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Städte aus Trümmern Katastrophenbewältigung zwischen Antike und Modeme Herausgegeben von Andreas Ranft und Stephan Seizer Mit 11 Abbildungen Vandenhoeck & Ruprecht

Städte aus Trümmern - MGH-Bibliothek · 7 In Auswahl: Emmanuel LE ROY LADURIE Histoire du climat depuis l'an mi1 Paris 1967 (ND Paris 1983/89); Wolfgang STÜRNER, Natur und Gesellschaft

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Städte aus Trümmern

Katastrophenbewältigung zwischen Antike und Modeme

Herausgegeben von Andreas Ranft und Stephan Seizer

Mit 11 Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

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MONUMENT A GERMAN lAi:. HISTORiCA 8ib~:cthek

Gerhard Fouquet

Für eine Kulturgeschichte der Naturkatastrophen

Erdbeben in Basel1356 und Großfeuer in Frankenberg 1476

I.

»Im Jahre 1336 erhob sich auf das Fest Simonis und Judac ein gewaltiger Sturm, er richtete bedeutende Schäden an, warf große Steinhäuser, Holz­bauten und Türme nieder und entwurzelte hohe Bäume in den Wäldern.«

Chroniken des Spätmittelalters wie die zitierte Limburger Chronik des Tilernann Elhen von Wolfhagen setzen unvermittelt mit Wetter­beobachtungen und Nachrichten über Natureinwirkungen ein: 1 Der

unheilstiftende Sturm, die verderbenbringende Überschwemmung, das zerstörerische Erdbeben, das verzehrende Großfeuer, die als wahrhaft achte ägyptische Plage alles kahlfressenden Heuschrecken­schwärme geraten zu Notabilia historischer Erinnerung, sie stehen gleichberechtigt neben der Erschaffung der Welt und der Abfolge der \Xr'eltreichc. 2 Der Straßburger Chronist Jakob Twinger von Kö­nigshofen versuchte sich dergestalt um 1400 an einem Erdbebenkata­log, der die ihm bekannte behauste Erde seit Christi Geburt umfaßte. Twinger kam zwar gerade nur auf zwölf Katastrophen der Weltge­schichte, deten Jahr und Ort er zu benennen wußte, setzte aber hin­zu, daß er »um der Kürze willen« an dieser Stelle seiner Chronik le-

1 Die Limburger Chronik des Tilemann Elhen von Wolfhagen, hg. von Arthur WYSS, MGH. Deutsche Chroniken 4.1, Berlin 1883 (ND München 1993), 25 und 31 (daz notabi/r: isf). Ich danke Ulf Dirlmeier, Siegen, für die kritische Durchsicht des Manuskriptes und seine wertvollen Hinweise.

2 Arno BORST, Das Erdbeben von 1348. Ein historischer Beitrag zur Katastro­phenforschung, in: Historische Zeitschrift 233 (1981), 529-569, hier: 533. Zu den Wanderheuschrecken: Robert DELORT, Der Elefant, die Biene und der heilige Wolf. Die wahre Geschichte der Tiere, München 1987, 177-195.

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GeJfJard Fouquet

diglich eine Auswahl von bestimmten Erdbeben präsentiere:' In der Tat- die neuere Forschung registriert im zugegebenermaßen beson­ders erdbebengefihrdeten Italien allein in den Jahren zwischen 1000 und 1350 242 Beben4

Was mit so unaufhaltsamer, plötzlicher Gewalt in das Alltagsleben eindringt, was diesen Zustand des Unbewußten radikal infragestellt und Geschichte auch als Teil der Geographie erweist, hat Menschen noch nie ruhen lassen: Katastrophen reißen Betroffene wie Gaffer nicht nur aus dem Immergleichen des Alltags und fordern nach Be­wältigung ihres Zerstörerischen Werks, sie bieten auch Über­lieferungschancen, sie erzeugen sozusagen Quellen. Doch solcher Überlieferung waren lange die wissenschaftlich akzeptierten Erinne­rungsräume mediävistischer Forschung verschlossen, Katastrophen­nachrichten eigneten sich bestenfalls für Jubiläen, für lokalgeschicht­liche Traditionspflege.5 Luden Febvre hat zwar schon 1922 eine ver­stärkte Hinwendung der historischen Forschung zu den geographi­schen Grundlagen der Geschichte gefordert6

, die Mediävistik hat sich

3 Chmnik des Jacob Twinger von Königshafen 1400 (1415), in: Die Chroniken der oberrheinischen Städte: Straßburg, Bd. 2, Die Chroniken der deutschen Städte 9, Leipzig 1871 (ND Göttingen 1961), 861-864. Jakob Twinger basiert hier wie an vielen Stellen seiner Chronik auf dem Werk Pritsche Closeners: Pritsche Closener's Chronik, in: Die Chroniken der oberrheinischen Städte: Straßburg, Bd. 1, Die Chroniken der deutschen Städte 8, Leipzig 1870 (ND Göttingen 1961), 136f.

4 Daniele POSTPISCHL (Hg.), Catalogo dei terremoti italiani dall'anno 1000 al 1980, Quaderni di ))La Rkerca scientifica« 114, H. 2, Bologna 1985, 28-31. Dazu Emanuela GUlDOBONI, Les consCquences des tremblements de terre sur les villes en Italie, in: Martin KöRNER (Hg.), StadtzerstÖJUng und Wiederaufl)au, 3 Bde., Bern 1999-2000, hier: Bel. 1, 43-66. Kat! Ernst Adolf von Hoff hat bereits 1840 Nachrichten von Erdbeben in allen Epochen und Kontinenten gesammelt, die nach Tausenden zählen: Kar! Ernst Adolf von HOFF, Chronik der Erdbeben und Vulcan~Ausbrüche, 2 Bde., Gotha 1840-1841.

5 Basel hat 1856 bzw. 19 56 Erinnerung an das große Erdbeben von 1356 durch Geschichte erzeugt: Basel im vierzehnten Jahrhundert. Geschichtliche Darstellun­gen zur fünften Säcularfeier des Erdbebens am S. Lucastage 1356, hg. von der Basler Historischen Gesellschaft, Basel1856; Rudolf SUTER, Basel und das Erdbe­ben von 1356, Basel1956; Andreas STAEHELIN, Das Erdbeben von Basel, in: Bas­lerJahrbuch (1956), 12-16.

6 Luden FEBVRE, La terre et l'evolution humaine: introduction gCographique :1 l'histoire, Paris 1922 (ND Paris 1970).

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Erdbeben in Basel 1356 tmd Großfttfer in Frankeilberg 1476

diesen Perspektiven freilich erst seit den 1970er J abren geöffnet und als Humamvissenschaft vornehmlich die Auswirkungen der anthro­pogenen Umweltveränderungen auf die Daseinsbedingungen der Menschen untersucht. Die Fragen richteten sich darauf, wie sich die wirtschaftenden Individuen und Gemeinschaften die Natur (Klima, Boden, Flora und Fauna) aneigneten, wie sie in natürliche Prozesse eingriffen, wie überhaupt die Zeitgenossen ihre natürliche Umwelt wahrnahmen und wie sie von ihr beeinflußt worden sind. 7 In den 1990er Jahren entwickelte man als Ausfluß des sozialwissenschaftli­ehen Konzeptes »Historische Kulturwissenschaft« eine d(ulturge­schichte der Natur«.8 Dennoch fielen die methodischen Überlegun~ gen, die Arno Borst seit 1974 unter dem Eindtuck der Mentalitätsge­schichte über die extremen Ausnahmezustände im Verhältnis von »Natur« und »Mensch« vorlegte9

, in der deutschsprachigen Mediävi-

7 In Auswahl: Emmanuel LE ROY LADURIE Histoire du climat depuis l'an mi1 Paris 1967 (ND Paris 1983/89); Wolfgang STÜRNER, Natur und Gesellschaft i~ Denken des Hoch- und Spätrnittelalters, Stuttgart 1975; Bernd HERRMANN (Hg.), Mensch und Umwelt im Mittelalter, Stuttgart 1986; Ulf DIRLMEIER, Historische Umweltforschung aus der Sicht der mittelalterlichen Geschichte, in: Siedlungs­forschung. Archäologie- Geschichte- Geographie 6 (1988), 97-111; Christian PFISTER, Historische Umweltforschung und Klimageschichte, mit besonderer Berücksichtigung des I-loch- und Spätmittelalters, in: Siedlungsforschung. Archäo­logie- Geschichte- Geogmphie 6 (1988), 113-127; Bernd HERR.t\1ANN (Hg.), Um­welt in der Geschichte. Beiträge zur Umweltgeschichte, Göttingen 1989; Albert Zil\1JvfERMANN/ Andreas SPEER (Hg.), Mensch und Natur im Mittelalter, 2 Halb­bde., Miscellanea mcdiaevalia 21. 1-2, Berlin 1991-1992; Vita FuMAGALLI, L'uomo e l'ambiente nel medioevo, Rom 1992, dt.: Mensch und Umwelt im Mittel­alter, Berlin 1992; Ernst SCHUBERT/Bernd HERRMANN (Hg.), Von der Angst zur Ausbeutung. Umwelterfahrung zwischen Mittelalter und Neuzeit, Frankfun/M. 1994; Gerhard JARITZ, Umweltbewältigung. Der Beitrag der Geschichtswissen­schaften, in: Gerhard]ARITZ/Verena WJNIWARTER (Hg.), Umweltbewältigung. Dle Historische Perspektjve, Bielefeld 1994, 7-22.

8 Ruth GROH/Dieter GROH, Weltbild und Naturaneignung. Zur Kultur­geschichte der Natur, Frankfurt/M. 1991; DIES., Die Außenwelt der Innenwelt. Zur Kulturgeschichte der Natur 2, Frankfurt/M. 1996.

9 Amo BORST, Alpine Mentalität und europäischer Horizont im Mittelalter, in: Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees 92 (1974), 1-46 (ND in: DERS., Barbaren, Ketzer und Artisten. Welten des Mittelalters, München-ZüriCh 1988, 471-527); BORST, Erdbeben (wie Anm. 2).

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Gerbard FoNquet

stik im Vergleich zur westeuropäischen Forschung10 und zur Früh­neuzeitgeschichte11 nur aufbedingt fruchtbaren Boden. 12

Gegenstand und methodische Perspektive dieser Studie sind be­schränkt. Es geht weder um einen theoretischen Beitrag zur Defi­nition eines einheitlichen Katastrophenbegdffs- er ist bislang in den historischen Wissenschaften Desiderat geblieben 13

- noch um den Versuch einer »histoire >totale< des catastrophes naturelles«.14 Der Fokus der Untersuchung richtet sich hinsichtlich der von Martin Körner vorgeschlagenen Differenzierung von Katastrophen in »na­türliche«, »soziale« und »wirtschaftliche Extremereignisse« vielmehr allein auf die Naturkatastrophen und ihr Vernichtungswerk, das be­wältigt vlerden wollte.15 Exemplarisch werden zwei Stadtzerstörungen

10 Zur westeuropäischen Forschung z. B.: Jacques BERLlOZ, Catastrophes na­turelles et calamitCs au Moyen Age, Micrologus' Library 1, Turnhaut 1998; Des­truction et reconstruction des villes, du Moyen Age a nos jours/Verwoesting en wederopbouw van steden, van de middeleeuwen tOt heden, CrCdit communal, collection histoire in 8°100, Brüssel1999.

11 Dazu nur Rolf GUTDEUTSCH/Christa HAl\fli1ERL/Ingeborg MAYER/Karl VOCELKA, Erdbeben als historisches Ereignis. Die Rekonstruktion des Bebens von 1590 in Niederösterreich, Berlin 1987; Manfred jAKUBOWSKI-TIESSEN, Sturmflut 1717. Die Bewältigung einer Naturkatastrophe in der Frühen Neuzeit, Ancien Regime. Aufldä1ung und Revolution 24, München 1992.

12 Zur Forschungsgeschichte: Christian ROHR, Mensch und Naturkatastrophe. Tendenzen und Probleme einer mentalitätsbezogenen Umweltgeschichte des Mit­telalters, in: Sylvia HAHN/Reinhold REITH (Hg.), Umwelt-Geschichte. Arbeits­felder, Forschungsansätze. Perspektiven, Querschnitte 8, \'X/ien 2001, 13-31, bes. 13-17. Darüber hinaus Elisabeth WECHSLER, Das Erdbeben von Basel 1356, Teil 1: Historische und kunsthistorische Aspekte, Publikationsreihe des Schweizeri­schen Erdbebendienstes ETI-1-Zürich 102, Zürich 21997; Christa HAM.M:ERl., Das Erdbeben vom 25. Jänner 1348. Rekonstruktion des Naturereignisses, Phil. Diss. Wien 1992 (masch.); DJES., Das Erdbeben vom 4. Mai 1201, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 103 (1995), 350-368.

13 Dieter GROB/Michael KEMPE/Franz MAUELSHAGEN (Hg.), Naturkatastro­phen und ihre Wahrnehmung in der Geschichte des Menschen, Tübingen 2001.

14 BERLIOZ, Catastrophes naturelles (wie Anm. 10), 5. 15 Martin KORNER, Stadtzerstörung und Wiederaufbau: Thema, Forschungs­

stand, Fragestellung und Zwischenbilanz, in: KORNER, Stadtzerstörung (wie Anm. 4), Bd. 1, 7-42, hier: 9f. Körner definiert Stadtzerstörungen durch natürliche Ex­tremereignisse als Folgen von ))Überschwemmungen, Sturmwinde, Erdbeben, Vul­kanausbrüche ·und unbeabsichtigte Feuersbrünste«. Vgl. auch Martin KORNER,

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Erdbeben in Base/1356 t111d Großfet~er t!t .FmnkCIIbet:g 1476

vorgestellt, in denen die Natur in wah1'haft außergewöhnlichen Et­eignlsketten über die betroffenen Städte und ihre Menschen kam: Das Basler Erdbeben von 1356 zerstörte im Verein mit Feuei' und Wasser Teile der mit ihren ca. 8.000 Bewohnern typischen kleinen Großstadt im Reich des späten lvlittelalters.16 Der Großbrand im oberhessischen Frankenberg von 1476, eines von vielen unbeab­sichtigten Schadensfeuern im spätmittelalterlichen Europa 17, zog eine ca. dreißig Kilometer nördlich von Marburg gelegene Stadt in Mitlei­denschaft, die mit ungefihr 1.000 Bewohnern und zwei in Alt- und Neustadt getrennten selbständigen Gemeinden eine jener zahlreichen kleinei'en Kommunen war, die charakteristisch für Urbanisiei'ungs­prozeß und Verfassungsentwicklung in Mitteleuropa sind.18

Im folgenden sollen anband der sich in Chroniken oder chronika­lischen Notizen niederschlagenden Reaktionen der Zeitgenossen auf diese Naturkatastrophen einige methodische und inhaltliche Aspekte einer Kulturgeschichte der Katasttophen ei'Örtert werden. Die Frage­perspektive richtet sich in diesem Zusammenhang darauf, wie

Destruction et reconstruction de villes. Projet et recherche commune de Ja Com­missinn internationale pour l'histoire des villes (CIHV), in: Destruction (wie Anm. 10), 7-20, hier: 8 und passim.

16 Dazu Gerhard FOUQUET, Bauen für die Stadt. Finanzen, Organisation und Atbeit in kommunalen Baubetrieben des Spätmittelalters, Städteforschung 48, Köln 1999, 400-430.

17 FOUQUET, Bauen (wie Anm. 16), 92-95 (mit der einschlägigen Literatur). 18 Zur groben Einteilung immer noch: Hektor AMMJ\NN, Wie groß war die

mittelalterliche Stadt? (1956), in: Carl I-IAASE (Hg.), Die Stadt des Mittelalters, \X/ege der Forschung 243, Darmstadt 31978, 415-422. Zur Kleinstadtforschung zuletzt Peter CLARK, Small Towns in Early Modern Europe, Cambridge 1995; Holger Th. GRAF (Hg.), Kleine Städte im neuzeitlichen Europa, Berlin 1997; Hel­mut FLACHENECKER/Ralf KJESSLING (Hg.), Städtelandschaften in Altbayern, Fran­ken und Schwaben. Studien zwn Phänomen der Kleinstädte während des Spätmittelal­ters und der F1ühen Neuzeit, Zeitschdft fUr Bayerische Landesgeschichte, Beiheft B 15, München 1999. Zu Frankenberg: Hans BECKER, Geschichte der Stadt Frankeo­berg an der Eder von den Anfangen bis zur Reformation, Frankenberg 1986, bes. 46-74 (mit 1.500-1.800 Einwohnern); Fred SCHWIND, Feuersbrunst und Bürger­stolz. Eine mittelalterliche Stadt und ihre Chronisten: Frankenberg, in: Hans SAR­KOWICZ (Hg.), Stadtluft macht frei. Hessische Stadtporträts. Eine Reise in die Vergangenheit, Stuttgart 1993, 122-129, hier: 129 (realistischer mit 1.000 Bewol1-nem).

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Gerhard Fouquet

»Chronisten als Zeitzeugen« Naturkatastrophen in einem städtisch­gemeindlichen Umfeld wahrgenommen, gedeutet und damit auch bewältigt haben. 19 Denn es waren ja doch die Überlebenden, die mit ihren Erfahrungen, davongekommen zu sein, >)am Tag danach« Ge­schichte schrieben.20

I!.

Wenige verläßliche Chroniken gebe es, stellte 1856 der Germanist Wilhelm Wackernagel fest, so >>daß, wer das Erdbeben [von Basel im Jahre 1356] neu erzählen und allein, was verbürgt ist, erzählen wollte, damit kaum über eine Seite hinaus gelangen und jedenfalls anstatt eines anschaulichen Bildes nur einen Entwurf farbloser Linien geben würde.i1 Wackernagels Verdikt wird indes schon durch die schiere

19 Zur methodischen Trias der >>Wahrnehmung, Deutung und Bewältigung« von Katastrophen: ROHR, Mensch (\vie Anm. 12), 17f. Weiterführend mit der Erörterung von sechs Problemkreisen historischer Katasu·ophenforschung: KöR­NER, Stadtzerstörung (wie Anm. 15), 14-18. Da1über hinaus zur spätmittelalterli­chen Historiographie: Peter JOHANEK, Weltchronistik und region'l\le Geschichts­schreibung im Spätmittelalter, in: Hans PATZE (Hg.), Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im späten M.ittela!ter, Vortd:ige und Forschungen 31, Sigma­ringen 1987, 287-330; Ralf SPRANDEL, Chronisten als Zeitzeugen, Kollektive Einstellungen und sozialer Wandel im Mittelalter NF 3, Köln 1994. Zum For­schungsstand über die Stadtchronistik zuletzt: Peter jOHANEK (Hg.), Städtische Geschichtsschreibung im Spätmittelalter und in der üühen Neuzeit, Städtef01'­

schung A 47, Köln 2000. 20 Für die Frühneuzeitforschung: Christian PFISTER (Hg.), Am Tag danach.

Zur Bewältigung von Naturkatastrophen in der Schweiz 1500-2000, Bern 2002. 21 Wilhelm WACKERNAGEL, Das Erdbeben von 1356 in den Nachrichten der

Zeit und der Folgezeit bis auf Christian Wurstisen, in: Basel im vierzehnten Jahr­hundert (wie Anm. 5), 208-250, hier: 223. Darüber hinaus die Kurzdarstellungen zur Ereigniskette des Basler Erdbebens von 1356: Rudolf WACKERNAGEL, Ge­schichte der Stadt Basel, 3 Bde. und 1 Bd. (Register), Basel1907-1924 und 1954 (ND ßasel1968), hier: Bd. 1, 270-273; SUTER, Basel (wie Anm. 5); STAEHEUN, Erdeben (wie Anm. 5); WECHSLER, Erdbeben (wie Anm. 12), 2-5; Wemer MEYER, Das Basler Erdbeben von 1356 und die angerichteten Schäden, in: Unsere Kunst­denkmäler 41 (1990), 162-168, hier: 162f.; Nildaus BARTLOME/Erika FLOCKIGER, Stadtzerstörungen und Wiederaufbau in der mittelalterlichen und ftühneuzeitlichen

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Erdbebm in Basel 1356 und Großfimer iJ; Frankenberg 1476

Zahl konterkariert: Die Chronisten haben sich nicht in dem geradezu erstaunlichen Ausmaß wie beim Erdbeben vom 25. Januar 1348 zu Wort gemeldet, das in Kärnten, K.rain und Friaul schwetste Zerstö­rungen anrichtete, insgesamt ca. 10.000 Menschen das Leben geko­stet haben soll und von den Chronisten als Teil jenes mit Pest, Geiß­ler und Judenmord bezeichneten Entsetzens dieser Zeit erzählt wur­de.22 Gegenüber den ca. 108 Textzeugen für jenes Villaeher Beben von 1348 konnten für die Extremereignisse des Jahres 1356 bei einer ersten Sichtung immerhin schon 39 im Notden bis nach Köln streu­ende chronikalische Aussagen des 14. und 15. Jahrhunderts ermittelt werden

23; davon stammen allein 27 aus den Jahren bis um 1410 und

damit aus der nächsten Zeitgenossenschaft. Drei Basler Chronisten, der Anonymus im »Roten Buch«, der Dominikaner Konrad von Wal­tenkofen und der unbekannte Fortsetzer der »Sächsischen Weltchro­nik«, waren mit hoher Sicherheit sogar Augenzeugen des Gesche­hens.

Wie beschreiben nun spätmittelalterliche Chronisten Katastro­phen? Auf was legen sie wert? Wie differenziert sind ihre Angaben im Hinblick auf den Ablauf, das Schadensausmaß, die Menschenver­luste und die Bewältigung jener Extremsituationen? Was sehen Au-

Schweiz, in: KöRNER, Stadtzerstörung (wie Anm. 4), Bd. 1, 123-146, hier: 125 und 131.

22 HAMMERL, Erdbeben 1348 (wie Anm. 12), 118-151. Dagegen mit lediglich ca. 80 Belegen: BoRST, Erdbeben (wie Anm. 2), 534; RoHR, Mensch (wie Anm. 12), 18-29. Zum 14. Jahrhundert unter dem Aspekt der »Krise« immer noch: Fran­tiSek GRAUS, Pest, Gcißler,Judenmorde. Das 14. Jahrhundert als Iüisenzeit, Veröf­fentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 86, Göttingen 31994.

23 Wilhelm Wackernagel zählte und edierte nur neun chronikalische Quellen: \XIACKERNAGEL, Erdbeben (wie Anm. 21), 225-234. Dazu noch folgende Ergi:in~ zungen: Wilhelm WACKERNAGEL, Zur Geschichte des großen Erdbebens, in: Basler Taschenbuch (1862), 233-247, mit Hinweisen auf zwei Inschriften eines in den Wochen nach der Katastrophe von 1356, »während immer noch die Erde bebte«, aus Bronze gegossenes Weinmaßes der Basler Weinleutezunft Darüber hinaus Konrad von Waltenkofen, in: Beiträge zur vaterländischen Geschichte, hg. von der Historischen Gesellschaft in Basel, X (1875), 271-272; Lud\vig SIEBER, Zwei neue Berichte über das Erdbeben von 1356, in: Beiträge zur vaterländischen: Geschichte 12 (1888), 113-124.

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Gerhard F·Ouquet

genzeugen, \Vas nehmen diejenigen wahr, die die Ereignisse nur aus zweiter Hand kennen?

Im sogenannten »Roten Buch~< Basels, das man nach dem Verlust des Archivs24 im November 1357 als erstes Ratsbuch wieder anlegte, hat vermutlich ein Augenzeuge des Geschehens vom Jahr zuvor in der Rubrik von den ewigm dingen eine chronikalische Notiz hinterlas­sen - als Akt offizieller Geschichtsschreibung des Rates, emotionslos und mit wenig Sinn für genaue Daten.25 »Mittelalterliche Autoren liefern«, nach einem \Xfort Arno Borsts, überhaupt ~>nur widerwillig« jene Informationen, mit denen heute eine Katastrophe beschrieben wird.26 Der ertpidem, schreibt der Anonymus, »begann am Dienstag nach Gallus, das war am Tag des Evangelisten Lukas.« Basel sei durch das Beben an jenem 18. Oktober 1356 zerstört worden. 27

Doch schon geraume Zeit vor diesem ersten Basler Augenzeugenbe­richt verfaßte in den letzten Monaten des Jahres 1356 der Franziska­ner Jean de Roquetaillade ein Werk mit dem Titel »Vademecum in tribulatione«. In diesem libnmm!tiS »Begleiter der Drangsal« prophe­zeit der auf Schloß Bagno! (unweit Avignons) in päpstlicher Gefan­genschaft einsitzende Barfüßer die ))künftige Zerstörung verschiede­ner berühmter Städte im Erdkreis« und nennt als Vorbild für jene Verwüstungen die Stadt Basel: Sie sei >>in diesem Jahr [ ... ] durch ein unerhörtes Erdbeben während ungeffihr zehn Stunden erschüttert und von Grund aus zerstört« worden.28 Und Francesco Petrarca se­kundiert in seinem 1357 entstandenen Werk »De otio religioso<<: Ba­sel, nobili.r illa semilatina 11rbs (»jene edle, halblateinische Stadt<0, sei

24 Andreas STAEHELIN, Geschichte des Staatsarchivs Basel. Von den Anfin­gen bis 1869, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Alterrumskunde 102 (2002), 211-279, hier' 212.

25 Staatsarchiv Basel, Ratsbücher Al, f. 251r. Edition: Chronikalien der Rats­bücher, hg. von August BERNOULLI, in: Basler Chroniken, hg. von der Histori­schen Gesellschaft in Basel, 10 Bde., Leipzig-Bascl1872-1976, hier: Bd. 4, 1-162, hiee 17. Dazu Regula So-IMID, Die Chronik im Archiv. Amtliche Geschichts­schreibung und ihr Gebrauchspotential im Spätmittelalter und in der frühen Neu­zeit, in: Das Mittelalter 5 (2000), 115-138, hier: 121f. (Basel).

26 BORST, Erdbeben (wie Anm. 2), 533. 27 Chronikalien der Ratsbücher (wie Anm. 25), 17. 28 SIEBER, Zwei neue Berichte (wie Anm. 23), 117.

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Erdbeben in Ba.re! 1356 tmd Großfeuer in Frankenberg 1476

»nun nichts als Berge von Gestein und Schweigen und Entsetzen.i9

Doch ähnlich wie Petrarca, der die Stadt am Rheinknie zwar noch kurz vor dem Beben, aber nie mehr danach besuchte, die »lapidum montes« lediglich als Zeichen und Bild der Zerstörung konsttuierte, so problematisch bleibt überhaupt das Bild der Chroniken über den Ablauf und das ganze Ausmaß der Katastrophe. Unter den Zeitzeu-; gen hält nur Heinrich von Diessenhafen Details für berichtenswert. Er hatte in Konstanz) wo er seit 1341 als Domherr residierte, gerraue­re Auskünfte für seine von 1338/44 bis 1361 fortlaufend geführte Chronik in Basel eingeholt, ja er vermochte das Beben selbst noch in der Stadt am Bodensee genau zu registrieren.30 Diessenhafen interes-

29 [ ... ] tJIOX nibil m'.;i lapidtfm t/101!/es et silmtim;; et bon'Or [ ... ]: Il >De otio religioso< di Francesco Petrarca, hg. von Giuseppe ROTONDI, Srudi e Testi 195, Citta del Vaticano 1958, 36. Deutsche Übersetzung nach: Berthe WIDMER, Francesco Pe­trarca über seinen Aufenthalt in Basel 1356, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 94 (1994), 17-27, hier: 20. Petrarca war bereits am 20. Sep­tember 1356 in Mailand: Ernest Hatch WILKINS, Petrarch's eight Years in Milan, Cambridge 1958, 130. Er äußerte sich darüber hinaus noch in »De remediis fortu­nae« (ca. 1360) und in »Epistola de rebus senilibus« (1368) über das Basler Gesche­hen. Textsegmente bei: WIDMER, Petrarca, 20f.

30 Heinricus de Diessenhafen und andere Geschichtsc1uellen Deutschlands im späteren :Mittelalter, hg. aus dem Nachlasse Johann Friedrich Bochmers von Alfons 1-IUBER, Fantes rerum Gcrmanicarum 4, Stuttgart 1868, 104f. Mit dem Bericht Diessenhafens stimmen die um 1356 entstandenen »Notae historicae Altorfenses« und die fernen »Cölner Jahrbücher« überein, die das erste große Beben nach der None festlegen: Annales Marbacenses qui dicumur, hg. von Hermann BLOCH, MGH. SS. 1·er. Germ. 9, Hannover-Leipzig 1907, 123; Cölner Jahrbücher des 14. und 15. Jahrhundert, in: Die Chmniken der niederrheinischen Städte: Cöln, Bd. 2, Die Chroniken der deutschen Städte 13, Leipzig 1876 (ND Göttingen 1968), 1-192, hier: 132. Die P'ortsetzung der Chronik des Mattbias von Neuenbmg spricht ähnlich wie die Albrechts von Straßburg davon, daß das Erdbeben um die Vesper­zeit begann und sich in der folgenden Nacht in mehr als zehn weiteren Stößen entlud: Die Chronik des Mattbias von Neuenburg, hg. von Adolf 1-IOFMEISTI:R, MGH. SS. rer. Germ. NS 4, Berlin 21955, 485; Fortsetzung der Chronik Albrechts von Straßburg: WACKERNAGEL, Erdbeben (wie Anm. 21), 231, Nr. 6. Pritsche Closener erwähnt ebenfalls die Zeit um die Vesper als Anfang des Schreckens, danach seien vor Anbruch der Nacht noch weitere, allerdings schwächere Stöße erfolgt, die sich um die dritte Wachtglocke fortsetzten: da kmn gar ei11 :mgifliger, der /Vaif gar vif ?jerke!!J!Jli11 N1/d wiipft/e abe dtll hiisem f(!ld ziborimtmd knopft abe da11 tlllff/S/ere;. Closener (wie Anm. 3), 136. Der Ulmer Felix Fabri endlich schreibt um 1480/90

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Gethard Fouquet

sieren Orte, Tageszeiten, Kausalketten: Am 18. Oktober 1356 nach­mittags zwischen Mittagsmahl und Vesper habe der erste terremotus magmrs Konstanz erschüttert, bis zur nachmittäglichen Vesper seien zwei ldeinere Stöße wahrgenommen worden und während des Ves­perläutens hätten sich vier weitere, diesmal wieder stärkere Erdbewe­gungen eingestellt. In der folgenden Nacht wäre bis l\llittemacht noch sechsmal die Erde erschüttert worden, wovon der erste Stoß stärker als die übrigen gewesen sei. Am nächsten Tag, dem 19. Oktober, habe man schließlich noch zwei Nachbeben verspürt, das eine direkt nach Mittag, das andere nach der Vesperzeit.

Was ist nun in und mlt der Stadt Basel geschehen? Die für diesen Teil um 1388 verfaßten »Kleineren Basler Annalen« geben eine ein­dringliche Beschreibung von der unter den Erdstößen zusammen­stürzenden Stadt Wan als die lute IPO!tend ßieben us den h11sern1 do 1vanmd die buser bocb, >mnd wenn ein Erdstoß kam, fielen die oberen (vorkta­genden] Stockwerke gegen- und ineinander und die unteren Etagen an der Straße blieben stehen.<? Bewegt sind die Schilderungen Hein­richs von Diessenhofen: »Viele Menschen flohen in Schrecken [tertitt] auch wegen der nachfolgenden Beben, die sich an dem genannten Tag ereigneten, hinaus auf die Felder, um dort bis nach der Vesper­zeit auf das Ende des Ereignisses zu warten. Da erhob sich im Klo­ster St. Alban, das an diesem Tag vernichtet worden \Var, Feuer, ebenso in anderen eingestürzten Häusern. 32 Als jene, die geflohen waten, dies sahen, wollten sie ihren Besitz retten, sie liefen wieder [in die Stadt zurück], um sowohl beim Brandschutz zu helfen als auch Habe zu bergen, am meisten aber um jene Menschen zu tetten, die vom ersten Beben verschüttet worden waren. Und als sie sich bis zur

im wesentlichen Diessenhafen aus: Fratri Felicis Fabri, Descriptio Sveviae, hg. von Hermann ESCHER, Quellen zur Schweizer Geschichte 6, Basel1884, 106-229, hier:

171. 31 Die Kleineren Basler Annalen (1308~1415), hg. von August BERNOULLI, in:

Basler Chroniken (wie Anm. 25), Bd. 5, 49~71, hier: 57. 32 Der Anonymus im »Roten Buch« schreibt dazu: »Die Stadt innerhalb der

Ringmauer verbrannte fast gänzlich, und auch in der St.-Alban-Vorstadt wurden sehr viele Häuser ein Raub der Flammen«: Chronikalien der Ratsbüchet· (wie Anm.

25), 17.

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Erdbeben in Base/1356 und Gmßlemr in Frankmbetg 1476

ersten Nachtstunde abgemüht hatten, kam wiedemm ein sehr großer Erdstoß, der die meisten Menschen ebenso überraschte wie der erste und die Häuser, die standgehalten hatten, niederwarf.«33 Erdbeben und Feuer waten indes nicht die einzigen Katastmphen, die Basel in diesen Stunden heimsuchten. Der schon genannte Dominikaner Konrad von Waltenkofen, der zu Beginn des Jahres 1360 ein »Alphabetum narrationum« verfaßte, schreibt darin wahrscheinlich als Augenzeuge des Geschehens von 1356: Tntirm; etiam mal!!m super­venit- nach den »schrecklichen« Beben und dem Feuer »Überfiel [die Stadt] als ddttes Übel« das Wasser des durch Trümmer aufgestauten Birsigs. Der Stadtbach sei über seine Ufer getreten, habe die Keller der Häuser in der Birsigniederung übetflutet und die dorthin vor dem Feuer geflüchteten Habseligkeiten der Bewohner vernichtee4

- >)al­lein gegen die Gewalt der Natur hat nichts festen Bestand«, schreibt Francesco Petrarca im Jahre 1368.35

Im Gegensatz zur exzeptionellen Katasttophe in der Großstadt Basel hat der Großbrand im kleinen Frankenberg des Jahres 1476 nur einen Chronisten gefunden: Wigand Gerstenberg. Getstenberg, 1457 in Frankenberg geboren, nach einem Artistenstudium in Erfurt als Altarist in der Frankeoberger Pfarrkirche Liebfrauen bepfründet und von 1494 bis 1506 mit Unterbrechungen als Kaplan am Hof der Landgrafen von Hessen-Marburg tätig, verfaßte seine »Stadtchronik« um 1506 nach der endgültigen Rückkehr in die Vaterstadt an der Eder

36• Gerstenbetgs Bericht über den Frankenherger Großbrand am

33 Diessenhafen (wie Anm. 30), 105.

34 Waltenkofen (wie Anm. 23), 272. Vgl. auch WACKERNAGEL, Geschichte (wie Anm. 21), Bd. 1, 271; MEYER, Erdbeben (wie Anm. 21), 168 mit Anm. 9 ist darin zu korrigieren.

35 [ ... ] sed conlm natrtrae impeito!l m!Jil es/ stabi/r:: WIDMER, Petrarca (wie Anm. 29), 21.

36 Hubert HERKOMMER, An. Gcrstenberg, Wigand, in: Die deutsche Literatur des 1\1ittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 2, Berlin 1980, Sp. 1274-1276 (mit weiterer

Literatur). Zuletzt: Birgit STUDT, Das Land und seine Fürsten. Zur Entstehung der Landes- und dynastischen Geschichtsschreibung in Hessen und Thüringen, in: Ingrid BAUMGARTNER/Winfried SCHlCH (Hg.), Nordhessen im Mittelalter. Pro­bleme von Identität und überregionaler Integration, Veröffentlichungen der Histo­rischen Kommission fü~: Hessen 64, Marburg 2001, 171-196, hier: 184-189.

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Gerbard F'o11quet

9. Mai 1476 gründet auf unnaittelbarer Augenzeugenschaft, der Text kann zugleich als eine der besten deutschsprachigen Reportagen des 15. Jahrhunderts gelesen werden.37 Auffallend ist zunächst: Gersten­berg sieht und hört auf Zeiger und Glockenschlag, genaue Uhrzeiten rhythmisieren das Großereignis38

• Der Brand begann nach Mittag, alss

die glocke 1 slug.39 Das Feuer entzündete sich in einem genau bezeich­neten großen, reichen, mit Schiefer gedeckten Eckhaus am Unter­markt und verbreitete sich in rasender Eile in der ganzen Altstadt. Gerstenberg hat genau beobachtet und nennt dafür vier Gründe: 1. Heiß seien die Wochen zuvor gewesen, alles war ausgetrocknet. 2. Kein Wasser habe es in der Stadt gegeben - eine Wasserleitung von der Eder herauf wurde erst 1502 errichtet.40

3. Do 1vas 1/Jenick fulckes in der stad, schreibt Gerstenberg. Häuser und Gassen waren zu dieser Tageszeit nahezu menschenleer: Viele Leute hätten draußen vor der Stadt auf ihren Feldern, in ihren Gärten und Wiesen gearbeitet- die agrarisch geprägte und überformte Kleinstadt des Spätmittelalters. 4. Von der Eder her habe sich, so Gerstenberg, genau beim Aus­bruch des Brandes ein Sturm erhoben, der die Funken über das Stadtgebiet verteilte. Ob Gerstenberg darin ein Indiz für Gottes Wir­ken sah oder einer schlichten Fehlerinnerung an eine erst durch die Hitze des Brandes ausgelöste Thermik erlag, sei dahingestellt. Be­zeichnenderweise aber erwähnt Gerstenberg nicht die vorherrschen­de Fachwerkbauweise und die zahlreichen Weichdächer als Gründe für die rasende Ausbreitung des Brandes - Fach\verk und Weich-

37 Die Chroniken des Wigand Gerstenberg von Frankenberg, hg. von Her­mann DIEMAR, Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen?, Marburg 21989, 377-474, hier: 456-461.

38 Dazu Gerhard FOUQUET, Zeit, Arbeit und Muße im Wandel spätmittelalter­licher Kommunikations formen: Die Regulierung von Arbeits" und Geschäftszeiten im städtischen Handwerk und Gewerbe, in: Alfl'ed HA VERKAMP (Hg.), Informati­on, Kommunikation und Selbstdarstellung in mittelalterlichen Gemeinden, Schrif­ten des Historischen Kollegs. Kolloquien 40, München 1998, 237-275.

39 Gerstenberg (wie Anm. 37), 456. 40 Gerstenberg (wie Anm. 37), 471.

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Erdbeben in Base/1356 und Großfeuer in Frankenberg 1476

dach, ausgesprochene, von den städtischen Räten oft vergeblich be­kämpfte Problembereiche alteuropäischen Bauens. 41

Jedenfalls- im Nu brannte es an allen Ecken und Enden. Die we­nigen 11enschen in der Stadt standen dem Feuer machtlos gegenüber: Frauen und Kinder mühten sich vergeblich, Eimer mit Wasser her­beizuschleppen. Vergeblich war das verzweifelte Treiben der Wenih gen auf den Dächern, die dort gossen1 slugin, leschetin. Vergeblich war, daß diejenigen, die vor der Stadt auf den Feldern gearbeitet hatten, nun herbeistürzten, daß Leute aus den nächst gelegenen Dörfern herbeieilten. Alle Hilfe kam zu spät: Die Gassen waren durch ein­stürzende Häuser unpassierbar geworden. Hilflos mußten die Men­schen zusehen, wie das Rathaus Feuer fing und unter dem Donner der dort stehenden geladenen Kanonen abbtannte, wie mit dem im Rathaus lagernden Archiv auch das Gedächtnis und die rechtliche Fundation det Gemeinde, ihre Privilegien, ausgelöscht wurden, wie ab vier Uhr nachmittags aus der Pfarrkirche die Flammen schlugen -das Bleidach des Chorturmes schmolz unter der unsäglichen Hitze des Feuers, und aus den Wasserspeiern des Daches schoß das ge­schmolzene Metall wie Regenwasser herunter-, wie endlich das Feu­er auf die Neustadt hinübersprang. Die Menschen flohen aus der Stadt. Niemand konnte einigen alten Leuten und Kindern zu Hilfe kommen, die sich auf den Platz der ehemaligen Burg gerettet hatten und nun vor Hitze und Rauch Todesqualen litten. Gerettet wurde wenigstens das Vieh - »Pferde, Kühe, Schweine, Ziegen, Gänse und dergleichen«, sagt Gerstenberg -, das am späten Nachmittag im all­täglichen Tmtt von der Weide kam: Alle Tore und Pforten waren geschlossen worden.

Inwiefern kann nun die mediävistische Forschung über die Dar­stellung des anekdotenhaften Einzelereignisses hinaus die Chmnistik nutzen, um zu gesicherten Aussagen über Ablauf und Schadensaus~ maß einer Katastrophe zu gelangen? Sind solche Fragen mittelalterli­cher Historiographie überhaupt angemessen?

Die Vergeblichkeit menschlichen Tuns angesichts der hereinbre­chenden Naturgewalten offenbart sich für alle Chronisten im Scha-

41 FOUQUET, Bauen (wie Anm. 16), 420--430 und passim.

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Gerhard Fouquet

densausmaß des Bebens: In Frankenberg zog man abends um sechs Uhr, als es noch überall züngelte und schwelte, erste Bilanz: Die tz!;;o stedde mit den [ ... ) dryen kireben tmde mit den husern allerdinge [waren] abge~ brant. Nur wenige, von Gerstenberg genau bezeichnete Häuser und

f Gassen hatte das Feuer verschont.42 Die so/lempnis civitas Basi!iemis, versichert Heinrich von Diessenhofen, sei schon durch das erste Be­ben am Nachmittag des 18. Oktobers zerstört worden. Alle Kirchen mit Ausnahme des Dominikanerldosters und der Kapelle der J ohan­niter, beidein der Vorstadt »Ze Krüz«, lägen in Trümmern.43 Und der Anonymus im »Roten Buch« ergänzt, hierin ein besserer Beobachter als Diessenhofen: »Türme und Steinhäuser in der Innerstadt und den Vorstädten wurden [von dem ersten Beben] größtenteils zerstört«4

\

was datauf hinweisen könnte, daß Fachwerkhäuset aufgrund ihrer elastischeren Bauweise den Erdstößen besser standgehalten haben mochten. Doch auch sie fielen wie der Rest der Stadt dem nach den ersten Beben ausbrechenden Großfeuer zum Opfer. So steht es denn auch nahezu ausnahmslos in allen Chroniken: Das Erdbeben sei ve­hemens, merke/ich, ja das gröSt gewesen45

, sie ut unquatlJ visum est, wie ein

42 Gerstenberg (wie Anm. 37), 459. 43 Diessenhafen (wie Anm. 30), 107. Dazu Daniel FECHTER, Topographie mit

Berücksichtigung der Cultur- und Sittengeschichte, in: Basel im vierzehnten Jahr­hundert (wie Anm. 5), 1-146, hier: 124-128; Casimir 1-:Ie.tmann BAER, Die Kunst~ denkmäler des Kantons Basel-Stadt, Bd. III: Die Kirchen, Klöster und Kapellen, Teil I, Kunstdenkmäler Schweiz 12, Basel1941, 70, 430 und passim; WECHSLER, Erdbeben (wie Anm. 12), 22 und 31. In den um 1356 entstandenen >>Notae histo.ti~ cae Altorfenses« wird übertrieben auch davon berichtet, daß in Basel die Stadtmau­er totaliter zusammengebrochen sei: Annales Marbacenses (wie Anm. 30), 123. Der Dominikaner Felix Fabe.t wußte um 1480/90, daß das Basler Dominikaneddoster freilich Mauerrisse und Bauschäden am Chor der Kirche davongetragen hatte: Fabri (wie Anm. 30), 172.

44 Chronikalien der Ratsbüche.t (wie Anm. 25), 17. 45 Das Burge.tbuch von Luzern: WACKERNAGEL, Erdbeben (wie Anm. 21),

227, Nr. 3 (do kam der gröst etdbidem); Annales Marbacenses (wie Anm. 30), 102 (ex t;e!Jemmti tenr: J?Jolu); Chronik Neuenburg (wie Anm. 30), 485 (Fortsetzung det· Chmnik: ex vebementi tem motu). Die Nachweise der »Annales Marbacenses« zu 1356 stammen aus der Fortsetzung der Chronik des Matthias von Neuenburg: Hermann BLOCH, Die elsässischen Annalen der Stauferzeit. Eine quellenkLitische Einleitung, Regesten der Bischöfe von Straßburg I, 1, Innsbwck 1908, 141f. Darüber hin~us

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Erdbeben ztl Base/1356 11nd Großfeuer in Frankenbug 1476

unbekannter Mainzer Chronist um 1400 eilfertig hinzusetzt, einer von vielen.46 Freilich - ohne diese schriftliche Überlieferung wären sonst »keinerlei Hinweise auf eine Erdbebenkatastrophe für Basel im Jahre 1356 faßbar.« Der Basler Archäologe Werner Meyer, der dieses »etwas verwirrende Ergebnis« 1990 in seinem Resümee der stadtar­chäologischen Untersuchungen herausstellte, wies nämlich damuf hin, daß sich »weder im Boden noch am aufgehenden Mauerwerk der Altstadtbauten [ ... ] eindeutige Spuren des Erdbebens« finden ließen, obwohl die »Größern Basler Annalen« (allerdings in einer Redaktion vom Beginn des 16. Jahrhunderts) sehr eindringlich davon zeugen, daß die Erdstöße an allen Türmen und größeren Gebäuden Bauschä­den, zumindest Mauenisse hervorgerufen hätten.47

Doch die Chronisten übertrieben diesmal zumindest in der Ten­denz nicht: Eine neueste seismologische Studie ermittelte für das Beben von 1356 eine Stärke von 6,5 auf der Richter-Skala oder von 9 bis 10 auf der MSK-Skala. Es übertrifft damit alle seit 1021 bezeug­ten Erdbewegungen in der Region Basel, ja es gilt als das schwerste der historisch bekannten Starkbeben nördlich der Alpen. Die er­wähnte Untersuchung konnte auch erstmals den Herd jenes Bebens lokalisieren: eine seismisch aktive Bruchzone, die sich auf einer Länge von acht Kilometern vom Jura (vom »Blauen<0 aus in nordöstlicher Richtung quer durch das Birstal über Reinach zur südlichen Stadt­grenze Basels erstreckt. 48 Dieser naturwissenschaftliche Befund ent-

Closener (wie Anm. 3), 136 (ein utbidem dergar merke/;cl; Jt-'ai); Fortsetzung Chronik Albrechts von Straßburg ('.vie Anm. 30), 231, Nr. 6 (ex vebmJeJtti tmr: motu).

46 Chronicon Moguntinum, hg. von Carl HEGEL, MGH. SS. rer. Germ. 20, Hannover 1885, 4. Datüber hinaus: Die Chronik Heinrichs Taube von Seibach mit den von ihm verfaßten Biographien Eichstätter Bischöfe, hg. von Harry BRESSLAU, MGH. SS. rer. Germ. NS 1, Berlin 1922, 109f.; Burgerbuch Luzern (wie Anm. 45), 227, N,. 3.

47 MEYER, Erdbeben (wie Anm. 21), 164f. Zur Beschreibung der »Größern Basler Annalen((: Und in dergantzw stat fand man an allm tbtmu:n noc/; grossen bwve11 kein mllren, die da gantz blipm 1/JeJm, sonderallzerspalten und zeifallen: Die Grössem Basler Annalen nach Schnitts Handschrift (238-1416), hg. von August BERNOULLI, in: Basler Chroniken (wie Anm. 25), Bd. 6, 237-275, hier: 254.

48 Mustapha MEGHRAOUI u. a., Active Normal Faulring in the Upper Rhine Graben and Paleoscismlc Idenlification of the 1356 Basel Earthquake, in: Sdence

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Ged;ard Fouquet

spricht ebenfalls im wesentlichen den Beschreibungen der Chroni­sten des 14. Jahrhunderts: Heinrich von Diessenhafen macht zwar unbestimmt die Diözese Basel als Schadensraum aus und zählt dort 46 zerstörte Burgen49

, den genauen Schadensumkreis markiert aber der zitierte Anonymus im Basler »Roten Buclw: vier Meilen, also etwa dreißig Kilometer, sollen es gewesen sein. 5° Und in der Basler I-land­schrift der »Sächsischen Weltchronik« wird um 1400 davon erzählt, daß das Beben viele Burgen am »Blauen« zum Einsturz gebracht hät­te - im allgemeinen Höhenburgensterben der Zeit kam die Natur in dieser Region den Entscheidungen ihrer Besitzer zuvor. 51

293 (2001), 5537, 2070-2073. An der Untersuchung waren Wissenschafder des Schweizerischen Erdbebendienstes der ETH Zürich sowie der Universitäten Basel und Straßburg beteiligt.

49 Diessenhafen (wie Anm. 30), 107. Die Portsetzungen der Chroniken des Mattbias von Neuenburg und des Albrecht von Straßburg, um 1370 entstanden, beließen es bei »mehr als 40«: Chronik Neuenburg (wie Anm. 30), 485f.; Fortset­zung Chronik Albrechts von Straßburg (wie Anm. 30), 231, Nr. 6. Gebhard Dacher fußt in seiner Konstanzer Chronik (entstanden vor 1471) auf Diessenhafen und nennt die gleiche Zahl: Die Chroniken der Stadt Konstanz, hg. von Philipp RUP­PERT, Bd. 1, Konstanz 1890, 65. Mit ca. 60 zerstörten Burgen rechnet Pritsche Closener: Closener (wie Anm. 3), 136.

50 Chronikalien der Ratsbücher (wie Anm. 25), 17. 51 ))Basler Chronik«, in: WACKERNAGEL, Erdbeben (wie Anm. 21), 233, Nr. 10;

Die Chronik des Erhard von Appenwiler 1439-1471, mit ihren Fortsetzungen 1472-1474: Beilage I: Die Basler Zusätze zur Sächsischen We!tchronik, hg. von August BERNOULLI, in: Basler Chroniken (wie Anm. 25), Bd. 4, 365-374, hier: 370f. mit Nennungen der Burgen Alt- und Neu-Schauenburg, Wartenberg, Mün­chenstein, Reichenstein, Dornach, Angenstein, Bärenfels und Ober-Aesch. Der Anonymus, det auf Veranlassung des Zürcher Ratsherrn und Schultheißen Eber­hard Mülner um 1380 eine Chronik über die Zeit nach 1350 verfaßte, weiß eben­falls um einige zerstörte Burgen: Chronik der Stadt Zürich (mit Fortsetzungen), hg. von Johannes DIERAUER, Quellen zur Schweizer Geschichte 18, Basel1900, 80. Dazu Richard FELLER/Edgar ßONJOUR, Geschichtsschreibung der Schweiz vom Spätmittelalter zur Neuzeit, 2 Bde., Bascl1962, hier: Bd. 1, 66f. Die Chronistischen Hinweise halten im ganzen auch der archäologischen Expertise stand. Allerdings sind von den zahlreichen beschädigten Burgen insgesamt nur zehn von ihren Be­sitzern nicht wieder aufgebaut worden und Ruine geblieben: Wemer MEYER, But­gen von A-Z. Burgenlexikon der Regio, Basel 1981; Werner MEYER, Zur Auflas­sung der Burgen in der spätmittelalterlichen Schweiz, in: Chateau Gaillard. Etudes de Castellologie mCdiCvale 7, Caen 1985, 11-21, hier: 12f. Die ältere Arbeit von

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Erdbeben 1!1 Base/1356 1111d G1vßje11er in Frankmberg 1476

Dunkel äußern sich die Chronisten über die Menschenverluste. Die im Hinblick auf Realitäten glaubwürdigsten Zeitzeugen, der An­onymus im ))Roten Buch« und Heinrich von Diessenhofen, schwei­gen dazu. Diessenhafen interessiert nicht, ob die von ihm e1wähnten Verschütteten auch gerettet werden konnten, während der mutmaßli­che Augenzeuge Waltenkofen von >>Vielen verschütteten Menschen« spricht, die zu Tode gekommen seien. Auch der sonst etwas beredte­re Straßburger Chronist Pritsche Closener bleibt bei den Zahlen im Ungefahren: vif lutes und vihes seien verdorben. 52 Die unbestimmte Größenbezeichnung »viel« ist auch anderen zeitgenössischen Chroni­ken eigen. 53 Manche Chronisten meinten es gerrauer zu wissen: Für den unbekannten Autor des »Chronicon Moguntinum« bedeutet »viel« »mehr als 1.500« Tote, und Heinrich Taube, der von seiner Eichstätter Dompfründe aus das ferne Geschehen verfolgte, tut es nicht unter mille milia homhtHm, um das Außergewöhnliche des Basler Bebens zu unterstreichen. 54 Bei dem unterentwickelten »Gefühl für den Werth gerrauer Zahlenfeststellungen« vor dem 19. Jahrhundert, von dem schon der Nationalökonom Karl Bücher sprach5S, ist es dagegen auffallend, daß sich der auch sonst sehr informiert zeigende

Basler Anonymus in seinen Zusätzen zur »Sächsischen Weltchronik«

Müller ist ftir die Identifiziemng der zerstörten Burgen nur bedingt brauchbar: Clu·istian Adolf MüLLER, Die Burgen in der Umgebung von Basel und das Erdbe­ben von 1356, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 55 (1956), 25-73.

52 Closener (wie Anm. 3), 136. In gleicher Weise: Twinger (wie Anm. 3), 863. 53 Dazu z. B. Österreichische Chronik von den 95 Herrschaften, hg. von Jo­

seph SEEMÜU"ER, MGH. Deutsche Chroniken 6, Hannover-Leipzig 1909, 199, Nr. 399 (um 1386 entstanden). Tiiemann Elhen beruht mit seiner Einschätzung der Verlustraten (zu Bastle wl Iude doil) ebenso auf Fritsche Closener wie Gebhard Da­eher (Konstail.z) und Wigand Gerstenberg: Limburger Chronik (wie Anm. 1), 45; Chroniken Konstanz (wie Amn. 49), 65; Gerstenberg (wie Anm. 37), 257.

54 Chronicon Mogunt.inum (wie Anm. 46), 4; Chronik Heinrichs Taube (wie Anm. 46), 110. Conrad Justinger kam um 1425 auf bi thusent tJibitschm, was Wilhelm Wackernagel als »kindisch[e]« Übertreibung benotete: Die Bemer Chronik des Conradjustinger, hg. von Gottlieb STUDER, Bem 1871, 122, Nr. 189. Dazu WAK­KERNAGEL, Erdbeben (wie Anm. 21), 219.

55 Kar! BüCHER, Die Bevölkemng von Frankfurt am Main im XIV. und XV. Jahrhundert. Socialstatistische Studien, Bd. 1, Tübingen 1886,4.

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Gerhanf Fo11q11et

mit bi dJ]hmtdett Opfern bemerkenswert zurückhält und sogar emen freilich sehr prominenten Toten aus dem Ritter- und Bürgermeister­geschlecht von Bärenfels beim Namen nennt Bärenfels sei, als er vom Fischmarkt durch eine Stadtmauerpforte hinauf zum St. Peters­platz flüchtete, von einer herabfallenden Mauerzinne erschlagen worden. 56

Wie gestaltete sich der >>Tag danach«, wie sah der Alltag der Men­schen nach der Katastrophe aus, wie verhielten sich die Überleben­den? Über das Schicksal der Basler in den Tagen und Wochen nach dem Beben berichten die Chronisten wenig. Heinrich von Diessen­hafen interessiert allenfalls der Umstand, daß nach den Stunden des Schreckensam 18. und 19. Oktober der Großbrand noch zehn Tage in der Stadt gehaust hätte. 57 Und um das Unglück fortzusetzen, sei am 28. Dezember 1356 noch einmal das Erdbeben erschienen und habe zahlreiche noch aufrechtstehende Außenmauern zum Einsturz gebracht. 58 Auch Konrad von Waltenkofen, der Anonymus im ))Ro­ten Buch«, das Burgerbuch von Luzern (um 1357) sowie die Sttaß­burger Pritsche Closener und Jakob Twinger wissen von Nachbeben, die bis zum Ende des Jahres die Menschen in Atem gehalten hätten: }}Manchmal waren sie groß, manchmal lclein.«59 Und Closener er-

56 Basler Zusätze zur Sächsischen Weltchronik (wie Anm. 51), 372. Nachweis­lich zu Tode kamen außerdem noch zwei weitere Menschen; der Domherr Johan­nes Christiani und Peter Münch, der Pfarrer von St. Manin: WACKER.t"lAGEL, Ge­schichte (wie Anm. 21), Bd. 2, 271. Die »Kleineren Basler Annalen« nennen über­dies !JJe demte fimßJI(ndeti mmscben als Opferzahlen: Die Kleineren Basler Annalen (wie Anm. 31), 57.

57 Diessenhafen (wie Anm. 30), 107. Der Anonymus vom »Roten Buch(( be­richtet als weiterer Augenzeuge von »acht Tagen«: Chronikalien der Ratsbücher (wie Anm. 25), 17.

58 Diessenhofen (wie Anm. 30), 107, mit dem weiteren Verweis auf 84 ruinier­te Burgen in den Diözesen Konstanz, Besanc;on und Lausanne.

59 Waltenkofen (wie Anm. 23), 272; Chronikalien der Ratsbücher (wie Anm. 25), 17 (Zitat); Burgerbuch Luzern (wie Anm. 45), 227, Nr. 3; Closener (wie Anm. 3), 136; Twinger (wie Anm. 3), 863. Fritsche Closener und ihm folgend Jakob Twinger von Königshafen berichten noch über das erheblich schwächere Erdbe­ben von Straßburg am 9. Mai 1357, Twinger erwähnt darüber hinaus weitere Beben in Straßburg in den Jahren 1363 und 1372: Closener (wie Anm. 3), 137; Twinger (wie Anm. 3), 8631.

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Enlbeben ti1 Basel 1356 uud G!vßftuer in Frankenbecg 1476

gänzt, daß kein Basler in der Stadt bleiben konnte; unter Zelten in Gärten und Feldern seien die Leute gelegen und hätten großen Hun­ger gelitten. 60

Auch andere Chronisten und weitere Quellen verschleiern die Bewältigung des Extremereignisses von 1356 mehr, als daß sie die Situation erhellten: Da sind die offenbar sofort nach der Katastrophe einsetzenden Hilfsaktionen durch Straßburg, Freiburg i. Br., Colmar, Schlettstatt, Mülhausen, Neuenburg und Rheinfelden, wovon die erst um 1425 niedergeschriebene ))Berner Chronik« des Conrad Justinger berichtet: ] edenfalls sollen Abordnungen aus diesen Städten den Bas­lern geholfen haben, >)ihre Gassen zu räumen.i1 Da sind die nach dem Basler Erdbeben getroffenen Verordnungen des Rates über die Einrichtung des baupolizeiliehen Kollegiums der ))Fünfer«, die Statu­ten auch über Höchstlöhne, über den Holzhandel, über die proviso­rischen Verkaufshallen, die schon im Frühsommer 1357 wieder auf­gehoben wurden. Da hat die neuere Bauforschung im sogenannten Lohnhof-Eckturm und in den Dachwerken einiger Basler Stadthäu­ser Dendrodaten fiir das Jahr 1357 gefunden, die vom Wiederaufbau zeugen könnten. Da gibt es Ratsurteile gegen Plünderer, auch zahl­reiche Urkunden über Häuserverkäufe, verlorene Gültbriefe und Erwerbungen von Wäldern durch den Rat. Da sind endlich seit 1361/62 d.ie Stadtrechnungen überliefert, die einerseits ein großange­legtes Reparatur- und Neubauprogramm der Stadtbefestigungen (1361 bis 1401) dokumentieren, andererseits trotz dieser außeror­dentlichen Belastungen eine prosperierende Kreditpolitik des Rates belegen.62

60 Closener (wie Anm. 3), 136.

61 Berner Chronik (wie 1\nm. 54), 122, Nr. 189. Von der 1-Iilfe Mühlhausens berichtet noch im 18. Jahrhundert die dortige städtische Chronistik: Es sei nicht nur eine Ratsabordnung nach Basel geschickt worden, sondern man hätte auch amebenlkhe steurm mitgetJmlt tmd ordmmggr.gebw, daß die burger [ ... ] noch dabinll'ochentlich gegangm und die hu'.ßer J/.lider aufliebten geho!f!m: Josua Fürstenberger, Mülhauser Ge­schichten bis zum Jahre 1720, hg. von der Commission de publication des archives de Mulhonse, Mulhouse 1897, Bd. 2, 45.

62 An Quellen sei verwiesen auf: WACKER.~AGEL, Erdbeben (wie Anm. 21), 226-228 (Verordnungen des »Roten Buches«); Urkundenbuch der Stadt Basel, hg; von Rudolf WACKERNAGEL und Rudolf THOMMEN, 11 Bde., Basel 1890-1900,

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Gerbard Fouq11et

Genauer, pointierter, mit dem Blick auch für die Zusammenhänge beschreibt Wigand Gerstenberg als Betroffener und Augenzeuge die langen Monate des Wiederaufbaus der Stadt Frankenberg, insgesamt ein Beticht über eine »Ökonomie ohne Haus<P, eine Ökonomie am Abgrund, ja des nackten Überlebens. \Xlie »Heiden oder Zigeuner« hätten sich die Frankenherger am Nachmittag des 9. Mai 1476 vor ihren Stadttoren niedergelassen. Unordnung, ja Chaos allenthalben: Man hatte kein Essen, kein Trinken; hier schrieen Kinder, »nackt und bloß«, vor Hunger, »dort schrieen die Alten wegen der großen Schä­den<<, Pferde liefen herrenlos auf den Feldern. Doch schon am näch­sten Tag raffte man sich auf, die Leute begannen mit den Aufräu­mungsarbeiten. Der, dem das Feuer noch den Keller seines Hauses gelassen hatte, versuchte sich recht und schlecht dort einzurichten. Die Kleriker und die alten Frauen fanden Platz im Schulhaus, das vom Feuer verschont worden war. Die anderen Bürger und Einwoh­ner versuchten es mit Notquartieren, je fünf oder sechs Familien

hier: Bd. 4, 214f., Nr. 229 (Rückbezahlung einer Rentenschuld von 5.550 Goldgul­den an Graf Rudolf von Neuenburg); 224f., Nr. 244 (Durch Erdbeben verlorener Gültbrief eines Hauses); 233f., Nr. 255 (Fünfergericht, 22. Oktober 1360); 236-238, Nr. 260 (Erneuerung der durch das Beben verlorenen Ordnung der Scherer, Maler, Sattler und Sporer, 6. Mai 1361); 242, Nr. 265 (Der Bischof gestattet dem Basler Rat, das Mühlenungeld für zwei Jahre auch in Kleinbasel zu etheben, 19. Juli 1362), 243f. Nr. 266 (Kredit über 3.400 Goldgulden an Graf Rudolf von Habsburg, vor dem 1. Dezember 1362); Der Stadthaushalt Basels im ausgehenden lvlittelalter. Quellen und Studien zur Basler Finanzgeschichte. Erste Abteilung, hg. von Bern­hard HARMS, 3 Bde. (Einnahmen und Ausgaben 1360-1535), Tübingen 1909-1913, Bd. 1, 1-3 (Einnahmen 1361/62-1365/66); Bd. 2, 1-6 (Ausgaben 1361/62-1365/66). VgL clie Zusammenstellungen bei: WACKJ~RNAGEL, Geschichte (wie Anm. 21), Bd. 1, 272; WECHSLER, Erdbeben (wie Anm. 12), 80-84 (I-Iausurkun­den) und passim. Zur Einführung des Fünfergerichts als Baupolizei schon 1358: FECHTER, Topographie (wie Anm, 43), 129. Für die Informationen über neuere Dendrodaten dankt der Verfasser den Herren Guido I-leimig und Dr. Thomas Lutz von der »Archäologischen Bodenforschung« bzw. vom »Amt für Denkmalpflege Basel-Stadt, Abteilung Bauforschung«. Darüber hinaus zum Lohnhof-Eckturm: Christoph Philipp MATI, Rund um den Lohnhof (Archäologische Denkmäler in Basel, 2), Basel2002, 16.

63 In anderen Zusammenhängen: Valentin GROEBNER, Ökonomie ohne Haus. Zum Wirtschaften armer Leute in Nürnberg am Ende des 15. Jahrhunderts, Veröf­fentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 108, Göttingen 1993.

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Erdbeben in Base/1356 nnd GroßftHer in Frankenbe~:g 1476

teilten sich eines der unvetsehrten Häuser oder Scheunen. Viele Menschen, besonders unter dem jungen, ledigen Volk, verließen Frankenberg, zogen in die nächsten Städte und Dörfer, sie kamen nie wieder. Andere bauten sich Behelfsunterkünfte, Hütten und Ver­schläge, um darin zu hausen. Gekocht wurde in Garküchen, organi­siert von den Nachbarschaften, >>jeweils von acht, zehn oder zwölf Hausgesessen.« Unterstützung fanden die Obdachlosen bei der Stadt Treysa, seit 1450 ebenfalls landgräffich-hessisch und rund vierzig I<iiometer südöstlich von Frankenberg gelegen. Drei Wagen voll Brot und Kleider schickte der dortige Rat als Soforcl1ilfe, was Ger­stenberg als besondere Geste städtischer Solidarität wertet: »Solch eine Treue sollten die von Frankenberg mit Recht nimmermehr ge­gen die von Treysa vergessen.« Und Landgraf Heinrich III., »der fromme Fürst«, ließ den Frankenbergern viel Brotgetreide und Bau­holz zukommen, er erteilte ihnen wieder ihre Privilegien, er »war ihnen ein gnädiger Herr.« Man begann zwar sofort mit dem Wieder­aufbau der Kirchen und der Privathäuser, wovon gleichsam als Me­moria für den Selbstbehauptungswillen der Frankeoberger auch eine Federzeichnung in der »Stadtchronik« zeugt. Doch vor dem \X/inter­einbruch war man bei weitem noch nicht fertig. Und der Winter, der am 18. November 1476 mit viel Schnee einsetzte, war »hart« und ungewöhnlich lang; Bis Anfang Apri11477 blieb der Schnee liegen. In die Kellerlöcher und die Scheunen zog eisige Kälte, die Menschen hungerten. Vieh, das vor Wintereinbruch unter kein Dach gekom­men war, erfror oder ging ein, weil kein Futterstroh mehr vorhanden war. Man hatte das Stroh zur Dachdeckung verwendet. Überlebende Tiere mußten verkauft werden, um die Zimmermannsarbeiten zu bezahlen. Und so fehlten die Zugtiere, um die Felder zu bestellen, und der Stallmist, um sie zu düngen, so daß im Jahr darauf }}Jenich fmchte 11Jffchs- der Teufelski-eis einer Hungersnot. Zu alldem, zu Hun­ger, Kälte und Not, gesellte sich noch eine seltzin kranckr::yd (mögli­chetvveise Cholera, Typhus, Ruhr oder Fleckfieber als typische Epi­demien im Gefolge von Unteremährung und mangelnder Hygiene), an der vile Iude gestorben sein sollcn.64

64 Gerstenberg (wie Anm. 37), 459-462. Zu den Epidem.icn nur: Jacgues RUF·

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Gerharci For1quet

III.

Die e~[de} bidemet, [oucb] kliibmt [spalten sich] die .rteine, I Ir be~ten be~tzen, ir sul/ent UJeinen, I Weinen! tougen [heimlich] I Mit den oHgen.65 Von dem, was die Geißler um 1350 sangen, wußten sich auch die kirchlichen Autoritäten einen Vers zu machen: Gottes Strafgericht, so ließ sich der Würzburger Bischof in einem Hirtenbrief vernehmen, zeige sich in Hunger, Erdbeben, Pest und Tod.66 Angesichts des durch die Na­tur sinnenhaft erfahrbar werdenden göttlichen Zornes blieben die Chronisten mit dem Blick auf die Deutung jener Katastrophen beim bewußt Ungefihren. Raunend zog das »Chronicon Moguntinum« seine Parallelen zwischen dem schlechten Weinjahr 1356 (crevzf vinum tatJI debile, quod vix homines bibere poteranl), der Rückkehr der Pest, ei­nem kalten, zeitigen Winter und dem Basler Erdbeben.67 Wer konnte schon so genau um Gottes Ratschlüsse, die er durch die Natur de­monstrierte, wissen? Die meisten zeitgenössischen Chronisten der Basler Tragödie sind sich sicher: Die Stadt am Rheinknie ist am 18. Oktober 1356 untergegangen:" Die drei großen Erdstöße mit ihrer

FIE/Jean-Charles SOURNIA, Die Seuchen in der Geschichte der Menschheit, Stutt­gart 1989, 68-82.

65 Closener (wie Anm. 3), 110. Darüber hinaus läßt Closener in seiner Überlie­ferung der )>Geißler Predigt« Jesus Christus von den Unbilden der Natur sprechen, die er in den letztenJaht·en den Menschen zur Strafe geschickt habe: ebd., 112.

66 Stuart JENKS, Die Prophezeiung von Ps.-Hildegard von Bingen: Eine ver­nachlässigte Quelle über die Geißlerzüge von 1348/49 im Lichte des Kampfes der Würzburger Kirche gegen die Flagellanten, in: Mainfi:änkisches Jahrbuch für Ge­schichte und Kunst 29 (1977), 9-38, hier: 22-24; Neithard BULST, Der Schwarze Tod. Demographische, Wirtschafts- und kulturgeschichtliche Aspekte der Pestkata­strophe von 1347-1352. Bilanz der neueren Forschung, in: Saeculum 30 (1979), 45-67, hier: 60. Zur christlich-klerikalen Katasttophenkommunikation aus der Fülle der Literatur nur: Klaus KRÜGER, Das Jüngste Gericht und die alltäglichen Katastrophen. Zu Prognose und Diagnose in der spätmittelalterlichen Stadtchroni­stik, in: Enno BüNZ/Rainer GRIES/Frank MöLLER (Hg.), Der Tag X in der Ge­schichte. Erwartungen und Enttäuschungen seit tausend Jahren, Stuttgatt 1997, 79-101 und 346-352.

67 Chronicon Moguntinum (w:ie Anm. 46), 4f. 68 Paradigmatisch ist das in düsterne Farben gehaltene Schreckensbild Pritsche

Closeners: Und Basel die stat 11iel ouch demidet; die kirchm tmd die btmr, die ringmuren 11nd

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Erdbebm in Base/1356 und Großfeuer in Frankenberg 14 76

zetstörerischen Gewalt, der Großbrand und die Überschwemmung der Birsigniederung trugen ihre Scherflein zur Entfaltung des göttli­chen Strafgerichtes bei.69 Für Enea Silvio Piccolomini kam in seiner zweiten, 1438 entstandenen Beschreibung Basels das Erdbeben von 1356 sogar einer zweiten Gründung der uralten Stadt gleich: Überall neu sei Basel, im Stadtgebiet gebe es ))kein Zeichen von Alter«. 70 Das Genus des »Städtelobs« hatte wohl auch darin den Blick für Realitä­ten und Realien verstellt. Denn Thomas Ebendorfer schreibt in sei­ner »Chronica Austriae«, daß indicia des >>sehr schweren Bebens« bis zu den Tagen des Basler Konzils sichtbar gewesen seien. Ebendorfer wußte, wovon er sprach, hatte er doch von 1432 bis 1435 als Ge­sandter der \'XIiener Universität in der Stadt gelebt. 71

Doch was für Themas Ebendorfer nur noch die vergänglichen Indizien im Gang der Heilsgeschichte sein mochten72

, waren für die Zeitgenossen um 1356 die ganz real erlittenen, aber kaum zu deuten­den Zeichen Gottes. Gott >>argumentierte« zweifellos mit der Natur,

die tüm derz:JI ging ein fiiwer an mit dem lltrvallendc tmd bnmte tht>it manigen dag. Closener (wie Anm. 3), 136.

69 In Kleinbasel, der bischöflichen Gründungstadt am rechten Rheinufer, hatte darüber hinaus bereits 1354 ein Großfeuer gewütet, dessen Schäden wohl so be­trächtlich waren, daß Bischof Johann Senn von Müosingen seine Stadt 1355 auf zehn Jahre von der Stadtsteuer befreite: Urkundenbuch Basel (wie Anm. 62), Bd. 4, 204, Nr. 219.

70 Alfred 1-IARTMANN, Basi!ea Latina. Lateinische Texte zur Kultur- und Sit­tengeschichte der Stadt Basel im 15. und 16. Jahrhundert, Basel 1931, 48-62, hier: 51. Dazu Klaus VOIGT, Italienische Berichte aus dem spätmittelalterlichen Det1tschland. Von Francesco Petrarca zu Andrea de' Frauceschi (1333-1492), Kieler Histodsehe Studien 17, Stuttgart 1973, 100-110.

71 Thomas Ebendorfer, Chronica Austriae, hg. von Alphons LHOTSKY, MGH. SS. rer. Germ. NS 13, Berlin 1967,259.

72 Ebendorfer will freilich von Baslern die Anekdote gehört haben, daß Her­zog Albrecht II. von Österreich, der mit Basel seit 1343/45 durch Bündnisse und Münzkonventionen in enger Verbindung stand, folgendes auf den Hinweis, daß das zerstörte Basel ihm nun seine Herrschaft verkaufen werde, geäußert haben soll: Absit boc a !lle, ut plagatos a deo ?Ncis plagis aificiam, ne bis punicionem in idipsff?JI subeanl e1

addam rif!lirHonem rif!lictis!: Ebendorfer, Chronica (wie Anm. 71), 259. Zum Verhältnis· Basel-Österreich: WACKERNAGEL, Geschichte (wie Anm. 21), Bd. 1, 258-260.

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Ged;ard Fouquet

oder er sprach ganz elementar aus ihr:73 Der Franziskaner Jean de Roquetaillade beispielsweise deutete den im Gefolge des Erdbebens ausbrechenden Basler Großbrand als ein »den Eingeweiden der Er­de« entströmendes »wunderbares Feuer, dem höllischen ähnlich.i

4

Doch die göttlichen »Kollektivstrafen« trafen unterschiedslos alle, Laien wie I<leriker, die Frauenhäuser der Unzüchtigen ebenso wie die Kirchen der Frommen.75 Konrad von Megenberg erklärte in seinem um 1350 entstandenen »Buch der Natur« die Ursachen der Erdbeben aus vernünftigen Regeln, die Gott seiner Schöpfung gegeben habe. Nur müsse man diese Zusammenhänge auch erkennen und keine tiirsenmae1; kein Lügenmärchen, erzäblen.76 »Vernünftig« ist es für Konrad von Waltenkofen, den mutmaßlichen Augenzeugen der Bas­ler Katastrophe, durchaus, daß die Glocken im Dominikanerldoster dreimal schlugen, ohne von Menschenhand bewegt worden zu sein. Er erzählte keine Märe. Denn, notiert Waltenkofen, die Erdstöße seien so gewaltig gewesen. Waltenkofen war aber im Unterschied zu Francesco Petrarca, der den Untergang Basels ))als einen unverhoff~ ten Schicksalsschlag[ ... ], als einen Willkürakt wohl gar der Fortuna« interpretierte77 , auch überzeugt davon, daß diese Zeichen von Gottes Walten in der Natur78 Vorzeichen vom Ende der Zeiten seien, quod

73 Ernst SCHUBERT, Alltag im Mittelalter. Natürliches Lebensumfeld und menschliches Miteinander, Darmstadt 2002, 129.

74 SIEBER, Z·wei neue Berichte (wie Anm. 23), 117. Zur angedeuteten Ambiva­lenz sei auf Johannes Rothe venviesen, der in seiner thüringischen Weltchronik zum Jahr 1353 ein schweres Unwetter beschreibt und dabei hervorhebt: Die Blitz­einschläge seien so gewaltig gewesen, daß die leJI.IIt meinten, sie qJI.ieJJJe[n] nicht von nal111'e [ ... ], sondem is were '!)'llt be.r:mdim plage von gote: Johannes Rothe, Düringische Chronik, hg. von Rochus von LILTENCRON, Thürinigsche Geschichtsquellen 3,

Jeno 1859, 694. 75 SCHUBERT, Alltag (wie Anm. 73), 28. 76 Konrad von Megenberg. Das Buch der Natur. Die erste Naturgeschichte in

deutscher Sprache, hg. von Pranz PPEIFFER, Stuttgart 1861 (ND Eildesheim 1994), 107. Dazu auch BORST, Erdbeben (wie Anm. 2), 541.

77 \X!JDMER, Petrarca (wie Anm. 29), 22. 78 Neben den Erdbeben nennen die Chronisten immer wieder die Pest, die

1358 wieder an den Oberrhein kam, die Heuschrecken, die Unwetter mit ihren Teuerungen, die Hochwasser und Stürme. Dazu z. B. dle Chroniken von Pritsche Closener und Tilemann Elhen: Closener (wie Anm. 3), 132-136 (mit Hochwasser,

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Erdbeben in Base/1356 rmd Großfeuer in Frankenberg 1476

domimts dicit in ewangelio Luce [21,10-11}: >)Ein Volk wird sich gegen das andere erheben und ein Reich gegen das andere. Es wird gewaltige Erdbeben und an vielen Orten Seuchen und Hungersnöte geben; schreckliche Dinge werden geschehen, und am Himmel wird man gewaltige Zeichen sehen./9

Da mochten solche Geschichten Trost spenden, wie sie der An­onymus in den Basler Zusätzen zur ))Sächsischen Weltchronik« über die Rettung eines Kindes auf der südlich Basels im Jura gelegenen Burg Pfeffingen80 erzählt: Eine Gräfin von Thierstein habe dort im Kindbett gelegen und wäre in der Nacht des Bebens durch die Ge~ walt der Erschütterungen samt Burg, Töchterlein, Wiege und Magd ins Tal gestürzt worden. Am Morgen sei der Basler Bischof J ohannes Senn von Münsingen dort vorbeigerltten, um sich nach dem Kind zu erkundigen: ob sin got [sein Patenkind] 1ver 11s komm. Als es hieß: Nein, habe Bischof J ohannes im Bergsturz nach dem Kind suchen lassen, und tatsächlich: Man fand den Säugling - weinend zwischen zwei großen Steinen liegend. Und später, setzt der Erzähler hinzu, JJJard

[es] ei11 wib tmd gewan vil kittden. Dem Anonymus galt seine Geschichte als ))Wahr«, das Lebenszeugnis der GräHn von Thierstein stand dafür. Gott hatte ein Zeichen seiner unendlichen Güte gegeben, überhaupt, so vetsichert der Chronist, wären damals ))Viele Wunder« in Basel geschehen.81

Gewittern, Teuetungen, Stürmen und Erdbeben); Limburger Chronik (wie Anm. 1), 4Sf. (mit Erdbeben, Pest und einer »Tageweise« Peters ll. Graf von Aarberg über das Thema: Die Menschen vertrauen sich in ihrer Not Gott an). Im weiten zeitlichen Abstand schreibt der in Köln lebende Kattäuser Werner Rolevinck (um 1470) zum Basler Beben: Be/la, pesti/encie et jafJ!es fitenmt: Werner Rolevinck, Fasdcu~ Jus temporum, Schlettstadt 1474, f. 267r.

79 Übersetzung nach: Die Bibel. Altes und Neues Testament. Einheitsüberset­zung, Freiburg 1980, 1187.

80 Werner MEYER/Eduard WIDMER, Das große Burgenbuch der Schweiz, Zü~ rich 21978, 208f.; Horst Wolfgang BöHME u. a. (Hg.), Burgen in .Mitteleuropa. Ein Handbuch, Bd. 2, Darmstadt 1999, 231.

81 Basler Zusätze zur Sächsischen Weltchronik (wie Anm. 51), 370f. Zu dieser Wundergeschichte aus der Geschichte det Grafen von Thierstein-Pfeffingen: Do­rothea A. CHRIST, Zwischen Kooperation und Konkurrenz. Die Grafen von Thier· stein, ihre Standesgenossen und die Eidgenossenschaft im Spätmittelalter, Zürich

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GedJanl Fouquet

Auch der anscheinend so realistische Bericht Gerstenbergs über die Zerstörungen in Frankenberg will kein Schadensrapport sein. Den Chronisten interessiert in erster Linie nur die Wirklichkeit seiner »Geschichte« und in dieser Hinsicht mußten die Zerstörungen gewal­tig, ja verheerend sein.82 Doch fassen wir in Gerstenbergs Schrek­kensszenario wiederum lediglich das Immergleiche spätmittelalterli­cher und frühneuzeitlicher Katastrophenkommunikation: Extremet­eignisse seien Indizien für Gottes Zorn, wie dies noch Niccolü Ma­chlavelli in den »Discorsi« (1513) oder Christian Wurstisen ID seiner »Basler Chronick« um 1580 hervorheben sollten?83 Zunächst scheint es so: Als11s quam ryn rmg/ttcke nach dem a11denl\ schreibt Gerstenberg nicht nur mit dem Blick auf die Kette der Extremereignisse von 1476. Denn die vom mythischen Dunkel des 6. Jahrhunderts an er­zählte »Geschichte« Frankenbergs gibt sich vielmehr insgesamt als atemberaubende Abfolge von Schadensfehden kleinadliger Placker und fürstlicher Räuber, von schrecltlichen Niederlagen der Franken­berget gegen den Adel, von Feuersbrünsten, Pestepidemien und Teuerungen. Diese konstruierte und historisierte »Kausalkette«85 der Katastrophen findet auch in stilistisch-kompositorischer Hinsicht ihre dramatischen Höhepunkte in dem Großfeuer von 1476 und in

1998, 376f. Zu Johannes Senn von Münsingen, Bischof von Basel (1336-1365):

WACKERNAGEL, Geschichte (wie Anm. 21), Bd. 1, 249-275. 82 Auffallend ist: Bei dem ganzen tatsächlichen oder nur inszenierten Schrek­

ken verliert Gerstenberg kein Wort über mögliche Opfer: Gerstenberg (wie Anm.

37), 459f. 83 Opere di Niccolü Machiavelli, Bd. 1: Il ptincipe; Discorsi sopra Ja prima de­

ca di Tiro Livio, hg. von Sergio BERTELLI, Mailand 1968, 211 f. (I, 56); Niecola Machiavelli, Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsfühmng, übers. von Rudolf ZORN, Stuttgan 1966, 145f. (I, 56); Christian Wurstisen, Basler Chronick, Basel 1580 (ND mit einem Vorwort von Andreas BURCKHARDT, Genf 1978), 176.

84 Gerstenberg (wie Anm. 37), 461. Besondere Aufmerksamkeit verdiente auch die der Chronik beigegebenen Illustrationen, die Schrecken und Unglück in der Geschichte Frankenbergs in eigentümlicher Weise in historische »Bilder« übertra­

gen: ebd., Tafeln I-V (nach 479). 85 Zur kausalen Deutung von Naturkatastrophen durch mittelalterliche Chro­

nisten: Harald TERSCH, Unmhe im Weltbild. Darstellung und Deutung des zeitge­nössischen Lebens in deutschsprachigen Weltchroniken des Mittelalters, Wien

1996, 299f.

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Erdbeben in Basel 1356 und Großftuer in .Frmzkenberg 1476

den ungeheuren wie ungeheuerlichen Bedrückungen der Stadt durch ein in Gerstenbergs Darstellung als Zustand absoluter Gesetzlosig­keit geschildertes schlechtes fürstliches Regiment zwischen 1483 und 1499, die bemerkenswerte Abrechnung eines ehemaligen klerikalen Höflings mit seinem Herrn, Landgraf \Xlilhehn III. von Hessen­Marburg.86 Diese tmglucke in der Geschichte Frankenbergs sind für

den Chronisten überraschenderweise nun nicht in erster Linie Signa­turen Gottes, Vorzeichen der Apokalypse, die um 1500 wie schon im 13. und endenden 14. Jahrhundert die Phantasie der Menschen be­setzt hielt und ihre Daseinsängste bediente.87 Gerstenbergs »Ge­schichte« folgt einem anderen Bauplan: Er deutet die Unglücksfalle in der Geschichte Frankenbergs vielmehr historisch, nahezu säkular, zumindest kausal, auch im Sinne zeitgenössischer politischer Nor-

86 Gerstenberg (wie Anm. 37), 463-467 und 470. Vgl. Kar! Ernst DEMANDT, Geschichte des Landes Hessen, Kassel21972 (ND Kassel1980), 216-222; DERS.,

Der Personenstaat der Landgrafschaft Hessen im Mittelalter. Ein >Staatshandbuch< Hessens vom Ende des 12. bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts, Veröffentlichun­gen der Historischen Kommission für Hessen 42, Teil I, Marburg 1981, 243, Nr. 813. Zur Darstellung des Verhältnisses zwischen Stadt und Fürst (vornehmlich

unter den Vorstellungen vom »Tyrannen« und den »schlechten Ratgebern<0 in der städtischen Historiographie: Andrea DIRSCH-WEIGAND, Stadt und Fürst in der Chronistik des Spätmittelalters. Studien zur spätmittelalterlichen Historiographie, Kollektive Einstellungen und sozialer Wandel im Mittelalter NF 1, Köln 1991.

87 Zum Ende des 15. Jahrhunderts: Heinrich DORMEIER, Apokalyptische Vor­stellungen in der italienischen Kunst um 1500, in: Manfred JAKUBOWSKI-

1)ESSEN/Hartmut LEHMANN/johannes SCHILLING/ReinhartSTAATS (Hg.), jahr­hundertwenden. Endzeit- und Zukunftsvorstellungen vom 15. bis zum 20. Jahr­hundert, Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 155, Göttin­gen 1999, 27-51; Petra ROETTIG, Zeichen und Wunder. Weissagungen um 1500, Hamburg 1999; Richard LOIBL, Zur >>Geschichte der Endzeit«: Eine Einfühmng, in: Herben W. WURSTER/Richard LOIBL (Hg.), Apokalypse. Zwischen Himmel

und Hölle, Begleitband zur Ausstellung von Stadt und Diözese Passau im Ober­hausmuseum Passau 2000, Passau 2000, 9-25; Herbert WURSTER, Schwere Zeiten -Vorzeichen- »Apokalyptisches« Denken in Ostbayern, in: Ebd., 201-208. Zum 13. Jahrhundert: Gerhard FOUQUET, Zeit und Geschichte. Endzeiterwartungen,

utopisches Denken und Jahrhundertwenden im Spätmittelalter, in: Hans-Peter BECHT (Hg.), Millennium. Beiträge zum Jahrtausendwechsel, Sonderveröffentli­chungen des Stadtarchivs Pforzheim 3, Obstadt 2002, 29-57 (mit weiterer Litera­tur).

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Cerbard FoHqNet

men. Gegen dieses ganze Elend bieten für den Kleriker allein die herkömmlichen Ordnungen der Gemeinde Schutz: »Pax« und »con­cordia«, das konkrete friedliche Zusammenleben und die kollektive Identität, jene normativen kulturellen Imaginationen der Bürger­Genossenschaft88, widerstehen, so sein diesseitiges Credo, allem Un­glück. Gerstenberg schreibt seine Chronik dezidiert vor '!Jfl gedechtenis­sl9, dafür, wie es zu Beginn der Historie programmatisch heißt, der stad gemqnen tJottz i!' handhaben, zu bessern, :zyt bmven und in l!Jtlickeid guts regements be!fftn haltin.90 Das >>bonum commune«91

, jener >mmfassendste Begriff zur Legitimation von politischem Handeln« im Mittelalter, sozusagen die »verdinglichte Form« der Gemeinde

92, wird für Ger­

stenberg sinnfillig im dauernden Abwehrkampf gegen den eigitl nottz, der zum Verderben eines Gemeinwesens gryn god tmde die 1JJer!t führe. Der )>Gemeine Nutzen« wie der komplementäre Begriff der »Haus­notdurft« werden fur ilon offenbar in der Selbstbehauptung der Kommune und des stadtbürgerlichen Hauses gegen Naturgewalten ebenso wie gegen adlig-fürstlichen »Herrennutz«. >>Freiheit« und »Ei­gentum« der Bürger seien dadurch bedroht. Wohlfahrt und Friede werden erreicht im Zusammenstehen aller Bürger, in der Solidarität

88 Dazu Gerhard DILCHER, Zum Bürgerbegriff im späteren :Mittelalter. Ver­such einer Typologie am Beispiel von Fl'ankfurt am Main, in: DERS., Bürgerl'echt und Stadtverfassung im europäischen Mittelalter, Köln 1996, 115-182. Eine inter­essante Variante in der Wahrnehmung städtischer Katastrophen im Rahmen des genossenschaftlich-kommunalen Diskurses bietet der Berner Chronist Konrad Justinger. Er stellt den verheerenden Großbrand im Bern des Jahres 1405 in den Zusammenhang von stadtbürgerlichem Gleichheitsdenken: Bei der Nichteinhal­tung dieses Grundsatzes würde die Kommune von Gott gerichtet. Man solle sich daher bessrm, u11d nieman miissen nach widemxbts I/JiillgetJ rmd jederllltllifl glicbs gestattm. Berner Chronik (wie Anm. 54), 195f., Nr. 323. Dazu Barbara FRENZ, Gleichheits­denken in deutschen Städten des 12. bis 15. Jahrhunderts. Geistesgeschichte, Quel­lensprache, Gesellschaftsfunktion, Städteforschung A 52, Köln 2000, 232f.

89 Gerstenberg (wie Anm. 37), 467. 90 Gerstenberg (wie Anm. 37), 388. 91 Gerstenberg (wie Anm. 37), 465. 92 Zitate: Jörg ROGGE, Für den Gemeinen Nutzen. Politisches Handeln und

Politikverständnis von Rat und Bürgerschaft in Augsburg im Spätmittelalter, Studia Augustana 6, Tübingen 1996, 286; Winfried SCHULZE, Vom Gemeinnutz zum Eigennutz, in: Historische Zeitschrift 243 (1986), 591-626, hier: 597.

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Erdbeben in Ba.re/ 1356 rmd Großfeuer in Frankenberg 1476

der Gemeinde.93 Die Geschichte der Stadt aus Trümmern und Un­glücken präsentiert, begründet, legitimiert in ihren Exempla das »Herkommen« ebenso wie sie die Gegenwart der Kommune bewäl­tigt.94 Aus dieser Legitimität gewinnt für Gerstenberg das städtische Gemeinwesen auch seine Zukunft.

Katastrophen, so scheint es, haben auch »gemeinschaftsstiftenden Charakter«.95 Wigand Gerstenberg stellt, wie gezeigt, die Hilfe, die besondere »Treue« der Bürger von Treysa heraus.96 Und Conrad Ju~ stinger war die Unterstützung, welche die von strassburg und ander stette den Baslern leisteten, wichtiger als die Darstellung der Katastrophe von 1356 selbst. Denn die Solidarität der Städte schuf nach Justinger die Voraussetzung dafür, daß die Basler ihr Gemeinwesen wieder aufbauen konnten.97 Am Ende des 16. Jahrhunderts wird der Basler Christian Wurstisen diese Solidaritäten im Sinne der Nationsbildung der Eidgenossenschaft deuten.98

Vorerst hielten Chronosticha und Merksprüche in Schriftlichkeit und Mündlichkelt der Zeit die Erinnerung an diese Extremereignisse wach. So memoriert beispielsweise im »Kleinen Weißbuch« Basels ein Chronostichon Tag und Jahr des Bebens von 1356: L..Jtcas et clicctlltl

[eine Umstellung der Jahreszahl MCCCLVI] I Tem motum I Dant h'bi

93 Zur Begrifflichkeit: Peter BUCKLE, Kommunalismus. Skizzen einer gesell~ schaftliehen Organisationsform, Bd. 1: Oberdeutschland; Bd. 2: Europa, München 2000, hier: Bd. 1, 88-106 (Gemeiner Nutzen), 106-110 (Hausnotdurft), 110-116 (Fl'iede), 116 (Gerechtigkeit und Freiheit) und 128-130 (Zusammenfassung).

94 Zu den Begriffen »Exemplurn(( und 1>Herkommen«: Klaus GRAF, Exemplari­sche Geschichten: Thomas Lirers >Schwäbische Chronik( und die >Gmündner Kai~ serchronik<, Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 7, Mün~ eben 1987, 21f.

95 Paul HUGGER, Elemente einer Ethnologie der Katastrophe in der Schweiz, in: Zeitschrift für Volkskunde 86 (1990), 25-36, hier: 25.

96 Gerstenberg (wie Anm. 37), 460, 97 Bemer Chronik (wie Anm. 54), 122, Nr. 189. Zu der von Justinger ebenfalls

besonders herausgestellten städtischen Hilfe, die Bern nach dem Großbrand von 1405, zuteil wurde: ebd., 196f., Nr. 325 und 326.

98 Wurstisen (wie Anm. 83), 176. Im Sinne von städtischer Solidarität interpre­tiel't noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts Josua Fürstenberget die Hilfe, die von »seinen< Stadt Mühlhausen geleistet wurde: Fürsteoberger (wie Anm. 61), Bd. 2, 45. Dazu auch BARTIDME/FLOCKIGER, Stadtzerstörungen (wie Anm. 21), 133~136.

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Page 17: Städte aus Trümmern - MGH-Bibliothek · 7 In Auswahl: Emmanuel LE ROY LADURIE Histoire du climat depuis l'an mi1 Paris 1967 (ND Paris 1983/89); Wolfgang STÜRNER, Natur und Gesellschaft

notum. Noch dunkler schrieben viele Chronisten das Basler Erdbeben in die Erinnerung ihrer Leser und Hörer mit dem Vers ein: ein rinck [Gürtelschnalle] mit sinem dorn (1v1] I dtii ros issen us erkon1 [CCC] I ein '<fmmer ax, der kliiegen zal [LIIIIII]: I do verfiel basel iiber al/.99

IV.

»Die Weltgeschichte der Stadt«, bemerkte einmal Arno Borst, deute­ten spätmittelalterliche Chronisten »mit gutem Grund als Geschichte überstandener Zusammenbrüche.«100 Die Welt- und Zeitgeschichts­schreibung formte im Reich nördlich der Alpen seit dem beginnen­den 14. J abthundert »ein Bild der städtischen Vergangenheit«, das dem Selbstbewußtsein der Gemeinde Historizität verlieh. Die Histo­riographie interptetierte Städte, Länder und »Nationen« zunehmend als »Schicksalsgemeinschaften«.101 Deswegen hielten städtische Chro­nisten die Erinnerung an Katastrophen wach, sie argumentierten freilich sehr unterschiedlich mit der Geschichte jener Extremerei­gnisse. Aus der christlich-klerikal beherrschten Katastrophenkom­munikation des Spätmittelalters wie der Frühen Neuzeit sollte man nicht in jedem Fall folgem, daß Historie vornehmlich dazu benutzt \vurde, »Um das \X/alten Gottes in der Geschichte zu illustrieren.<<102

99 Basler Chroniken (wie Anm. 25), Bd. 4, 17; Basler Zusätze zur Sächsischen Weltchronik (wie Anm. 51), 371. Sogar eine Handschrift aus dem Kloster Reiche­nau des 15. Jahrhunderts enthält eine Variante des Merkspruches: Ein simn!er niig, do dur ein dom, I dnl roßisen tmrkom, I ein zimmcrax, der krücgm zal I do JVaS der otbi­dem iiberal, I daz biirg rmd stell emlmtten sieb. I das /JJaf1 ze Basel kamt lieb: WACKERNA­

GEL, Erdbeben (wie Anm. 21), 234, Nr. 11. Zur Überlieferung: Ebd., 216f. Wigand Gerstenberg schließt seinen Bericht über den Großbrand in Frankenberg mit fol­gendem Chronostichon: protlirus m ulula, luge, castella cn:mantw; und setzt zur Erklärung hinzu: In dissem versu findet man das datum in dm bHcbsteben: Gerstenberg (wie Anm. 37), 462.

100 BORST, Erdbeben (wie Anm. 2), 554. 101 FrantiSek GRAUS, Funktionen der spätmittelalterlichen Geschichtsschrei­

bung, in: PATZE, Geschichtsschreibung (wie Anm. 19), 11~55, hier: 50 und 55. 102 GRAUS, Funktionen (wie Anm. 101), 24. Freilich wirkt das Interpretament:

Naturkatastrophen sind Wunder und Zeichen Gottes auch noch in der Frühen Neuzeit weiter. Dazu Rasmarie ZELLER, Wahrnehmung und Deutung von Natur-

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Erdbeben in Basel 1356 tmd Großfeuer in Frankenbe1;g 1476

Spätmittelalterliche Geschichtsschreibung wollte Gemeinschaften auch belehren. Für Wigand Gerstenberg und Conrad Justinger bilde­ten ihre historiegraphischen Bilder von den kommunalen Wider­standskräften und Solidaritäten zugleich auch ein »Centmm securita­tis« für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der städtischen Ge­nossenschaften. 103

Kurzum: Natur ist nach Arno Borst »immer auch die erschütterte Welt, Geschichte immer auch das Unvorhersehbare und Unbewältig­te; gerade deshalb muß der Mensch immer wieder aufstehen und weitergehen« - oder wie es 600 Jahre zuvor Tilemann Elhen von Wolfhagen in seiner >)Limburger Chronik« in Rückschau auf die Zeit um 1350 notiert: >>Danach über ein Jahr, als dieses Sterben [die Pest], die Geißler- und Römerfahrt, die >]udenschlacht<, wie zuvor ge­schrieben steht, ein Ende hatten, da hob die Welt wieder an zu leben und fröhlich zu sein, und die Männer machten neue K1eider.«104

katastrophen in den Medien des 16. und 17. Jahrhunderts, in: PFISTER, Am Tag danach (wie Anm. 20), 27-38; Christian PFISTER, Strategien zur Bewältung von Naturkatastrophen seit 1500, in: ebd., 209-254, hier: 212f.

103 GRAUS, Funktionen (wie Anm. 101), 55. 104 BORST, Erdbeben (wie Anm. 2), 569; Limburger Chronik (wie Anm. 1), 38.

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