiner Kohle bestehen, einem Element, auf
dem alles Leben beruht und das unter extremen Temperatur- und
Druckverhältnissen entsteht.
Alle anderen Eigenschaften des Diamanten - Glanz, Schönheit,
Transparenz, Dauerhaftigkeit, Beständigkeit und die Fähigkeit,
weißes Licht zu einem reichen Farbspektrum zu brechen - verwie
sen auf seine metaphysische Bedeutung. Ich begriff, warum der
tibetische Buddhismus auch Vajrayana heißt - Diamantenfahrzeug.
Der angemessenste Begriff, der mir für solch ekstatisches Entzü
cken einfiel, war »Diamantenbewusstsein«. Dieser Zustand barg
die schöpferische Energie und Intelligenz des ganzen Universums,
existierte als reines Bewusstsein jenseits von Raum und Zeit.
328 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und Jenseits
Ich schwebte in dieser Energie als dimensionsloser Bewusstseins
punkt, der sich ein Gefühl von individueller Identität bewahrte
und sich zugleich völlig auflöste und eins mit allem war. Ich nahm
auch die Gegenwart meiner Freunde wahr, die diese Reise mit mir
zusammen unternommen hatten; sie waren ebenfalls völlig form
los, nichts als dimensionslose Punkte. Ich spürte, dass wir uns in
einem Zustand höchster Erfüllung befanden. Wir hatten die Quelle
aller Existenz erreicht und damit unsere höchste Bestimmung. Wir
waren dem Himmelreich so nahe, wie ich es mir nur vorstellen
konnte.
So weit einige wenige Beispiele für die Erfahrungen, die ich mit der
merkwürdigsten und ungewöhnlichsten psychoaktiven Substanz
machte, die ich je kennenlernte. Noch eine weitere Eigenschaft von
Ketamin verdient in diesem Zusammenhang Erwähnung: Christina
und ich haben Ketamin mehrmals bei unseren Reisen in andere
Länder genommen - in Peru, Brasilien, Indien und Bali, wo an
diese Substanz leicht heranzukommen ist - und entdeckt, dass die
dadurch ausgelösten Erfahrungen uns in Kontakt brachten mit der
archetypischen Welt, die diese Kulturen, ihre Mythologien, die
Psyche ihrer Menschen, ihre Kunstwerke und ihre Kunst prägt.
Auf dem Inka-Pfad 329
Auf dem Inka-PfadDas Geheimnis der Trepanation entdecken
ei unseren Besuchen in Peru hatten wir zwei Anlaufstellen, wo
wir uns von dem langen Flug und unserem Jetlag erholen
konnten. Die erste war das gastfreundliche Hotel Bolivär in Lima
mit seinen bequemen Betten, der großen Badewanne und dem alt
modischen Charme. Die zweite war das Casa Vasca, ein kleines
Restaurant direkt um die Ecke mit einer ausgezeichneten bas-
kischen Küche. Wir entdeckten auch, dass man in der Inka-Apo-
theke gegenüber vom Bolivár ohne Rezept fast jedes Medikament
bekam. Dazu gehörte auch Ketajet; das war die südamerikanische
Handelsbezeichnung von Ketamin.
Wir kauften eine Flasche, ganz aufgeregt bei dem Gedanken,
damit in Cuzco, der uralten Hauptstadt des Inka-Reichs, zu experi
mentieren. Hier eröffnete sich uns eine einzigartige Gelegenheit,
die Geheimnisse der Inka-Gesellschaft zu erforschen, die Welt ihrer
Götter und ihrer glanzvollen Künste. Diese Sitzung sollte jedoch,
wie sich später herausstellte, eine der schwierigsten Erfahrungen
werden, die ich in meinem Leben jemals machte.
Nach unserer Ankunft in Cuzco nahmen wir die Substanz
abends in unserem Hotel. Sowie die Wirkung einsetzte, fand ich
mich umgeben von vier muskulösen Inka-Krieger-Priestern in ih
ren rituellen Gewändern. Sie trugen raffinierte Kopfbedeckungen
und Tuniken aus farbigen Federn. Die Ohren und den ganzen wei
teren Körper schmückte Geschmeide aus schwerem Gold. Ich
B
330 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und jenseits
spürte ihren eisernen Griff an meinen Hand- und Fußgelenken.
Dann trat ein besonders reich geschmückter Mann, der wie ein
Hoher Priester aussah, mit Hammer und Meißel auf mich zu und
hämmerte unbarmherzig auf meinen Schädel ein.
Ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, was da mit mir ge
schah. Bei unserem Aufenthalt in Lima hatten wir das anthropolo
gische Museum besucht, wo eine ganze Reihe von trepanierten
Schädeln zu besichtigen war. Das Knochenbild im Bereich der
Wunden wies darauf hin, dass das betroffene Individuum diese
Prozedur überlebte. Auf den Hinweisschildern stand, diese Trepa
nationen seien Beweise für die medizinische Kunst der Inkas. Es
handele sich dabei höchstwahrscheinlich um chirurgische Eingriffe
zur Entfernung von Tumoren oder anderen pathologischen Befun
den. Ich konnte mich noch an das merkwürdige und unerklärliche
Unbehagen erinnern, das diese durchlöcherten Hirnschalen in mir
weckten.
Jetzt erlebte ich mich höchst realistisch und überzeugend als
jemanden, der diese Prozedur selbst erlitt. Auch wenn ich die Dro
genwirkung anders empfand als die von Ketamin, was wahrschein
lich auf eine Art Medizin zurückging, die man den Initianden zur
Vorbereitung auf diese Tortur gegeben hatte, übertrafen die Schmer
zen, die ich hier erlebte, alles, was ich mir jemals hatte vorstellen
können. Trotz dieser Qualen jedoch wurde ich überflutet von er
staunlich aufschlussreichen Einsichten in den Eingriff, der an mir
vorgenommen wurde.
Das hier war keine chirurgische Operation, sondern ein Über
gangsritual, vergleichbar den zahlreichen verschiedenen Eingebo
renenritualen in anderen Kulturen, die mit unerträglichen Schmer
zen verbunden waren, wie der Sonnentanz der Lakota-Sioux-Indianer
oder die Harnröhrenspaltung bei den australischen Aborigines.
Dieser Eingriff war unter anderem auch eine Prüfung, bei der getes
tet wurde, wie groß die Macht des menschlichen Geistes war, der
Welt der Materie standzuhalten. Der Initiand musste beweisen,
Auf dem Inka-Pfad 331
dass er imstande war, extremes physisches Leid gelassen zu ertra
gen. Doch hauptsächlich sollte die Trepanation das Hindernis zwi
schen dem eigenen Gehirn und dem Sonnengott als höchster Gott
heit der Inkas beseitigen, damit dessen Energie zum inneren Wesen
des Initianden Vordringen konnte.
Mir fiel dabei der junge Mann ein, den ich in einem Amster
damer Antiquitätengeschäft getroffen hatte. Er erzählte mir von
einem Holländer namens Dr. Bart Hughes, der 1962 eine Bewe
gung gründete, die auf dem Glauben beruhte, dass eine Selbst-Tre
panation höhere Bewusstseinszustände fördere, indem sie die Blut
zirkulation im Gehirn anregt. Er hatte diese Operation bei sich
selbst mit einem Elektrobohrer durchgeführt. Der junge Mann war
seinem Beispiel gefolgt und behauptete, er sei von den Resultaten
sehr beeindruckt gewesen. Einige Jahre zuvor hatten Christina und
ich bei einem Besuch in England Gelegenheit zu einem langen Ge
spräch mit Lord James Neidpath und seiner Frau Lady Amanda
Neidpath, die sich beide aus den gleichen Gründen einer Trepana
tion unterzogen hatten. Beide priesen die Auswirkungen dieses
Eingriffs auf ihr Bewusstsein.
Sowie ich begriff, was es mit dieser Prozedur auf sich hatte,
gab ich mir große Mühe, die stoische Haltung zu bewahren, die
von den Initianden erwartet wurde. Ich rief meinen Verstand zur
Hilfe und machte mir klar, dass die Wirkung von Ketajet etwa 50
bis 60 Minuten anhalten würde und ein Ende meiner Qualen ab
zusehen war. Ab und zu schaute ich auf die Uhr, aber der kleine
Zeiger schien sich kaum vorwärtszubewegen. Schließlich - nach
einer Ewigkeit, wie mir schien - war seit meiner Einnahme der
Substanz eine Stunde verstrichen. Doch zu meiner großen Verblüf
fung fand mein Leiden damit kein Ende. Die pharmakologische
Wirkung der Droge nahm ab, doch die unerträglichen Schmerzen
blieben.
Christinas Sitzung hatte den für Ketamin üblichen Verlauf
genommen, und nachdem wir uns über unsere Erlebnisse ausge
332 Teil 5: Außersinnliche Wahrnehmungen und jenseits
tauscht hatten, schlief sie ein. Ich jedoch lag mit quälenden Schmer
zen im Bett und konnte nicht einschlafen. Ich durchlitt sämtliche
Kopfschmerzen, die Menschen im Verlauf der Geschichte jemals
gepeinigt hatten. Für den folgenden Tag hatten wir einen Ausflug
nach Machu Picchu geplant, der berühmten, uralten Festungsstadt
der Inkas. Als es Zeit für unser zeitiges Frühstück wurde, kleideten
wir uns an und gingen in den Speisesaal. Mir war übel, und jeder
Schritt auf der Treppe nach unten fühlte sich an wie ein weiterer
Meißelschlag des Hohen Priesters. Ich sah Christina beim Frühstü
cken zu und konnte selbst keinen Bissen herunterbringen.
Auch auf der Fahrt mit der Bahn nach Machu Picchu hielten
meine Schmerzen an. Die Arbeiter, die die Gleise zusammen
schweißten, hatten ihre Sache nicht besonders gut gemacht. Wenn
die Räder über eine Nahtstelle rumpelten, war es, als träfe mich ein
weiterer Meißelschlag. Offensichtlich ging mein Übergangsritual
weiter und würde nie ein Ende finden. Plötzlich, etwa auf halber
Strecke nach Machu Picchu, hörten die Schmerzen auf, und ich
geriet in einen ekstatischen Zustand. Wir erreichten den Bahnhof,
von wo uns ein kleiner Lieferwagen zum Eingang der alten Fes
tungsstadt brachte, nachdem er die Zugangsstraße mit den vielen
Serpentinen bewältigt hatte.
Es war ein schöner, sonniger Tag, und die Besichtigung der
uralten Stadt hoch oben in den Anden wurde ein unvergessliches
Erlebnis. Ich fühlte mich so zu Hause an diesem Ort, als hätte ich
dort tatsächlich einmal gelebt. Nach dem Mittagessen streiften wir
in den Ruinen umher und beschlossen dann, den Huayna Picchu
zu besteigen, was in Quechua »Junger Berg« heißt - der Name für
den steilen Hügel, der einen Ausblick auf die historische Stätte bie
tet. Der Weg war steil und lang, belohnte uns aber mit einer phan
tastischen Aussicht auf die Ruinen von Machu Picchu, »den Alten
Berg«. Der Besuch dieses magischen Ortes nach meinem Erlebnis
mit dem Ritual der Trepanation gehört bis zum heutigen Tag zu
den eindrucksvollsten Erlebnissen meines Lebens.
Teil 6
UnorthodoxePsychiatrie
Überraschende Alternativen
zu traditionellen
Behandlungsmethoden
Teil 6: Unorthodoxe Psychiatrie 335
ie Beobachtungen aus der Forschung über holotrope Bewusst
seinszustände haben uns viele außergewöhnliche Einsichten
in die Vielschichtigkeit der menschlichen Psyche sowie in das We
sen und die Struktur emotionaler und psychosomatischer Stö
rungen gebracht. Sie eröffneten uns auch überraschend neue Per
spektiven für die Behandlung dieser Zustände, denn sie deckten
therapeutische Mechanismen auf, die der psychiatrischen Fachwelt
bislang unbekannt waren.
Das augenblicklich in der klinischen und akademischen Psy
chiatrie vorherrschende Modell der Psyche ist begrenzt auf die
postnatale Biographie und das individuelle freudsche Unbewusste.
Laut Freud gilt das Neugeborene als tabula rasa, als unbeschrie
benes Blatt, und unsere Persönlichkeit wird geprägt durch die Ab
läufe in der Kleinfamilie und emotional relevante Ereignisse in un
seren ersten Lebensjahren. Aus dieser Sicht betrachtet, sind die
Ereignisse vor der Geburt und auch der Verlauf der Geburt selbst
psychologisch irrelevant. Störungen, für die man in der Anatomie,
Physiologie und Biochemie des Gehirns keine organischen Ursa
chen finden kann, gelten als Folgen psychotraumatischer Erfah
rungen in der Kleinkindzeit, Kindheit und im späteren Leben. Ge
nerell geht man übereinstimmend davon aus, dass psychogene
Störungen ihren Ursprung in verschiedenen Phasen der postnatalen
Lebensgeschichte nehmen, und ihre Beschaffenheit und Schwere
D
336 Teil 6: Unorthodoxe Psychiatrie
Aufschluss darüber geben, in welcher Zeit das ursprüngliche Psy-
chotrauma stattfand.
Die konventionellen therapeutischen Maßnahmen bei psycho
genen, emotionalen und psychosomatischen Störungen fallen in
zwei breit gefasste Kategorien - »zudeckende« und »aufdeckende«
Behandlungsmethoden. Die zudeckende Therapie, die augenblick
lich bei ambulanten und klinischen Behandlungen vorherrscht,
benutzt eine reiche Palette an Psychopharmaka, um Symptome zu
unterdrücken. Sie kann Patienten subjektive Erleichterung ver
schaffen, ohne sich mit den Ursachen zu beschäftigen, die der Stö
rung, an der sie leiden, zugrunde liegen. Die aufdeckende Therapie
versucht, mit zahlreichen verschiedenen psychotherapeutischen
Methoden zur Wurzel des Problems vorzudringen. Sie will nicht
nur die Symptome lindern, sondern sich auch den ihnen zugrunde
liegenden Faktoren zuwenden und positive Veränderungen in der
Persönlichkeitsstruktur fördern. Leider bietet uns das augenblick
liche Modell der Psyche nur ein begrenztes Spektrum an therapeu
tischen Mechanismen, wie das Erinnern vergessener und unter
drückter traumatischer Ereignisse oder ihre Rekonstruktion mit
Hilfe des freien Assoziierens und von Träumen, intellektuellen und
emotionalen Einsichten, der Analyse der Übertragung und korrek
tiven Erfahrungen in zwischenmenschlichen Beziehungen.
Wie wir bereits gesehen haben, hat das Studium holotroper
Zustände die Kartographie der Psyche enorm erweitert, indem es
sie um zwei neue Gebiete ergänzte - das Perinatale und das Trans
personale. Es hat auch gezeigt, dass psychopathologische Symp
tome und Syndrome psychogenetischen Ursprungs durch trau
matische Erlebnisse in der postnatalen Biographie nicht angemessen
erklärt werden können. Beobachtungen aus der erlebnisorien
tierten Tiefenpsychologie haben gezeigt, dass diese Zustände eine
vielschichtige und dynamische Struktur haben, die regelmäßig sig
nifikante Elemente aus den perinatalen und transpersonalen Be
reichen der Psyche mit einschließt.
Teil 6: Unorthodoxe Psychiatrie 337
Diese Entdeckung erklärt, warum sich verbale, biographisch orien
tierte Methoden als Werkzeuge für den Umgang mit schweren kli
nischen Problemen im Allgemeinen als ziemlich enttäuschend er
wiesen haben. Da sie gedanklich und praktisch begrenzt sind,
erreichen wir mit diesen Methoden nicht die tieferen Wurzeln der
Zustände, die wir damit zu heilen versuchen. Die Entdeckung, wie
tief die Probleme reichen, mit denen sich Psychiatrie und Psycho
therapie auseinandersetzen müssen, könnte für sich genommen
ziemlich entmutigend sein. Glücklicherweise zeigt aber die Arbeit
mit holotropen Zuständen nicht nur auf, dass emotionale und psy
chosomatische Störungen bedeutende perinatale und transperso
nale Komponenten haben. Sie eröffnet auch den Zugang zu neuen,
höchst effektiven therapeutischen Mechanismen, die auf diesen
tiefen Ebenen der Psyche wirksam werden und oft zu einer drama
tischen Heilung und positiven Wandlung der Persönlichkeit führen.
In diesem Teil des Buches gebe ich einige Beispiele für Situationen,
in denen durch Mechanismen, die auf der perinatalen und trans
personalen Ebene der Psyche ansetzen, bemerkenswerte therapeu
tische Wirkungen erzielt wurden. Wie wir sehen werden, verlangt
eine Heilung manchmal, dass Menschen ihre Geburt sowie ein
dringliche Erfahrungen aus vergangenen Leben noch einmal durch
leben, dass sie archetypischen Wesen aus einer ihnen bislang völlig
fremden Kultur begegnen oder sich mit den vollständigen Manifes
tationen archetypischer Gestalten konfrontieren, darunter auch dä
monischen.
Dazu gehören auch höchst ungewöhnliche therapeutische Me
chanismen wie das Identifizieren mit einem Baum oder das Singen
eines sephardischen Gebets. Die interessanteste und sowohl theo
retisch als auch praktisch wichtigste Beobachtung aus der Arbeit
mit holotropen Zuständen ist, dass perinatale und transpersonale
Erfahrungen ein starkes Heilungspotenzial besitzen und zwar selbst
dann, wenn sie im Kontext von Episoden auftreten, welche die
338 Teil 6: Unorthodoxe Psychiatrie
Psychiatrie als Manifestationen schwerer psychischer Erkran
kungen betrachtet - als Psychosen.
Auf der Grundlage unserer Erfahrungen mit solchen Zustän
den sind Christina und ich zu der Überzeugung gelangt, dass viele
spontane Episoden mit holotropen Zuständen, die im Augenblick
noch als Psychosen diagnostiziert und mit dämpfenden Medika
menten behandelt werden, in Wirklichkeit psychospirituelle oder
spirituelle Krisen sind. Es gibt genug Beweismaterial dafür, dass
diese Episoden - richtig verstanden und angemessen begleitet - zu
einer heilsamen, positiven Veränderung der Persönlichkeit und ei
ner spirituellen Öffnung führen können (Grof und Grof 1991,
2002). Der jungsche Psychologe John Weir Perry hat viele erfolg
reich behandelte Fälle dieser Art in einer Reihe von Büchern be
schrieben (Perry 1974, 1976).
In diesem Buchteil finden Sie auch die Geschichten zweier
Frauen, deren Symptome ein traditioneller Psychiater als Anzei
chen für eine psychische Krankheit betrachten würde. Und doch
wäre es falsch gewesen, ihnen einen entsprechenden diagnos
tischen Stempel aufzudrücken. In einer weiteren Fallgeschichte
beschreibe ich ein höchst unkonventionelles therapeutisches Ver
fahren. Hier zeigt sich, dass die Beschleunigung psychodyna
mischer Prozesse, die psychotischen Symptomen zugrunde liegen,
durch Anwendung psychedelischer Therapie zu therapeutischen
Ergebnissen führen kann, die einer Dämpfung durch Medikamente
weit überlegen sind. Beendet wird dieser Buchteil mit einer hu
morvollen, in leichtem Tonfall erzählten Geschichte, die zeigt, dass
zufällige Synchronizitäten gelegentlich zu überraschenden thera
peutischen Ergebnissen führen können.
Der Schmerz, der drei Jahrhunderte überlebte 339
Der Schmerz, der drei jahrhunderte überlebte
Norberts Geschichte
n der folgenden Geschichte geht es um Norbert, einen 51-jäh
rigen Psychologen und Geistlichen, der an einem unserer fünf
tägigen Workshops am Esalen-Institut teilnahm. Sein Fall kann als
typisches Beispiel für das Phänomen gelten, das ich »Systeme ver
dichteter Erfahrung« - COEX-Systeme - (von »Condensed expe-
riences«, Anm.d.Ü.) nenne. Dabei handelt es sich um eine viel
schichtige Konstellation von traumatischen Erinnerungen aus
verschiedenen Schichten des Unbewussten - biographisch, perina-
tal und transpersonal die bestimmten emotionalen und psycho
somatischen Symptomen zugrunde liegt. Norberts Geschichte zeigt
auch das therapeutische Potenzial, welches das Wiedererleben und
Integrieren der Geburtstraumata und von Erinnerungen aus ver
gangenen Leben bergen.
Bei der Vorstellungsrunde in der Gruppe vor der ersten holo
tropen Atemsitzung klagte Norbert über starke chronische Schmer
zen in seiner linken Schulter und im Brustkorb, unter denen er
sehr litt, und die sein Leben inzwischen erheblich beeinträchtigten.
Wiederholte medizinische Untersuchungen einschließlich Röntgen
hatten jedoch keine organische Ursache für seine Beschwerden er
bracht, und alle bisherigen Behandlungsversuche waren erfolglos
geblieben. Eine Reihe von verabreichten Injektionen mit Procain
(lokales Anästhetikum, Anm.d.Ü.) hatte ihm nur kurzfristig und
I
340 Teil 6: Unorthodoxe Psychiatrie
vorübergehend Erleichterung verschafft, solange die pharmakolo
gische Wirkung des Medikaments anhielt.
Zu Beginn des Holotropen Atmens wollte Norbert impulsiv
den Raum verlassen, denn er hatte das Gefühl, dass die Musik ihn
»umbrachte« und er sie nicht ertragen konnte. Es kostete viel Über
redungskunst, ihn zu bewegen, bei seinem inneren Prozess zu blei
ben und die Gründe für seine negativen Gefühle zu erforschen.
Schließlich stimmte er zu, mit seiner Sitzung fortzufahren, und
hatte fast drei Stunden heftige Schmerzen in Brust und Schulter,
die unerträglich wurden. Er kämpfte mit aller Macht, als ginge es
um sein Leben, würgte, hustete, schrie wiederholt und laut und in
den unterschiedlichsten Stimmlagen. Nach dieser stürmischen
Phase beruhigte und entspannte er sich und wurde friedlich. Ganz
überrascht stellte er fest, dass sich die Verspannungen in seiner
Schulter und seinem Brustkorb gelöst hatten und er völlig schmerz
frei war.
Rückblickend berichtete Norbert, dass sich seine Erfahrungen
auf drei verschiedenen Ebenen abgespielt hatten, die alle mit dem
Schmerz in seiner Schulter zusammenhingen und mit einem Ge
fühl des Erstickens verbunden waren. Auf der obersten Schicht
durchlebte er noch einmal eine beängstigende Situation aus seiner
Kindheit, bei der er fast ums Leben gekommen wäre: Als er etwa
sieben Jahre alt war, grub er zusammen mit seinen Freunden am
Strand einen Tunnel. Sowie der Tunnel fertig war, kroch Norbert
hinein, um ihn zu erforschen. Während die anderen Kinder um
ihn herumsprangen, brach der Tunnel zusammen und begrub Nor
bert bei lebendigem Leibe. Er wäre fast erstickt, wären auf die ver
zweifelten Rufe der Kinder nicht die Erwachsenen herbeigeeilt, um
ihn in letzter Minute zu retten.
Als die Atemarbeit tiefer ging, erlebte Norbert noch einmal
eine weitere heftige und beängstigende Szene, die diesmal zurück
führte zu seiner biologischen Geburt. Seine Entbindung war sehr
schwierig verlaufen, weil seine Schulter längere Zeit hinter dem
Der Schmerz, der drei Jahrhunderte überlebte 341
Schambein seiner Mutter steckenblieb. Wie in der Szene zuvor er
lebte er auch diesmal sowohl Erstickungsgefühle als auch heftige
Schmerzen in der Schulter.
Im letzten Teil der Sitzung veränderte sich Norberts Erleben dra
matisch. Er sah militärische Uniformen und Pferde vor sich und
begriff, dass er sich mitten in einer gewaltigen Schlacht befand. Er
konnte sie sogar als eine der Schlachten in Cromwells England
festmachen. Dabei verspürte er plötzlich einen scharfen Schmerz
und begriff, dass seine Schulter von einer Lanze durchbohrt wor
den war. Er fiel vom Pferd, und während er da am Boden lag, tram
pelten Pferde über ihn hinweg und quetschten seinen Brustkorb
zusammen. Seine gebrochenen Rippen verursachten ihm qualvolle
Schmerzen, und er würgte an dem Blut, das in seine Lungen
drang.
Nach einer Phase extremer Qualen löste sich Norberts Be
wusstsein von seinem sterbenden Körper, schwebte hoch über dem
Schlachtfeld und beobachtete die Szene aus der Vogelperspektive.
Nach dem Tod des schwer verwundeten Soldaten, in dem Norbert
sich selbst in einer früheren Inkarnation wiedererkannte, kehrte
sein Bewusstsein in die Gegenwart zurück und verband sich mit
seinem Körper, der jetzt zum ersten Mal seit vielen Jahren schmerz
frei war. Wie sich heraussteilen sollte, war diese Befreiung von jah
relangen Schmerzen, die seine inneren Erlebnisse bewirkten, von
Dauer. Christina und ich freundeten uns mit Norbert und seiner
Frau an und trafen uns auch nach dem Workshop weiter mit ihnen.
Zwanzig Jahre sind jetzt seit dieser denkwürdigen Sitzung ver
gangen, ohne dass Norberts Symptome zurückgekehrt sind.
342 Teil 6: Unorthodoxe Psychiatrie
Die Schweinegöttin von MalekulaOttos Geschichte
ie Erfahrungen psychiatrischer Patienten, die als psychotisch
etikettiert werden, kreisen oft um Visionen von Gottheiten
und dämonischen Erscheinungen sowie Besuche in mytholo
gischen Sphären, wie beispielsweise himmlischen Reichen, Para
diesen und Höllen. Für Mainstream-Psychiater handelt es sich bei
solchen Erfahrungen um Produkte eines Gehirns, dessen Funktion
gestört ist aufgrund von pathologischen Vorgängen unbekannten
Ursprungs, die man irgendwann einmal genauer erforschen und
vollständig begreifen wird.
Auch wenn akademische Kreise diese Sicht oft als wissen
schaftliche Tatsache präsentieren, die klar auf der Hand liegt und
an der es keinerlei vernünftige Zweifel geben kann, handelt es sich
hier in Wirklichkeit um eine höchst unplausible Behauptung. An
erster Stelle spiegelt sie die grundlegende metaphysische Annahme
des monistischen Materialismus wider, die das wissenschaftliche
Denken in industriellen Zivilisationen beherrscht - dass nämlich
Materie Priorität vor Bewusstsein hat. In Wirklichkeit ist es unvor
stellbar, dass das reiche Panoptikum an ästhetisch exquisiten Bil
dern und faszinierenden philosophischen Gedanken, das für die
Erfahrungen dieser Patienten typisch ist, durch pathologische Pro
zesse hervorgerufen wird.
In meinem Buch Topographie des Unbewussten habe ich aufge
zeigt, dass die Einsichten und Offenbarungen, die diese Erfah
D
Die Schweinegöttin von Malekuta 343
rungen vermitteln, oft verblüffende Ähnlichkeiten mit den großen
spirituellen Traditionen des Ostens und Westens aufweisen, die,
wie schon erwähnt, Aldous Huxley als »ewige Philosophie« be-
zeichnete. Es gibt überzeugendes wissenschaftliches Beweismateri
al, das dem offiziellen Dogma widerspricht, welches diese Er
fahrungen als pathologische Produkte eines kranken Gehirns
betrachtet. C.G. Jung und seine Anhänger haben nachgewiesen,
dass solche Erlebnisse in der Regel ziemlich präzise Elemente aus
den Mythologien der zahlreichen verschiedenen Weltkulturen wie
dergeben, darunter auch solche, die nicht zum Bildungswissen der
betreffenden Individuen gehörten.
Die jungschen Beobachtungen zeigen eindeutig, dass diese Er
fahrungen keine Produkte eines pathologischen Gehirns sind, son
dern dem kollektiven Unbewussten entspringen, an das wir alle
angeschlossen sind. Die psychedelische Forschung und die holo
trope Atemarbeit haben genügend Beweismaterial zusammengetra
gen, das die jungsche Sichtweise stützt. Holotrope Bewusstseinszu
stände können uns, wodurch auch immer sie ausgelöst werden,
tiefe Einsichten in die Weltanschauung der Kulturen vermitteln,
die glauben, dass der Kosmos von mythologischen Wesen bevöl
kert und von zahlreichen glückseligen und zornigen Gottheiten
unterschiedlichster Art regiert wird.
In diesen Zuständen können wir persönlich einen direkten
Zugang zur archetypischen Welt der Götter, Dämonen, legendären
Helden, zu übernatürlichen Wesenheiten und zur inneren Führung
im kollektiven Unbewussten bekommen. Wir können auch phan
tastische Landschaften und jenseitige Reiche aufsuchen, die inte
grale Bestandteile dieser Schichten der menschlichen Psyche sind.
Tiefe persönliche Erfahrungen mit solchen Reichen helfen uns be
greifen, dass die Bilder des Kosmos, die wir in vorindustriellen Ge
sellschaften finden, nicht auf Aberglaube oder primitivem »ma
gischen Denken« beruhen, sondern auf unmittelbaren Erlebnissen
mit anderen Wirklichkeiten. Ein besonders überzeugender Beweis
344 Teil 6: Unorthodoxe Psychiatrie
für die Authentizität dieser Erfahrungen ist die Tatsache, dass sie
uns, wie andere transpersonale Phänomene auch, neue und präzise
Erkenntnisse über eine Vielzahl von verschiedenen archetypischen
Wesen und jenseitigen Reichen verschaffen können. Die Inhalte,
Tiefe und Qualität dieser Informationen über die jeweils auftau
chenden Mythologien gehen oft weit über den Bildungshorizont
der Individuen hinaus, die diese Erfahrungen machen.
Eines der interessantesten Beispiele dieser Art, die ich in meiner
klinischen Praxis erlebte, betrifft Otto, einen meiner Prager Kli
enten, den ich wegen Depressionen und pathologischer Angst vor
dem Tod (Thanatophobie) behandelte. In einer seiner psychede
lischen Sitzungen erlebte Otto eine eindringliche Sequenz von psy-
chospirituellem Tod und Wiedergeburt. Auf dem Höhepunkt sei
ner Erfahrungen sah er einen ominösen Eingang in die Unterwelt
vor sich, bewacht von einer furchterregenden Schweinegöttin. An
diesem Punkt verspürte Otto plötzlich den starken Impuls, ein be
stimmtes geometrisches Muster zu zeichnen.
Obwohl ich meine Klienten generell anweise, in den Sitzungen
zu liegen und die Augen geschlossen zu halten, um sich ganz auf
ihre inneren Erfahrungen konzentrieren zu können, öffnete Otto
die Augen, setzte sich auf und bat mich, ihm einige Blatt Papier
und Zeichenstifte zu bringen. Wie jemand, der unter großem
Druck steht, zeichnete er ungewöhnlich rasch eine ganze Reihe
von komplexen abstrakten Mustern. Dabei sah er äußerst unzufrie
den, ja geradezu verzweifelt aus und zerriss und zerknüllte seine
komplizierten Zeichnungen, sobald sie fertig waren. Er war sehr
enttäuscht von seinen Bildern, und seine Frustration darüber, dass
er sie nicht »richtig hinkriegte«, wuchs. Als ich ihn fragte, was er
da zeichnen wolle, konnte er es mir nicht erklären. Er sagte, er
verspüre den unwiderstehlichen Drang, diese geometrischen Mus
ter zu zeichnen, und war sicher, dass er seine Sitzung nur dann zu
einem gelungenen Abschluss bringen konnte, wenn er sie richtig
aufs Papier bekam.
Die Schweinegöttin von Malekula 345
Dieses Thema war für Otto offensichtlich von größter emotionaler
Bedeutung, und er bemühte sich sehr, zu verstehen, um was es da
ging. Zu jener Zeit stand ich noch stark unter dem Einfluss meiner
freudschen Ausbildung und versuchte mein Bestes, um mit Hilfe
der Methode des freien Assoziierens die unbewussten Motive für
Ottos merkwürdiges Verhalten herauszufinden. Wir widmeten die
sen Versuchen ziemlich viel Zeit, doch ohne großen Erfolg. In
Bezug auf Ottos Kindheit oder sein augenblickliches Leben ergab
diese Sequenz einfach keinen Sinn. Dann schwenkte sein innerer
Prozess allmählich in andere Richtungen um, und ich machte mir
über diese Erfahrungen keine großen Gedanken mehr. Sie blieben
mir ein völliges Rätsel - bis ich viele Jahre später in die Vereinigten
Staaten übersiedelte.
Kurz nach meinem Eintreffen in Baltimore lud mich die »Society
for Art, Religion and Science« (Gesellschaft für Kunst, Religion und
Wissenschaft, Anm.d.Ü.) ein, in New York City einen Vortrag zum
Thema »Das Groteske in der Kunst« zu halten. Bei meinen Darle
gungen erforschte ich das Problem des Grotesken und berief mich
dabei auf meine Beobachtungen aus der psychedelischen For
schung. Begleitend dazu zeigte ich auch Dias von Bildern meiner
Klientinnen und Klienten. Unter den Konferenzteilnehmern be
fand sich Joseph Campbell, den viele für den größten Mythologen
des 20. Jahrhunderts, wenn nicht gar überhaupt halten. Er war fas
ziniert von meinen Beschreibungen der Geburtserlebnisse von Pa
tienten und von den Bildern, die sie gemalt hatten. Auf seine Bitte
hin schickte ich ihm ein Manuskript, in dem ich die Ergebnisse
meiner Prager Forschungen zusammengefasst hatte. Es war ziem
lich umfangreich, trug den Titel Agony and Ecstasy in Psychiatric
Treatment (Schmerz und Ekstase in der psychiatrischen Behand
lung, Anm.d.Ü.) und wurde nie veröffentlicht, bildete aber die
Grundlage für fünf spätere Bücher, in denen ich unterschiedliche
Aspekte meiner Arbeit erläuterte.
346 Teil 6: Unorthodoxe Psychiatrie
Nach den ersten Treffen wurden wir gute Freunde, und Joseph
spielte fortan eine sehr wichtige Rolle in meinem persönlichen und
beruflichen Leben (wie es weiter vorn in diesem Buch schon an
klang). Christina hatte sich unabhängig von mir mit ihm ange
freundet, als sie am Sarah-Lawrence-College in Bronxville, New
York, bei ihm studierte. Joseph hatte einen bemerkenswerten Intel
lekt und besaß ein geradezu enzyklopädisches Wissen über die
Weltmythologien. Er liebte das Material über psychedelische For
schungen, vor allem mein Modell der perinatalen Grundmatrizen
(BPM), das ihm half, die universelle Natur und Allgegenwart des
Motivs von Tod und Wiedergeburt in der Mythologie zu verstehen
(siehe auch Seite 382). Als ich nach Kalifornien zog, traf ich Joseph
regelmäßig, denn er war häufig zu Besuch in Esalen, nahm als
Gastdozent an den einmonatigen Seminaren teil, die Christina und
ich organisierten, und hielt dort auch eigene Workshops.
Bereits nach drei, vier Tagen hatte Joseph von der Verpflegung
in Esalen, die er als »Kaninchenfutter« bezeichnete, meist genug
und bekam Lust auf ein gutes Steak und Glenlivet-Whiskey, den er
liebte. Christina und ich luden ihn regelmäßig zu einem selbst ge
kochten Abendessen ein, das seinen kulinarischen Vorlieben ent
sprach. Im Laufe der Jahre führten wir viele faszinierende Ge
spräche, bei denen ich ihm von meinen Beobachtungen der
verschiedenen archetypischen Erlebnisse von Teilnehmern an un
seren Workshops für Holotropes Atmen erzählte. Meistens fiel es
Joseph nicht schwer, die hier auftauchenden mythologischen The
men und Symbolismen, die ich weder erkannt noch verstanden
hatte, zu bestimmen und zu erläutern.
Bei einem dieser Gespräche fiel mir die oben beschriebene
Episode aus Ottos Sitzung ein, und ich erzählte sie Joseph. »Wie
faszinierend«, sagte er und fuhr ohne zu zögern fort: »Das war ein
deutig die kosmische Mutter der Nacht des Todes, die verschlin
gende Muttergöttin der Malekulaner aus Neu Guinea.« Diese Gott
heit, so fuhr er fort mir zu erläutern, erscheine in Form einer
Die Schweinegöttin von Malekuia 347
furchteinflößenden weiblichen Gestalt, die eindeutig die Züge
eines Schweins trug. Laut Tradition der Malekulaner saß sie am
Eingang zur Unterwelt und bewachte ein verschlungenes labyrin-
thisches Muster, das als heilig galt. Die Malekulaner glaubten, dass
sie dieser Gottheit bei ihrer Totenreise begegnen würden.
Dieser Stamm pflegte ein ganzes System von raffinierten Ritu
alen, bei denen es um das Züchten und Opfern von Schweinen
ging. Die komplexen rituellen Abläufe sollten den Malekulanern
helfen, die Abhängigkeit von ihren menschlichen Müttern und
schließlich auch von der verschlingenden Muttergöttin zu über
winden. Daher widmeten sie den Zeichenübungen mit diesen La
byrinthen enorm viel Zeit in ihrem Leben, denn die Meisterschaft
in dieser Kunst galt als wesentlicher Schlüssel für die Reise ins Jen
seits. War die Seele eines Verstorbenen nicht imstande, das Muster,
das die Schweinegöttin von ihm verlangte, perfekt zu zeichnen,
verwehrte sie ihm den Eintritt ins Jenseits. So konnte Joseph mit
seinem erstaunlichen lexikalischen Wissen über Mythologie dieses
schwierige Rätsel lösen, auf das ich bei meinen Forschungen in
Prag gestoßen war.
Blieb die Frage offen, die selbst Joseph nicht beantworten
konnte: warum dieses spezielle mythologische Motiv offenbar in
engem Zusammenhang mit Ottos schwierigen emotionalen Symp
tomen stand, und warum die Begegnung mit der Schweinegöttin
von Malekuia Teil seiner Therapie war. Generell gesehen machte es
natürlich Sinn, dass jemand, dessen Hauptsymptom die patholo
gische Angst vor dem Tod war, eine Aufgabe lösen musste, von
deren Bewältigung die posthume Reise seiner Seele abhing.
348 Teil 6: Unorthodoxe Psychiatri<
Interview mit dem TeufelFloras Geschichte
ch habe bereits erwähnt, dass Erfahrungen mit holotropen Be
wusstseinszuständen in Form von archetypischen göttlichen
Wesen, himmlischen Reichen und paradiesischen Visionen uns Zu
gang zu normalerweise verborgenen, numinosen Dimensionen der
Wirklichkeit verschaffen können. Häufig jedoch enthüllen sie auch
die Schattenseite des Universums, die sich in Gestalt von dunklen
Energien, enorm machtvollen, bösen Wesen, furchterregenden Un
terwelten und Höllenreichen manifestiert.
Menschen, die Psychedelika genommen haben, Holotropes
Atmen machen oder eine spirituelle Krise erleben, begegnen bei
den dadurch ausgelösten inneren Erlebnissen sehr häufig zornigen
Gottheiten und dämonischen Kräften. Eine sorgfältige Untersu
chung zeigt, dass die Erscheinungen des Bösen, die sich in diesen
Zuständen manifestieren, in engem Zusammenhang mit extrem
schwierigen und schmerzlichen traumatischen Erfahrungen im au
genblicklichen oder früheren Leben des betroffenen Individuums
stehen - sei es Sauerstoffmangel bei der Geburt oder pränataler
Stress, Nahtoderfahrung durch Ertrinken, lebensbedrohliche Er
eignisse oder körperlicher und sexueller Missbrauch. Auf der kol
lektiven Ebene sind bösartige archetypische Wesen und Motive
offensichtlich die treibenden Kräfte hinter Kriegen, blutigen Revo
lutionen, Völkermord und anderen menschlichen Tragödien und
Gräueltaten.
I
Interview mit dem Teufel 349
Das Ausmaß an Schmerz, das sich menschliche Wesen gegenseitig
zufügen und im Verlauf ihrer Geschichte erleben, ist wirklich über
wältigend. Doch die Schattenseite der Existenz erstreckt sich nicht
nur auf die menschliche Gesellschaft. Sie ist untrennbar verknüpft
mit dem gesamten Gewebe des Lebens. Antonie van Leeuwenhoek,
ein holländischer Mikrobiologe und Erfinder des Mikroskops,
fasste diese Tatsache mit einem Satz zusammen: »Das Leben lebt
vom Leben - es ist grausam, aber das ist Gottes Wille.« Lebende
Organismen können nur auf Kosten anderer lebender Organismen
überleben. Der englische Dichter Alfred Lord Tennyson nannte die
Natur »rot in Zahn und Kralle«. Es gehört zu den schwierigsten
Herausforderungen der spirituellen Reise, die Existenz bewusst in
ihrer Gesamtheit zu begrüßen und ihre dunkle Seite in ihrer ganzen
Tiefe anzunehmen.
Häufig gehen innere Begegnungen mit dem Bösen einher mit
äußeren, für den Beobachter wahrnehmbaren Anzeichen. Dazu ge
hören merkwürdige Grimassen, bösartige Blicke, spastische Krämp
fe in verschiedenen Körperteilen, eine veränderte Stimme, plötz
liches heftiges Erbrechen und vieles mehr. Im therapeutischen
Kontext können diese Geschehnisse eine erstaunlich heilsame und
transformative Wirkung haben. Ich bin im Laufe meines Berufsle
bens dämonischen Phänomenen in vielen verschiedenen Formen
und Abstufungen begegnet, doch waren sie nie so dramatisch und
extrem wie bei der Begleitung von Flora, einer Patientin, die ich
am Maryland-Psychiatric-Research-Center in Baltimore gegen Ende
der 1960er-Jahre behandelte.
Zum besseren Verständnis dieser Ereignisse muss ich zunächst
kurz den Kontext schildern, in dem sie stattfanden. Unser For
schungszentrum war ein brandneues, vierstöckiges Gebäude, das
mit seinen nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen einge
richteten Labors und Behandlungsräumen auf dem Grundstück
des Spring-Grove-State-Hospital stand. Es hatte jedoch keine Kli
nikbetten. Die Patientinnen und Patienten, die an unserem For
350 Teil 6: Unorthodoxe Psychiatrie
schungsprojekt teilnahmen, waren auf den Stationen der staatli
chen Klinik untergebracht. Die Beziehung zwischen den
Belegschaften der beiden Institutionen war etwas distanziert und
angespannt, denn das Klinikpersonal sah in uns so etwas wie Ver
wandte, die mehr Glück im Leben haben. Deswegen kam es für
uns überraschend, als eines Tages Dr. Charles Savage, Leiter der
klinischen Dienste, und ich zu einem Teamtreffen des Spring-Gro-
ve-State-Hospital eingeladen wurden.
Während dieses Treffens verstanden wir nach und nach, wie
unsere Einladung zustande gekommen war. Ein Psychiater von
Spring-Grove stellte den Fall von Flora vor, einer 28-jährigen al
leinstehenden Patientin, die seit über zehn Monaten auf der ge
schlossenen Station untergebracht war. Man hatte hier mit ihr
sämtliche verfügbare Therapien ausprobiert, darunter auch Beruhi
gungsmittel, Antidepressiva, Psychotherapie und Beschäftigungs
therapie, doch ohne Erfolg. Nun drohte Flora eine Überweisung
auf die Station für chronische Fälle, wo sie ihr restliches Leben mit
chronischen Psychotikern und geriatrischen Patienten würde ver
bringen müssen.
Flora wies die komplizierteste und schwierigste Kombination
von Symptomen und Beschwerden auf, die mir in meiner psychia
trischen Praxis jemals begegnet sind. Mit sechzehn Jahren betei
ligte sie sich als Mitglied einer Bande an einem bewaffneten Raub
überfall, bei dem ein Nachtwächter getötet wurde. Als Fahrerin des
Fluchtautos saß Flora vier Jahre im staatlichen Gefängnis und wur
de dann für die restliche Zeit ihrer Verurteilung auf Bewährung
entlassen. In den folgenden stürmischen Jahren wurde sie zur
Alkoholikerin und mehrfachen Drogenabhängigen. Sie war süchtig
nach Heroin und nahm Aufputsch- und Beruhigungsmittel in ho
hen Dosierungen. Ihre schweren Depressionen waren von heftigen
Selbstmordtendenzen begleitet. Häufig verspürte sie den Impuls,
mit dem Wagen über Klippen zu fahren oder frontal mit anderen
Autos zusammenzustoßen.
Interview mit dem Teufel 351
Sie litt auch an hysterischem Erbrechen, das oft auftrat, wenn sie
emotional erregt war. Das qualvollste Symptom war für sie jedoch
ein schmerzhafter Gesichtskrampf, tic douloureux genannt. Ein
Neurochirurg von der Johns-Hopkins-Universität hatte zur Beseiti
gung dieses Symptoms eine Gehirnoperation vorgeschlagen, bei
der man mit einem intrakraniellen Eingriff (in den Schädel, Anm.
d.Ü.) ihren Trigeminus-Nerv durchtrennen würde. Flora war les
bisch und hatte in ihrem ganzen Leben noch nie mit einem Mann
geschlafen. Wegen ihrer sexuellen Neigungen hatte sie mit schweren
inneren Konflikten und Schuldgefühlen zu kämpfen und gelegent
lich Selbstmord erwogen, um »dem allem ein Ende zu bereiten«.
Noch komplizierter wurde die Situation dadurch, dass sie gericht
lich in die Klinik eingewiesen worden war, denn sie hatte, als sie
ein Gewehr säubern wollte und dabei unter Einfluss von Heroin
stand, eine Freundin und Mitbewohnerin schwer verletzt.
Am Ende der Fallbesprechung in Spring Grove fragte Floras
Psychiater Dr. Savage und mich, ob wir seine Patientin in unser
Programm für LSD-Psychotherapie aufnehmen würden. Wir fan
den das eine extrem schwierige Entscheidung, nicht nur aufgrund
der Heftigkeit und Komplexität der vorliegenden psychiatrischen
Probleme, sondern auch wegen der Hysterie in Bezug auf LSD, die
zu der Zeit gerade im Land tobte. Außerdem war die Anzahl der
LSD-Sitzungen, die wir unseren Patienten geben konnten, durch
den Vertrag, den uns das National-Institute-of-Mental-Health
(NIMH) diktiert hatte, auf drei begrenzt. Und das war natürlich ein
großer Nachteil, vor allem bei einem so schwierigen Fall.
Wie erwähnt besaß Flora bereits eine kriminelle Vergangenheit.
Sie hatte Zugang zu Waffen, gewalttätige Phantasien und Impulse
sowie starke Selbstmordtendenzen. Vor dem Hintergrund der au
genblicklich vorherrschenden Negativhaltung zu Psychedelika
würde man für alle Folgewirkungen der LSD-Sitzungen, die wir
Flora gaben, die Droge oder unsere Behandlung verantwortlich
machen, ohne die bisherige Krankengeschichte unserer Patientin
352 Teil 6: Unorthodoxe Psychiatrie
zu berücksichtigen. Das wussten wir. Andererseits hatte man alle
konventionellen Möglichkeiten ausgeschöpft, und Flora drohte ein
lebenslanger Aufenthalt auf der Station für chronisch/psychisch
Kranke. Nach reiflicher Überlegung beschlossen wir, den Versuch
zu wagen und sie in das LSD-Programm aufzunehmen, denn wir
hatten das Gefühl, dass ihre verzweifelte Situation das Risiko recht
fertigte, das wir damit auf uns nahmen.
Floras erste beiden LSD-Sitzungen mit hoher Dosierung unter
schieden sich nicht groß von vielen anderen, die ich bislang beglei
tet hatte. Sie musste sich einigen Situationen aus ihrer stürmischen
Kindheit stellen, in denen es um Alkoholismus, Gewalt und Inzest
in ihrer Ursprungsfamilie ging. Ihre Geburt war sehr schwierig ver
laufen, und Flora durchlebte wiederholt Sequenzen ihres Kampfes
im Geburtskanal. Sie konnte ihre heftigen Selbstmordtendenzen
und die schmerzhaften Gesichtskrämpfe nun in Zusammenhang
mit bestimmten Aspekten ihres Geburtstraumas bringen und viele
intensive Emotionen und körperliche Verspannungen loslassen.
Doch insgesamt schien der therapeutische Gewinn all dieser An
strengungen minimal.
Auch bei ihrer dritten LSD-Sitzung passierte in den ersten bei
den Stunden nichts Besonderes. Sie machte ähnliche Erfahrungen
wie in den beiden vorangegangenen Sitzungen. Aber dann nahm
die Sitzung plötzlich eine überraschende Wende. Flora begann zu
weinen und klagte, die schmerzhaften Krämpfe in ihrem Gesicht
würden unerträglich. Vor meinen Augen verstärkten sich diese Be
schwerden und ließen ihr Gesicht zu einem grotesken Ausdruck
erstarren, der am besten als »Maske des Bösen« zu beschreiben ist.
Sie sprach nun mit einer tiefen männlichen Stimme und war insge
samt so anders, dass ich an ihr kaum noch Ähnlichkeiten mit ih
rem früheren Aussehen entdecken konnte. Ihr Blick war von einer
unbeschreiblichen Bösartigkeit, der mich an die letzte Szene aus
dem Film Rosemarys Baby erinnerte, welche eine Nahaufnahme des
Interview mit dem Teufel 353
Säuglings zeigt, der vom Teufel empfangen wurde. Floras spastisch
verkrampften Hände, die jetzt wie Klauen aussahen, vervollstän
digten dieses Bild. Dann nahmen die Kräfte, die ihren Körper und
ihre Stimme in ihrer Gewalt hatten, eine Gestalt an und stellten
sich als Teufel vor.
»Er« wandte sich direkt an mich und befahl mir, mich von
Flora fernzuhalten und jeden Versuch, ihr zu helfen, aufzugeben.
Er behauptete, sie gehöre ihm, und drohte jedem mit Strafe, der es
wagen sollte, in sein Gebiet einzudringen. Es folgte ein ganzer
Schwall von weiteren erpresserischen Drohungen, bei denen er mir
ausmalte, was mir, meinen Kolleginnen und Kollegen und unserem
Projekt bevorstand, wenn ich ihm nicht gehorchte. Es fällt mir
schwer, die unheimliche Atmosphäre zu beschreiben, die bei die
ser Szene im Raum entstand. Die Anwesenheit des Bösen war ganz
greifbar zu spüren.
Die erpresserischen Drohungen bekamen noch mehr Gewicht
durch die Tatsache, dass sie konkrete Informationen enthielten, zu
denen die Patientin in ihrem Alltag unmöglich Zugang haben
konnte. Einige dieser Informationen betrafen mich persönlich,
viele jedoch auch meine Kolleginnen und Kollegen in Spring Grove.
Als ich ihnen später erzählte, was in dieser Sitzung über sie durch
gesickert war, staunten sie, denn weder die Patientin noch ich hät
ten von diesen ganz speziellen Details ihres Privatlebens auf üb
lichem Wege erfahren können.
Auch wenn ich bereits in früheren LSD-Sitzungen hin und
wieder Manifestationen des Dämonischen erlebt hatte, so doch nie
dermaßen extrem, realistisch und überzeugend. Ich geriet emotio
nal ziemlich unter Druck und verspürte eine geradezu metaphy
sische Furcht. Auf der einen Seite hatte ich mit diesen Ängsten zu
kämpfen und auf der anderen den Impuls, mich mit dieser Er
scheinung des Bösen auf einen aktiven psychischen Kampf einzu
lassen. Ich überlegte fieberhaft, wie ich vorgehen sollte. Auch er
wischte ich mich dabei, ernsthaft Überlegungen anzustellen wie
354 Teil 6: Unorthodoxe Psychiatrie
die, dass zu unserer therapeutischen Einrichtung unbedingt ein
Kreuz gehören müsse. Mein Verstand sagte mir, dass wir in Situati
onen wie diesen Zeugen der Manifestation eines jungschen Arche
typus wurden, und das Kreuz hier eine angemessene archetypische
Abwehr gewesen wäre.
Mir wurde bald klar, dass meine Emotionen, sei es Angst oder
Aggression, mich lediglich in dem Glauben bestärkten, hier ein
mächtiges metaphysisches Wesen vor mir zu haben. Unwillkürlich
fiel mir dabei eine Szene aus dem Film Star Trek ein, in der es um
einen außerirdischen Eindringling im Raumschiff Enterprise ging,
der sich an den Emotionen der Besatzung labte. Daraufhin verord-
nete Dr. McCoy der gesamten Belegschaft Tranquilizer. Wesentlich
war also, so wurde mir dadurch klar, ruhig und zentriert zu blei
ben, was auch immer mir vor Augen kam.
Ich beschloss, eine meditative Haltung einzunehmen und zu
Visualisieren, dass uns beide, Flora und mich, eine schützende
Hülle aus weißem Licht umgab. Mir fiel ein, dass es in der spiritu
ellen Literatur über Erscheinungen des Bösen immer hieß, dass sie
Licht verabscheuen. Während ich auf das Licht meditierte, hielt
ich Floras verkrampfte Hand, konzentrierte mich auf ihr entstelltes
Gesicht und versuchte es mir so vorzustellen, wie ich es sonst
kannte. Diese Situation dauerte länger als zwei Zeitstunden. Nach
meinem subjektiven Zeitgefühl waren das die längsten zwei Stun
den, die ich - außer in eigenen psychedelischen Sitzungen - je
mals erlebte.
Nach diesen zwei Stunden entspannte sich Floras Hand, und
ihr Gesicht nahm wieder seinen üblichen Ausdruck an. Der Wech
sel geschah ebenso abrupt, wie dieser merkwürdige Zustand einge
setzt hatte. Wie ich schon bald erfuhr, konnte Flora sich überhaupt
nicht erinnern, was in diesen zwei Stunden geschehen war. In ih
rem späteren schriftlichen Bericht führte sie zunächst die ersten
Stunden der Sitzung auf, um dann fortzufahren mit den Ereignis
sen nach ihrer »Besessenheit«. Ich fragte mich ernsthaft, ob ich mit
Interview mit dem Teufel 355
ihr besprechen sollte, was ich in ihrer Amnesie beobachtet hatte,
und entschied mich schließlich dagegen. Flora strahlte und fühlte
sich wunderbar. Nichts schien dafür zu sprechen, ihr dieses ma
kabre Thema bewusst zu machen.
Zu meiner großen Überraschung war diese Sitzung ein erstaun
licher therapeutischer Durchbruch. Floras Selbstmordtendenzen
verschwanden, und sie lernte ihr Leben neu zu schätzen. Sie gab
den Konsum von Alkohol, Heroin und Beruhigungsmitteln auf
und schloss sich begeistert einer kleinen religiösen Gruppe in Ca-
tonsville än. Die Gesichtskrämpfe traten nur noch äußerst selten
auf. Die hier verkörperten Kräfte schienen sich in der »Maske des
Bösen«, die Flora in der Sitzung zwei Stunden beibehalten hatte,
erschöpft zu haben. Also konnte der neurochirurgische Eingriff,
den der Arzt von der Johns-Hopkins-Universität vorgeschlagen
hatte, abgesagt werden. Die gelegentlich wiederkehrenden Schmer
zen waren so geringfügig, dass Flora noch nicht einmal Medika
mente einnehmen musste.
Flora begann auch, mit heterosexuellen Beziehungen zu expe
rimentieren und heiratete schließlich. Diese sexuelle Neuorientie
rung war jedoch oberflächlich und nicht von Dauer. Flora konnte
zwar mit ihrem Mann schlafen, empfand den Koitus aber als
schmerzhaft und unangenehm. Die Ehe endete nach drei Monaten,
und Flora nahm ihre lesbischen Beziehungen wieder auf, diesmal
jedoch mit erheblich weniger Schuldgefühlen. Ihr Zustand besserte
sich so weit, dass sie aus der Klinik entlassen werden konnte und
in Baltimore einen Job als Taxifahrerin annahm. Auch wenn es in
den folgenden Jahren in ihrem Leben ziemlich auf und ab ging,
musste sie nicht wieder in die Klinik zurück oder in die psychia
trische Einrichtung überwiesen werden, die fast ihr ständiges Zu
hause geworden wäre.
In meiner über 50-jährigen Praxis als Psychiater habe ich kei
ne weitere dermaßen dramatische und anhaltende Besserung erlebt
356 Teil 6: Unorthodoxe Psychiatrie
wie in Floras Fall. Die Tatsache, dass nach vielen Jahren des Studi
ums und der Praxis von Medizin und Psychiatrie die dramatischste
therapeutische Heilung, die mir je im Leben begegnete, nicht durch
offiziell anerkannte, psychiatrische Behandlungsmethoden erfolgte,
ist für mich nicht ohne Ironie und einen gewissen kosmischen
Humor. Diese Besserung beruhte auf einer Behandlung, die eher
einer mittelalterlichen Teufelsaustreibung oder den Praktiken eines
Medizinmanns glich als einer der respektablen und rationalen the
rapeutischen Methoden, die auf den Entdeckungen der modernen
Wissenschaft beruhen.
Den Archetyp der Daphne verkörpern 357
Den Archetyp der Daphne verkörpernMarthas Geschichte
u dem reichen Spektrum an transpersonalen Phänomenen ge
hört auch die Identifizierung mit anderen Lebensformen, unter
anderem mit Pflanzen und ihren botanischen Prozessen. Gelegent
lich wird deutlich, dass diese Erfahrungen manchmal in einem tie
fen Zusammenhang stehen mit den verschiedensten emotionalen
und psychosomatischen Problemen. In diesen Fällen erfordert die
Heilung, dass diese unbewussten Erfahrungen den Betroffenen voll
bewusst werden. Das zeigt sich in der Fallgeschichte von Martha,
einer 32-jährigen Klientin von mir, die nach monatelanger, ergeb
nisloser Behandlung mit verschiedenen Psychopharmaka und an
deren konventionellen Methoden in das experimentelle Programm
der LSD-Psychotherapie aufgenommen wurde.
Marthas psychiatrische Diagnose enthielt Begriffe wie »bizarre
hypochondrische Beschwerden« und »Borderline-Psychose mit
vagen Verzerrungen der Körperwahrnehmung«. Die verblüf
fendsten Symptome bestanden in merkwürdigen Empfindungen in
den Beinen und im übrigen Körper, die Martha nur schwer be
schreiben konnte. Sie fasste das in die Worte: »Mein Körper fühlt
sich irgendwie schrecklich verkehrt an.« Diese Beschwerden be
gannen nach Vorfällen, die Martha selbst als »wiederholte sexuelle
Belästigung« durch einen ihrer Mitarbeiter bezeichnete, der ein gut
aussehender junger Mann war. Martha war selbst sehr attraktiv
und hatte viele Verehrer, empfand aber starke Widerstände gegen
Z
358 Teil 6: Unorthodoxe Psychiatrie
eine verbindliche Beziehung oder Ehe. Sie führte ihre sexuellen
Schwierigkeiten auf ihre Kindheit zurück, die geprägt war vom
wiederholten Missbrauch durch einen älteren Cousin.
Marthas erste LSD-Sitzungen verliefen relativ normal. Sie kreisten
um ihre traumatischen Kindheitserlebnisse und verschiedene As
pekte ihrer Geburt. In einer ihrer späteren Sitzungen veränderten
sich ihre inneren Erlebnisse plötzlich dramatisch. Die merkwür
digen Empfindungen in ihren Beinen verstärkten sich und wurden
schließlich so heftig, dass Martha sie unerträglich fand. Sie wollte
ihre Sitzung daraufhin abbrechen und bat mich, ihr ein Beruhi
gungsmittel zu injizieren, was wir in der psychedelischen Therapie
um jeden Preis zu vermeiden suchen. Durch die Verabreichung
solcher Medikamente mitten in einem »schlechten Trip« - unter
Mainstream-Fachleuten leider ein verbreitetes Vorgehen - stagniert
das Erleben meist in einer schwierigen Phase. Das verhindert eine
positive Lösung der zugrunde liegenden Probleme und damit auch
einen erfolgreichen Abschluss der Sitzung.
Im Gespräch mit Martha konnte ich herausfinden, warum sie
mit der Sitzung nicht fortfahren wollte. »Es ist absolut verrückt«,
sagte sie. »Aber ich glaube, wenn ich weitermache, verwandle ich
mich in einen Baum.« Ich versicherte ihr, dass sie sich nicht in ei
nen Baum verwandeln würde, wie glaubhaft und überzeugend die
se Sorge auch sein möge. Das Schlimmste, was ihr passieren kön
ne, sei, dass sie sich selbst als Baum erlebe. Ich erzählte ihr, dass
dieses höchst eindringliche Gefühl der Identifizierung mit ver
schiedenen Aspekten der Natur in psychedelischen Sitzungen sehr
häufig auftrete und keine Gefahr darstelle. Schließlich beruhigte
sich Martha und war einverstanden, mit ihrer LSD-Sitzung fortzu
fahren.
Als sie die Augen schloss und ihre Aufmerksamkeit nach in
nen richtete, verstärkten sich die merkwürdigen Empfindungen in
ihrem Körper und ihren Beinen wieder, doch diesmal waren sie für
Den Archetyp der Daphne verkörpern 359
Martha erträglich. Als sie diese Gefühle zuließ, erkannte sie, dass
das, was sie bislang als seltsame Empfindungen und verzerrte
Wahrnehmung ihres menschlichen Körpers betrachtet hatte, das
völlig normale und sehr authentische Erleben eines Baumes war.
Sie stand auf, streckte ihre Arme zum Kimmei und behielt diese
Haltung lange bei. Ihr Gesicht zeigte einen ekstatischen Ausdruck,
und es war ganz offensichtlich, dass sie die Sitzung jetzt tatsächlich
genoss.
Martha hatte das Gefühl, dass ihre Finger wuchsen und sich
zum Geäst mit reichem Blattwerk verzweigten. Sie hatte eine starke
Vision von der Sonne, empfing deren Licht und erlebte in ihren
Zellen den mysteriösen Prozess der Photosynthese - Grundlage
und Geheimnis des Lebens auf unserem Planeten. Ihr Körper wur
de zum Stamm des Baumes. Sie spürte die Zellaktivität im Kambi
um (teilungsfähig bleibendes Pflanzengewebe, Anm.d.Ü.) und
spürte, wie die Säfte durch das System der Venen im Splintholz
strömten. Ihre Füße und Zehen wuchsen und verzweigten sich
zum Wurzelgeflecht, das tief in die Erde reichte. Jetzt spürte Martha
den Austausch von Wasser und Mineralien in den winzigen Feder
wurzeln und Wurzelhaaren des Baumes. Sie staunte, wie präzise
der Einblick in die Anatomie und Physiologie des Baumes war, den
ihr diese Erfahrung vermittelte.
Ihre Einsichten beschränkten sich jedoch nicht auf die bota
nischen Aspekte dieses Lebens als Baum, sondern hatten auch eine
zutiefst göttliche Qualität und eindeutig mythologische und spiri
tuelle Dimensionen. Was Martha zunächst als astronomische Son
ne wahrnahm, die als Quelle von physischer Energie alles Leben
auf unserem Planeten versorgt, wurde schließlich auch zur kos
mischen Sonne, der Quelle der Kräfte von Kreativität und Logos
im Universum. Und der Boden, in dem der Baum wuchs, wurde zu
Gaia, der phantastischen, mythologischen Gestalt von Mutter Erde.
Der Baum selbst bekam eine mythologische Bedeutung und war
jetzt der Baum des Lebens. So entwickelte sich Marthas Erfahrung,
j6o Teil 6: Unorthodoxe Psychiatrie
die schwierig und beängstigend begonnen hatte, zu einem eksta
tischen und mystischen Erlebnis.
Im weiteren Verlauf der Sitzung machte Martha eine Erfahrung,
die ihr die tiefere, archetypische Bedeutung ihrer Symptome ent
hüllte: Sie identifizierte sich mit Daphne, einer jungen schönen
Nymphe, Tochter des Flussgottes Peneus. Nach der griechischen
Mythologie weihte Daphne ihr Leben der Göttin Artemis und wei
gerte sich wie diese, zu heiraten. Viele Bewunderer bedrängten sie,
sie aber wies alle ab, auch den Gott Apollo. Als dieser sie verfolgte,
betete Daphne zur Erde und zu ihrem Vater um Rettung und ver
wandelte sich daraufhin in einen Lorbeerbaum.
Vor dem Hintergrund von Marthas Widerständen gegen eine
Heirat und der Tatsache, dass ihre Symptome nach den unge
wollten Annäherungsversuchen ihres höchst attraktiven Mitarbei
ters begonnen hatten, machte das viel Sinn. Nach dieser Sitzung
verschwand Marthas verzerrtes Körperbild, und sie öffnete sich für
den Gedanken, zu heiraten und eine Familie zu gründen.
Heilung von Depressionen durch ein sephardisches Gebet 361
Heilungvon Depressionen durch ein sephardisches Gebet
Gladys’ Geschichte
uch wenn die begeisterte Lektüre von Sigmund Freuds Vorle
sungen zur Einführung in die Psychoanalyse mich inspiriert hat,
Psychiatrie zu studieren, bekam diese aufgeregte Freude über
Freuds Theorien und seine therapeutische Methode durch meine
späteren klinischen Erfahrungen einen erheblichen Dämpfer. Ob
wohl ich Freud immer noch als großartigen Pionier auf dem Gebiet
der Tiefenpsychologie bewundere, glaube ich heute, dass die meis
ten seiner theoretischen Gedanken dem Test der Zeit nicht stand
gehalten haben und grundlegend revidiert werden müssen. Gegen
sein therapeutisches Vorgehen hege ich inzwischen sogar noch
stärkere Vorbehalte.
Ich habe in meiner psychiatrischen Praxis mit vielen Patien
tinnen und Patienten gearbeitet, die nach jahrelanger Psychoanaly
se ganze Vorträge darüber halten konnten, wie ihre emotionalen
und psychosomatischen Symptome mit postnatalen Themen wie
oralem Kannibalismus, Reinlichkeitserziehung, Urszenen und Ödi-
pus- oder Elektrakomplex Zusammenhängen. Diese theoretischen
Einsichten führten jedoch nicht zu entsprechend beeindruckenden
klinischen Resultaten. Bei meinen Erfahrungen mit der therapeu
tischen Anwendung holotroper Zustände ist es jedoch genau an
ders herum: Wir beobachten nach tiefen psychedelischen Erlebnis
sen und holotropen Atemsitzungen oft dramatische therapeutische
A
362 Teil 6: Unorthodoxe Psychiatrie
Veränderungen, ohne auch nur die geringste Idee zu haben, wa
rum und wie diese zustande kamen.
Ein eindringliches Beispiel dafür ist die Geschichte von Gladys,
einer jungen Frau, die an einem unserer fünftägigen Workshops in
Esalen teilnahm. Wie sie der Gruppe zu Beginn des Workshops
mitteilte, litt sie seit etwa vier Jahren an Anfällen von schweren
Depressionen, die von heftigen Ängsten begleitet waren. Diese täg
lichen Anfälle begannen immer morgens und dauerten in der Regel
mehrere Stunden. In dieser Zeit war es für sie ein einziger Kampf,
auch nur die grundlegendsten Aufgaben zu bewältigen - Duschen,
Zähneputzen, Anziehen. Aus traditioneller Sicht sind das typische
Symptome für endogene (wörtlich: »innerlich ausgelöste«) Depres
sionen, im Gegensatz zu reaktiven Depressionen (die durch äußere
Lebensumstände hervorgerufen werden).
Bei unserem fünftägigen Workshop für Holotropes Atmen ma
chen die Teilnehmenden im typischen Fall zwei eigene Sitzungen,
in denen sie selbst atmen, und sie »begleiten« zwei Sitzungen von
anderen Gruppenmitgliedern. In ihrer ersten eigenen Sitzung hatte
Gladys tiefe Erlebnisse, bei denen sie mit traumatischen Situati
onen aus ihrer Kindheit und Kleinkindzeit konfrontiert war. Sie
durchlebte auch noch einmal mehrere Phasen ihrer biologischen
Geburt. Sie hatte zu dieser Sitzung ein gutes Gefühl, obwohl sie
keine deutliche Linderung ihrer Morgendepressionen erbrachte.
Ihre zweite Sitzung am übernächsten Tage reichte noch tiefer
in ihr Unbewusstes und bestand fast ausschließlich darin, dass sie
ihre Geburt noch einmal durchlebte. Diese Vorgänge aktivierten
bei Gladys erstaunliche körperliche Kräfte, was in der Therapie
von Depressionen ein wichtiger Schritt ist, denn typisch für diesen
Zustand sind starke emotionale und physische Energieblockaden.
Doch trotz der intensiven Körperarbeit in der Endphase ihrer Sit
zung gelangte Gladys zu keinem befriedigenden Abschluss. Das ist
für eine Sitzung, in der wir systematisch auf eine Verarbeitung des
Erlebten hinarbeiten, höchst ungewöhnlich.
Heilung von Depressionen durch ein sephardisches Gebet 363
Am nächsten Morgen stellten sich ihre Depressionen wie üblich
ein, waren aber ausgeprägter und nahmen auch eine andere Form
an als bislang. Statt die üblichen Flemmungen, mangelnde Initiati
ve und Apathie zu empfinden, war Gladys erregt. Ursprünglich
hatten wir für die Morgensitzung ein offenes Forum geplant - eine
Gruppendiskussion, bei der die Teilnehmer Fragen zu ihrem Pro
zess, zur Methode des Holotropen Atmens oder zur Theorie stellen
konnten. Als wir sahen, in welchem Zustand Gladys war, beschlos
sen wir jedoch, unser Programm umzustellen, und begannen so
fort, erlebnisorientiert mit ihr zu arbeiten.
Wir baten sie, sich in die Mitte der Gruppe zu legen, tief zu
atmen, sich dem Fluss der Musik hinzugeben, die wir abspielten,
und alles anzunehmen, was dabei für sie hochkam. Fast eine Stun
de zitterte Gladys, würgte und hustete, gab laute Töne von sich
und schien mit unsichtbaren Gegnern zu kämpfen. Später erzählte
sie, dass sie in dieser Phase ihre schwierige Geburt noch einmal
durchlebte, doch ging die Erfahrung diesmal noch tiefer als in ih
ren vorangegangenen Sitzungen. Im weiteren Verlauf wurden ihre
Schreie artikulierter und klangen wie die Worte einer unbekannten
Sprache. Wir ermutigten sie, die Laute einfach kommen zu lassen,
in welcher Form auch immer, ohne sie zu zensieren oder zu beur
teilen, selbst wenn die Worte für sie keinen Sinn ergaben. Ihre Be
wegungen nahmen allmählich eine extrem stilisierte, eindringliche
Form an, und ihre Worte waren jetzt deutlich vernehmbar. Doch
kannten und verstanden wir die Sprache nicht, in der Gladys sich
äußerte. Schließlich setzte Gladys sich auf und sang eine betö
rende, sich wiederholende Melodie, die wie ein Gebet klang. Damit
fuhr sie eine ganze Weile fort.
Gladys’ Gesang hatte auf die Gruppe eine extrem starke Wir
kung. Ohne die Worte zu verstehen oder zu wissen, was Gladys
innerlich erlebte, waren die meisten Teilnehmenden so berührt,
dass sie weinten. Manche begannen zu meditieren und legten die
Hände zusammen wie zum Gebet. Als Gladys ihren Gesang been
364 Teil 6: Unorthodoxe Psychiatrie
dete, war sie völlig ruhig und legte sich wieder auf den Boden.
Über eine Stunde verharrte sie regungslos in einem Zustand von
Seligkeit und Ekstase. Als sie später von ihrer Erfahrung berichtete,
sagte sie, sie habe den unwiderstehlichen Drang verspürt, genau
das zu tun, was sie tat. Sie verstand nicht, was da passierte, und
wusste laut eigener Aussage auch nicht, in welcher Sprache sie ge
sungen hatte.
Carlos jedoch, ein argentinischer Psychoanalytiker aus Buenos
Aires, der an der Gruppe teilnahm, wusste, dass Gladys in per
fektem Sephardisch gesungen hatte - einer Sprache, die er zufällig
kannte. Sie wird auch Ladino oder Judenspanisch genannt und setzt
sich aus mittelalterlichem Spanisch und dem Hebräischen zusam
men. Wie ein merkwürdiger Zufall es wollte, hatte Carlos, der aus
einer jüdischen Familie stammte, als persönliches Hobby jahrelang
Sephardisch studiert. Gladys hingegen war nicht jüdisch und
konnte weder Hebräisch noch Spanisch. Sie hatte noch nie von
Ladino gehört und wusste nicht, was das war und dass eine solche
Sprache überhaupt existierte. Carlos übersetzte uns die Zeilen von
Gladys’ monotonem Gesang, der auf die Gruppe einen so tiefen
Eindruck gemacht hatte. Die wörtliche Übersetzung lautete: »Ich
leide und werde immer leiden. Ich weine und werde immer wei
nen. Ich bete und werde immer beten.« Mit diesem dramatischen
Finale, in dem sie der Gruppe das sephardische Gebet vorsang,
ließ Gladys ihre Depressionen hinter sich und stabilisierte sich psy
chisch so weit, dass sie gut damit leben konnte.
Wir sind Gladys nach diesem Workshop in Esalen noch zweimal
begegnet und wissen von ihr, dass sich ihre Depressionen nicht
wieder eingestellt haben. Sie machte eine der tiefgehendsten Hei
lungserfahrungen, die mir in meiner psychiatrischen Laufbahn je
mals begegnet sind. Und doch sind dieses Erlebnis und seine nach
haltige Wirkung auf Gladys sowohl ihr als auch uns bis zum
heutigen Tag ein Mysterium geblieben.
Fruchtbare psychiatrische Ketzerei 365
Fruchtbare psychiatrische KetzereiMiladas Geschichte
nser'Modell der »spirituellen Krise« habe ich bereits im Vor
wort erläutert. Bei diesem neuen Herangehen an spontan auf
tretende holotrope Bewusstseinszustände ersetzen wir die wahllose
Unterdrückung von Symptomen mit Psychopharmaka durch psy
chologische Unterstützung und ermutigen den Betroffenen, »diese
Prozesse bewusst zu durchleben«. Wir müssen dieses therapeu
tische Vorgehen aber nicht auf Zustände beschränken, bei denen
das Schwergewicht auf der spirituellen Dimension liegt, sondern
konnten es auch bei vielen Individuen anwenden, deren außerge
wöhnliche Erfahrungen keine eindeutig spirituellen Elemente ent
hielten.
Bei der extremen Ketzerei, die ich in meiner beruflichen Lauf
bahn begangen habe, bin ich mit dieser Strategie sogar noch einen
Schritt weiter gegangen. Bei meiner Arbeit am Psychiatrischen For
schungsinstitut in Prag habe ich bei mehreren Patienten mit der
Diagnose Psychose eine Vorgehensweise angewendet, die der kon
ventionellen Therapie, die entsprechende Symptome mit Tranqui
lizern unterdrückt, diametral entgegengesetzt war. Mit diesen Pati
entinnen und Patienten habe ich eine Reihe von LSD-Sitzungen
gemacht, um ihren Prozess zu aktivieren und zu vertiefen und das
in ihm enthaltene Heilungspotenzial für eine positive Lösung ihrer
Konflikte zu nutzen. Ein Beispiel dafür ist die folgende Geschichte,
in der es um Milada geht.
U
366 Teil 6: Unorthodoxe Psychiatrie
Milada, eine 38-jährige Psychologin, hatte, bevor sie mit der LSD-
Behandlung begann, jahrelang an einer komplizierten psychischen
Störung gelitten, die viele besessen-zwanghafte, organisch-neuro-
tische und hysterische Übertragungssymptome aufwies. Sie hatte
beim Nestor der tschechischen Psychoanalyse eine psychoanaly
tische Langzeittherapie angefangen und machte bei ihm dreimal
wöchentlich eine Sitzung von jeweils 45 Minuten. Im fünften Mo
nat ihrer Analyse musste sie in die Klinik eingewiesen werden, weil
sie akute psychotische Symptome entwickelte.
Ein wichtiger Aspekt ihrer klinischen Symptomatologie war
ein erotomanes Wahnsystem. Milada verliebte sich heftig in den
Leiter ihrer Abteilung und fühlte sich sexuell unwiderstehlich zu
ihm hingezogen. Sie war sicher, dass diese Zuneigung nicht einsei
tig war, sondern ihr Chef ihre Leidenschaft erwiderte. Dieses starke
erotische und spirituelle Band zwischen ihnen, so sagte sie, dürfe
nach außen hin nicht sichtbar werden, sondern sie mussten es hin
ter der Fassade ihrer formalen sozialen Kontakte verbergen und
innerlich erleben. Ihr Chef, der verheiratet war und Kinder hatte,
könne seine Gefühle für sie einfach nicht offen ausdrücken, zu
mindest am Anfang nicht.
Ein paar Wochen später begann sie zu halluzinieren und hörte
die Stimme ihres eingebildeten Geliebten. Dabei beschrieb er ihr
bis ins Detail seine leidenschaftlichen Gefühle für sie, versprach ihr
eine wunderbare gemeinsame Zukunft, gab ihr Ratschläge und
machte ihr ganz konkrete Vorschläge. In den Abend- und Nacht
stunden erlebte Milada heftige sexuelle Gefühle, die sie so interpre
tierte, dass ihr heimlicher Geliebter trotz körperlicher Abwesenheit
auf magische Weise mit ihr schlief. Obwohl sie beim Koitus mit
ihrem eigenen Ehemann nie einen Orgasmus bekam, hatte sie
in diesen Situationen orgastische Gefühle von kosmischen Aus
maßen.
Allmählich veränderte sich dann der Inhalt ihres Austauschs.
Ihr Chef vermittelte ihr jetzt, dass ihrer beider Scheidungen in die
Fruchtbare psychiatrische Ketzerei 367
Wege geleitet worden seien und sie demnächst Zusammenleben
könnten. Als Milada anfing, unter dem Einfluss ihrer Wahnvorstel
lungen und Halluzinationen aktiv zu werden, musste sie in die Kli
nik eingewiesen werden. Eines Tages verließ sie morgens ihren
Mann, um mit ihren Kindern und mehreren Koffern in die Woh
nung ihres Vorgesetzten zu ziehen. Tatsächlich verwickelte sie sich
mit der Frau ihres Chefs, die sich weigerte, Milada hereinzulassen,
in eine heftige körperliche Auseinandersetzung. Nachdem man sie
in der Klinik monatelang erfolglos mit Tranquilizern und Antide
pressiva, Einzel- und Gruppentherapie behandelt hatte, begann sie
ein experimentelles therapeutisches Programm, das aus regelmä
ßigen LSD-Sitzungen bestand.
Nach zwölf LSD-Sitzungen mit einer mittleren Dosis waren
ihre psychotischen Symptome ganz verschwunden, und Milada
war ihr früheres irrationales Verhalten jetzt völlig einsichtig. Die
erotomanen Wahnvorstellungen, die um ihren Chef kreisten, inter
pretierte sie als eine Übertragung der Gefühle für ihren Vater, der
ein sehr kalter Mensch gewesen war und den sie niemals wirklich
erreichen konnte. In den folgenden Sitzungen arbeitete sie eine
Reihe von komplizierten neurotischen und psychosomatischen
Problemen durch.
Während sie noch einmal traumatische Erinnerungen aus ver
schiedenen Phasen ihres Lebens durchlebte, konnte sie viele au
genblickliche emotionale Probleme zurückverfolgen bis zu deren
Quelle in ihrer unglücklichen Kleinkindzeit und Kindheit. Sie
setzte sich auch intensiv mit ihrer komplizierten Ehe auseinander.
Ihr Mann war ein unsensibler und grausamer Mensch, der sie so
wohl emotional als auch körperlich missbrauchte. Als glühendes
Mitglied der Kommunistischen Partei war er völlig damit beschäf
tigt, seine politische Karriere zu verfolgen und überhaupt keine
emotionale Stütze für sie. Dazu kam, dass die beiden gemeinsamen
Kinder Anzeichen für schwere emotionale Störungen zeigten und
eine professionelle Behandlung brauchten.
368 Teil 6: Unorthodoxe Psychiatrie
Dann verlagerten sich ihre Erfahrungen in den LSD-Sitzungen in
den perinatalen Bereich, und Milada durchlebte noch einmal ver
schiedene Aspekte ihrer schwierigen biologischen Geburt. Sie hatte
ein reiches Spektrum an Erlebnissen, wie sie für den Prozess von
Tod und Wiedergeburt typisch sind. Die Emotionen und körper
lichen Empfindungen bei ihrer schwierigen Geburt, bei der ihr
Zwillingsbruder starb, waren so heftig und gingen so tief, dass Mi
lada diese Sitzungen ein »psychologisches Hiroshima« nannte. Als
sie ihr Geburtserlebnis beendete und mit dem Tod des Egos ab
schloss, erwartete ich eine eindeutige Verbesserung ihres Zustands,
wie es bei den meisten neurotischen Patienten der Fall war.
Zu meiner großen Überraschung musste ich jedoch beobach
ten, dass sich ihre ursprünglichen psychotischen Symptome, die
seit vielen Monaten nicht mehr aufgetreten waren, plötzlich voll
ständig wieder einstellten. Der einzige Unterschied bestand darin,
dass ihre erotomanen Phantasien und Erlebnisse jetzt nicht mehr
um ihren Chef kreisten, sondern um mich. Im Verlauf der LSD-
Psychotherapie hatte Milada eine Übertragungspsychose entwi
ckelt. Sie glaubte jetzt, unter meinem hypnotischen Einfluss zu
stehen, und fühlte sich mit mir innerlich ständig verbunden, so
wohl in den LSD-Sitzungen als auch in der Zeit dazwischen. Sie
stand in einem ständigen inneren Gedankenaustausch mit mir, und
wir kommunizierten sogar verbal.
Interessant war, dass wir in manchen dieser halluzinierten Ge
spräche »die Psychotherapie fortsetzten«. Einmal verbrachte ich
eine Woche in Amsterdam, wo ich eine Konferenz über LSD-Psy-
chotherapie besuchte. In der Zeit phantasierte Milada, die in der
Klinik des Psychiatrischen Forschungsinstituts in Prag unterge
bracht war, dass sie weiterhin psychotherapeutische Sitzungen mit
mir habe. Wir »besprachen« verschiedene Aspekte ihres Lebens,
und sie setzte in die Tat um, was meine illusorische Stimme ihr
vorschlug. Dazu gehörten auch täglich ein mehrstündiges Bad und
Körperübungen sowie Handarbeiten wie Stricken und Sticken.
Fruchtbare psychiatrische Ketzerei 369
Schließlich erzählte ich ihr in diesen halluzinierten Gesprächen,
ich habe beschlossen, das therapeutische Versteckspiel aufzugeben
und ihr Geliebter und Ehemann zu werden. Ich ermunterte sie,
mich nicht mehr mit »Doktor Grof« anzureden, sondern »Stanya«
(eine Koseform meines Vornamens) zu nennen und die informelle
grammatikalische Version der zweiten Person zu benutzen, wie sie
unter Verwandten, engen Freunden und Menschen, die sich lieben,
üblich ist. Das Tschechische bringt den Unterschied zwischen en
gen, vertrauten und eher formalen Beziehungen sprachlich zum
Ausdruck (wie auch das französische »tu« und »vous«, das deut
sche »du« und »Sie« oder das spanische »tu« und »Usted«).
Ich erlaubte Milada auch, meinen Nachnamen zu tragen, statt
den ihres Ehemannes. Wiederholt versicherte ich ihr, sie zu lieben,
sagte ihr, ihre Scheidung sei bereits in die Wege geleitet, und bat
sie, mit ihren beiden Kindern in meine Wohnung zu ziehen. Unter
anderem bezog sich Milada jetzt auch auf »hypnogame Sitzungen«
(Wortschöpfung der Patientin, zusammengesetzt aus den Wörtern
Hpynose und gamos = gr. Hochzeit; bedeutet also wörtlich: »Heirat
durch Hypnose«, Anm.d.Ü.), die ich ihr abends und nachts gab.
Die sexuellen Empfindungen und Beischlafhalluzinationen, die sie
zu dieser Zeit hatte, interpretierte sie jetzt als Lektionen, die ich ihr
gab, damit sie lernte, ihre Sexualität zu genießen und ihre Therapie
schneller vorankam. Aus dem Kontext ihrer LSD-Sitzungen wurde
klar, dass Miladas magisches Wunschdenken auf der tiefsten Ebene
ein Übertragungsphänomen war, das die frühe symbiotische Bezie
hung zu ihrer Mutter widerspiegelte.
Eine Zeitlang nahm Milada viele Stunden am Tag bizarre Hal
tungen ein, bei denen sie manchmal auf dem Bett lag, manchmal
stand. Einmal, erzählten mir die Krankenschwestern, habe sie, die
Arme weit ausgestreckt und zusammengeschlossen, lange auf Ze
henspitzen gestanden. Als sie Milada fragten, was sie da tue, habe
sie ihre Frage mit den Worten weggewischt: »Lassen Sie mich in
Ruhe, ich umarme ihn (womit sie mich meinte).« Es blieb natür-
370 Teil 6: Unorthodoxe Psychiatrie
lieh nicht aus, dass die Schwestern mich zur Zielscheibe ihrer
Witze machten. Milada, so erzählten sie mir neckend, habe mich
genau auf die richtige Größe verkleinert und ihre Arme im rich
tigen Abstand zum Boden ausgestreckt.
Äußerlich glichen Miladas Körperhaltungen denen, die ich auf
der Station für chronisch Kranke bei katatonischen Schizophrenen
zu sehen bekam, die an einem Symptom litten, das »wächserne
Biegsamkeit« (flexibilitas cerea) heißt. Wie Milada nahmen auch sie
stundenlang merkwürdige und oft bizarre Körperhaltungen ein. In
einer Hinsicht unterschied sich Miladas »Katatonie« jedoch signifi
kant von der schizophrener Patienten: Wir konnten sie verbal im
mer erreichen und bewegen, diese Positionen aufzugeben, indem
wir einfach ein Gespräch mit ihr anfingen. Dann nahm sie eine
normale Körperhaltung ein und war imstande, sich vernünftig zu
unterhalten.
Außerdem begriff sie, was sie da tat, und bot eine faszinierende
Erklärung dafür an. Ihr emotionaler und psychosomatischer Zu
stand, so erläuterte sie uns, hinge in diesen Zeiten ganz entschei
dend von ihrer Körperhaltung ab. In manchen Haltungen fühlte
sie sich ekstatisch und selig und war eins mit dem ganzen Kosmos.
In anderen war sie so heftig depressiv, dass ihr übel wurde und sie
eine geradezu metaphysische Angst verspürte. Das empfand sie als
eine Wiederholung ihrer pränatalen Situation, wo sie mit ihrem
Zwillingsbruder um den Schoß der Mutter kämpfen musste.
Auf der Grundlage früherer Erfahrungen mit anderen Klien
tinnen und Klienten fuhr ich trotz Miladas hartnäckiger psycho
tischer Symptome fort, ihr wöchentlich LSD zu geben. In diesen
Sitzungen ging es fast ausschließlich um negative Erfahrungen
transpersonaler Natur. Ein wichtiger Schwerpunkt dabei waren
schwierige intrauterine Erinnerungen, die Milada auf den emotio
nalen Stress und die Krankheiten ihrer Mutter während der
Schwangerschaft, embryonale Krisen und die äußeren Schwierig
keiten zurückführte, die dadurch entstanden, dass sie den Uterus
Fruchtbare psychiatrische Ketzerei 371
mit ihrem Zwillingsbruder teilen musste. Diese Erinnerungen wa
ren oft begleitet von schwierigen karmischen Sequenzen und ar
chetypischen Erfahrungen mit dämonischen Kräften.
In der letzten Behandlungsphase trat in einer von Miladas Sit
zungen ein höchst ungewöhnliches Phänomen auf: Das LSD hatte
eine paradoxe Wirkung. Statt holotrope Erfahrungen auszulösen,
brachte es Milada zurück in den Normalzustand. Sobald das Mittel
wirkte, wandte sie sich ganz formal an mich, wie es in der Tsche
choslowakei zu der Zeit für die Beziehung zwischen Arzt und Pati
entin üblich war. Sie distanzierte sich von ihrer psychotischen Welt
und präsentierte mir interessante psychologische Einsichten in die
se. Als die Wirkung der Droge nachließ, kehrten die Symptome
der Übertragungspsychose jedoch zurück.
In der folgenden Sitzung befand sie sich stundenlang in einer
tiefen Ekstase, deren vorherrschendes Element das Gefühl war, mit
dem Kosmos eins zu sein. Sie empfand sich als göttliches Kind im
Schoß der Großen Muttergöttin. Zu meiner Überraschung war ihre
Persönlichkeit nach dieser Sitzung völlig neu strukturiert und
zeigte keines der vorigen psychotischen und neurotischen Symp
tome mehr. Nach ihren eigenen Worten konnte sie sich und die
Welt jetzt anders empfinden als jemals zuvor. Sie war voller Le
bensfreude, schätzte Natur und Kunst auf eine ganz neue Weise,
hatte eine völlig andere Einstellung zu ihren Kindern und konnte
ihre früheren unrealistischen Ambitionen und Phantasien aufge
ben. Sie konnte wieder arbeiten, reichte die Scheidung von ihrem
Mann ein, lebte als alleinstehende Frau und versorgte ihre beiden
Kinder.
Viele Jahre später, nach der Befreiung der Tschechoslowakei,
traf ich mich bei einem meiner Besuche mit ihr und konnte dabei
feststellen, dass ihre bemerkenswerte Besserung anhielt. Milada
konnte die emotionalen Krisen im Leben ihrer beiden Kinder be
wältigen, die durch die stürmische Ehe ihrer Eltern heftig in Mitlei
denschaft gezogen worden waren. Selbst als ihre Tochter Selbst
372 Teil 6: Unorthodoxe Psychiatrie
mord beging, indem sie sich vor einen Zug warf, brach Milada
emotional nicht völlig zusammen und musste nicht in die Klinik
eingewiesen werden. Auch wenn sie tiefe Trauer über den Tod ih
rer Tochter empfand und mit Schuldgefühlen zu kämpfen hatte,
gelang es ihr, weiterhin ihren Alltag zu bewältigen.
Als wir unser Training für Holotropes Atmen und Transperso
nale Psychologie nach der Befreiung der Ostblockländer auch in
diesem Teil der Welt durchführen konnten, machte Milada diese
Ausbildung und erwarb ein Zertifikat als Begleiterin. Ein hochkon
troverses und geradezu ketzerisches therapeutisches Vorgehen hat
te so dramatische Verbesserungen im Leben dieses Menschen
bewirkt, wie ich es in meiner über 50-jährigen Praxis nie wieder
erlebt habe.
Magisches Sandspiel 373
Magisches SandspielEin Kätzchen als Therapeut
ir haben wiederholt erlebt, dass durch therapeutische Me
thoden wie die psychedelische Therapie oder das Holotrope
Atmen, die holotrope Bewusstseinszustände auslösen, Synchroni-
zitäten stark zunehmen. Dieses Phänomen tritt auch extrem häufig
in der therapeutischen Arbeit mit Menschen auf, die eine spiritu
elle Krise durchmachen. Anfangs dachte ich, diese Tatsache ver
weise auf eine spezielle Beziehung zwischen Synchronizitäten und
holotropen Bewusstseinszuständen, doch im Laufe der Zeit ge
langte ich zu dem Schluss, dass es eher auf den transpersonalen
Rahmen und das entsprechende Umfeld zurückzu führen ist als auf
einen speziellen Bewusstseinszustand.
Wir haben in unseren Workshops oft beobachtet, dass es be
reits vor Beginn der holotropen Atemsitzungen zu bemerkens
werten Synchronizitäten kam; so zum Beispiel, wenn die Teilneh
menden ihre Partner für die Sitzungen wählten oder sogar schon
auf dem Weg zum Workshop. Auch im Umfeld des Sandspiels,
einer ungewöhnlichen therapeutischen Technik, die unsere liebe
Freundin, die verstorbene Dora Kalff, entwickelte, haben wir be
merkenswert oft Synchronizitäten erlebt. Christina und ich hatten
häufig Kontakt zu Dora, weil wir praktisch bei jedem unserer Be
suche in der Schweiz zu Gast in ihrem schönen alten Haus in Zolli
kon in der Nähe von Zürich waren. Beide bekamen wir Gelegen
heit, unter Doras Anleitung eigene Erfahrungen mit dem Sandspiel
w
374 Teil 6: Unorthodoxe Psychiatrie
zu machen und durften dabei auch ihre erstaunliche Utensilien
sammlung benutzen.
Wie Dora uns erzählte, hatte sie die Idee zum Sandspiel von
C.G. Jung selbst. Damals war Dora verheiratet mit einem hollän
dischen Baron, der sehr viel älter war als sie, und lebte mit ihm in
Holland. Nach dem Tod ihres Mannes kehrte sie mit ihren Kindern
in die Schweiz zurück und suchte verzweifelt nach einer neuen
Perspektive und Richtung in ihrem Leben. Wie es der Zufall wollte,
besuchte sie mit ihren Kindern gern ein kleines Dorf, das auch für
Jung und seine Verwandten ein beliebter Ferienort war. Dort
lernten Dora und Jung sich kennen, und sie erzählte ihm, dass sie
nach einer Aufgabe für sich suche. Jung schlug ihr daraufhin vor,
mit der therapeutischen Anwendung des Sandspiels zu experimen
tieren, weil er glaubte, das könne ihr Freude machen, und gab ihr
ein paar grundlegende Anweisungen dafür.
Das Sandspiel ist denkbar einfach. Man braucht dafür einen
Kasten in vorgeschriebener Größe (etwa 0,6 x 1 Meter), dessen
eine Hälfte mit sauberem Sand gefüllt wird, und eine große Samm
lung von Gegenständen, die sichtbar in Regalen stehen. Dazu ge
hören menschliche Figuren verschiedener Rassen und Berufe, Tiere,
Bäume und typische Wohnstätten aus verschiedenen Ländern, Ge
genstände aus der Natur wie Steine oder Muscheln sowie mytholo
gische Gestalten und Symbole. Der Klient hat die Aufgabe, die Sand
oberfläche zu formen und mit Hilfe der Figuren und Gegenstände,
die er frei auswählt, eine Szene zu gestalten. Man benutzt für das
Sandspiel keine feste Standardsammlung von Dingen, sondern
jede Therapeutin trägt ihre eigene Auswahl zusammen. In Doras
Regal standen viele erstaunliche Dinge aus aller Welt.
Nachdem wir selbst erlebt hatten, wie tief es ging, verliebten
Christina und ich uns regelrecht in das Sandspiel und bauten es in
die einmonatigen Workshops ein, die wir in Esalen veranstalteten.
Im Big House, wo unsere Seminare stattfanden, benutzten wir im
mer einen Raum als Sandspielzimmer. Das Spielzeug hatten wir
Magisches Sandspiel 375
zum Teil selbst gesammelt, oder es stammte aus dem Reisegepäck
unserer Gastdozenten. Außer in den seltenen Fällen, wo Dora mit
ihrem Sohn Martin selbst zu Besuch kam, war Cecil Burney, ein
jungscher Psychologe und einer von Doras älteren Schülern, unser
Sandspieltherapeut vor Ort.
Eine der bemerkenswertesten und witzigsten Synchronizitäten,
die wir im Zusammenhang mit dem Sandspiel erlebten, passierte
bei einem unserer einmonatigen Workshops, in dem eine Teilneh
merin namens Mary sämtlichen Gruppenmitgliedern »die Knöpfe
drückte«. Sie war geradezu manisch und redete ununterbrochen,
wobei sie ihre Ehe, ihr Sexualleben und die sexuelle Potenz ihres
70-jährigen Ehemannes pries. Sie hatte »die unglaublichsten Or
gasmen«, machte bei der Atemarbeit »phantastische Erfahrungen«,
malte »die großartigsten Mandalas« und so weiter und so fort. Als
Emmett Miller, ein Hypnotiseur, der als Gastdozent in die Gruppe
kam, die Teilnehmer bat, sich mit einer typischen Bewegung oder
Geste vorzustellen, lief Mary nach draußen, rannte durch eine of
fene Tür in den Raum, drehte, während sie ihren Namen brüllte,
eine wilde Pirouette und rannte durch die gegenüberliegende Tür
wieder aus dem Zimmer.
Es war für alle in der Gruppe offensichtlich, dass diese über
triebene Selbstbeweihräucherung nichts als ein verzweifelter Ver
such war, Dinge zu verbergen, die in Wirklichkeit ganz anders aus
sahen. Als Mary mit dem Sandspiel an der Reihe war, gestaltete sie
eine komplexe, überladene Szene, die ihr idealisiertes Leben und
ihre romantisch verklärte Ehe darstellte. Ihr eigenes Werk versetzte
sie in große Aufregung, und sie machte sich auf die Suche nach
Cecil, Christina, mir und Al Drucker, einem Rolfer und Akupunk
teur aus Esalen, um uns ihre unvergleichliche Schöpfung zu zeigen.
Als sie uns alle zusammengetrommelt hatte, bestand sie darauf,
dass wir mitkommen und uns ihr phantastisches Sandspiel an
schauen müssten. Sie schleppte uns mit ins Big House und die
Treppe hoch in das Sandspielzimmer.
376 Teil 6: Unorthodoxe Psychiatrie
Als wir dort ankamen, war sie wie vom Blitz getroffen. Beim Verlas
sen des Zimmers hatte sie die Tür offen gelassen, und während ih
rer Abwesenheit war ein Kätzchen hereinspaziert und hatte den
Sandkasten als Katzenklo benutzt. Es sprang in den Kasten, stieß
einige der Hauptpersonen um und hinterließ dort, wo das Sand
spiel die größte Verzerrung der Wirklichkeit darstellte, einen di
cken Haufen Scheiße. Als Mary das sah, war sie am Boden zerstört,
und es brach ihr das Herz. Wir gingen, und sie blieb allein zurück
mit ihrer ruinierten Sandspielszene. Sie musste die Katzenscheiße
und den verschmutzten Sand aus dem Kasten entfernen und einige
der Figuren waschen. Dabei dachte sie gründlich nach über das,
was ihr da gerade passiert war. Sie nahm einige der Figuren ganz
weg und tauschte andere aus. So entstand ein völlig anderes Sand
spiel, das ihr Leben viel realistischer und ehrlicher darstellte als die
erste Szene.
Ein paar Monate später sprachen wir während der ITA-Konfe-
renz in Phillip Island, Australien, bei einem Abendessen über Syn
chronizitäten. Bei dieser Gelegenheit erzählte Cecil Burney von
Marys Sandspiel. Unter den Anwesenden war auch der Anthropo
loge Michael Harner, bekannt für seinen scharfen Humor und sei
ne verbale Schlagfertigkeit. Michael und Cecil verwickelten sich oft
in Wortgefechte. »Mir sagt das Folgendes, Cecil«, schoss Michael
los, ohne auch nur eine Sekunde zu verlieren, »diese Katze ist ein
besserer Therapeut als du.«
Teil 7
Transpersonale Psychologie und Mainstream- Wissenschaft
Wenn Wissenschaft zu Pseudo-Wissenschaft wird 379
Wenn Wissenschaft zu Pseudo- Wissenschaft wird
Carl Sagan und seine von Dämonen verfolgte Welt
n der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts häuften sich die pro
vozierenden Beobachtungen der Bewusstseinsforschung, und
die Grundaussagen der Transpersonalen Psychologie stießen in
akademischen Kreisen auf Ungläubigkeit und heftige theoretische
Widerstände. Die Transpersonale Psychologie, wie sie Ende der
1960er-Jahren geboren wurde, ging mit anderen Kulturen sensibel
um und begegnete den rituellen und spirituellen Traditionen aus
uralten Kulturen und Eingeborenen-Gesellschaften mit dem Res
pekt, den sie vor dem Hintergrund der Erkenntnisse verdienten, zu
denen die moderne Bewusstseinsforschung gelangt war.
Sie akzeptierte und integrierte auch ein großes Spektrum an
anormalen Phänomenen und Beobachtungen, die das alte Paradig
ma sprengten und für welche die akademischen Wissenschaften
keine Erklärungen finden konnten. Wie umfassend und gut be
gründet dieses neue Gebiet als solches auch war: Es stellte eine so
radikale Abwendung von dem in professionellen Kreisen üblichen
akademischen Denken dar, dass es weder mit der traditionellen
Psychologie und Psychiatrie noch mit dem newtonschen-kartesia-
nischen Paradigma der westlichen Wissenschaft vereinbar war.
Eine Folge davon war, dass die Transpersonale Psychologie ex
trem viele Angriffsflächen bot. Der Vorwurf, irrational, unwissen
I
380 Teil 7: Transpersonaie Psychologie und Mainstream-Wissenschaft
schaftlich oder sogar »verrückt« zu sein, kam vor allem von Wis
senschaftlern, die nicht wahrnahmen, dass diese neue Bewegung
auf einem enorm umfangreichen Beobachtungsmaterial und ent
sprechenden Daten beruhte. Diese Kritiker ließen auch die Tatsa
che außer Acht, dass viele der Pioniere dieser revolutionären Bewe
gung beeindruckende akademische Referenzen aufwiesen. Diese
Vorreiter und Vorreiterinnen entwickelten und begrüßten die trans
personale Sicht der menschlichen Psyche nicht deswegen, weil sie
die Grundaussagen der traditionellen Wissenschaft ignorierten,
sondern weil sie die alten Denkmodelle auf dem Hintergrund ihrer
Erfahrungen und Beobachtungen eindeutig unzureichend fanden.
Der Widerstand hingegen kam zu großen Teilen von Vertre
tern der akademischen Gemeinschaft, die die augenblickliche wis
senschaftliche Weltanschauung als richtige und definitive Beschrei
bung der Wirklichkeit betrachteten und an dieser Sicht entschlossen
und stur festhielten und taub waren für sämtliche Gegenbeweise.
Inhalt und Heftigkeit der Reaktionen einiger Mainstream-Wissen
schaftler, die sich gegen jede Form von Spiritualität im Allgemei
nen und die Transpersonale Psychologie im Besonderen wenden,
sind dem Fanatismus eines religiösen Fundamentalismus nicht un
ähnlich. Ihre Haltung entbehrt jeglicher soliden wissenschaftlichen
Grundlage. Sie ignorieren und verzerren sämtliches existierende
Beweismaterial und schotten sich ab gegen beobachtete Tatsachen
und logische Argumente. Bei näherer Untersuchung erweist sich
jedoch das, was sie als Bild der Wirklichkeit präsentieren, das wis
senschaftlich bewiesen und über jeden Zweifel erhaben ist, als ein
Koloss auf wackligen Beinen, den eine ganze Reihe von metaphy
sischen A-priori-Annahmen stützen sollen.
Ein hervorstechendes Beispiel für diese Art Wissenschaftler
war Carl Sagan, Professor für Astronomie und Raumfahrtwissen
schaft an der Cornell-University in New York City. Als außeror
dentlicher Vertreter seines Faches gelangte er durch seine Mitwir
kung bei den meisten Missionen mit unbemannten Planetensonden,
Wenn Wissenschaft zu Pseudo-Wissenschaft wird 381
bei der Gründung des SETI-Projektes (Searchfor Extraterrestrial In
telligence; Suche nach außerirdischen Intelligenzen, Anm.d.Ü.) und
als Redakteur der hochgelobten amerikanischen TV-Serie Cosmos
zu weltweitem Ruhm. Er hat auch zusammen mit Frank Drake die
goldene Tafel entworfen, mit der Erdenbürger außerirdischen Zivi
lisationen eine Botschaft übermitteln wollten, und die von Pioneer
10, dem ersten Raumfahrzeug, das das Sonnensystem verließ, ins
All befördert wurde. Kurz vor seinem Tod durch Leukämie wurde
aus seinem Science-Fiction-Roman Contact ein Film mit dem glei
chen Titel gedreht, der in weiten Kreisen Anerkennung fand.
Statt jedoch seinen beruflichen Erfolg und den guten Ruf auf
seinem Fachgebiet zu genießen, startete Carl Sagan aus unbe
kannten Gründen mit erstaunlicher emotionaler Heftigkeit und
Entschlossenheit einen Feldzug gegen alles, was in seinen Augen
irrational, unwissenschaftlich und okkult war. Dabei nahm er die
Position eines Schiedsrichters ein, der mit großer Autorität uner
bittlich verurteilte, was ihm an Beobachtungen von zahlreichen
verschiedenen Experten aus anderen Disziplinen wie Parapsycho
logie, Thanatologie, psychedelischer Forschung, Anthropologie
und vergleichender Religionswissenschaft zu Gehör kam.
Um sein Ziel zu erreichen und die Kultur von der Verschmut
zung durch Okkultismus und Aberglaube zu säubern, wurde Carl
Sagan Gründungsmitglied einer Organisation namens CSICOP
(Committee for the Scientific Investigation of Claims of the Paranormal;
Komitee zur wissenschaftlichen Untersuchung paranormaler Be
hauptungen, Anm.d.Ü), schloss sich der Zeitschrift The Sceptical
Inquirer (Der skeptische Fragende, Anm.d.Ü.) an und nahm die
Dienste des Magiers James Randi in Anspruch, der ihm helfen sollte
zu beweisen, dass sämtliche paranormalen Behauptungen nichts
als Lug und Trug seien. All diese Bemühungen gipfelten in Sagans
Buch Der Drache in meiner Garage oder die Kunst der Wissenschaft,
Unsinn zu entlarven (Sagan 2000), einer leidenschaftlichen Straf
predigt gegen die Irrationalität und ihre Gefahren.
382 Teil 7: Transpersonale Psychologie und Mainstream-Wissenschaft
Mein erster Kontakt mit Carl war ein begeisterter Brief, den ich
kurz nach der Veröffentlichung meines Buches Topographie des Un
bewussten (Grof 2002) von ihm erhielt. Hier schildere ich, wie mei
ne Patienten in der LSD-Therapie oft eine tiefe Regression erleben,
bei der sie mit intensiven Emotionen und Körperempfindungen
die Erinnerung an ihre biologische Geburt durchleben. Dabei
konnte ich vier erlebnisorientierte Grundmuster unterscheiden,
die dieser Prozess durchlief, und die den fortschreitenden Phasen
der kindlichen Geburt entsprachen. Ich bezeichnete sie als perina-
tale Grundmatrizen (BPM) - siehe auch Seite 141 f.
Die erste perinatale Grundmatrix verweist auf die pränatale
Exis-tenz im fortgeschrittenen Stadium der Schwangerschaft vor
dem Einsetzen der Entbindung. Die zweite perinatale Grundmatrix
bezeichnet die Erfahrung des klaustrophobischen Schreckens und
der Hoffnungslosigkeit, die den Fötus in der Phase der Geburt be
fallen, wo der Uterus kontrahiert, der Gebärmutterhals aber noch
nicht geöffnet ist. Die dritte perinatale Grundmatrix hängt zusam
men mit der schwierigen Passage durch den Geburtskanal, die be
ginnt, sowie sich der Gebärmutterhals genügend geweitet hat. Und
bei der vierten perinatalen Grundmatrix wiederholt sich schließlich
der Augenblick der Geburt selbst und die unmittelbar anschlie
ßende Wiederverbindung mit der Mutter. Das Wiedererleben der
Geburt bei vollem Bewusstsein wird also von den Betreffenden als
psychospiritueller Prozess von Tod und Wiedergeburt erfahren.
Carl war besonders fasziniert von meiner Beschreibung der
vierten perinatalen Matrix, die im typischen Fall verbunden ist mit
Visionen von strahlendem Licht und zahlreichen archetypischen
Gestalten, die sich in diesem Licht zeigen. Nach seiner Meinung,
die er in einem Artikel formuliert hatte, den die Zeitschrift Atlantic
Monthly (Sagan 1979) 1979 veröffentlichte, machte diese Beobach
tung den Visionen der Mystiker, die oftmals von einem übernatür
lichen Licht und himmlischen Erscheinungen berichteten, gründ
lich den Garaus.
Wenn Wissenschaft zu Pseudo-Wissenschaft wird 383
Er zog den Schluss, dass es sich bei dem, was die Mystiker für gött
liches Licht und Engelwesen hielten, in Wirklichkeit um Erinne
rungen des Neugeborenen handelte, das ins grelle Licht des Opera
tionssaals hineingeboren wird und seine Geburtshelfer und die
Schwestern in ihren weißen Kitteln sieht. Die Fehlinterpretation
dieser Situation als einer göttlichen ging also auf die Tatsache zu
rück, dass die Sicht des Neugeborenen, und damit auch sein Er
kenntnisvermögen, noch nicht voll entwickelt sind.
Carls Interpretation der perinatalen Visionen, die er meinem
Buch entnahm, stand in scharfem Widerspruch zu meiner eigenen
Beschreibung dieses Phänomens. Nachdem ich praktisch Hunder
te von Malen beobachtet hatte, wie Menschen diesen psychospiri-
tuellen Prozess von Tod und Wiedergeburt durchliefen, wurde mir
klar, dass das Wiedererleben der Geburt ein Tor zum jungschen
kollektiven Unbewussten ist und die archetypischen Visionen, die
es begleiten, ontologisch real sind und nicht auf unseren Erfah
rungen in der materiellen Welt beruhen. Dieses Thema ist von
größter theoretischer Wichtigkeit in Hinblick auf Carls provoka
tive Äußerung über die Natur der Wirklichkeit, mit der er sein
Buch Unser Kosmos, sein Hauptwerk, beginnt: »Der Kosmos ist al
les, was ist oder jemals war oder jemals sein wird« (Sagan 1996).
Carl wiederholte dieses Argument später in seinem Buch Auf
bruch in den Kosmos (Sagan 1982), wo er diesem Thema unter dem
Titel »Das amniotische Universum« ein ganzes Kapitel widmet. Es
war natürlich sein gutes Recht, aus meinen Beobachtungen seine
eigenen Schlussfolgerungen zu ziehen. Eine ganz andere Sache war
es jedoch, dass er meine eigene Interpretation abtat und mich als
Entlarver des Mystizismus auf einen Sockel stellte. Damit ignorierte
er auch die Tatsache, dass ich die zweite Hälfte meines Buches To
pographie des Unbewussten, auf das er sich bezog, ausführlichen Be
schreibungen von spirituellen Erfahrungen widmete, für die ich
zahlreiche klinische Beispiele gab. Dieses Material stellte tatsäch
lich eine der Quellen für die Transpersonale Psychologie dar - einer
Disziplin, die eine Synthese von echter Spiritualität und Wissen
schaft herzustellen sucht.
Als die Transpersonale Psychologie mit ihren Bemühungen,
Spiritualität zu legitimieren, auch in akademischen Kreisen an Ein
fluss gewann, wurde sie Carl und der CSICOP-Gruppe zunehmend
ein Dorn im Auge. Schließlich bat Carl mich als letztes existie
rendes Mitglied einer kleinen Gruppe von Fachleuten, die die
Transpersonale Psychologie begründet hatten, um ein Treffen. Er
wollte sich offen mit mir konfrontieren und die theoretischen
Grundlagen meiner Disziplin mit mir diskutieren. Ich nahm seine
Einladung an und traf mich mit ihm in Boston in seinem Hotelzim
mer. An diesem Treffen nahmen auch meine Frau Christina, Carls
Frau Ann Druyan und der Harvard-Psychiater und -Forscher John
Mack teil, mit dem wir beide befreundet waren.
Zu Beginn unserer Sitzung erinnerte Carl mich an meine Ver
antwortung als ausgebildeter Mediziner und Psychologe und er
mahnte mich, die Informationen, die ich an die Öffentlichkeit
brachte, sorgfältig zu handhaben, da das Laienpublikum die Worte
gebildeter Menschen mit akademischen Titeln ernster nehme als
die anderer Informanten. Er betonte, Wissenschaftler dürften nur
ausgereifte, rein wissenschaftliche Wahrheiten an Menschen wei
tergeben, die nicht imstande waren, sich selbst ein unabhängiges
Urteil zu bilden. Dann zählte er eine Reihe von Beispielen dafür
auf, wie Gauner, Betrüger und Hochstapler Menschen in die Irre
geführt hatten. Dabei zitierte er auch den Fall des deutschen Pferdes
»der kluge Hans«, dessen Besitzer behauptete, es könne Rechen
aufgaben lösen; den Betrug um eine Figur, die man in Italien aus
gegraben und als versteinerten Riesen ausgegeben hatte, und noch
einige weitere Vorfälle dieser Art.
»Was glauben Sie, was für unsere Diskussion wichtig ist?«,
fragte er.
»Die Frage nach dem ontologischen Status von transpersona
len Erfahrungen«, antwortete ich, »zum Beispiel solchen, bei de
384 Teil 7: Transpersonale Psychologie und Mainstream-Wissenschaft
Wenn Wissenschaft zu Pseudo-Wissenschaft wird 385
nen Menschen sich mit anderen Personen oder Lebensformen
identifizieren, ihren Körper verlassen, Visionen von archetypischen
Wesen und Dimensionen haben oder sich an Ahnen, Rassen, kar
mische Ereignisse und phylogenetische Erlebnisse erinnern. Sind
all das Halluzinationen und Phantasien, die keinerlei Grundlage in
der Realität haben, oder aber authentische Vorfälle von Verbunden
heit mit realen Dimensionen und damit Quellen für wichtige Infor
mationen, die unserem Bewusstsein normalerweise nicht zugäng
lich sind?«
»Geben Sie mir Beispiele!«, drängte er mich und wirkte ver
blüfft und verwirrt.
Ich beschrieb ihm mehrere Erfahrungen, die Menschen in au
ßergewöhnlichen Bewusstseinszuständen gemacht hatten, bei de
nen sie sich mit verschiedenen Aspekten der materiellen Welt ver
bunden fühlten oder mit historischen und archetypischen
Dimensionen des kollektiven Unbewussten in Berührung kamen
und dadurch Zugang zu Informationen gewinnen konnten, die
weit über das Wissen hinausgingen, das sie sich in ihrem jetzigen
Leben auf dem üblichen Weg angeeignet hatten. Drei dieser Bei
spiele betrafen die Identifizierung mit Tieren (Adler, Wal und
Löwe); bei zwei Erfahrungen dieser Art ging es um historische Er
eignisse (siehe die Geschichten von Renata und Karl auf Seite 174 ff.
und 184 ff.); und eines hatte eine obskure archetypische Vision
von der schrecklichen Muttergöttin der Malekulaner in Neu-Guinea
zum Inhalt (siehe Ottos Geschichte auf Seite 342).
Während er sich meine Geschichten anhörte, gewann Carl sei
ne Fassung zurück und spielte sich jetzt als autoritärer Lehrer auf.
»Ach, das meinen Sie? Na, das ist leicht zu erklären, das ist ja kein
großes Mysterium«, sagte er. »Amerikanische Kinder sitzen im
Durchschnitt etwa sechs Stunden vor dem Fernseher. Sie schauen
sich viele verschiedene Sendungen an, darunter auch wissenschaft
liche wie Nova oder den Discovery Channel. Vieles davon vergessen
sie wieder, aber ihr Gehirn, dieses wunderbare Organ, speichert
386 Teil 7: Transpersonale Psychologie und Mainstream-Wissenschaft
alles. In außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen wird dieses
Wissen dann benutzt, um scheinbar neue wichtige Informationen
hervorzubringen. Aber, wie Sie ja wissen, können wir auf keinen
Fall Zugang zu Informationen bekommen, die unser Gehirn nicht
durch Sinneseindrücke verzeichnet hat. Menschen, die uns mit
solchen Informationen kommen, müssen sie irgendwann und ir
gendwo in diesem Leben empfangen haben.«
Ich war frustriert. Carl kam mir hier mit dem alten Diktum der
britischen empiristischen Philosophie, das zum verbreiteten Dog
ma der monistischen materialistischen Wissenschaft geworden ist:
»Nihil est in intellectu quod non anteafuerit in sensu« (Der Verstand
enthält nichts, was nicht zuvor in der sinnlichen Wahrnehmung
war). Wenn meine subjektiven Erfahrungen scheinbar neue Infor
mationen enthielten, musste ich diese irgendwann, irgendwo, ir
gendwie in diesem Leben durch Sinneseindrücke erworben haben.
Das sollte jedem klar sein, der Naturwissenschaften studiert hat -
wie kann ein gebildeter Mensch das anders sehen?
Da ich das Gefühl hatte, dass wir auf eine Sackgasse zusteu
erten, berief ich mich auf die Thanatologie, die Tod und Sterben
erforscht. In den letzten Jahrzehnten hatten Forscher auf diesem
Gebiet einige faszinierende Beobachtungen zusammengetragen,
die zeigten, dass Menschen in Nahtodsituationen ihren Körper ver
lassen. Anders als viele weitere transpersonale Phänomene lassen
sich diese Erlebnisse sehr leicht objektiv nachweisen. Da dieses
Thema durch Bestseller, Fernseh-Talkshows und sogar Hollywood
filme große Teile der Öffentlichkeit erreicht hatte, glaubte ich da
mit gut verdeutlichen zu können, worauf es mir ankam.
Ich verwies auf die zahlreichen thanatologischen Untersu
chungen, die unabhängig voneinander bestätigt hatten, dass das
menschliche Bewusstsein bei außerkörperlichen Erfahrungen in
Nahtodsituationen imstande ist, sowohl seine unmittelbare Umge
bung als auch weit entfernte Orte ohne Vermittlung der Sinne
wahrzunehmen. Nach der faszinierenden Studie, die Kenneth Ring
Wenn Wissenschaft zu Pseudo-Wissenschaft wird 387
in seinem Buch Mindsight (Ring und Cooper 1999) vorstellt, ist
selbst das außerkörperliche Bewusstsein von Menschen, die aus or
ganischen Gründen von Geburt an blind waren, imstande, seine
Umgebung wahrzunehmen (siehe auch Seite 228). Nicht nur, dass
diese Menschen in solchen Situation zum ersten Mal in ihrem Le
ben sehen konnten - sondern das, was sie sahen, konnte auch ein
hellig von anderen bestätigt werden. In Kens Worten machten die
se Menschen »wahre außerkörperliche Erfahrungen«.
In diesem Zusammenhang zitierte ich auch ein Beispiel aus dem
Buch Erinnerungen an den Tod von Michael Sabom, einem Herzchi
rurgen, der die Nahtoderfahrungen seiner Patienten erforscht hatte
(Sabom 1987). Ich erzählte Carl, dass einer von Saboms Patienten
die Wiederbelebungsversuche, die man bei seiner Operation un
ternommen hatte, als es zu einem Herzstillstand kam, bis in alle
Einzelheiten beschreiben konnte. Sein körperloses Bewusstsein, so
berichtete er, habe diesen Vorgang zunächst von der Decke des OP-
Saals aus beobachtet. Als es genauer wissen wollte, was da vorging,
schwebte es nach unten, um sich die medizinischen Geräte aus der
Nähe anzusehen. In dem Interview, das Michael Sabom mit diesem
Patienten nach dessen gelungener Wiederbelebung machte, konn
te ihm dieser zu seiner großen Überraschung den Ablauf der Wie
derbelebungsversuche genau beschreiben, darunter auch die Be
wegungen der kleinen Zeiger an den Messgeräten, die sich parallel
zu den Eingriffen des chirurgischen Teams bewegt hatten.
Nachdem ich Carl diesen Fall beschrieben hatte, fragte ich ihn,
wie er sich dieses Ereignis im Rahmen der Weltanschauung, der er
sich verschrieben hatte, erklärte. Er schwieg eine Weile und sagte
dann bestimmt: »Das ist natürlich gar nicht passiert.«
Ich schüttelte den Kopf, weil ich glaubte, meinen Ohren nicht
zu trauen. »Was meinen Sie damit: Das ist gar nicht passiert? Der
Herzchirurg Michael Sabom berichtet von diesen Ereignissen auf
der Grundlage der Forschungen, die er mit seinen Patienten betrie
ben hat. Wie lautet Ihre Erklärung für Erlebnisse wie das, das ich
388 Teil 7: Transpersonale Psychologie und Mainstream-Wissenschaft
Ihnen gerade beschrieben habe? Was glauben Sie denn, um was es
da geht?«, fragte ich. Dieses Mal war die Pause noch länger. Es war
Carl anzusehen, dass er gründlich nachdachte und um eine Ant
wort rang. »Ich werde es Ihnen sagen«, brach er schließlich sein
langes Schweigen. »Es gibt viele Herzchirurgen in dieser Welt. Bis
lang kannte niemand diesen Kerl. Also dachte er sich eine sensati
onelle Geschichte aus, um auf sich aufmerksam zu machen. Das ist
ein PR-Trick!«
Ich war schockiert. Carls letzte Worte brachten meinen Respekt für
ihn ernsthaft ins Wanken. Ich begriff, dass seine Sicht der Welt
nicht wissenschaftlich, sondern pseudo-wissenschaftlich war. Sie
trat auf als unerschütterliches Dogma, das für keinerlei Beweise
zugänglich war. Damit war unsere Diskussion tatsächlich in eine
Sackgasse geraten. Carl war offensichtlich eher bereit, die Integrität
und geistige Gesundheit seiner wissenschaftlichen Kollegen in Fra
ge zu stellen, als den Gedanken zuzulassen, dass er sein Glaubens
system möglicherweise revidieren oder modifizieren musste, damit
es mit den neuen Daten übereinstimmte. Er glaubte so sicher zu
wissen, wie das Universum aussah und was hier möglich war, dass
er nicht die geringste Neigung verspürte, sich die Daten, die seine
Sicht in Frage stellten, genauer anzuschauen.
Meine Erfahrungen mit Carl, der an seinen pseudo-wissen
schaftlichen Überzeugungen entschlossen festhielt, wurden noch
bestätigt durch den Skandal um CSICOP und den sogenannten
»Marseffekt«. Bei Untersuchungen, die ursprünglich darauf ange
legt waren, die Astrologie zu entlarven, wiesen die französischen
Statistiker Michel und Louise Gauquelin nach, dass in Geburts
horoskopen berühmter Sportler mit statistisch signifikanter Häu
figkeit Mars im Aszendenten oder Zenit auftaucht (Gauquelin
1973). Zu ihrer eigenen Überraschung war ihre Studie damit eher
eine Untermauerung astrologischer Voraussagen als deren Wider
legung. Die statistische Wahrscheinlichkeit, dass dieses Phänomen
zufällig war, lag bei eins zu fünf Millionen.
Wenn Wissenschaft zu Pseudo-Wissenschaft wird 389
In späteren Jahren untersuchten die Gauquelins anhand von fünf
Planeten und elf Berufen astrologische Voraussagen und gelangten
zu bedeutsamen, positiven Ergebnissen: Ihre Daten wurden später
von anderen Forschern durch unabhängige Untersuchungen be
stätigt.
Nachdem man die Ergebnisse der Gauquelin-Studie veröffent
licht hatte, verwickelten sich drei CSICOP-Mitglieder, Paul Kurtz,
George Abeil und Marvin Zelen, die über diesen Bericht erbost wa
ren, in diese Kontroverse, indem sie zuerst eine kritische Antwort
formulierten und später ihre eigene Untersuchung durchführten.
Nach einer Reihe hitziger Auseinandersetzungen fälschten sie
schließlich ihre eigenen Daten vorsätzlich, statt zuzugeben, dass
ihre Ergebnisse die der Gauquelins im Wesentlichen bestätigten.
Dennis Rawlins, Mitbegründer von CSICOP und Mitglied des ge
schäftsführenden Vorstands (Rawlins 1981), deckte diesen Betrug
schließlich auf, indem er einen Artikel mit der Überschrift »Star
baby« veröffentlichte. Als Rawlins klar wurde, dass die Organisa
tion vor allem ihre ideologische Position untermauern wollte, statt
die Wahrheit herauszufinden, kam er zu dem Schluss, dass Ehr
lichkeit wichtiger sei als diese pauschale Hexenjagd auf das Para
normale.
Als man mich 1984 einlud, beim Weltkongress der Astrologie
in Luzern auf der Grundlage meiner Forschungen einen Vortrag
über die psychologische Wichtigkeit des Geburtstraumas und über
die perinatalen Grundmatrizen zu halten, stand auch Michel Gau
quelin als Mitwirkender im Programm. Und noch ein weiterer zur
Astrologie konvertierter Wissenschaftler befand sich darunter:
Hans Eysenck, bekannt für seine heftige Kritik an der freudschen
Psychoanalyse.
390 Teil 7: Transpersonale Psychologie und Mainstream-Wissenschaft
Die MorgenlandfahrtLSD für die (ehemalige) Sowjetunion
on 1960 bis 1967 arbeitete ich am Fachbereich für das Studi
um zwischenmenschlicher Beziehungen des Psychiatrischen
Forschungsinstituts in Prag. In diesen Jahren war mein Hauptver
antwortungsbereich die Erforschung des therapeutischen und heu
ristischen Potenzials psychedelischer Substanzen. Neben der
Schweiz war die (ehemalige) Tschechoslowakei damals das einzige
Land, das offiziell pharmakologisch reines LSD herstellte. Als Stu
dienleiter des psychedelischen Forschungsprogramms hatte ich
unbegrenzt Zugang zu dieser Substanz.
1964 wurden mein Mitarbeiter Zdenek Dytrych und ich im
Rahmen eines Austauschprogramms für sechs Wochen in die (ehe
malige) Sowjetunion eingeladen, um dort die sowjetische For
schung auf dem Gebiet der Neurosen und der Psychotherapie zu
studieren. Die sowjetische Psychiatrie wurde zu jener Zeit von der
kommunistischen Ideologie beherrscht, und die einzige Theorie
der Neurosen, die man hier akzeptierte, beruhte auf I.P Pawlows
Experimenten mit Hunden. Die Behandlung beschränkte sich auf
die Verabreichung einer Mischung aus Brom und Koffein, Schlaf
therapie, Hypnose und Tranquilizer. Die Art von Tiefenpsychothe
rapie, die wir erforschten und die der Schwerpunkt unseres Inte
resses war, existierte in der Sowjetunion praktisch nicht.
Es war also gar nicht so einfach, eine interessante und lehr
reiche Reiseroute zusammenzustellen. Wir fanden jedoch heraus,
V
Die Morgenlandfahrt 391
dass es am psychoneurologischen Bechterew-Institut in Leningrad
(dem heutigen St. Petersburg) eine Gruppe gab, die unter der Lei
tung von Professor Myasischev ihre eigene Form von dynamischer
Psychotherapie praktizierte, und planten für unsere Reise einen
vierwöchigen Aufenthalt in dieser Einrichtung ein. Schließlich war
Leningrad eine wunderschöne Stadt und allein die Eremitage mit
ihrer unglaublichen Kunstsammlung Grund genug, ihr einen Be
such abzustatten!
Unsere Reiseroute sah auch einen Zwischenstopp in Suchumi,
Georgien, vor, wo wir uns die große Affenfarm am Schwarzen Meer
anschauen wollten, in der man die experimentellen Neurosen von
Mantelpavianen erforschte. Und angesichts der politischen Situati
on war es Pflichtprogramm, auch die höchst uninteressante Ein
richtung des Akademikers Andrei Snezhnevsky zu besuchen, der
Leiter des Moskauer »Instituts für Psychiatrie der U.S.S.R. Akade
mie für medizinische Wissenschaften« und Chefideologe der So
wjetpsychiatrie war.
Wir beschlossen, auf unsere Reise in die Sowjetunion 300 Am
pullen LSD-25 mit je 100 Mikrogramm mitzunehmen. Sie waren
in der tschechoslowakischen pharmazeutischen Industrie herge
stellt worden und standen zusammen mit Medikamenten wie Te-
tracyline Antibiotika, Insulin und Aspirin auf der Liste der offiziell
zulässigen Drogen. Unser Vorgehen war damals, bevor LSD durch
den Harvard-Skandal stigmatisiert wurde, absolut legal. Beim ers
ten Teamtreffen am Bechterew-Institut berichteten wir von unserer
Arbeit mit Psychedelika und boten interessierten Belegschaftsmit
gliedern an, ihnen LSD-Sitzungen zu geben.
Die Mitarbeiter der Abteilung für das Studium von Neurosen,
geleitet von Dr. Straumit, praktizierten eine oberflächliche Form
von dynamischer Psychotherapie. Die Psychologen und Psychiater
dieser Abteilung, vor allem die jungen, waren zwar interessiert an
der Psychoanalyse, mussten das aber strikt für sich behalten.
Freuds Bücher waren in der ehemaligen Sowjetunion verboten,
392 Teil 7: Transpersonale Psychologie und Mainstream-Wissenschaft
weil sein Modell der Psyche den Menschen als Wesen darstellte,
das von egoistischen Grundinstinkten getrieben wird und damit
nicht in der Lage ist, die ideale, zukünftige kommunistische Ge
sellschaft zu schaffen. Außerdem degradierte es die proletarischen
Revolutionäre, indem es ihren Kampf zur Absetzung der herr
schenden Klasse auf unbewältigte ödipale Konflikte zurückführte.
Die Bechterew-Gruppe musste sehr vorsichtig sein, um nicht be
schuldigt zu werden, mit solchen Ketzern zu paktieren.
Die Mitglieder des Therapeutenteams fanden die Aussicht, die
geheimen Winkel ihrer Psyche auf Wegen zu erforschen, die nicht
das Stigma des Freudianismus trugen, sehr aufregend. Mein Kolle
ge und ich füllten unsere Zeit in Leningrad damit aus, therapeu
tische Einzel- und Gruppensitzungen am Bechterew-Institut zu
besuchen, den Belegschaftsmitgliedern LSD-Sitzungen zu geben
und uns die erwähnte Eremitage anzuschauen. Außerdem hielt ich
im Auditorium des Bechterew-Instituts einen öffentlichen Vortrag
über LSD-Psychotherapie. In jenen Jahren sprach ich fließend Rus
sisch, sodass mein Vortrag für ein großes Publikum zugänglich war,
ohne übersetzt werden zu müssen.
In der damaligen Zeit existierten in der Sowjetunion überhaupt
keine klinischen Forschungsprojekte mit Psychedelika. Es gab al
lerdings einiges an Grundlagenforschung im Labor, die zum Teil
sogar am Bechterew-Institut stattfand. Der Biochemiker Lapin un
tersuchte die Auswirkungen von Psilocybin, einer LSD-ähnlichen
Substanz, auf die Blutgefäße von Kaninchenohren. Und es gab Ge
rüchte, dass der KGB bei Verhören und Gehirnwäschen Meskalin
und LSD einsetzte. Die Russen, denen Informationen über das öf
fentliche Weltgeschehen durch strenge Zensur vorenthalten wur
den, waren begierig auf alles Wissen von außen, und so war das
Auditorium bei meinem Vortrag brechend voll.
Am Tag meines Vortrags gab ich Doktor Straumit, dem Leiter
der Abteilung, eine LSD-Sitzung. Er bestand darauf, an meiner Prä
sentation mitzuwirken und dem Publikum am Ende meiner Rede
Die Morgenlandfahrt 393
von seinen Erfahrungen zu berichten. Mein Vortrag sollte am frü
hen Nachmittag stattfinden. Dr. Straumit machte tiefe und bedeut
same Erfahrungen, und als er unseren Zuhörern davon erzählte,
war er noch in der Phase des in diesem Buch schon erwähnten
»psychedelischen Nachglühens«. Seine klar formulierten Darstel
lungen machten auf das Publikum einen tiefen Eindruck, und der
Vortrag war ein eindeutiger Erfolg.
Aufgrund des Zeitpunkts unseres Russlandbesuches wurden
wir nebenbei auch Zeugen einer hochinteressanten politisch-wis
senschaftlichen Entwicklung. Während unseres Aufenthalts in Le
ningrad gingen nämlich Gerüchte über die historische »Operation
Sunshine« im Jahr 1958 um, bei der das amerikanische U-Boot
Nautilus unter dem arktischen Eis als erstes Schiff den Nordpol
durchquert hatte. 1959, mitten im Kalten Krieg, verbreiteten fran
zösische Journalisten die sensationelle Geschichte, dass es der
Nautilus, die aufgrund einer dicken Schicht Polareis von den üb
lichen elektronischen Kommunikationskanälen abgeschnitten war,
gelang, sich mit ihrer Basisstation telepathisch zu verständigen.
Kurz vor unserer Ankunft in Leningrad erwähnte Leonid Vasilyev,
ein international anerkannter Physiologe und Inhaber des Lenin-
Preises, diese amerikanische Erfolgsgeschichte bei einer Konferenz
von sowjetischen Wissenschaftlern zur Würdigung der Erfindung
des Radios. Er prophezeite, dass die Nutzbarmachung der bei au
ßersinnlichen Wahrnehmungen wirkenden Kräfte der Entdeckung
der Atomenergie vergleichbar sein würde. Vasilyevs Erläuterungen
lösten große Aufregung aus und sie zogen nicht nur die Aufmerk
samkeit der Fachwelt, sondern auch die von militärischen Kreisen
auf sich.
Die Sowjetregierung war alarmiert durch diese Informationen,
da die Vereinigten Staaten sich auf diesem Weg militärische Vor
teile verschaffen konnten. Bereits ein Jahr nach seinem Vortrag lei
tete Vasilyev an der Universität von Leningrad ein Speziallabor für
Parapsychologie. Das war der Beginn der goldenen Ära der para
394 Teil 7: Transpersonale Psychologie und Mainstream-Wissenschaft
psychologischen Forschung in der damaligen Sowjetunion, die
unter der Schirmherrschaft des sowjetischen Militärs und der
sowjetischen Geheimpolizei stand und ein Jahresbudget von
schätzungsweise 20 Millionen Rubeln erhielt. Das war zu jener Zeit
etwas mehr als die gleiche Summe in US-Dollars. Von dieser Ent
wicklung profitierten jedoch auch die amerikanischen Parapsycho
logen, denn da die Sowjets sich auf dieses Gebiet konzentrierten,
wurde die Parapsychologie für die nationale Sicherheit wichtig und
musste auch in den USA von der Regierung unterstützt werden.
Der persönliche Austausch bei unserem vierwöchigen Aufent
halt in Leningrad, verstärkt durch die psychedelischen Sitzungen
der Belegschaft und die lebhaften Partys, bei denen nach einem
alten zaristischen Rezept hergestellter »Starka« oder »Starinnaya-
Wodka« unsere Zungen löste, ließ zwischen uns intensive freund
schaftliche Bande entstehen. Als wir Abschied nahmen, um nach
Moskau und Suchumi weiterzureisen, hinterließen wir unseren Le-
ningrader Kolleginnen und Kollegen ziemlich viele restliche LSD-
Ampullen, damit sie ihre inneren Forschungsreisen fortsetzen
konnten. Nach unserem Besuch in Moskau - von dem wir kultu
rell eindeutig mehr profitierten als fachlich - und einem Abstecher
an die wunderschöne, subtropische Küste von Georgien kehrten
wir nach Prag zurück.
Unsere Erlebnisse in Leningrad hatten drei Jahre später, als ich
mein Stipendium an der Johns-Hopkins-University in Baltimore
antrat, ein interessantes Nachspiel: Die Henry-Phipps-Psychiatric-
Clinic, an der ich Psychotherapie lehrte, veranstaltete mittwochs
regelmäßig Vorlesungen von Gastdozenten. Einer dieser Gastred
ner war Dr. Isidor Zifferstein, ein amerikanischer Psychiater, der in
der Republik Belarus geboren wurde. Er nutzte seine hervorra
genden Russisch-Kenntnisse, um regelmäßig einmal im Jahr das
Bechterew-Institut zu besuchen und dort wie auch wir zuvor die
therapeutischen Einzel- und Gruppensitzungen zu beobachten. Da
Die Morgenlandfahrt 395
das Bechterew-Institut die einzige Einrichtung in der Sowjetunion
war, in der man eine psychotherapeutische Schule mit einer defi
nierbaren therapeutischen Methode praktizierte, wurde Dr. Ziffer
stein schon bald zum offiziellen U.S.-Experten für sowjetische Psy
chotherapie. Er reiste demzufolge in den Vereinigten Staaten umher,
um Vorträge zu diesem Thema zu halten, über das er auch Artikel
schrieb.
Die Henry-Phipps-Klinik war eine der Stationen auf seiner
Vortragsreise. Nachdem er wie üblich die Arbeit der Leningrader
Schule von Professor Myasischev erläutert hatte, erzählte Dr. Ziffer
stein uns von einer Beobachtung, die ihn ziemlich verblüfft hatte.
Lange Zeit hatte er dem Bechterew-Institut einmal im Jahr einen
Besuch abgestattet. Doch bei seinem letzten Besuch fand er dort
eine für ihn völlig neue und überraschende Situation vor. Das ge
dankliche Klima am Institut hatte sich radikal verändert. Bei
früheren Besuchen kreisten die meisten seiner Gespräche mit der
Belegschaft um Iwan Petrowitsch Pawlow, den russischen Physio
logen aus Leningrad, der den Nobelpreis gewonnen hatte. Die The
rapeuten hatten versucht, ihre theoretischen Vorstellungen und
therapeutischen Vorgehensweisen mit Berufung auf Pawlows Werk
zu rechtfertigen.
Bei seinem letzten Besuch jedoch blieb das zu Ziffersteins
Überraschung aus. Stattdessen sprachen die jungen Psychologen
und Psychiater jetzt ständig über orientalische Philosophie, ver
schiedene Schulen von Yoga und Zen-Buddhismus. Sie erwähnten
Bücher wie Aldous Huxleys Romane Schöne Neue Welt und Eiland
und Hermann Hesses Die Morgenlandfahrt - und das lange vor der
»Perestroika« und »Glasnost«. Da ich wusste, dass die Aufdeckung
des möglichen Zusammenhangs zwischen den psychedelischen
Sitzungen der Belegschaft und der veränderten Interessenlage am
Institut unangenehme Konsequenzen für diese Menschen haben
konnte, unterließ ich es, Dr. Zifferstein eine plausible Erklärung
für seine mysteriösen Beobachtungen zu liefern.
396 Teil 7: Transpersonale Psychologie und Mainstream-Wissenschaft
Für mich waren diese Umstände einfach ein weiterer Beweis für
die Entwicklung, die ich in meiner Arbeit immer wieder erlebt
habe: Wenn intelligente Psychiater und Psychologen mit guten
akademischen Referenzen die Gelegenheit bekommen, mit holo
tropen Zuständen zu experimentieren, öffnen sie sich für die spiri
tuellen Philosophien des Ostens und die mystischen Traditionen
der Welt und sehen darin eine angemessenere Alternative zur wis
senschaftlich-materialistischen Weltanschauung, die ihnen für die
se inneren Welten keine hinreichenden Erklärungen liefern kann.
Psyche und Kosmos 397
Psyche und KosmosWas die Planeten uns über Bewusstsein
verraten können
ine der größten Überraschungen, die ich in den fünfzig Jahren
meiner Bewusstseinsforschung erlebte, war die Entdeckung
der Vorhersagekraft der Astrologie. Die Arbeit mit holotropen Be
wusstseinszuständen und persönliche Erfahrungen damit erschüt
tern meist unser materialistisches Weltbild und öffnen uns für die
unterschiedlichsten spirituellen Lehren. Gegen die Astrologie je
doch hatte ich sehr starke Bedenken, die meine jahrelangen For
schungen auf dem Gebiet des menschlichen Bewusstseins beharr
lich überlebten. Die Vorstellung, dass die Sterne Einfluss auf
Bewusstseinszustände haben sollten - geschweige denn auf das
Weltgeschehen schien mir, selbst als ich mich schon lange für
östliche spirituelle Philosophien, Akupunktur und das I Ging ge
öffnet hatte, absurd und lächerlich.
Die Entdeckungsreise zur Astrologie dauerte viele Jahre. Meine
erste Begegnung mit ihr fand 1966 bei einem Gastauftritt in einer
tschechoslowakischen Fernsehsendung statt, zu der mich der Ver
anstalter einer Talk-Show einlud, damit ich das psychedelische
Forschungsprojekt, das ich am Psychiatrischen Forschungsinstitut
in Prag leitete, im Gespräch erläuterte. In derselben Sendung trat
auch ein slowakischer Kollege von mir auf, der Psychiater Eugene
Jonás. Eugene war sehr interessiert an Astrologie, die er seit über
fünfundzwanzigjahren studierte, darunter auch ihre babylonischen,
E
398 Teil 7: Transpersonale Psychologie und Mainstream-Wissenschaft
assyrischen, ägyptischen und indischen Spielarten. Um die mar
xistische Zensur nicht auf sich aufmerksam zu machen, benutzte er
den Begriff »Astrologie« jedoch nicht, sondern bezeichnete seine
Arbeit als Studium »kosmobiologischer Einflüsse«.
In unserer gemeinsamen Fernsehsendung erläuterte er seine
Untersuchungen über kosmobiologische Einflüsse auf die weib
lichen Fortpflanzungsfunktionen. Mit Hilfe von Hinweisen, die er
in einem uralten Buch über vedische Astrologie gefunden hatte,
versuchte er, das Geschlecht des Fötus zu bestimmen und das gele
gentliche Versagen der Empfängnisverhütung nach der Knaus-Ogi-
no-Methode zu erklären. Bei einem Forschungsprojekt, das er zu
sammen mit den Universitäten von Bratislava und Heidelberg
durchführte, war es ihm gelungen, das Geschlecht des Fötus auf
der Grundlage des Horoskops seines Empfängnistermins in sieb
zehn aufeinanderfolgenden Fällen korrekt vorauszusagen. Die Tref
ferquote dieser Ergebnisse war enorm. Und das, wie ich hier beto
nen muss, viele Jahre, bevor es möglich wurde, das Geschlecht des
Fötus mit Hilfe von Ultraschall zu bestimmen.
Eugene und ich hatten Gelegenheit, vor Beginn der Show im
Sitzungssaal miteinander zu plaudern, und nachdem wir uns ge
genseitig unsere Forschungsprojekte kurz vorgestellt hatten, be
schlossen wir, nach der Sendung essen zu gehen. Während des Es
sens erzählte Eugene mir von seiner Begeisterung und Leidenschaft
für Astrologie und wollte mich davon überzeugen, dass die Ge
burtsastrologie und die Astrologie der Transite für unsere psyche
delische Forschung äußerst nützliche Werkzeuge sein könnten.
Später konnte er mir tatsächlich interessante Rückmeldungen
zu einigen meiner LSD-Patienten geben, bei denen er sich aus
schließlich auf deren Geburtshoroskope und augenblickliche Tran
site berief. Ich fand das alles sehr interessant, doch meine Skepsis
gegen die Astrologie, die auf meine wissenschaftliche Ausbildung
zurückging, war zu stark, um Eugenes Vorschläge aufzugreifen und
mich ernsthaft auf dieses Gebiet einzulassen.
Psyche und Kosmos 399
Auch wenn unsere Begegnung aus mir keinen Liebhaber der Astro
logie machte, säte sie einen Samen, der Jahre später zu keimen be
gann. Nachdem ich am Maryland-Psychiatric-Research-Center in
Baltimore sieben Jahre psychedelische Forschung betrieben hatte,
machte man mir (wie in diesem Buch schon erwähnt) 1973 das
Angebot, als Wissenschaftler am Esalen-Institut in Big Sur zu arbei
ten und zu leben, und so zog ich nach Kalifornien um. Ein paar
Monate später kam ich in Kontakt mit Richard Tarnas, einem Har
vard-Studenten, der in Esalen seine Dissertation über LSD-Psycho-
therapie schreiben wollte. Er hatte von meinen Forschungen gehört
und war gekommen, um mich zu bitten, seinem Dissertationskomitee
beizutreten. In Esalen war zu der Zeit nur ein kleines Arbeitszim
mer im Keller des Hauses frei, in dem wir lebten. Rick zog dort ein,
und unsere anfängliche Arbeitsbeziehung entwickelte sich schnell
zu einer engen Freundschaft.
Und damit begann das nächste Kapitel meines Interesses an
Astrologie. In Esalen lernten Rick und ich Arne Trettvik kennen,
der der Astrologie sein Leben gewidmet hatte. Arne spazierte stän
dig mit dem American Ephemeris Book (dtsch: Ephemeriden = Ta
bellen über den Stand der Gestirne in einem bestimmten Zeitraum,
Anm.d.Ü.) unter dem Arm herum, das er täglich oder sogar stünd
lich konsultierte, um die Korrelationen zwischen Planetentransiten
und den Ereignissen in seinem Leben im Blick zu behalten. Arne
vermittelte uns Astrologie ganz anders, als Eugene sie mir damals
nahebringen wollte. Statt uns seine Beobachtungen lediglich mit
zuteilen, brachte er uns bei, selbst Transite zu berechnen, und er
läuterte uns die grundlegenden typischen Eigenschaften der plane
tarischen Archetypen, sodass wir die prinzipiellen Lehren der
Astrologie selbst überprüfen konnten.
Arnes Strategie war erfolgreich. Rick und ich waren nach die
ser praktischen Einführung beide vom Wert der Astrologie über
zeugt. Rick entwickelte ein so starkes Interesse an Astrologie, dass
sie für ihn zur lebenslänglichen Leidenschaft und Berufung wurde.
400 Teil 7: Transpersonale Psychologie und Mainstream-Wissenschaft
Ich selbst machte mit meinen Forschungen über außergewöhnliche
Bewusstseinszustände weiter, benutzte dabei nun aber die
Astrologie als wichtiges Werkzeug, und sie wurde zum integralen
Bestandteil meiner Untersuchungen.
Im Laufe der Jahre entwickelten Rick und ich uns zum be
währten Team und ergänzten uns gegenseitig. Meine Aufgabe war
es, aus psychedelischen Sitzungen, Workshops und Trainings für
Holotropes Atmen, mystischen Erfahrungen, spirituellen Krisen
und psychotischen Zusammenbrüchen interessante klinische Beo
bachtungen zusammenzutragen. Rick hat dann mit Hilfe seines as
trologischen Fachwissens und seiner bemerkenswerten Kenntnisse
über Kulturgeschichte die mit diesen Erfahrungen verbundenen
astrologischen Einflüsse untersucht.
Auf diese Weise haben wir mit der Zeit überzeugendes Beweis
material gesammelt, das die wichtigsten Grundaussagen der Astro
logie auf eine ganz spezifische Weise bestätigt. Dabei wurde
deutlich, dass es zwischen Wesen und Inhalt holotroper Bewusst
seinszustände und den Planetentransiten der Menschen, die diese
Zustände erleben, systematische Korrelationen, also Entspre
chungen gibt. Der erste klare Hinweis auf diese erstaunlichen Zu
sammenhänge zwischen Astrologie und meinen Forschungen über
holotrope Zustände war die Erkenntnis, dass meine Beschrei
bungen der Phänomenologie der bereits auf Seite 382 beschrie
benen vier perinatalen Grundmatrizen (BPMs) - der erlebnisbe
dingten Muster, die mit den einzelnen Phasen der biologischen
Geburt verbunden sind - erstaunliche Ähnlichkeiten mit den vier
Archetypen aufweisen, welche die Astrologen mit den vier äußeren
Planeten des Sonnensystems in Zusammenhang bringen. Meine
Beschreibungen der perinatalen Grundmatrizen beruhten auf un
abhängigen klinischen Beobachtungen, die ich viele Jahre sammel
te, bevor ich über Astrologie auch nur das Geringste wusste.
Bei der ersten perinatalen Grundmatrix (BPM I) - spiegeln die
positiven Aspekte das Wiedererleben von Phasen ungestörter Exis
Psyche und Kosmos 401
tenz im Mutterleib, begleitet von Erfahrungen wie Auflösung von
Grenzen, ozeanische Ekstase, kosmisches Einssein, Überwindung
von Raum und Zeit sowie Wahrnehmung der mystischen Wirk
lichkeitsdimensionen - eindeutig den Archetypen wider, den die
Astrologen mit Neptun verbinden. Das Gleiche gilt für den nega
tiven Aspekt der ersten perinatalen Grundmatrix, der auf regres
sive Erfahrungen mit pränatalen Störungen verweist. Hier ist die
Auflösung von Grenzen nicht mystischer, sondern psychotischer
Natur und führt zu Verwirrung, Wahndenken, dem Gefühl von
chemischer Vergiftung und paranoiden Realitätswahrnehmungen.
Diese Matrix steht auch in einem psychodynamischen Zusammen
hang mit Alkohol- und Nikotinvergiftung und Sucht und damit all
den Eigenschaften, welche die Astrologen als Schattenseiten des
Neptun-Archetypen beschreiben.
Typisch für die zweite perinatale Grundmatrix (BPMII) - die auf
der Geburtsphase »kein Ausgang« beruht, weil der Uterus kontra
hiert und der Gebärmutterhals noch verschlossen ist - sind die be
sessene Beschäftigung mit Alter und Tod, schwierige Prüfungen
und harte Arbeit, Depressionen, Unterdrückung, Beklemmungen
und das Gefühl zu verhungern. Diese Matrix bringt auch Gefühle
von Unzulänglichkeit, Unterlegenheit und Schuld mit sich. Sie ist
verbunden mit Skeptizismus und einer äußerst pessimistischen
Lebenseinstellung, einer erschütternden Sinnkrise, der Unfähig
keit, überhaupt etwas zu genießen, und dem Verlust der Verbun
denheit mit der göttlichen Wirklichkeitsdimension. Die Astrologie
schreibt all diese Eigenschaften der negativen Seite des Saturn-Ar
chetyps zu.
Die präzisen astrologischen Entsprechungen zu den erlebnis
bedingten Aspekten der dritten perinatalen Grundmatrix (BPM III)
sind besonders überraschend, denn diese Matrix beruht auf einer
ungewöhnlichen Kombination von Elementen, die typisch für das
Endstadium der biologischen Geburt sind. Hierher gehören der
unerbittliche Drang elementarer Triebe, das Aufeinanderprallen
402 Teil 7: Transpersonale Psychologie und Mainstream-Wissenschaft
gewaltiger Energien, dionysische Ekstase, Geburt, Sexualität, Tod,
Wiedergeburt, Auslöschung und die Beschäftigung mit Exkre
menten. Weiter gehören hierher Erfahrungen mit der Wichtigkeit
von Leben und Tod, Motive wie Vulkanausbrüche, reinigendes
Feuer und die Unterwelt - sowohl die städtische, kriminelle als
auch die psychologische, sexuelle und mythologische. Aus astrolo
gischer Sicht sind all dies Attribute des Archetyps Pluto.
Und die Phänomenologie der vierten perinatalen Grundmatrix
(BPM IV) schließlich ist eng verwandt mit dem Archetyp des Ura
nus. Dies ist der einzige Planet, dessen archetypische Bedeutung
hauptsächlich auf die Wesenszüge seines mythologischen Namens
vetters zurückgeht. Wie Rick in einem Aufsatz speziell zu diesem
Thema überzeugend gezeigt hat, spiegelt der Archetyp, der mit
Uranus assoziiert wird, tatsächlich die typischen Eigenschaften des
Helden Prometheus aus der griechischen Mythologie wider (Tar-
nas 1995). Typische Themen für ihn sind die unerwartete Lösung
schwieriger Situationen, das Durchbrechen und Überwinden von
Grenzen, brillante geistige Einsichten, prometheische Erschei
nungen, die plötzliche Weiterentwicklung zu neuen Wahrneh-
mungs- und Bewusstseinsebenen, Befreiung und die Überwindung
bisheriger Einschränkungen.
Die Entdeckung dieser großen Ähnlichkeiten zwischen der as
trologischen Beschreibung der fünf planetarischen Hauptarche
typen und der Phänomenologie der perinatalen Grundmatrizen
war bereits als solche und für sich genommen ungewöhnlich, wenn
man bedenkt, dass meine Beobachtungen aus einer völlig anderen
Quelle stammten als die astrologischen Zuordnungen. Noch er
staunlicher jedoch war Ricks spätere Entdeckung, dass die erleb
nisbedingte Konfrontation mit diesen Matrizen in holotropen Zu
ständen immer zu der Zeit passierte, wo die Betroffenen wichtige
Transite in den entsprechenden Planeten hatten.
Im Laufe der Jahre konnten wir diese Tatsache durch Tausende
von spezifischen Beobachtungen bestätigen. Aufgrund dieser über
Psyche und Kosmos 403
raschend präzisen Korrelationen hat sich die Astrologie - insbe
sondere die Astrologie der Transite - für die Bewusstseinsforschung
als das lange gesuchte Puzzlestück erwiesen, das den Schlüssel
zum Verständnis von Wesen und Inhalt sowohl spontan auftre
tender als auch künstlich erzeugter holotroper Zustände liefert, die
Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zum Inhalt haben.
Bei Erfahrungen, die die Vergangenheit betreffen, sind die Ent
sprechungen primär von theoretischem Interesse und können als
Grundlage für langfristige Forschungsprojekte dienen. Eine Unter
suchung augenblicklicher Transite kann extrem nützlich für die
Arbeit mit Menschen sein, die eine spirituelle Krise durchmachen,
denn sie liefert genaue Hinweise für ansonsten unverständliche Er
fahrungen und den Zeitpunkt ihres Auftretens. Und die Möglich
keit, auf der Grundlage zukünftiger Transite präzise Voraussagen
zu machen, ist für die Planung psychedelischer und holotroper Sit
zungen ein Werkzeug von unschätzbarem Wert.
Die moderne europäisch-amerikanische Zivilisation steht un
ter enorm starkem Einfluss der materialistischen Wissenschaft.
Deshalb müssen Menschen holotrope Zustände meist jahrelang er
forschen und gründliche, eigene Erfahrungen damit machen, be
vor sie sich aus dem Bann dieser Weltanschauung befreien und
akzeptieren können, dass wir unser Verständnis von der mensch
lichen Psyche und vom Wesen der Wirklichkeit radikal revidieren
müssen, um es mit den neuen Daten in Einklang zu bringen. Es
überrascht also nicht, dass dieser Prozess so schwierig ist und auf
heftige Widerstände stößt.
Wir können dem breiten Spektrum an Beobachtungen aus
holotropen Zuständen und Astrologie, die für unser bisheriges
Denken eine große Herausforderung darstellen, nicht durch theo
retisches Flickwerk und ein gelegentliches oberflächliches Zurecht
rücken mit Hilfe von unwesentlichen ad hoc-Hypothesen gerecht
werden. Wir müssen vielmehr drastische Revisionen vornehmen
und die meisten grundlegenden metaphysischen Annahmen und
404 Teil 7: Transpersonale Psychologie und Mainstream-Wissenschaft
Überzeugungen der materialistischen Wissenschaft durch neue
Prämissen ersetzen. Die konkreten Implikationen für Psychologie
und Psychiatrie gehen weit über jene hinaus, die ich im Laufe der
Jahre in meinen Büchern erläutert habe: das stark erweiterte Modell
der Psyche, die viel komplexere, multidimensionale Struktur von
emotionalen und psychosomatischen Störungen, der Gedanke des
inneren Radarsystems, die Existenz und der therapeutische Nutzen
einer inneren Heilungsintelligenz und anderes mehr.
Ein weiterer Aspekt, der im Licht der neuen Entdeckungen
radikal revidiert werden muss, ist die Rolle der Medizin in der Psy
chiatrie und ihr Einfluss auf die klinische Praxis - vor allem auf die
Diagnostik.
Da die Erfahrungen von Klienten zu einem gegebenen Zeitpunkt
sowohl in gewöhnlichen als auch in holotropen Bewusstseinszu
ständen tiefe Entsprechungen zu den archetypischen Feldern der
zu der Zeit stattfindenden Planetentransite aufweisen, unterliegen
sie ständigen Veränderungen. Kliniker und Theoretiker, die versu
chen, ein festes Klassifizierungssystem für psychiatrische Diagno
sen zu entwickeln, stellen fest, dass diese Arbeit sehr frustrierend
ist. In Amerika haben wir im Augenblick bereits die vierte revi
dierte Version des offiziellen Diagnostic and Statistical Manual (DSM-
IV) (Diagnostisches und statistisches Handbuch, Anm.d.Ü.) vorlie
gen, und trotzdem äußern sich Psychiater und Psychologen
weiterhin frustriert darüber, dass die Beschreibung der diagnos
tischen Kategorien und das aktuelle klinische Bild, das ihre Pati
enten zeigen, nur unzureichend übereinstimmen.
Aus astrologischer Sicht spiegelt dieses Schwanken des kli
nischen Bildes die ständig wechselnden Beziehungen zwischen den
Planeten und entsprechenden archetypischen Einflüssen wider. In
vielen geschichtlichen Etappen bilden zwei oder mehr Planeten
wichtige Konstellationen am Himmel; und das hat, wenn es die
äußeren Planeten von Jupiter bis Pluto betrifft, besonders tiefgrei
Psyche und Kosmos 405
fende und langfristige Auswirkungen. Das archetypische Feld, das
diese Planeten bilden, beschert der entsprechenden Etappe ganz
bestimmte Erlebnisse und prägt ihren Zeitgeist (deutsch im Origi
nal, Anm.d.Ü.).
So fiel zum Beispiel der gesamte Zeitraum von 1960 bis 1972
mit einer Konjunktion von Pluto und Uranus zusammen - die ein
zige derartige Konjunktion im 20. Jahrhundert. Das war mit Si
cherheit eine sehr passende, archetypische Kombination für die
Zeit einer ständigen, grundlegenden psychospirituellen Revolution
dionysischer Art: mit ihren typischen Erscheinungen wie sozialen
Umwälzungen, der Bewegung für die Bürgerrechte, technolo
gischen Errungenschaften, radikalen Innovationen in Musik und
Kunst, der sexuellen Revolution, der feministischen Bewegung,
den Studentenunruhen und einer reichen Gegenkultur.
Ganz im Gegensatz dazu beruhte der archetypische Hauptein
fluss in den gesamten 1990er-Jahren auf einer Konjunktion von
Neptun und Uranus. Dabei handelte es sich um eine Periode der
gründlichen, generell aber gewaltlosen, spirituellen und sozialen
Veränderungen oder »sanften Revolutionen« wie der deutschen
Wiedervereinigung, der Befreiung der osteuropäischen Länder so
wie der friedlichen Auflösung der Sowjetunion, einer gefährlichen
Supermacht.
In dieser Zeit gewann die jungsche Psychologie zunehmend an
Anerkennung, und viele spirituell orientierte Bücher fanden ihren
Weg auf die Bestsellerlisten. Transpersonale Themen - Mythologie,
Nahtoderfahrungen, UFO-Phänomene wie Landungen und Ent
führungen, instrumenteile Transkommunikation (ITC) (eine Reihe
von elektronischen Verfahren, um mit dem Jenseits zu kommuni
zieren, Anm.d.Ü.) und virtuelle Realitäten - fesselten die Aufmerk
samkeit der Fachwelt und der Öffentlichkeit, und viele wurden zu
Lieblingsthemen der Filmemacher (Tarnas 2007).
Zu der Zeit, in der diese planetarischen Hauptaspekte die gan
ze Welt beeinflussen, haben sie auch eine individuelle Bedeutung
für Einzelne, da sie in deren Geburtshoroskopen wichtige Transite
zu bestimmten Planeten bilden. Diese Übereinstimmung spiegelt
sich in der Tendenz zu bestimmten emotionalen und psychosoma
tischen Störungen wider. Deswegen bekommen Psychiater in einer
bestimmten historischen Etappe nicht die gleichen Phänomene zu
sehen wie ihre Kollegen in früheren oder späteren Zeiten. Das
könnte als ein möglicher Grund dafür gelten, dass diagnostische
und statistische Handbücher wie das amerikanische DSM-IV (Dia
gnostic and Statistic Manual of Mental Disorders, Anm.d.Ü.), die
eine universelle Gültigkeit beanspruchen, problematisch sind.
Aber das ist noch nicht das Ende der Geschichte. In den Jah
reskursen, die Rick Tarnas und ich in San Francisco am »California
Institute of Integral Studies« (CHS) halten, erläutern wir die wich
tigsten Schulen der Tiefenpsychologie und analysieren die Horo
skope ihrer Begründer. Dabei zeigte sich schon bald, dass diese
Pioniere die Psyche ihrer Klienten nicht objektiv studieren und da
raus generelle Schlussfolgerungen ziehen konnten, die unbegrenzt
gültig waren. Vielmehr sahen sie die Probleme ihrer Klienten durch
ihre subjektive Wahrnehmungsschablone oder verzerrte Sicht, die
durch die Aspekte in ihren eigenen Horoskopen mit ihren eigenen
Transiten zur Zeit ihrer Beobachtungen gefärbt war.
Mit Ausnahme von organisch begründeten Störungen hat die
Psychiatrie es bei ihren Studien und Untersuchungen also nicht
mit feststehenden Phänomenen zu tun. Jede Erforschung emotio
naler und psychosomatischer Störungen, die keine organische Ur
sache haben, wird durch ein komplexes Zusammenspiel zahlreicher
verschiedener Faktoren bestimmt: das Horoskop des Forschers
und seiner Transite zur Zeit seiner Beobachtungen, die weltweiten
planetarischen Aspekte, die den jeweiligen Zeitgeist bestimmen,
und die persönlichen Transite, die die Erfahrungen des Klienten
prägen.
Das Bild von der Psychiatrie als einer Disziplin, die präzise Be
schreibungen von feststehenden, transtemporalen pathologischen
406 Teil 7: Transpersonale Psychologie und Mainstream-Wissenschaft
Psyche und Kosmos 407
Zuständen und ein ganzes Arsenal an speziellen Heilungsmetho
den und Interventionen aufweisen kann, ist eine Illusion. Das ein
zig gültige praktische Vorgehen besteht unter diesen Umständen
darin, psychiatrische Störungen mit Hilfe von Beziehungen und
Werkzeugen zu beschreiben, mit denen wir die Situation zu jedem
gegebenen Zeitpunkt analysieren und unter Berücksichtigung der
Phänomenologie der Erfahrungen des Klienten und seiner planeta
rischen Transite charakterisieren können. Dabei müssen wir auf
jeden Fall auch die globalen planetarischen Aspekte sowie das
Horoskop und die Transite des Forschenden selbst als Korrektiv
mit einbeziehen.
Die Zusammenhänge, welche die Astrologie aufdeckt, sind so kom
plex, verwickelt, kreativ und phantastisch, dass keinerlei Zweifel
an ihrem göttlichen Ursprung bestehen kann. Sie liefern überzeu
gende Beweise dafür, dass die Schöpfung auf einer tiefen, sinn
vollen Ordnung beruht und eine überlegene kosmische Intelligenz
existiert, die diese hervorgebracht hat.
Das führt uns zu einer hochinteressanten Frage: Gibt es eine
umfassende Weitsicht, die mit der Astrologie vereinbar ist und sich
deren Erkenntnisse zu eigen machen kann? Nicht ohne Kämpfe
und innere Konflikte bin ich im Laufe der Jahre zu der Schlussfol
gerung gelangt, dass es tatsächlich eine Weitsicht gibt, die sowohl
mit meinen Erfahrungen und Beobachtungen aus der Bewusst
seinsforschung als auch mit der Astrologie vereinbar ist und beides
erklären kann. Sie steht jedoch in diametralem Gegensatz zu dem
Glaubenssystem, das in der modernen westlichen Zivilisation vor
herrschend ist.
Ich habe diese Weitsicht in meinen Buch Kosmos und Psyche.
An den Grenzen menschlichen Bewusstseins (2000) beschrieben und
in zusammengefasster Form auch in einem Kapitel meines letzten
Buches Psychologie der Zukunft. Erfahrungen der modernen Bewusst
seinsforschung (2002) dargestellt. Diese Sicht der Wirklichkeit be
408 Teil 7: Transpersonale Psychologie und Mainstream-Wissenschaft
ruht auf Erfahrungen und Einsichten aus holotropen Zuständen
und stellt das Universum nicht als materielles System dar, sondern
als unendlich komplexes Spiel von »Absolutem Bewusstsein«. Ur
alte hinduistische Schriften vermitteln uns eine ähnliche Sicht des
Kosmos und bezeichnen die Ereignisse in der Welt der Phänomene
als Leela, göttliches Spiel. Wie sich in wachsendem Maße heraus
stellt, ist diese Sichtweise des Universums auch kompatibel mit
zahlreichen revolutionären Fortschritten in der Wissenschaft des
neuen Paradigmas.
Wenn der Kosmos die Schöpfung einer überlegenen Intelligenz
ist und keine Supermaschine, die sich selbst erschaffen hat, ist es
plausibler, die Astrologie als eine der vielfältigen verschiedenen
Ordnungen zu betrachten, die Teil des universellen Gesamtgewe
bes sind. Und dann können wir in dieser Disziplin eine nützliche
Ergänzung der Wissenschaft sehen, statt deren unversöhnlichen
Rivalen. Die gedankliche Öffnung für eine solche Sicht birgt die
Chance, das großartige Potenzial der Astrologie als klinisches
Werkzeug und Forschungsinstrument in Psychiatrie, Psychologie
und Psychotherapie und zahlreichen weiteren Disziplinen nutzen
zu können.
Der wichtigste Unterschied zwischen dem Denken der Main-
stream-Wissenschaftler und dem der Astrologen besteht darin,
dass die Wissenschaftler versuchen, auf die Astrologie die Prin
zipien der linearen Kausalität anzuwenden. Das zeigte sich auch in
meinem Gespräch mit Carl Sagan (siehe Seite 384 ff.), dem Haupt
vertreter des »wissenschaftlichen« Widerstands gegen die Astrolo
gie. Als er von meinem Interesse an Astrologie erfuhr, sagte er zu
mir: »Ich verstehe nicht, wie Sie als intelligenter und gebildeter
Mensch an diesen Unsinn glauben können. Astrologie ist totaler
Humbug! So wie ich hier vor Ihnen stehe, habe ich mehr Einfluss
auf Sie als Pluto.«
Als hochintelligenter Mensch führte Carl im Kopf schnelle Be
rechnungen mit Masse, Abstand und Gravitationsfeldern durch,
Psyche und Kosmos 409
die ihn zu dem einleuchtenden Schluss brachten, dass die Planeten
keinen signifikanten Einfluss auf die menschliche Psyche oder die
Ereignisse auf der Erde ausüben können. Ihm fehlte jedoch die
Vorstellungskraft, sich einen anderen Mechanismus zu denken, der
hier möglicherweise wirkt.
Carls Fazit, dass die Astrologie keinen Sinn ergibt, wenn wir
von einer physischen Einwirkung der Planeten auf die menschliche
Psyche und das Weltgeschehen ausgehen, würde bei allen gut aus
gebildeten Astrologen Zustimmung finden. Sie gehen nicht von
physischen Ketten von Ursache und Wirkung aus, sondern von
synchronistischen Beziehungen. Die Weitsicht der Astrologie über
nehmen heißt, das Bild vom Universum als mechanisches, voll
kommen deterministisches System aufzugeben und stattdessen ein
Universum vor uns zu sehen, das auf einem meisterhaften Entwurf
beruht, der wiederum auf eine überlegene kosmische Intelligenz
zurückgeht.
Aus astrologischer Sicht finden wir im universellen Schema
der Dinge systematische Entsprechungen zwischen den Bewe
gungen und Winkelbeziehungen der Planeten und den Dynamiken
der archetypischen Welt vor. Und weil diese archetypischen Dyna
miken die Ereignisse in der materiellen Welt steuern und prägen,
können wir aus den Planeten-Konstellationen ablesen und Voraus
sagen, welche Ereignisse in der materiellen Welt demnächst wahr
scheinlich auf uns zukommen werden.
Es ist wichtig zu betonen, dass astrologische Voraussagen ar
chetypisch und nicht konkret sind. Wir können über Astrologie
nicht auf der Basis der Tatsache urteilen, dass sie mit dem wissen
schaftlichen Mainstream-Denken unvereinbar ist. Jeder ernst zu
nehmende Kritiker muss die Theorie und Praxis der Astrologie
kennen und ein entsprechendes Wissen über archetypische Psy
chologie besitzen. Der nächste Schritt wäre dann, eigene For
schungen anzustellen und sich anzuschauen, inwieweit die tat
sächlichen Beobachtungen mit den astrologischen Voraussagen
410 Teil 7: Transpersonale Psychologie und Mainstream-Wissenschaft
übereinstimmen. Befasst ein aufgeschlossener Forscher sich einge
hend mit solchen Untersuchungen, dann wird - davon bin ich
überzeugt - am Ende die Astrologie überleben und nicht die monis
tische, materialistische Weltanschauung der akademischen Wis
senschaft.
Epilog 411
Epilog
Meine Erfahrungen und Beobachtungen in den fünfzig Jahren,
in denen ich holotrope Bewusstseinszustände erforschte, so
wohl eigene als auch die von Tausenden von anderen Menschen,
haben meine persönliche und meine wissenschaftliche Weltan
schauung gründlich verändert. Die Geschichten, die ich für dieses
Buch zusammengetragen habe, sind eine kleine, aber repräsenta
tive Auswahl der Ereignisse, die für diese Wandlung ausschlagge
bend waren.
Als ich 1956 am medizinischen Fachbereich der Karls-Univer
sität in Prag meinen Abschluss machte, teilte auch ich das von der
westlichen materialistischen Wissenschaft entworfene Bild vom
Universum und der menschlichen Psyche, das akademische Kreise
und meine Kultur vertraten. Diese Weltanschauung beruhte auf
der metaphysischen Annahme, das Universum sei ein mecha
nisches, streng deterministisches System, in dem die Materie das
primäre Element darstellt. Leben, Bewusstsein und Intelligenz gel
ten hier als mehr oder weniger zufällige Nebenprodukte der Mate
rie, und damit im Wesentlichen als Zufallstreffer, zu denen es in
der Evolution von träger, anorganischer Masse nach Milliarden von
Jahren in einem unwesentlichen Bereich eines gigantischen Uni
versums kam.
Dieses Paradigma geht davon aus, dass dem Universum und
der Natur keine leitende Intelligenz und kein meisterhafter Ent
412 Epilog
wurf zugrunde liegen. Die unglaubliche Komplexität von Formen,
die zahlreiche wissenschaftliche Disziplinen von der Astronomie
bis hin zur relativistischen Quantenphysik, von Chemie und Biolo
gie bis hin zu Psychologie entdecken, ist demnach im Grunde ein
sinnloses Spiel von materiellen Teilchen. Das Universum gilt als
gigantisches, vollständig deterministisches mechanisches System,
regiert vom Prinzip von Ursache und Wirkung.
Aus dieser Sicht betrachtet, hat sich das Universum im We
sentlichen selbst erschaffen. Teilchen von anorganischer Materie
haben sich zufällig zu organischen Gebilden zusammengeschlos
sen, und diese haben sich zufällig zu Zellen organisiert. Die ge
samte darwinistische Evolution von einzelligen Organismen bis
hin zu menschlichen Wesen wird demnach gesteuert von zufäl
ligen genetischen Mutationen und dem Prinzip der natürlichen
Auslese. Nach dieser Weltanschauung besteht der Kernmechanis
mus der Evolution im Überleben des Stärkeren und der militanten
Strategie egoistischer Gene. Das erklärt und rechtfertigt offenbar
auch menschliche Verhaltensweisen, die man für typisch hält - das
Verfolgen egoistischer Interessen in Konkurrenz mit und auf
Kosten von anderen, das sich sowohl im persönlichen Leben als
auch im kollektiven wirtschaftlichen, politischen und militärischen
Geschehen manifestiert.
Dieses düstere Bild der menschlichen Natur wurde noch un
terstrichen durch die Erkenntnisse der Tiefenpsychologie, deren
Pioniere - Sigmund Freud und seine Anhänger - behaupteten, dass
unser menschliches Verhalten letzten Endes auf grundlegende ani
malische Triebe zurückgeht. Aus dieser Sicht betrachtet, sind Lie-
besgefühle nichts weiter als eine Reaktion auf unseren angebore
nen Aggressionstrieb oder ein desexualisiertes Interesse an unseren
Eltern. Unser ethisches Verhalten beruht auf Angst vor Strafe, äs
thetische Interessen stellen eine psychologische Abwehr gegen
mächtige anale Impulse dar und so weiter. Ohne gesellschaftliche
Restriktionen, Strafinstanzen und das Über-Ich, das sich durch el
Epilog 413
terliche Verbote und Befehle entwickelt, würden wir unsere Sexua
lität wahllos und promiskuös ausleben und hemmungslos töten
und stehlen, wie Freud es in seinem Aufsatz Das Unbehagen in der
Kultur so wortgewandt beschreibt (Freud 1984).
Freud und seine Anhänger sahen in religiösen Glaubenssyste
men und spirituellen Interessen, welcher Art auch immer, nichts
weiter als die Widerspiegelung von Aberglaube, Einfältigkeit, pri
mitivem magischen Denken, Primärprozessen und besessen
zwanghaftem Verhalten, das auf die Unterdrückung von analen
Impulsen und unverarbeitete Ödipus- oder Elektrakomplexe zu
rückgeht. Und wieder war es Sigmund Freud, der diese Sicht durch
Schriften wie Die Zukunft einer Illusion (1993) sowie Totem und Tabu
(1991) verbreitete.
Diese pauschale Verneinung der Legalität jeglicher Form von
Spiritualität unterschied nicht zwischen primitivem Volksglauben
und hochentwickelten religiösen Systemen, die auf einer gründ
lichen, jahrhundertelangen Erforschung von Psyche und Bewusst
sein beruhen, wie zum Beispiel zahlreiche Schulen von Yoga, Bud
dhismus und Sufismus. Sämtliche unmittelbaren Erfahrungen mit
spirituellen Dimensionen der Wirklichkeit galten in diesem Rah
men als Manifestationen ernsthafter Geisteskrankheiten.
Sowohl meine beruflichen Beobachtungen als auch meine persön
lichen Erfahrungen im Laufe der letzten fünfzig Jahre - die in ihren
Grundlinien den in diesem Buch beschriebenen Erlebnissen ent
sprechen - haben dazu geführt, dass ich die oben geschilderte
Weltanschauung und deren grundlegende metaphysische Annah
men inzwischen ernsthaft in Frage stelle. Obwohl ich mit beträcht
lichen intellektuellen Widerständen zu kämpfen hatte, sieht mein
Verständnis vom Universum sowie von der menschlichen Psyche
und Natur inzwischen völlig anders aus. Es ist eher den Denksyste
men verwandt, die Aldous Huxley »ewige Philosophie« nannte,
vor allem denen der großen östlichen spirituellen Philosophien.
414 Epilog
Nach meiner augenblicklichen Sicht der Wirklichkeit ist Bewusst
sein ein grundlegender Aspekt der Existenz und der Materie gleich
gestellt oder möglicherweise sogar übergeordnet und nicht ihr zu
fälliges Nebenprodukt.
Ich glaube heute, dass das Universum auf allen Ebenen und in
allen Dimensionen von einem kosmischen Bewusstsein und einer
überlegenen kreativen Intelligenz (anima mundi) geschaffen wurde
und durchdrungen ist. Für mich ist der Kosmos keine gigantische
Supermaschine mit newtonschen Eigenschaften, die aus einzelnen
Bausteinen (Elementarteilchen und -Objekten) besteht, sondern
ein einheitliches Feld, ein organisches Ganzes, in dem alles sinn
voll miteinander verbunden ist. Und jede individuelle menschliche
Psyche ist ein integraler Bestandteil vom kosmischen Gesamtbe
wusstsein und stimmt in ihren wesentlichen Zügen mit diesem
überein.
Genauer gesagt, um die Beobachtungen und Erfahrungen in
holotropen Zuständen verstehen zu können, musste ich das Mo
dell, das die traditionelle akademische Psychiatrie und Psychologie
heute benutzen, stark erweitern. Das Denken in Begriffen von Bio
logie, Physiologie, postnataler Biographie und des freudschen indi
viduellen Unbewussten hat sich für diese Zwecke als peinlich un
zulänglich erwiesen. Die neue Landkarte musste außer der Ebene
der postnatalen Biographie noch zwei weitere Bereiche mit einbe
ziehen: den perinatalen (verbunden mit dem Trauma der Geburt)
und den transpersonalen (der Erinnerungen an Ahnen, Rasse, Kol
lektiv und phylogenetische Erfahrungen sowie karmische Erleb
nisse und archetypische Abläufe umfasst).
Auch über das Gebiet, das traditionelle Psychiater als »Psychopa
thologie« bezeichnen, denke ich heute radikal anders. Mir ist ganz
klar geworden, dass wir emotionale und psychosomatische Stö
rungen, die keine organische Grundlage haben (psychogenetische
Psychopathologie), vor dem Hintergrund postnataler biogra
Epilog 415
phischer Traumata in der Kleinkindzeit, Kindheit und im späteren
Leben nicht angemessen erklären können. Die Wurzeln dieser Stö
rungen reichen sehr viel tiefer und beziehen bedeutsame Aspekte
der perinatalen und der transpersonalen Ebene mit ein.
Die Erkenntnis, wie tief die Wurzeln von emotionalen und
psychosomatischen Problemen reichen, kann anfangs sehr entmu
tigend sein, sie wird jedoch mehr als wiedergutgemacht durch
die Entdeckung der mächtigen, neuen therapeutischen Mechanis
men, die im tiefen Unbewussten wirksam werden (beispielsweise
beim Wiedererleben der eigenen Geburt, bei Erinnerungen an ver
gangene Leben, kosmischen Einheitserlebnissen und vielen wei
teren Erfahrungen).
Ein ähnlich aufregender Aspekt dieses neuen Verständnisses
der menschlichen Psyche ist die Entdeckung ihrer inneren Hei
lungsintelligenz. ln der traditionellen Psychotherapie besteht das
Ziel darin, intellektuell verstehen zu lernen, wie die Psyche funkti
oniert, warum sie bestimmte Symptome entwickelt und was diese
Symptome zu bedeuten haben. Solche Erkenntnisse dienen dann
als Grundlage für die Entwicklung verschiedener Behandlungsme
thoden, die Therapeuten bei ihren Patienten anwenden können.
Vor dem Hintergrund des verblüffenden Mangels an Übereinstim
mung von Psychologen und Psychiatern über die grundlegendsten
theoretischen Themen und die daraus resultierende, erstaunlich
hohe Anzahl verschiedener, miteinander konkurrierender psycho
therapeutischer Schulen ist dieses Vorgehen jedoch höchst proble
matisch.
Die Arbeit mit holotropen Zuständen hingegen zeigt uns eine
überraschende, radikale Alternative auf - die Mobilisierung der ei
genen, inneren Intelligenz der Klienten, die den Heilungs- und
Transformationsprozess anleitet.
Am überraschendsten und aufregendsten an der neuen Welt
anschauung ist, dass sie - im Gegensatz zur akademischen Wissen
schaft - die ontologische Realität der gewöhnlich im Verborgenen
416 Epilog
bleibenden spirituellen Dimensionen der Existenz erkennt und an
erkennt und Menschen, die damit Erfahrungen machen, keinen
psychopathologischen Stempel aufdrückt. Aus dieser Sicht ist die
ernsthafte spirituelle Suche ein wichtiger und völlig legitimer
Schritt. Wir müssen hier jedoch betonen, dass diese Aussage eine
authentische Spiritualität meint, die auf persönlichen Erfahrungen
beruht, und nicht die dogmatischen Ideologien der organisierten
Religionen.
Die neue Weitsicht, die ich hier kurz umrissen habe, ist kein
zufälliges Konstrukt oder ein Resultat von Spekulationen. Es han
delt sich hier um eine philosophische Perspektive, welche spontan
bei Menschen auftaucht, die sich von den Prägungen durch ihr Ge
burtstrauma und ihre ersten Lebensjahre befreien konnten und tie
fe transpersonale Erfahrungen gemacht haben. Die intensive, er
lebnisorientierte innere Arbeit in dieser Form hat tiefe Auswirkungen
auf die Art und Weise, wie wir unser Leben führen.
Es ist wohl keine Frage, dass Intelligenz - die Fähigkeit zu
lernen und zu erinnern, zu denken, vernünftig zu überlegen und
uns mit unserer materiellen Umgebung angemessen auseinander
zusetzen - generell eine wichtige Vorbedingung für ein gelungenes
Leben ist. Neuere Forschungen betonen außerdem die Wichtigkeit
einer »emotionalen Intelligenz« und meinen damit die Fähigkeit,
uns auf unser menschliches Umfeld adäquat einzulassen und uns
in zwischenmenschlichen Beziehungen kompetent zu verhalten
(Goleman 1997). Darüber hinaus bestätigen Beobachtungen aus
der Erforschung holotroper Zustände die Grundsätze der er
wähnten ewigen Philosophie, die besagen, dass unsere Lebensqua
lität letzten Endes abhängt von dem, was wir »spirituelle Intelli
genz« nennen können.
Spirituelle Intelligenz ist die Fähigkeit, unser Leben so zu le
ben, dass darin ein tiefes philosophisches und metaphysisches Ver
ständnis der Wirklichkeit und unseres eigenen Wesens zum Aus
druck kommt, welches wir bei der systematischen spirituellen
Epilog 417
Suche durch persönliche Erfahrungen gewonnen haben. In bud
dhistischen Schriften heißt diese Form von spiritueller Weisheit
prajna paramita (transzendentale Weisheit). Anders als die Dogmen
der organisierten Kirche ist spirituelle Intelligenz - durch erlebnis
orientierte Selbsterforschung erworben - imstande, die Weitsicht
der materialistischen Wissenschaft über den Haufen zu werfen.
Und ebenso effektiv wehrt sie fundamentalistische Missverständ
nisse und Verzerrungen der spirituellen Botschaft ab. Der Gedanke
des »Intelligent Design« ergänzt die wissenschaftlichen Entde
ckungen über die Evolution des Kosmos und des Lebens und ist
keine primitive und einfältige Alternative zu diesen.
Eine systematische und verantwortungsvolle Selbsterforschung
durch holotrope Zustände fördert die emotionale und psychoso
matische Heilung und eine positive Persönlichkeitstransformation.
Ich hatte das Privileg, diesen Prozess im Laufe der Jahre bei vielen
Menschen zu beobachten, die ernsthaft auf der spirituellen Suche
waren. Manche von ihnen meditierten regelmäßig; einige machten
psychedelische Sitzungen oder praktizierten andere Formen von
erlebnisorientierter Psychotherapie; einige wenige gingen den scha-
manistischen Weg. Auch bei Menschen, die in ihren spontan auf
tretenden spirituellen Krisen angemessene Unterstützung beka
men, konnte ich oftmals tiefe positive Veränderungen beobachten.
Bei Menschen, die ihren psychospirituellen Tod und ihre Wie
dergeburt erleben und die konkrete Erfahrungen mit Erinnerungen
an positive postnatale oder pränatale Erlebnisse machen, führt das
meist zu einer Reduktion irrationaler Triebe und Ambitionen. Das
wiederum bewirkt eine bemerkenswerte Abnahme von Aggression
zu Gunsten von innerem Frieden, Selbstakzeptanz und Toleranz
gegenüber anderen Menschen.
Typisch für diese Menschen ist, dass sie weniger auf Vergan
genheit und Zukunft als vielmehr auf den gegenwärtigen Augen
blick ausgerichtet sind und mehr Lebensfreude empfinden - sie
können simple, alltägliche Aspekte des Lebens wie Essen, das Lie
418 Epilog
besspiel, Natur und Musik mehr genießen und mehr Befriedigung
daraus ziehen. Ein weiteres wichtiges Resultat dieser Entwicklung
besteht darin, dass diese Menschen eine universelle, mystische und
allumfassende Spiritualität entwickeln, die nicht konfessionsge
bunden ist.
Dieser Prozess der spirituellen Öffnung und Transformation
vertieft sich meist durch transpersonale Erfahrungen wie Identifi
zierung mit anderen Personen, ganzen Gruppen von Menschen,
Tieren und Pflanzen. Weitere transpersonale Erlebnisse verschaffen
uns einen bewussten Zugang zu Ereignissen, die in anderen Län
dern, Kulturen und historischen Epochen stattfinden und bringen
uns sogar in Berührung mit mythologischen Reichen und archety
pischen Wesen aus dem kollektiven Unbewussten. Durch Erleb
nisse von kosmischem Einssein und mit der eigenen Göttlichkeit
können wir uns in wachsendem Maße mit der gesamten Schöp
fung identifizieren, was uns Gefühle wie Staunen, Liebe, Mitgefühl
und inneren Frieden schenkt. Was als psychologische Erforschung
der unbewussten Psyche für therapeutische Zwecke beginnt, wird
schließlich zu einer philosophischen Suche nach dem Sinn des Le
bens und zur spirituellen Entdeckungsreise.
Eines der verblüffendsten Resultate verschiedenster transper
sonaler Erfahrungen ist auch das spontane Auftreten und die Ent
wicklung einer tiefen humanitären und ökologischen Anteilnahme
sowie des Bedürfnisses, dem Gemeinwohl zu dienen. Dieses Phä
nomen beruht darauf, dass wir nahezu bis in unsere Zellen hinein
ein Bewusstsein davon haben, dass die Grenzen im Universum
willkürlich sind und jede und jeder von uns mit dem gesamten
Lebensnetz identisch ist. Dabei wird deutlich, dass wir der Natur
nichts antun können, ohne uns selbst zu verletzen. Menschliche
Unterschiede sind für uns dann eher interessant und bereichernd
als eine Bedrohung, ganz gleich ob sie nun Geschlecht, Rasse,
Hautfarbe, politische Überzeugungen oder die religiöse Ausrich
tung betreffen.
Epilog 419
Menschen, die diese Transformation erleben, empfinden sich eher
als Planetenbewohner und nicht als Bürger eines bestimmten
Landes oder Mitglieder einer bestimmten Rasse, einer sozialen,
ideologischen, politischen oder religiösen Gruppierung. Natürlich
würde eine solche Transformation unsere Lebenschancen erheblich
vergrößern, wenn sie entsprechende Kreise zöge.
Wir befinden uns heute in einem dramatischen Wettlauf mit der
Zeit, wie es ihn in der gesamten Geschichte der Menschheit bislang
nicht gegeben hat. Nichts Geringeres als die Zukunft des Lebens
auf diesem Planeten steht dabei auf dem Spiel. Wenn wir mit un
seren alten, extrem selbstzerstörerischen Strategien weitermachen
wie bisher, wird die Menschheit wahrscheinlich nicht überleben.
Würden aber genügend Menschen die oben geschilderte, tiefe in
nere Transformation erleben, dann wüchsen unsere Chancen, den
großen Herausforderungen, mit denen wir konfrontiert sind, pro
duktiv zu begegnen. Und so ließe sich das enorme kreative Poten
zial, das unserer Spezies angeboren ist, nutzen, um eine bessere
Zukunft zu schaffen.
420 Dank
Dank
ieses Buch zeichnet ein reiches Bild der bemerkenswerten
Abenteuer in meiner inneren Welt und meiner Alltagsrealität,
die ich im Laufe der fünfzig Jahre erlebte, in denen ich außerge
wöhnliche Bewusstseinszustände erforschte, die durch psychede
lische Substanzen und zahlreiche drogenfreie Methoden ausgelöst
wurden oder mitten im Alltag spontan auftraten. Diese Suche hat
mich in Reiche und Dimensionen der Realität geführt, die laut mei
ner Kultur und der Aussagen meiner Berufskollegen gar nicht exis
tieren, außer im Geist schwer gestörter psychiatrischer Patienten.
Ich musste jahrelange intellektuelle Kämpfe ausfechten, bevor ich
zu der Gewissheit gelangte, dass die normalerweise unsichtbaren
Wesen, denen ich begegnete, und die Gebiete, die ich bei meinen
inneren Reisen besuchte, im kollektiven Unbewussten objektiv
existieren und sich übereinstimmend bestätigen lassen. In den
meisten Fällen war für diese Bestätigung erforderlich, dass es Indi
viduen gab, die Gelegenheit hatten, solche Realitäten in außerge
wöhnlichen Bewusstseinszuständen persönlich zu erleben.
Diese Reise der Entdeckungen und Selbstentdeckung, die vol
ler Herausforderungen war, wäre unvergleichlich schwieriger ge
wesen, wenn ich sie allein hätte unternehmen müssen. Es war ex
trem hilfreich, geistig aufgeschlossenen Individuen zu begegnen,
die das neue Verständnis vom menschlichen Bewusstsein, von der
Wirklichkeit und der menschlichen Psyche teilten und bestätigten,
D
Dank 421
das sich beim Studium außergewöhnlicher Bewusstseinszustände
abzeichnete, oder die zumindest offen dafür waren. Ich bin zutiefst
dankbar für die Ermutigung und Unterstützung, die ich von ähn
lich gesinnten Kolleginnen und Kollegen erfahren habe, die unab
hängig, das heißt auf der Grundlage ihrer eigenen Forschungen
und persönlichen Erfahrungen zahlreiche Aspekte des neuen Ver
ständnisses der Wirklichkeit, das aus meiner Arbeit hervorging,
bestätigt haben. Die Zahl dieser Menschen nahm im Laufe der Jah
re kontinuierlich zu, und heute sind es zu viele, um sie hier alle
anerkennend aufzuführen. So nenne ich nur einige, deren Unter
stützung für mich von besonderer Wichtigkeit und Bedeutung
war.
Unmittelbar nach meinem Eintreffen in den Vereinigten Staa
ten war es Joel Elkes, Leiter des psychiatrischen Fachbereichs an
der Johns-Hopkins-University, der mir ein Stipendium für Experi
ment und Forschung verschafft hatte und mir später die Position
eines Assistenzprofessors für Psychiatrie anbot. Als brillanter Wis
senschaftler mit untadeligen akademischen Referenzen war Joel
geistig sehr aufgeschlossen und höchst interessiert an der neuen
Sicht der menschlichen Psyche und Realität, die sich in der psy
chedelischen Forschung abzeichnete. Seine intellektuelle und ad
ministrative Unterstützung war für unser Team am Maryland-Psy-
chiatric-Research-Center in Catonsville, Maryland, wo wir von
Ende der 1960er- bis zu Beginn der 1970er-Jahre das letzte in den
Vereinigten Staaten noch erhalten gebliebene psychedelische For
schungsprojekt durchführten, von unschätzbarem Wert. Es fällt
mir schwer, die richtigen Worte zu finden für die Dankbarkeit, die
ich Albert Kurland, Direktor des Maryland-Psychiatric-Research-
Center, und den Mitgliedern unseres Forschungsteams gegenüber
empfinde, vor allem Sandy Unger, dem verstorbenen Walter Pahn-
ke, Charles Savage, Bill Richards und seiner verstorbenen Frau Ilse,
Bob und Karen Leihy, Sidney Wolf, Rieh Yensen, dem verstorbenen
Franco di Leo und Nancy Jewel, die mich in ihrem Berufs- und
422 Dank
Privatleben mit offenen Armen aufnahmen. Ihre Familien wurden
für mich zu einem zweiten Zuhause.
Zutiefst dankbar bin ich auch Michael Murphy, der mich einlud,
als Dozent am Esalen-Institut in Big Sur, Kalifornien, zu lehren
und zu wohnen, dem einzigartigen Zentrum für die Erforschung
des menschlichen Potenzials, das er zusammen mit Dick Price
gründete. Mein Aufenthalt in Esalen von 1973 bis 1989 war für
mich eine äußerst positive und bestätigende Erfahrung. Dank des
erstaunlich reichen Programms an Workshops, die das Institut an-
bot, hatte ich Gelegenheit, die meisten Pioniere und Pionierinnen
der Wissenschaft vom neuen Paradigma, die Begründer zahlreicher
verschiedener Schulen erlebnisbedingter Psychotherapie und be
kannte spirituelle Lehrerinnen und Lehrer, die hier unterrichteten,
persönlich kennenzulernen. Meine Frau Christina und ich führten
in Esalen dreißig einmonatige Workshops durch, was uns Gelegen
heit gab, diese bemerkenswerten Menschen als Gastdozentinnen
und -dozenten einzuladen, uns mit ihren Lehren bekannt zu ma
chen und mit diesen Menschen anzufreunden. Esalen bot uns auch
einen idealen Rahmen für die Entwicklung des Holotropen Atmens,
einer tiefgreifenden, erlebnisbedingten Methode der Selbsterfor
schung und Therapie.
Mit Hilfe der Verbindungen, die wir in Esalen zu den Lehre
rinnen und Lehrern knüpften, die hier zu Besuch kamen, konnten
Christina und ich eine Reihe von großen transpersonalen Konfe
renzen veranstalten, die in verschiedenen Teilen der Welt stattfan
den - Nord- und Südamerika, Europa, Australien und Asien. Die
Starbesetzung dieser Treffen und ihr reiches interdisziplinäres Pro
gramm waren eine weitere Bestätigung für die neue Sicht der Wirk
lichkeit und das neue Verständnis von Psyche, Bewusstsein und
menschlicher Natur, die sich abzeichneten. Besonders ermutigend
war, dass die meisten Referentinnen und Referenten bei diesen
Konferenzen, die diese neue Sicht teilten, einen soliden Ausbil
Dank 423
dungshintergrund hatten, außergewöhnlich intelligent waren und
beeindruckende akademische Referenzen vorweisen konnten.
Mein besonderer Dank gilt dem Kreis unserer engsten Freunde
und Mitsuchenden in der Bay Area, der sich, seit wir von Big Sur
nach Mill Valley gezogen sind, regelmäßig getroffen hat - Angeles
Arrien, Michael und Sandra Harner, Jack und Liana Kornfield, Bo-
kara Legendre, Ram Dass, Frances Vaughan und Roger Walsh. Un
sere gemeinsamen Essen, Meditationen und unser Informations
austausch über zahlreiche, verschiedene Themen sind für mich
eine Schatzkiste voller neuer Ideen, Anregungen, nützlicher Hin
weise und kritischer Kommentare gewesen. Vor allem aber boten
uns diese Zusammenkünfte viel Unterstützung und Bestätigung,
die auf unserer generellen Übereinstimmung in Bezug auf die
grundlegenden Aussagen der transpersonalen Sicht und spiritu
ellen Weltanschauung beruhen. Rick Tarnas, ein weiterer enger
Freund, ein brillanter Astrologe und archetypischer Psychologe,
hat mir in zahlreichen Diskussionen, Kursen und Workshops, die
wir im Laufe der Jahre zusammen geleitet haben, enorm geholfen,
die Astrologie schätzen und würdigen zu lernen; eine Disziplin, die
- mehr als jede andere - meine gedanklichen Grenzen und meinen
intellektuellen Horizont erweitert hat. Unabhängig davon habe ich
auch viel Inspiration, Bestätigung und Unterstützung von Ervin
Laszlo und Ralph Metzner erfahren.
Sehr dankbar bin ich Michael Marcus, Janet Zand, John
Buchanan, Bokara Legendre und Betsy Gordon für ihre Freund
schaft und die großzügige Unterstützung, die sie unserer Arbeit im
Laufe der Jahre zuteil werden ließen. Mein Bruder Paul, der sich
als Psychiater auf die Erforschung affektiver Störungen spezialisiert
hat, repräsentiert eine einzigartige Mischung aus ausgezeichnetem,
gründlichen Intellekt, wissenschaftlicher Leidenschaft und außer
ordentlicher Großzügigkeit. Er ist immer mein enger Freund, Ver
trauter, begeisterter Fan sowie aufrichtiger und ernst zu nehmender
424 Dank
Kritiker gewesen. Mein besonderer Dank geht an Tav und Cary
Sparks, unsere lieben Freunde, die über zwanzig Jahre unsere Mit
arbeiter waren. Beide haben als Co-Direktoren des Grof Transper
sonal Training (GTT) und Mitorganisatoren von Workshops und
internationalen transpersonalen Konferenzen, die wir in verschie
denen Teilen der Welt veranstalteten, in unserem Leben eine ent
scheidende Rolle gespielt. Tav war viele Jahre lang mein Reisege
fährte und Co-Leiter und Cary die Seele all unserer gemeinsamen
Projekte.
Die normalerweise unsichtbaren, außergewöhnlichen Dimensi
onen der Wirklichkeit wären mir verborgen geblieben ohne die
Epoche machenden Entdeckungen und das Lebenswerk von Al
bert Hofmann, der der Welt bemerkenswerte Werkzeuge für die
Erforschung der menschlichen Psyche geliefert hat - LSD, Psilocy-
bin, Psilocin und Monoethylamin von Lysergic Acid. Ich möchte
diese Gelegenheit nutzen, um ihm meine tiefe Dankbarkeit für all
die Entdeckungen auszudrücken, die er in mein persönliches und
berufliches Leben und das Leben unzähliger anderer Menschen
brachte, die seine Gaben mit dem Verantwortungsbewusstsein und
Respekt nutzen, welche diese außergewöhnlichen Werkzeuge ver
dienen.
Ich hatte das Privileg, Albert persönlich zu kennen und ihm
bei zahlreichen Gelegenheiten zu begegnen. Ich habe im Laufe der
Jahre eine große Zuneigung und tiefe Bewunderung für ihn entwi
ckelt, nicht nur, weil er ein erstaunlicher Wissenschaftler ist, son
dern auch ein bemerkenswertes menschliches Wesen. Nach einem
über hundertjährigen erfüllten, gesegneten und produktiven Leben
strahlt er noch immer eine erstaunliche Vitalität, Neugier und
Liebe für die gesamte Schöpfung aus. Als er vor wenigen Monaten
einen Tag mit der Gruppe unserer Teilnehmer am Ausbildungstrai
ning in Gruyeres, in der Schweiz, verbrachte, hatten wir alle das
Gefühl, keinem wissenschaftlichen Vortrag zu lauschen, sondern
Dank 425
Darshan bei einem spirituellen Lehrer zu haben. Wir hatten kei
nerlei Zweifel daran, dass Albert - wie Albert Einstein und Isaac
Newton - zu den großen Wissenschaftlern gehört, deren unbeirr
bares Verfolgen ihrer Disziplin die Erkenntnis der wunderbaren
göttlichen Ordnung mit sich brachte, die der Welt der Materie und
der natürlichen Phänomene zugrunde liegt. Er wird mir mein gan
zes restliches Leben lang Vorbild und leuchtendes Beispiel sein.
Meine Liste wäre unvollständig, wenn ich nicht Christina, meiner
Frau, Geliebten, besten Freundin, Mitarbeiterin und Mitsuchenden
meinen tiefen Dank aussprechen würde für all die Inspiration, die
ich von ihr im Laufe der Jahre bekommen habe und für all das,
was sie zu meinem Leben und zu unseren gemeinsamen Projekten
beigetragen hat. Unter anderem hat sie das Spiritual Emergence-
Netzwerk (SEN) gegründet, einzigartige Beiträge zum Verständnis
der Beziehung zwischen Sucht, Abhängigkeit und spiritueller Su
che geliefert und zusammen mit mir das Holotrope Atmen entwi
ckelt. Die Workshops und Trainings für die Atemarbeit, die wir
überall in der Welt zusammen durchgeführt haben, waren die
Quelle der außerordentlichen Beobachtungen, die den Stoff für
viele der Geschichten in diesem Buch lieferten. Christina spielt in
zahlreichen dieser Geschichten eine wichtige Rolle und war prä
sent, »wenn das Unglaubliche passierte«. Mir ist bewusst, dass das
Schreiben dieses Buches und vieler weiterer früherer Bücher unser
Privatleben oft beeinträchtigt hat. Ich möchte diese Gelegenheit
nutzen, Christina für ihre Geduld und ihr Verständnis zu danken
und mich bei ihr zu entschuldigen.
Mein besonderer Dank geht an zwei Menschen, die für die Veröf
fentlichung der Originalausgabe dieses Buches eine wichtige Rolle
gespielt haben: Tami Simon, die ich sehr bewundere und schätze,
hat völlig selbstständig Sounds True gegründet, einen Audio-, Video-,
Buch- und Musikverlag, der von einem Ein-Personen-Betrieb in
426 Dank
nur einem Raum zu einer Firma angewachsen ist, die ihre eigenen
technischen Einrichtungen besitzt und über fünfzig Personen be
schäftigt. Durch die Aufnahmen von Sounds True konnten Hun-
derttausende von Hörerinnen und Hörern Bekanntschaft schließen
mit dem Gedankengut spiritueller Lehrerinnen und Pioniere der
Wissenschaft des neuen Paradigmas, alternativen Heilungsmetho
den, Bewusstseinsforschung und transpersonaler Psychologie. Ich
weiß es sehr zu schätzen, dass Tami beschlossen hat, das vorlie
gende Buch im Rahmen ihres neuen Verlagsprojektes herauszu
bringen. Dankbar bin ich auch Alice Feinstein für das Fachwissen
und die Begeisterung, mit der sie das Manuskript lektoriert hat,
und für ihren Rat und ihre hilfreichen Vorschläge, wie ich für die
Geschichten, die ich meinen Leserinnen und Lesern hier erzähle,
die passendste Form finden kann.
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Dieses aufregende Buch enthält Geschichten über außergewöhnliche Bewusstseinserfahrungen sowie frappierende Erkenntnisse aus der Transpersonalen Psychologie und lässt uns die Welt mit neuen Augen sehen. Eine spannende Reise durch den Kosmos, hin zum unglaublichen Potenzial menschlicher Existenz!
» Durch Erlebnisse von kosmischem Einssein und mit der eigenen
Göttlichkeit können wir uns in wachsendem Maße mit der gesam
ten Schöpfung identifizieren, was uns Gefühle wie Staunen, Liebe,
Mitgefühl und inneren Frieden schenkt.«
Stanislav Grof
Realität ist anders, als wir denken!