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15 Harmonische Gesellschaft Bei der ersten Begegnung mit seinem Meister fällt Siao Weijia ins Nichts: Die Beine wie weg- gezogen, der Oberkörper nach vorne kippend, kein Gefühl mehr für oben oder unten, so stürzt sein Körper ins Leere. Ein Schreckensschrei, und noch im Fall ruft Siao Weijia: „Das will ich lernen!“ Schon beim Ver- such, den Meister zu berühren, verliert er das Gleichgewicht. 25 Jahre hat Siao Weijia da- mals schon die weiche Kampf- kunst Taijiquan gelernt und kennt ihre verschiedenen Stile. „Der Kranich breitet die Flügel aus“, „Der Affe weicht zurück“, sind die bildhaften Namen der langsamen Bewegungsabfol- gen. Zehntausend Mal sind Siaos Arme schwerelos durch die Luft geglitten, die Knie ge- sunken, hat sein Fuß entspannt ins Leere gekickt. Doch so eine Kraft, wie beim Zusammentref- fen mit Meister Shi Ming, hat er noch nie gespürt. Gleichgewicht in Harmonie „Im Taijiquan gibt es keine Konflikte, es hebt sie auf“, er- klärt Siao. „Wer still ist, kann das Ungleichgewicht des Part- ners nutzen. Jeder sucht nach diesem Zustand der Mitte, doch nur wenige können diese Harmonie mit ihrem Körper und Geist spüren.“ Weil er sein eigenes Ungleichgewicht bei Meister Shi Ming so deutlich gespürt hat, bleibt er zwölf Jah- re lang bei ihm. Er wird sein persönlicher Schüler und schreibt mit ihm ein in mehre- re Sprachen übersetztes Buch über Taijiquan.* Nach dem Tod des Meisters nimmt Siao Kontakt zu den zer- streuten ehemaligen Mitschü- lern seines Lehrers auf. Denn er weiß: Wenn diese Kunst ver- schwindet, stirbt ein wichtiger Teil der chinesischen Kultur. Im Westen ist Taijiquan als „Schattenboxen“ bekannt und angesagt. In seinem Ur- sprungsland China fürchten traditionelle Meister wie Siao Weijia jedoch um sein Überle- ben: Die langsame, schwer er- lernbare Bewegungsform passt nicht zum rasanten Tempo des Landes. Deshalb bleiben die Schüler weg. Taiji ist nur etwas für die Alten, meinen moderne Chinesen. Sie machen lieber das exotische Yoga oder Taiji in einer Sportversion – die die al- ten Meister für seelenlos hal- ten. Ursprung in geheimen Gesellschaften Lange schwächten die Meister ihre Kunst auch selbst: Der Ur- sprung der geschmeidigen Kampfkunst liegt in den Ge- heimbünden der Kaiserzeit. Viele Familienclans pflegten ihre eigene Kampfkunst – und hielten sie geheim. Es mag an dieser Tradition liegen, dass die alten Meister selbst heute noch ihr Wissen nur an Einzelne wei- tergeben und kaum miteinan- der sprechen. Eine verhängnisvolle Ein- stellung, in einer Zeit, in der sie um das Überleben ihrer Kunst kämpfen müssen, findet Siao Weijia. In mühsamen Gesprä- chen überzeugte der 66-Jähri- ge deshalb die anderen Mei- ster, endlich gemeinsame Sa- che zu machen, ihre Geheim- nisse offen zu legen und die eigenen Wurzeln zu erfor- schen. Und nun brechen die Alten mit ihrer Tradition – um ihre Tradition zu retten. Der Weg Siaos zum Sprach- rohr der alten Meister und Kämpfer für das Überleben der traditionellen Kultur war nicht vorgezeichnet. Es ist ein Weg voll wundersamer Geschichten aus dem modernen China und einem von taoistischer Lebens- weisheit und konfuzianischen Verhaltensweisen durchdrun- genem Reich. Ein Weg, der Siao quer durch die traditionel- le Medizin, Philosophie und Kampfkünste führt. Ein Weg auf der Suche nach Harmonie. 50er Jahre: Yin und Yang in der Akupunktur 1941 wird der Sohn des chine- sischen Dichters Siao San und der deutschen Fotografin Eva Siao in einer Höhlenwohnung in den Lössbergen Yan’ans ge- boren. Die Stadt ist Maos Hauptquartier am Ende des Langen Marsches und gilt als Wiege der Revolution. Siao Weijia ist der mittlere von drei Söhnen. Die Familie glaubt an das neue China, Traditionen Vom Weg der Harmonie Taijiquan und Siao Weijia Die sanfte Kampfkunst Taijiquan ist die Lehre vom Weg der Harmonie – doch jede Schule macht aus ihrem Wissen ein Geheimnis. Damit ihre langsame Kunst im schnellen Tempo der modernen chinesischen Gesellschaft überlebt, hat Siao Weijia die alten Meister überzeugt, dass sie ihr Wissen zusammenwerfen und gemeinsam ihre Wurzeln erforschen müssen. In Peking haben sie nun einen Studienverein gegründet. Das Lernen der Berührung. Foto: Astrid Oldekop

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Page 1: Startseite - dnC 2 08 · 2019. 11. 28. · Yin und Yang in der Akupunktur 1941 wird der Sohn des chine- ... Siao wird persönlicher Schüler von Shi Ming, 1984. Foto: Siao Weijia

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Harmonische Gesellschaft

Bei der ersten Begegnung mitseinem Meister fällt Siao Weijiains Nichts: Die Beine wie weg-gezogen, der Oberkörper nachvorne kippend, kein Gefühlmehr für oben oder unten, sostürzt sein Körper ins Leere. EinSchreckensschrei, und noch imFall ruft Siao Weijia: „Das willich lernen!“ Schon beim Ver-such, den Meister zu berühren,verliert er das Gleichgewicht.

25 Jahre hat Siao Weijia da-mals schon die weiche Kampf-kunst Taijiquan gelernt undkennt ihre verschiedenen Stile.„Der Kranich breitet die Flügelaus“, „Der Affe weicht zurück“,sind die bildhaften Namen derlangsamen Bewegungsabfol-gen. Zehntausend Mal sindSiaos Arme schwerelos durchdie Luft geglitten, die Knie ge-sunken, hat sein Fuß entspanntins Leere gekickt. Doch so eineKraft, wie beim Zusammentref-fen mit Meister Shi Ming, hater noch nie gespürt.

Gleichgewichtin Harmonie

„Im Taijiquan gibt es keineKonflikte, es hebt sie auf“, er-klärt Siao. „Wer still ist, kanndas Ungleichgewicht des Part-ners nutzen. Jeder sucht nachdiesem Zustand der Mitte,doch nur wenige können dieseHarmonie mit ihrem Körperund Geist spüren.“ Weil er seineigenes Ungleichgewicht bei

Meister Shi Ming so deutlichgespürt hat, bleibt er zwölf Jah-re lang bei ihm. Er wird seinpersönl icher Schüler undschreibt mit ihm ein in mehre-re Sprachen übersetztes Buchüber Taijiquan.*

Nach dem Tod des Meistersnimmt Siao Kontakt zu den zer-streuten ehemaligen Mitschü-lern seines Lehrers auf. Denner weiß: Wenn diese Kunst ver-schwindet, stirbt ein wichtigerTeil der chinesischen Kultur.

Im Westen ist Taijiquan als„Schattenboxen“ bekanntund angesagt. In seinem Ur-sprungsland China fürchtentraditionelle Meister wie SiaoWeijia jedoch um sein Überle-ben: Die langsame, schwer er-lernbare Bewegungsform passtnicht zum rasanten Tempo desLandes. Deshalb bleiben dieSchüler weg. Taiji ist nur etwasfür die Alten, meinen moderne

Chinesen. Sie machen lieberdas exotische Yoga oder Taiji ineiner Sportversion – die die al-ten Meister für seelenlos hal-ten.

Ursprung in geheimenGesellschaften

Lange schwächten die Meisterihre Kunst auch selbst: Der Ur-sprung der geschmeidigenKampfkunst liegt in den Ge-heimbünden der Kaiserzeit.Viele Familienclans pflegtenihre eigene Kampfkunst – undhielten sie geheim. Es mag andieser Tradition liegen, dass diealten Meister selbst heute nochihr Wissen nur an Einzelne wei-tergeben und kaum miteinan-der sprechen.

Eine verhängnisvolle Ein-stellung, in einer Zeit, in der sieum das Überleben ihrer Kunstkämpfen müssen, findet Siao

Weijia. In mühsamen Gesprä-chen überzeugte der 66-Jähri-ge deshalb die anderen Mei-ster, endlich gemeinsame Sa-che zu machen, ihre Geheim-nisse offen zu legen und dieeigenen Wurzeln zu erfor-schen. Und nun brechen dieAlten mit ihrer Tradition – umihre Tradition zu retten.

Der Weg Siaos zum Sprach-rohr der alten Meister undKämpfer für das Überleben dertraditionellen Kultur war nichtvorgezeichnet. Es ist ein Wegvoll wundersamer Geschichtenaus dem modernen China undeinem von taoistischer Lebens-weisheit und konfuzianischenVerhaltensweisen durchdrun-genem Reich. Ein Weg, derSiao quer durch die traditionel-le Medizin, Philosophie undKampfkünste führt. Ein Wegauf der Suche nach Harmonie.

50er Jahre:Yin und Yang in derAkupunktur

1941 wird der Sohn des chine-sischen Dichters Siao San undder deutschen Fotografin EvaSiao in einer Höhlenwohnungin den Lössbergen Yan’ans ge-boren. Die Stadt ist MaosHauptquartier am Ende desLangen Marsches und gilt alsWiege der Revolution. SiaoWeijia ist der mittlere von dreiSöhnen. Die Familie glaubt andas neue China, Traditionen

Vom Weg der HarmonieTaijiquan und Siao Weijia

Die sanfte Kampfkunst Taijiquan ist die Lehre vom Weg derHarmonie – doch jede Schule macht aus ihrem Wissen ein

Geheimnis. Damit ihre langsame Kunst im schnellen Tempo dermodernen chinesischen Gesellschaft überlebt, hat Siao Weijia

die alten Meister überzeugt, dass sie ihr Wissen zusammenwerfenund gemeinsam ihre Wurzeln erforschen müssen. In Peking haben

sie nun einen Studienverein gegründet.

Das Lernen der Berührung. Foto: Astrid Oldekop

Page 2: Startseite - dnC 2 08 · 2019. 11. 28. · Yin und Yang in der Akupunktur 1941 wird der Sohn des chine- ... Siao wird persönlicher Schüler von Shi Ming, 1984. Foto: Siao Weijia

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spielen keine große Rolle,Familiensprache ist Russisch.„Die Generation meines Vatersund Maos war zwar gegen dastraditionelle Wissen, doch siewar von dieser Weisheit ge-prägt und hat sie stets ge-nutzt“, weiß Siao Weijia.

Er sitzt auf einem tiefenLedersofa in seiner Wohnungim Westen Pekings. An derWand hinter ihm hängt einesseiner Tuschebi lder, e inschwungvoller Kreis – da ist siewieder, die Suche nach Harmo-nie. Im Gespräch führt er dieFinger, zwischen denen meisteine Zigarette qualmt, wie einTaoist wieder und wieder zu-sammen, wenn er nicht gera-de seine weiße Katze krault.Sein Blick ist wach, mal boh-rend, mal belustigt. Fragendzieht er eine Augenbraue in dieHöhe. Er spricht gerne undhäufig durchbricht ein warmesLachen seinen Redefluss. SeinEnglisch ist gut, geht es jedochum Philosophie verlangt ernach dem Übersetzer.

Er erzählt von seiner erstenBegegnung mit der chinesi-schen Philosophie: Als sein Va-ter in den fünfziger Jahren inPeking eine Akupunktur-Be-handlung erhält, dreht der Arztdie Nadel mit zwei Fingern, dierestlichen drei Finger streckt eraus. Er erklärt dem staunenden

Jungen: „Drei Finger sind in derStille, zwei in Bewegung. Dasist Yin und Yang.“ An diesesharmonische Gleichgewicht er-innert sich Schüler Siao, als eineRückenverletzung seiner hoff-nungsvollen Laufbahn als Leis-tungsturner ein jähes Ende be-reitet. Er verweigert eine Ope-ration, setzt auf chinesischeMedizin und lernt Taijiquan.

1962 bis 1966:Erster Meister

Im neuen China der Volksrepu-blik sind der Kampf und seineKünste verpönt. Doch was fürSiao als langsame Gymnastikbeginnt, wird bald zur Lebens-philosophie. 1962 begegnet erdurch einen Zufall seinem ers-ten großen Meister, dem 86-jährigen Wu Shaoshu. DerMeister für traditionelle Mas-sagen sagt dem Jungen: „Dei-ne Muskeln sind wie Tofu. Au-ßen hart. Innen weich undschwach.“ Wu ist ohne Mus-keln stark. Wenn Siao denMeister morgens vor der Schulebesucht, sitzt dieser in seinemnur durch einen Vorhang vomBehandlungsraum abgetrenn-ten kargen Zimmer auf demBett. „Ist das nicht langwei-lig?“, fragt ihn der Junge. „Dasverstehst Du nicht“, antwortet

der 86-Jährige, der mit seinemlangen weißen Bart, den impo-santen Brauen und dem rasier-ten Schädel einem Tuschebildentsprungen scheint. „Laotsesagt: Die fünf Farben und diefünf Töne stören den Geist. Ichhalte meinen Geist ruhig.“

Eines Morgens kommt der21-jährige Siao früher als ge-wöhnlich und überrascht denAlten, als er unter einem Tischin der Hocke spiralförmige Be-wegungen im Kreis macht – dieinnere Kampfkunst Bagua-zhang. Von dieser extremenÜbungsform hat Siao nur inLegenden gelesen. Er erfährt,dass Wu früher als Leibwäch-ter eines berühmten PekingerSeidenhändlers auf dem Wegvon Suzhou in die Hauptstadtviele Banditen besiegt hat.„Kannst du mich unterrich-ten?“, fragt er. „Damit habe ichschon lange begonnen“, ant-wortet dieser.

Mitte der 60er Jahre wen-den sich Maos Kommunistengegen die alten Traditionen. Siestünden dem Fortschritt imWeg, heißt es. Meister Wubefragt das Orakelbuch „YiJing“, das Buch der Wandlun-gen. Die Antwort muss düstergewesen sein: Im April 1966setzt er seinem Leben ein Ende.Einen Monat später beginnt dieverheerende Kulturrevolution.

Kulturrevolution:Kampfkunst undNadeln

Paradoxerweise führt geradedie Kulturrevolution Siao Weijiatiefer in die traditionelle Kultur.Seine Eltern werden in Pekingals angebliche sowjetischeSpione sieben Jahre lang inEinzelhaft genommen. SiaoWeijia, der inzwischen als Rus-sisch-Dozent ins nordöstlicheChangchun gezogen ist, darfnicht mehr an der Uni unter-richten. Er beginnt, Akupunk-turnadeln zu setzen. Schnellspricht sich unter den Nachbarnherum, dass die Behandlungendes jungen Mannes mit deneindringlichen braunen Augenhelfen und kostenlos sind.

Meister Wu ShaoshuFoto: Eva Siao (in der Zeit zwischen1962 und 1964)

Baishi-Zeremonie in Peking, Siao wird persönlicher Schüler von Shi Ming, 1984.Foto: Siao Weijia

Mit einem ebenfalls sus-pendierten Hochschullehrerlernt er weitere innere Übun-gen: Baguazhang, Qingyiquan,Qigong und Taijiquan. Zwarsind diese Künste während derKulturrevolution allesamt ver-boten, doch Peking ist weit undniemand kümmert sich um diebeiden, die sich in den frühenMorgenstunden am Ufer einesSees treffen.

Siao schafft es, in Harbin ineinem Seminar für Akupunkturaufgenommen zu werden.Zwei Monate lang lernt er mitBarfußärzten, Fabrikarbeiternund Medizinern, dann werdensie vier Wochen lang aufs Land

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der ihn am tiefsten prägt undder ihm bei ihrer ersten Begeg-nung so deutlich sein Ungleich-gewicht vor Augen führt.

Bei jedem Wetter wieder-holen die Schüler Morgen fürMorgen das gleiche Ritual: Siemeditieren zwischen den fünfMeter hohen Bambusbüschenstehend, üben jeder für sicheinzelne Bewegungen und

machen zum Abschluss ge-meinsam die feste Bewegungs-abfolge, die sie „Form“ nen-nen.

Als Siao nach der erstenMeditationsstunde dem Meis-ter seine Gefühle erklären will,wird dieser wütend: „Sprich indrei Monaten darüber, nichtjetzt“, wettert Shi Ming. „WennDu lernen willst, musst Du zu-hören.“

Meister Shi Ming hat beieinem Schüler der Yang-Fami-lie gelernt. Er hält seinen Schü-lern das große Ziel vor Augen:„Shenming“ oder „Ruyi“ – einklarer Geist. Gemeint ist ein„körperlicher Geist“, das alteChina unterscheidet nicht zwi-schen Geist und Materie. Nachdiesem Ziel hat Meister Shi sei-nen eigenen Stil genannt:„Ruyi Taijiquan“.

1984 wird Siao mit der tra-ditionellen Zeremonie „Baishi“persönlicher Schüler von Mei-ster Shi und gelobt, der Lehreder „drei Herzen“ zu folgen:klar zu entscheiden, lebenslangzu üben und geduldig zu sein.„Baishi“ bedeutet: Dem Leh-rer Respekt erweisen. Wer dasRitual durchlaufen hat, wirdselbst einmal Lehrer und die

Linie fortführen. Es rückt Leh-rer und Schüler in ein Vater-Sohn-Verhältnis. „Es ist so, alshätte dir jemand ein zweitesLeben gegeben“, sagt Siao lä-chelnd und nennt die berühm-ten Yangs seine Familie.

Shi Ming ist traditionellerMeister: Schüler nimmt er nurauf Empfehlung an. Drei Jahrelang dürfen sie das Gelerntenicht außerhalb der Gruppeanwenden. Wer drei Mal ohnetriftigen Grund fehlt, fliegt.Macht ein Schüler einen Feh-ler, erwartet der Meister, dasser ihn von selbst bemerkt.

„Man kann unsere Kunstnur durch persönlichen Kontaktzu einem Meister lernen. Dasunterscheidet uns vom Sport-Taijiquan, das man durch Zu-schauen lernt“, Siao vergleichtden aufwändigen Unterricht

mit dem eines Musiklehrers amKonservatorium und das Kön-nen der großen Meister mit derKunst eines Paganini.

Auch der füllige Meister Shimit seinem wechselhaftenMinenspiel unterrichtet durchBerührung, ohne große Worteoder Systematik. Wenn er an-dere mit seinem „Yi“ bewegt -jenem Bewusstsein, mit demsowohl Aufmerksamkeit alsauch Absicht gemeint ist, hater den Blick eines Tigers.

Die Schüler lernen es, sein„Jin“ zu „hören“ – jene elasti-sche Ganzkörperkraft, die inder Entspannung entsteht undnichts mit „Li“, der Muskel-kraft, zu tun hat. Sie richtenihre Aufmerksamkeit auf Mus-kelzustände, Organe, Sehnenund Knochen und trainiereneine extrem feine Art der Kon-zentration: Spüren sie einenPunkt eines Körpers, erfasstihre Aufmerksamkeit seine Ge-samtheit.

Der Meister nimmt dieHand des Schülers und zeigtihm, wie man die Absicht desanderen erspürt, noch bevordieser sie in eine Bewegungumgesetzt hat und dass manmit Entspannung darauf rea-giert. An seinem Körper spürendie Schüler die innere Bewe-gung in der äußeren. So legensie erlernte Verhaltensmuster,die auf Angst beruhen, ab.„Selbst im Kampf hat man keinRecht, den ersten Schritt zumachen“, sagt der Mann mitdem Falten durchzogenen Ge-sicht und den widerspenstigen,grauen Haaren.

2000 bis 2008:Die Meister findenzusammen

Nach dem Tod von Meister Shiim Jahr 2000 zerstreuen sichdie Schüler. Siao trifft sich miteinem ehemaligen Mitschüler,dem Sportlehrer Feng Guo-liang. „Siao ist ein kluger Den-ker und hat einen großartigenWeg gefunden, das Taiji zu er-forschen“, beschreibt Feng dieStunden. Neue kommen hinzuund Siao beginn zu lehren.

Meister Shi Ming. Foto: Astrid Oldekop (1993)

geschickt, im Gepäck nur Jod,Nadeln und Alkohol. Jeder der30 Teilnehmer bringt sein Wis-sen ein: Es ist eine abenteuerli-che Mischung aus Lebenser-fahrung, medizinischen Kennt-nissen und Familiengeheim-nissen. Auf dem Land zeigendie Behandlungen Erfolge unddie Bauern fassen Vertrauen.Sie vergleichen Siao Weijia,dessen Gesichtszüge und Au-genform die deutsche Mutterverraten, mit Norman Bethune,jenem kanadischen Arzt, denein Mao-Artikel für alle Chine-sen zum Helden machte. DieBauern kommen mit all ihrenProblemen zu der bunt zusam-men gewürfelten Gruppe undbringen sogar ihren wertvolls-ten Besitz, die Schweine, zurAkupunktur. „Diese Bauernwaren weiser als die gebilde-ten Menschen“, sagt der 66-Jährige und die dunkle Stimmewird weich. „Das waren mei-ne wirklichen Lehrer.“

Nach der Kulturrevolutionkehrt Siao Weijia nach Pekingzurück. Er lehrt Russisch amFremdspracheninstitut undkämpft um die Rehabilitierungseiner Familie.

Ganz China atmet auf. Jah-relang war alle Tradition verbo-ten. Die Konzentrations- undMeditationsübung Qigong istin den 80ern das Ventil, durchdas sich dieser Druck entlädt.Bald haben die offiziellen fünfQigong-Organisationen mehrMitglieder als die kommunisti-sche Partei, die 70 MillionenMitglieder hat. In diesem Um-feld entsteht auch die Falun-gong-Sekte. Weil deren straffeOrganisation die Regierung inAufruhr versetzt, löst sie Endeder Neunziger alle Organisatio-nen auf. Auch die breite Qi-gong-Bewegung ist damit vor-bei.

80er Jahre: Siao wirdpersönlicher Schüler

Anfang der Achtziger führtSiaos Weg tiefer ins Taijiquan.Im Purpurnen Bambusparkwird er Shi Ming vorgestellt,jenem Meister des Yang-Stils,

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Auch Siao nimmt die Hand sei-ner Schüler, legt sie auf seinenRücken, fragt nachdrücklich:„Spürst du das? Von wokommt die Energie?“ Dochder Mann mit den ruhigen,geschmeidigen Bewegungenkennt auch die Bedürfnissemoderner Chinesen. „Er erklärtviel und spricht über die tao-istischen Grundlagen“, lobt sei-ne Schülerin Zhang Xian. „Da-durch lernen wir schneller.“

ters“ Wang Yongquan. Wanghatte in Peking von dem be-rühmten Yang Jianhou unddessen Sohn Yang Chengfu diesanfte Kunst erlernt. Auf ihnberuft sich Siao Weijia.

Die drei Schüler WangYongquans sind über 70 Jahrealt. Es sind einfache Menschen.In ihrer Welt fällt Siao, Hoch-schuldozent und Sohn einesbekannten Dichters, auf wie einbunter Hund. „Was macht ei-

eignet, des eigenen Ahnherrnzu gedenken.

Allerdings sind große Grup-pen der Regierung ein Gräuelund noch am Vortag soll dieVersammlung so nahe amTiananmen-Platz verbotenwerden. Doch Siao findet einenWeg und 160 Leute kommen.

„Das traditionelle Taijiquangleicht einem Schwerkranken,wir müssen aufpassen, dass ernicht stirbt“, warnt er mit sanf-ter Bestimmtheit und sprichtaus, was alle denken. Undplötzlich bewegen sich die al-ten Meister: Sie verzichten aufihre Geheimniskrämerei undbeschließen, ihr Wissen zusam-men zu werfen.

Jeder Meister entsendetzwei Schüler zu wöchentlichenStudientreffen. Eine Webseiteentsteht. Im August 2007 mel-den sie einen „Yongquan For-schungsverein“ bei der Pekin-ger Wushu Vereinigung an,denn jede zivilgesellschaftlicheGruppe benötigt eine Auf-sichtseinheit. Dass die altenMeister nun offiziell zur Sport-verwaltung gehören, ist dersaure Apfel, in den sie beißen.Denn diese sieht im Taijiquaneinen Sport und hatte sich ver-geblich um die Aufnahme derKampfkünste als olympischeDisziplin bemüht. Dass darausnichts geworden ist, finden dieMeister nicht schlimm. „Wirbrauchen keinen Wettbewerb“,meint Siao Weijia. „Wir zeigennicht, wer gewonnen hat. Nurmein Gegner und ich wissen,wo wir stehen.“

Viel drängender sei die Ret-tung des Wissens vom Weg derHarmonie, meint der 66-Jähri-ge. „Ich sorge mich darum, obdas moderne China diese Weis-heit erhalten kann.“ Die alteKunst finde keine Unterstüt-zung in der Gesellschaft. Undwer habe heute schon die Zeit,die Geduld und die Ressourcenüber Wochen hinweg, vieleStunden am Tag nach traditio-neller Weise eine einzige Bewe-gung zu üben? Das konnte dieberühmte Yang-Familie. IhreEnkel leben in einer anderenWelt.

Doch nun wollen sie Bilanzziehen, was vom alten Wissennoch übrig ist. „Früher hattendie Meister eine volle Teekan-ne“, sagt Siao Weijia. „Jetzt hatjeder Einzelne nur noch einbisschen Tee.“ Und den wol-len sie zusammen schütten undschauen, wie viel bereits fehlt.Ein Fünkchen Hoffnung bleibt:„Wenn wir unsere Anstrengun-gen zusammen tun, schaffenwir es vielleicht, verlorenesWissen wieder zu finden.“

Astrid Oldekop

* Shi Ming / Siao Weijia: WieWeiches über Hartes siegt.(Lun Wushu Lianyi). DeutscheÜbersetzung Braunschweig 1998,nur noch antiquarisch.

www.yqtjq.com : Internet-Seite des„Yongquan Studienvereins“.

Siao erzählt Geschichtenwie die von Konfuzius, der denwesentlich älteren Laotse be-sucht haben soll. Laotse streck-te dem Jüngeren nur die Zun-ge aus seinem zahnlosen Mundheraus. Konfuzius’ Schüler wa-ren entsetzt, doch dieser hatteseine Lektion gelernt: Das Wei-che – die Zunge – hatte überdas Harte – die Zähne – ge-siegt.

Dann wieder vergleicht Siaodas Taiji mit einer chinesischenWaage: Der Dorn in der Mitteist der Taiji-Zustand, die beidenWaagschalen sind Yin undYang. Alle Punkte des Systemssind veränderbar: das Gewicht,die Länge der Stange, sogarder Aufhängungspunkt. „DasGleichgewicht ist in der Bewe-gung“, erklärt er dann, undTaiji sei jener Punkt, der in demganzen Wandel für das Gleich-gewicht sorge. „Taiji ist ein Pa-radox: Der Punkt zwischen Be-wegung und Stille.“

2005 begegnet Siao Weijiadrei Schülern seines „Großva-

ner wie du hier?“, fragt der 71-jährige Taiji-Meister ChenTianliang ungläubig. Als Ant-wort macht Siao mit denMeistern die Partnerübung„Tuishou“. Da erkennen sie inihm einen der ihren.

Zusammen suchen sie nachweiteren zerstreuten Schülernihres Vorfahren Wang. Siaomahnt: „Eure Väter sind nichtmehr da. Wenn ihr wollt, dasseure Tradition überlebt, müsstihr wieder miteinander spre-chen.“ Das sehen die Meisterein. Der alte Chen sagt: „Siaohat Wangs Nachfahren zusam-men geholt. Da musste ichdoch dabei sein.“

Im Februar 2006 planen sieeine „Wang Yongquan Ge-denkveranstaltung“ im Arbei-terkulturpalast, jenem Park ne-ben der Verbotenen Stadt, indem Siao mit seinen Schülernübt. Hier unterrichteten einstdie Yangs die kaiserliche Fami-lie, hier opferten die Kaiser denAhnen. Kein Ort ist besser ge-

Foto: Astrid Oldekop