16
Peter Burke Die "Ännales ll Im globalen Kontext * Fernand BraudeI sagte gerne, daß Historiker einen "globalen" Ansatz in ihre Ar- beit integrieren sollten; mit anderen Worten sollten sie die historischen Themen, an denen sie arbeiten, als Teile eines größeren Ganzen betrachten. "La globalite, ce n'est pas la pretention d'ecrire une histoire totale du monde ... C'est simple- ment le desir, quand on a aborde un probleme, d'en depasser systematiquement les limites" .1 Braudei selbst verwirklichte diesen globalen Ansatz beispielhaft mit seinem Buch "La Mediterranee".2 Heute, sechzig Jahre nach der Gründung der Annale.!, ist es an der Zeit, die mit der Zeitschrift verbundene historische Bewegung - wenn nicht sogar ,Schule' - selbst als Teil der Geschichte zu sehen. In unserem Zusammenhang wäre es sinnvoll, Braudels Beispiel zu folgen und diese Bewegung in einem globalen Kontext anzusiedeln. In den letzten Jahren ist es zumindest in bestimmten Kreisen üblich ge- worden, den Ansatz der Annale.! als )a nouvelle histoire' zu beschreiben. 3 In diesem Zusammenhang möchte ich die Frage stellen: "Wie neu ist die neue Geschichte?", und die Leistungen der Zeitschrift und der Bewegung (die nun seit drei Generationen existiert) mit Hilfe von Vergleichen und an Hand von Gegensätzen beschreiben. Der Raum dafür wird Europa und Amerika sein. Der Beitrag stellt die überarbeitete Fassung eines Manuskriptes dar, welches der Autor auf der Konferenz - hier et aujourd'hui (Moskau, 3. bis 8. Oktober 1989) vorgelegt hat. 1 Fernand BraudeI, En guise de conclusion, in: Review 1 (1978), H. 3/4, 245. 2 Fernand Braudei, La Mediterram!e, Paris 1949. 3 Jacques Le Goff, Hg., La nouvelle histoire, Paris 1978 (dt. ders. u.a., Die Rückeroberung des historischen Denkens. Grundlagen der Neuen Geschichtswissenschaft, Frankfurt am Main 1990). P. 8urke: Ann.le5.9-24 ÖZG 1/1990 9

Die Ännales Im globalen Kontext - StudienVerlag€¦ · 5 Unter diesen Pionierarbeiten: Emanuel Le Roy Ladurie, Histoire du c1imat depuis I'an . mil, Paris . 1967; Philippe Aries,

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Page 1: Die Ännales Im globalen Kontext - StudienVerlag€¦ · 5 Unter diesen Pionierarbeiten: Emanuel Le Roy Ladurie, Histoire du c1imat depuis I'an . mil, Paris . 1967; Philippe Aries,

Peter Burke

Die "Ännalesll

Im globalen Kontext *

Fernand BraudeI sagte gerne, daß Historiker einen "globalen" Ansatz in ihre Ar­

beit integrieren sollten; mit anderen Worten sollten sie die historischen Themen,

an denen sie arbeiten, als Teile eines größeren Ganzen betrachten. "La globalite,

ce n'est pas la pretention d'ecrire une histoire totale du monde ... C'est simple­

ment le desir, quand on a aborde un probleme, d'en depasser systematiquement

les limites" .1 Braudei selbst verwirklichte diesen globalen Ansatz beispielhaft

mit seinem Buch "La Mediterranee".2

Heute, sechzig Jahre nach der Gründung der Annale.!, ist es an der Zeit,

die mit der Zeitschrift verbundene historische Bewegung - wenn nicht sogar

,Schule' - selbst als Teil der Geschichte zu sehen. In unserem Zusammenhang

wäre es sinnvoll, Braudels Beispiel zu folgen und diese Bewegung in einem

globalen Kontext anzusiedeln.

In den letzten Jahren ist es zumindest in bestimmten Kreisen üblich ge­

worden, den Ansatz der Annale.! als )a nouvelle histoire' zu beschreiben.3 In

diesem Zusammenhang möchte ich die Frage stellen: "Wie neu ist die neue Geschichte?", und die Leistungen der Zeitschrift und der Bewegung (die nun

seit drei Generationen existiert) mit Hilfe von Vergleichen und an Hand von

Gegensätzen beschreiben. Der Raum dafür wird Europa und Amerika sein.

• Der Beitrag stellt die überarbeitete Fassung eines Manuskriptes dar, welches der Autor auf

der Konferenz Le~ Annale~ - hier et aujourd'hui (Moskau, 3. bis 8. Oktober 1989) vorgelegt

hat. 1 Fernand BraudeI, En guise de conclusion, in: Review 1 (1978), H. 3/4, 245.

2 Fernand Braudei, La Mediterram!e, Paris 1949.

3 Jacques Le Goff, Hg., La nouvelle histoire, Paris 1978 (dt. ders. u.a., Die Rückeroberung

des historischen Denkens. Grundlagen der Neuen Geschichtswissenschaft, Frankfurt am Main

1990).

P. 8urke: Ann.le5.9-24 ÖZG 1/1990 9

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Die erste Generation der Annale" war vom Verlangen nach einer breiteren

und stärker interdisziplinären Geschichte gekennzeichnet, welche die Dominanz

der politischen Geschichte brechen und der Wirtschafts-, Sozial- und Menta­

litätsgeschichte zu einem Platz an der Sonne verhelfen sollte. Die zweite Gene­

ration der A nnale", jene von BraudeI, Labrousse und deren Nachfolgern, war die

Generation, in der französische Historiker die Wende zum Quantitativen ein­schlugen, in Richtung einer Analyse von Preisen und Bevölkerungstrends über

eine lange Periode hinweg (l'hi"toire "erielle), wie auch zu einer ernsthaften

analytischen Geschichte sozialer Strukturen. Der naheliegendste Ort, diese Skizze zu beginnen, ist die dritte Generation

der Annale" und deren Praxis in den letzten zwanzig oder dreißig Jahren. Diese

Praxis wird in den Werken, die in den Anmerkungen 4 und 5 zitiert sind, mit

den Hinweisen auf ,neue Objekte' und ,neue Methoden' zusammengefaßt.4

Die französischen Historiker haben tatsächlich neue Objekte für die histo­

rische Betrachtung gefunden. Vor dreißig Jahren hätte sich der Großteil von uns

keine Geschichte des Klimas, der Kindheit, der Geisteskrankheiten, des Todes,

des Traumes, de~ Gestik sowie des Gedächt.nisses vorstellen können, mittler­weile sind die meisten dieser Themen etablierte Bereiche der Forschung.5 Im Rahmen der neuen Ansätze ist vor allem der anthropologische Ansatz, verbun­

den mit Le Goff und Le Roy Ladurie, von Wichtigkeit.

4 Jacques Le Goff u. Pierre Nora, Hg., Faire de I'histoire, 3 Bde., Paris 1974.

5 Unter diesen Pionierarbeiten: Emanuel Le Roy Ladurie, Histoire du c1imat depuis I'an

mil, Paris 1967; Philippe Aries, L'enfance et la vie familiale sous I'ancien regime, Paris 1961

(dt. Geschichte der Kindheit, München u. Wien 1975); Michel Foucault, Histoire de la folie,

Paris 1961 (dt. Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der

Vernunft, Frankfurt am Main 1969); Philippe Aries, L'homme devant la mort, Paris 1977

(dt. Geschichte des Todes, München u. Wien 1980); Jacques Le Goff, Les reves dans la

culture de I'occident medieval, in: ders., Pour un autre Moyen Age, Paris 1977 (dt. Der

Traum in der Kultur und in: der Kollektivpsychologie des Mittelalters, in: Für ein anderes

Mittelalter. Zeit, Arbeit und Kultur im Europa des 5.-15. Jahrhunderts, Frankfurt am Main

u.a. 1984, 121-136); Jean-Claude SchmiH, Hg., Gestures: History and Anthropology 1, 1984;

Pierre Nora, Hg., Les lieux de memoire, Paris 1984 (dt. Zwischen Geschichte und Gedächtnis,

Berlin 1989).

10 ÖZG 1/1990 P. Burke: Annalea.9-24

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Diese Themenbereiche und Ansätze sind jedoch kein Monopol der A nnale". Nicht einmal in Frankreich. Der ,Sonntagshistoriket Philippe Aries war am

äußersten Rand dieser Gruppe angesiedelt.6 Michel Foucault war kein Mitglied

des Annale,,-Kreises; seine historischen Anregungen erhielt er vor allem von der

Wissenschaftsgeschichte, wie sie von seinem Lehrer Georges Canguilhem und

von Gaston Bachelard praktiziert wurde.7

Jedenfalls sind neue Zugänge zur Geschichte - und diese neuen Ansätze

im besonderen - nicht auf Frankreich beschränkt. Historische Anthropologie

wendet sich an Anthropologen und Archäologen genauso wie an Historiker.

Sie wird breit angewandt, von den USA bis in die UdSSR. Ihre Anregungen

kommen neben der französischen auch von anderen intellektuellen Traditionen.

Aron Gurjewitsch hat beispielsweise darauf hingewiesen, was er Malinowski

verdankt, Keith Thomas verweist auf Evans-Pritchard, Kirsten Hastrup auf

Ardener, Anton Blok auf Elias, während Orvar Löfgren, trotz seiner Innovatio­

nen, einer schwedischen ethnographischen Tradition angehört. 8

Historische Anthropologen in vielen Teilen der Welt - Frankreich einge­

schlossen - haben in reichem Maße vom amerikanischen Beispiel gelernt, be­

sonders von Clifford Geertz und Victor Turner. Mit Berechtigung kann ge­

sagt werden, daß besonders dieser Zugang polyzentrisch ist. Dies gilt auch für

den damit verbundenen Ansatz, der gemeinhin als Mikro-Hütorie bekannt ist

und mit großem Aufheben von Le Roy Ladurie in seinem "Montaillou" (1975) praktiziert wurde, jedoch auch von italienischen, amerikanischen und anderen Historikern angewandt wird.9

6 Philippe Aries, Un historien de dimanche, Paris 1980.

7 J .G. Merquior, Foueault, London 1985, 39 f.; Martin Jay, In the Empire of the Gaze, in:

D.C. Hoy, Hg., Foueau\l: A Critieal Reader, Oxford 1986, 181 f.

8 Aaron Gurevic, ,Wealth and Gift-Bestowal among the aneient Seandinavians', in: Scandi­

navia 7 (1968), 126-138; Keith V. Thomas, Religion and the Decline of Magie, London 1971;

Kirsten Hastrup, Cullure and History in Medieval Ieeland, Oxford 1985; Anton Blok, The

Mafia of an Italian Village, Oxford 1974 (dt. Die Mafia in dnemsizilianischen Dorf 1860-1960. Eine Studie über gewallliHige bäuerliche Unternehmer, Frankfurt am Main 1981); J. Frykman

u. Orvar Löfgren, Culture Builders, New Brunswick 1987.

9 Carlo M. Cipolla, Cristofano and the Plague, London 1973, ein früher Beitrag, der aus

dieser Sichtweise unbeachtet blieb; Carlo Ginzburg, 11 formaggio e i vermi, Turin 1976 (dl. Der

Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600, Frankfurt am Main 1979). Der Begriff

Mikrogeschiehte (microotoria) scheint eine italienische Prägung der 70er Jahre zu sein, wo er

verwendet wurde, um eine bei Einaudi verlegte Reihe vorzustellen.

P. Burke: Ann.lea.9-24 ÖZG 1/1990 11

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Historische Anthropologie, Mikro-Historie und die wiederbelebte Geschich­

te der Mentalitäten haben in den letzten Jahren große Aufmerksamkeit auf sich

gezogen, zum Teil als Reaktion auf die quantifizierende Geschichtsschreibung

der 50er und 60er Jahre, die jetzt von vielen für deterministisch und reduktio­

nistisch gehalten wird. In der Entwicklung dieser quantitativen oder ,seriellen'

Geschichtsschreibung spielten die Franzosen eine wichtige Rolle: der historische Demograph Louis Henry, der historische Ökonom Jean Marczewski, der Histo­

riker Pierre Chaunu und viele andere. 1o Sie waren besonders führend in der

Entwicklung des ,quantitatif au troisieme niveau' (wie Chaunu es nannte), mit

anderen Worten des Quantitativen auf der Ebene der Kultur, von der Schrift­

lichkeit bis zu Einstellungen zum Tod. 11

Trotzdem wäre es aus globaler Sicht schwer zu leugnen, daß die USA den

Titel eines Zentrwns der ,Cliometrics', wie es die Amerikaner nennen, verdie­nen, besonders im Bereich der sogenannten ,new economic history' , verbunden

mit Robert Fogel und seinen Kollegen. 12 Dasselbe gilt für die freudianische

,Psychohistorie' als Gegensatz zur Geschichte kollektiver Mentalitäten. Febvres

Interesse an Psychologie reichte nicht bis Freud, vielleicht weil sein Berater in

psychologischen Belangen, Charles Blondei, ein strenger Kritiker der Psycho­

analyse war. Er scheint auch die Arbeiten von Jean Piaget nicht gekannt zu

haben, trotz ihrer potentiellen Bedeutung für die Interpretation der Menta­

litäten. 13

Zwei Themen, denen wachsendes Interesse entgegengebracht wird, sind die ,history of the everyday' und die Geschichte der materiellen Kultur. Für

beide Bereiche ist der Einfluß von Braudei wichtig - vor allem jener seines ur­

sprünglich "Civilisation materielle et capitalisme" (1967) und in überarbeiteter

Version "Les struetures du quotidien" (1979) betitelten Werkes.

10 Louis Henry, Anciennes familIes genevoises, Paris 1956; Jean V. Marczewski, Introduction

a I'histoire quantitative, Genf 1965; Pierre Chaunu, Seville et I'Atiantique, 12 Bde., Paris

1955-1960. 11 Pierre Chaunu, ,L'histoire quantitative au troisieme niveau', in: Hommage a Fernand

BraudeI, Toulouse 1973; Michel Vovelle, Piete baroque et dechristianisation, Paris 1973;

Franc;ois Furet u. Jacques Ozouf, Lire et ecrire, Paris 1977.

12 Robert W. Fogel u. Stanley L. Engerman, Time on the Cross, Boston 1974.

13 Charles BlondeI, La psychoanalyse, Paris 1924. Vgl. den amerikanischen Ansatz: Erik

Erikson, Young Man Luther, New York 1958 (dt. Der junge Mann Luther. Eine psychoana­

lytische und historische Studie, Frankfurt am Main 1975); B. Mazlish, Hg., Psychoanalysis

and History, Englewood Cliffs 1965; Peter Gay, Freud for Historians, New York 1985.

12 ÖZG 1/1990 P. Burke: Ann.le:a,9-24

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Trotzdem ist es nur gerecht zu sagen, daß die Auseinandersetzung mit

diesen historischen Themen ein kooperatives Unternehmen war, international

und interdisziplinär. Der Begriff ,history of the everyday' ist am besten in

seiner deutschen Version ,Alltagsgeschichte' bekannt, und wichtige Beiträge zur

Entwicklung dieser Geschichte und der Analyse der Probleme, die sie aufwirft,

wurden von so unterschiedlichen Forschern wie Norbert Elias, Henri Lefebvre

und Jurij Lotman geliefert. 14

Dasselbe gilt für die materielle Kultur, die lange der Bereich jener Archäo­

logen war, die es ablehnen, sich auf das zu beschränken, was die Historiker

,Prähistorie' nennen. Die russische Akademie der Geschichte der materiellen

Kultur wurde 1919 gegründet (vermutlich in Verbi,ndung mit der materialisti­

schen Interpretation der Geschichte und der Revolution von 1917). Eine der

führenden Zeitschriften auf diesem Gebiet ist der polnische "Kwartalnik Histo­rii Kultury Materialnej" (gegründet 1953).15

Ein weiterer Schritt zurück bringt uns zu Braudels eigentlichem Meister­

werk, "La Mediterranee" (1949), gemeinhin als die wichtigste und innovativste

historische Einzelstudie dieses Jahrhunderts eingeschätzt. Ich würde dieser An­

sicht nicht widersprechen. Gleichviel, was generell als das Wichtigste angesehen

wird, die Beschäftigung des Autors mit Geohistorie, mit einer globalen Sicht

und der langen Dauer, alle diese Bereiche haben ihre Vorläufer.

1. Geohistorie: Es ist bekannt, daß das Interesse an Geohistorie auf die Gründer der Annale-' zurückgeht, auf Blochs Arbeit über die lJe-de-France, und

Febvres Untersuchung über Franche-Comte, und weiter zurück auf die franzö­

sische Schule der Humangeographie (geographie humaine), die mit dem Namen

von Paul Vidal de la Blache (1843-1918) verbunden ist. 16 Es ist angemessen

zu vermuten, daß die Annale-' ihren Namen als Akt der Hommage den Annale-'

14 Norbert Elias, Zum Begriff des Alltags, in: Kurt Hammerich u. Michael Klein, Hg., Mate­

rialien zur Soziologie des ABtags, Opladen 1978, 22-29; (vgl. dagegen: ders., Der Prozeß der

Zivilisation, 2 Bde., Basel 1939); Henri Lefebvre, Critique de la vie quotidienne, 3 Bde., Paris

1946-1981 (dt. Kritik des Alltagslebens, München 1975); Jurij Lotman u. B.A. Uspenskij,

The Semiotics of Russian Culture, Ann Arbor 1984, 231-256.

15 Andrzej Wyrobisz, ,storia della cultura materiale in Polonia', in: Studii Storici 15 (1974),

164-173; Jean-Marie Pesez, Histoire de la culture materielle, in: Le Goff, Hg., La nouvelle

histoire, wie Anm. 3, 98-130.

16 Xavier de Planhol, Historieal Geography in France, in: Alan R.H. Baker, Hg., Progress in

Historieal Geography, Newton Abbot 1972, 29-44.

P. Burke:: Ann.tea.9-24 ÖZG 1/1990 13

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de Geographie verdanken, die 1891 von Vidal mit dem Ziel gegründet wurden,

nicht in erster Linie Informationen zu liefern, sondern Informationen zu ver­

binden und zu interpretieren. 17 Unter den regionalen Monographien, die von

Vidal beeinflußt sind, könnte man zwei nennen, auf die sich Braudei besonders

offensichtlich bezieht, und zwar von Sorre über die Pyrenäen und von Cvijic

über den Balkan. 18

Vidal war gewiß nicht der erste Humangeograph. Einer seiner Vorgän­ger war der deutsche ,Anthropogeograph' Friedrich Ratze!. Ratzel wurde von

Febvre der unzulässigen Einschränkung des Bereichs der menschlichen Freiheit beschuldigt; Braudei jedoch vollführte so etwas wie eine Rückkehr zu Ratzeis

Ansatz, nicht nur in seiner Neigung zum Determinismus, sondern auch in seiner

Beschäftigung mit bestimmten Themen, etwa mit Inseln und Reichen. Ratzel

inspirierte neben Braudel auch andere Historikerj der Althistoriker Victor Eh­

renberg beispielsweise zitierte ihn in einer Studie über die Entwicklung des

griechischen Staates, von der Polis zum Reich, die 1932 publiziert wurde. 19

2. Was die globale Sicht der Geschichte betrifft, beschäftigt sich eines der

bedeutendsten Beispiele mit dem Mitte1meerraumj das letzte Buch des großen

belgischen Mediävisten Henri Pirenne, "Mohammed und Karl der Große"

(1937), geht weg von der Geschichte des Westens, um den Aufstieg von Kar!

dem Großen und das Ende der klassischen Tradition sowie das Entstehen des

Mittelalters zu erklären. Weiters offeriert es eine Vision von zwei feindlichen

Reichen, die einander 800 Jahre vor Suleiman dem Großen und Philipp II. über

das Mittelmeer hinweg gegenüber standen (merkwürdig genug, daß Pirenne die

Idee zu diesem Buch in einem Gefangenenlager im 1. Weltkrieg kam, während

Braudei in einem Gefangenenlager im 2. Weltkrieg an seinem Werk arbeitete).

So verwundert es nicht, daß Braudei der Arbeit von Pirenne den ersten Platz

unter den Studien einräumte, die als ,allgemeine Orientierung' essentiell für

ihn waren.20 Noch genereller ist das, was Braudei global nannte, nahe dem

17 Annales de Geographie I, iii.

18 Maximilien Sorre, Les pyrenees, Pans 1913; Jovan Cvijic, La penin"ule balkanique, Pari"

1918. BraudeI anerkennt die Wichtigkeit von Vidal, s. BraudeI, La Mediterranee, 2. Aufl.,

Paris 1966, 543.

19 Friedrich RatzeI, Anthropogeographie, 2 Bde., 1882/91; ders., Politische Geographie, 1897;

besonders Kap. 13 über Reiche und Kap. 21 über Inseln; Victor Ehrenberg, Der Griechische

und der Hellenistische Staat, LeiPzig u. Berlin 1932, 60 u. 101.

20 Fernand BraudeI, La Mediteranee, Paris 1949, 1125; Henri Pirenne, Mahomet et Charle­

14 ÖZG 1{1990 P. Burke: Ann.le:a,9-24

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anzusiedeln, was Sozio~ogen und Anthropologen als den ,holistischen' Ansatz

bezeichnen.

3. Mit der longue duree beschäftigten sich einige deutsche Wissenschaf­

ter. Die naheliegenclsten Beispiele kommen aus der Preisgeschichte. 21 Jedoch

muß erwähnt werden, daß Braudei in seinem berühmten programmatischen

Essay die Möglichkeiten der langen Dauer anhand der Studien von Ernst Ro­bert Curtius über die mittelalterliche Kultur aufzeigte, welcher wiederum selbst

durch die Arbeiten von Aby Warburg über die klassische Tradition, deren Über­

leben und Veränderung beeinflußt war.22 Die Bedeutung Mikhail Bakhtins für

die Erforschung kultureller Langzeittrends wurde von Aron Gurjewitsch betont.

Hier ist der Punkt, um einen weiteren Schritt zurück, zur Generation von

Febvre und Bloch, zu gehen. Wir können ihre gemeinsamen historischen Inno­

vationen im Rahmen von sechs Hauptbereichen beschreiben: die regressive Me­

thode, die komparative Methode, der interdisziplinäre Ansatz, die Geschichte

der Mentalitäten, die Beschäftigung mit Strukturen und weniger mit Ereig­

nissen, und scWießlich die Zurückweisung der Politikgeschichte zugunsten von

Wirtschafts- und Sozialgeschichte. In all diesen Bereichen müssen signifikante Parallelen und Vorläufer in die Betrachtung einbezogen werden.

1. Die regressive Methode. Der Begriff ,regressive Methode' ist mit Marc

Bloch und besonders mit seiner Studie über die französische Agrargeschichte

verbunden, die diese Methode erfolgreich anwendet. Aber Bloch erhob nicht

den Anspruch, sie entwickelt zu haben. Unter dem Namen ,retrogressive Me­

thode' wurde sie bereits von Frederic F. W. Maitland (für den Bloch erheb­

liche Bewunderung ausdrückte) in seiner bekannten Studie "Domesday Book

and Beyond" (,beyond' meint in diesem Fall die Periode vor 1086) angewandt. Kurz vorher begann eine andere Arbeit über das mittelalterliche England - die

Blochs Interessen näher lag, da sie dörfliche Kommunitäten behandelte - mit

magne, Paris u. Brüssel1937 (dt. Mohammed und Karl der Große. Der Untergang der Antike

am Mittelmeer, Frankfurt am Main 1986).

21 Franc;ois Simiand, Recherehes anciennes et nouvelles sur le mouvement general des prix,

Paris 1932; Camille Ernest Labrousse, Esquisse du mouvement des prix et des revenus en

France au 18e siede, Paris 1933; Earl J. Hamilton, American Treasure and the Price Rev~

lution in Spain, Cambridge/Mass. 1934.

22 Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter, Bern 1948, ein

Buch, das Warburg gewidmet ist und von Fernand BraudeI, ,Histoire et sciences sociales' ,

1958, Ndr. in seinen ,Ecrits sur I'histoire', Paris 1969, 51 f., zitiert wurde.

P. Burlr:.: Ann.lea.9-24 ÖZG 1/1990 15

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einem Kapitel über "The English Open Field System examined in its modern

remains" , bevor der Weg zurück ins Mittelalter angetreten wurde. Der große

Althistoriker Fustel de Coulauges verwendete einen ähnlichen Ansatz in seiner

Studie über die antike Stadt. Fustel war zufällig der Lehrer von Blochs Vater Gustave, der ebenfalls ein Historiker der Antike war.23

11. Auch die komparative Methode war nicht Blochs Entdeckung - nicht

einmal ihre Verwendung in der spezifisch historischen Analyse. Blochs Freund

Henri Pirenne verwendete den Vergleich, da er dachte, er könne dem Histo­

riker helfen, den Gefahren des Ethnozentrismus zu entgehen, und publizierte

zehn Jahre vor Bloch einen Artikel darüber.24 Blochs Vergleiche waren mehr

systematisch-analytisch und erinnern in dieser Beziehung an seine Lehrer, den

Linguisten Antoine Meillet (selbst ein Schüler von Saussure) und auf jeden

Fall an Emile Durkheim, der anführte, daß "l'histoire ne peut etre une science

que dans la mesure Oll elle explique", und daß "I'on ne peut expliquer qu'en comparant" .2:1

Das Interesse am Vergleich war jedoch nicht auf den französischsprachigen

Raum begrenzt. Denken wir beispielsweise an Max Weber oder seinen Schüler,

den Historiker Otto Hintze. 26 Oder denken wir an das in den 20er Jahren

gegründete norwegische Institut für korr~parative KulturforschlUlg (Instituttet

23 Frederie William Maitland, Domesday Book and Beyond, Cambridge 1897; Bloch be­

merkte: neombien il est regrettable que I'oeuvre de ce grand esprit que fut W. Maitland soit

trop peu lue en France" [Memoire collective, in: Revue de Synthese Historique 40 (1925),

81 f.]; Frederie Seebohm, The English Village Community, London 1883; Numa Denis Fustel

de Coulanges, La eite antique, Paris 1864.

24 Henri Pirenne, De la methode comparative en histoire, in: Cinquieme Congres Interna­

tional des Sciences Historiques, Brüssel 1923, 19-32.

25 William H. Sewell, Mare Bloch and the Logie of Comparative History, in: History and

Theory 6 (1967), 208-218; R.C. Rhodes, Emile Durkheim and the Hislorieal Thoughl of Mare

Bloch, in: Theory and Sociely 5 (1978), 45-73; Lawrence D. Walker, Hislorical Linguislies

and lhe Comparalive Melhod of Mare Bloch, in: Hislory and Theory 19 (1980), 154-164.

Das Zilal von Durkheim entslammt der Einleilung zum ersten Band von Annee Sociologique

(1896/97).

26 Trolz Maurice HaJbwachs' Beilrag über Max Weber im erslen Band der Annale8 scheinen

dessen Ideen weder Bloch- noch Febvre interessiert zu haben. Über Febvres Desinleresse an

Weber vgl. Fernand Braudei, Les jeux de l'echange, Paris 1979, 506, dem widersprechend:

ders., Lucien Febvre ell'hisloire, in: Cahiers internalionaux de sociologie 22 (1957),17. Über

Hintze (1861-1940) vgl. Gilberl's Einleitung in: The Hislorieal Essays of OUo Hinlze, New

York 1975, 3-30.

16 ÖZG 1/1990 P. Burke: Annelea.9-24

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for Sammenlignende Kulturforskning). Dessen Orientierung an Durkheim kann

auch daran erkannt werden, daß es nicht nur Bloch, sondern auch Meillet oder

Granet zu Vorträgen einlud.21

III. Der interdisziplinäre Ansatz. Der interdisziplinäre Ansatz wurde nicht

von Bloch und Febvre erfunden. Unter ihren eigenen Vorläufern wäre vor allem

Henri Berr zu nennen, der ihre frühen Arbeiten besonders stark förderte. Ge­rade um die Barrieren zwischen den Disziplinen zu beseitigen, gründete Berr

seine Zeitschrift, die "Revue de Synthese Historique" .28 Auch in Deutschland

hatte der interdisziplinäre Ansatz seine Vertreter, einschließlich Aby Warburg

(dessen Ablehnung des intellektuellen "Grenzwächtertums" offenkundig ist), und Karl Lamprecht, dessen Kreis in Leipzig auch den Geographen Ratzel

und den Psychologen Wilhelm Wundt einschloß. In Großbritannien hatte die­

ser Ansatz weniger Unterstützung. Jedoch benützte Eileen Power, 1932 zur

Professorin für Wirtschaftsgeschichte an der ,London School of Economics' er­

nannt, ihre Inauguralrede dazu, um für Kooperation zwischen Historikern und

Ökonomen, Soziologen und Anthropologen einzutreten.

Ein ähnlich breiter Ansatz wurde von einigen amerikanischen Wissenschaf­

tern vertreten, wie James Harvey Robinson und Harry Elmar Barnes, beide

verbunden mit dem, was sie ,New History' nannten. Diese amerikanische Bewe­

gung zu Beginn des Jahrhunderts hatte ein Progamm, das den AnnaleJ nicht

unähnlich war. "History", schrieb Robinson, "includes every trace and vestige

of everything that man has done or thought since first he appeared on the

earth". Mit anderen Worten ,histoire totale'. Und bezogen auf die Methoden

formulierte er: "The New History will avail itself of all those discoveries that are

being made about mankind by anthropologists, economists, psychologists and sociologists". Robinsons eigener Kreis, der auf einer Institution basierte, die

er mitbegründete, der New School fOT Social ReJeaTCh, schloß den Philosophen

John Dewey, den Anthropologen Franz Boas und den Soziologen Thorstein Ve­bIen ein. Unter seinen Schülern fanden sich die Geistesgeschichtler Carl Becker

und Lynn Thorndike. 29 Einen ähnlichen Weg verfolgte der HiJtOTy of IdeaJ Club - 1924 von Arthur Lovejoy und seinen Freunden in Baltimore ins Leben

27 Über die Ziele des Instituts vgl. F. Stang, Four Introductory lectures, Oslo 1925.

28 Über Berr vgl. Martin Siegel, Henri Berr's Revue de Synthese Historique, in: History and

Theory 9 (1970), 322-334; W. Keylor, Academy and Community, Cambridge Mass. 1975,

Kap. 8.

29 James Harvey Robinson, The New History, 1912, passim; über ihn vgl. Luther Virgil

P. Burke: Ann.lea,9-24 ÖZG 1/1990 17

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gerufen-, indem er die ErforschWlg der unbeachteten Gebiete zwischen den Dis­

ziplinen, besonders zwischen Geschichte, Philosophie und Literatur, zu fördern

beabsichtigte.3o

IV. Die Geschichte der Mentalitäten, die von Bloch in "Les rois thauma­

turges" (1924), von Lefebvre in seinem Artikel "Foules revolutionnaires" (1934)

und von Febvre in seinem "Probleme de l'incroyance" (1942) angewandt wurde, hatte bereits Vorgänger, deren bedeutendster, Johan Huizingas Hauptwerk

"Herbst des Mittelalters", in niederländisch 1919 publiziert, in den 30er Jah­

ren ins Französische übersetzt und dann von Lucien Febvre entdeckt und hoch

geschätzt wurde.31 In diesem Buch beschäftigte sich Huizinga mit verschiede­

nen Denkformen (,gedachtnisvormen'). Wie Bloch und Febvre war Huizinga an

Psychologie interessiert und hatte in Leipzig (wie Durkheim) mit dem Sozial­

psychologen Wilhelm Wundt studiert. Ebenfalls wie Bloch und Febvre war Hui­

zinga an Sozialanthropologie interessiert und hatte seinen Levy-Bruhl gelesen.32

Dasselbe tat eine Gruppe von Althistorikern in Cambridge, einschließlich Jane

E. Harrison und Francis M. Cornford, die die primitive Mentalität der alten

Griechen betonten.33 Es gab tatsächlich eine internationale Mode rur Levy­Bruhl, die in den 20er Jahren in einer Reihe von Disziplinen um sich griff. 34

Es wäre jedoch ein Fehler, die gesamte Aufmerksamkeit auf Levy-Bruhl zu be­

schränken. So war etwa gerade die Untersuchung kollektiver Mentalitäten nicht

die Arbeit eines einzelnen, sondern einer Gruppe, die Durkheim und Mauss ein­

schloß.35

Hendricks, J .H. Robinson, New York 1946; Harry Eimer Barnes, The New History and the

Social Studies, New York 1925; vgl. die Bezugnahme auf Ratzel und Febvre im Kapitel über

Geographie.

30 Arthur O. Lovejoy, Essays in the History of Ideas, Baltimore 1948.

31 Johan Huizinga, Herfsttij der Middeleeuwen, 1919 (dt. Herbst des Mittelalters. Studien

über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Nie­

derlanden, 1924); Lucien Febvre, Sensibilite et histoire, in: Annales d'histoire sociale 3 (1941).

Vgl. dagegen: Henry Osborn Taylor, The Medieval Mind, 2 Bde., London 1911, mit dem Un­

tertitel ,a history of the development of thought and emotion' .

32 LN. Bulhof, Johan Huizinga, Ethnographer of the Past, in: Clio 4 (1975),201-224.

33 Jane Ellen Harrison, Themis: a Study of the Social origins of Greek Religion, Cambridge

1903; Francis Macdonald Cornford, Thucydides Mythistoricus, London 1907.

34 Ernst Cassirer, Sprache und Mythos, 1925:

35 MaullS' Gebrauch des Begriffs menta/iU im Jahre 1906 wurde von Carrithers angemerkt,

in: Michael Carrithers u.a., Hg., The Category of the Person, Cambridge 1985, 38.

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V. Merkwürdigerweise hatte die Kritik der Annale" an der Ereignisge­

schichte bereits in den 20er und 30er Jahren Parallelen in England. Die Be­

schäftigung mit Wirtschaftsgeschichte schloß zwangsläufig eine Betonung von

Strukturen ein; so ist es wenig überraschend, daß Richard H. Tawney, einer der

Herausgeber der "Economic History Review", seinen Inauguralvortrag an der

London School 0/ Economic" in ein Manifest für eine neue Geschichte verwan­delte, die sich stärker auf die Analyse von Strukturen als auf die Erzählung

von Ereignissen konzentrieren sollte. Tawney trat, nebenbei bemerkt, für eine

l'hi"toire integrale ein, mit anderen Worten für eine hi"toire totale.36 Es rief jedoch Stirnrunzeln hervor, als Lewis Namier in seiner berühmten Studie über

"The Strudure of Politics at the Accession of George III" auf dem Ansatz

bestand, die Politik des 18. Jahrhunderts in struktureller Art zu behandeln.37

Gewiß, die Ablehnung der Ereignisgeschichte als oberflächlich hat in Frank­

reich so etwas wie Tradition. Am naheliegendsten erscheint die Nennung des

Ökonomen Fran<;ois Simiand, eines Wissenschafters, dessen Talent zur Polemik

nicht weit hinter dem von Lucien Febvre zurückstand, was seine Attacke auf

die ,Idole des Stammes der Historiker' (und besonders den Stammeshäuptling

Charles Seignobos) völlig klar macht.38 Wir sollten jedoch Simiands Lehrer

Emile Durkheim nicht vergessen, der auch Seignobos kritisierte und indivi­

duelle Ereignisse (evenemenü particulier,,) als nicht mehr als eine ,oberflächli­

che' oder ,scheinbare' Geschichte abtat ("des manifestations superficielles qui constituent l'histoire apparente d'un peuple determinee").39 Auguste Comte

hatte noch früher eine ,Geschichte ohne Namen' verlangt, während Lord Acton

die Meinung vertrat, man solle eher Probleme als Perioden untersuchen.

36 Richard Henry Tawney, The Study of Economic History, in: Economica (1933), 1-21.

37 Lewis B. Namier, The Strueture of Politics at the Accession of George III, London 1929.

38 Franc;ois Simiand, Methode historique et science sodale, in: Revue de Synthese Historique

(1903), wiederabgedruckt in Annales 1961 als Hommage an den Autor.

39 Annee Sociologique 1 (1896/97), V; vgl. R. N. Bellah, Durkheim and History, in: American

Sociological Review 24 (1959),447-461.

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VI. Zur Zeit der Gründung der A nnaleJ wurde die Dominanz der poli­

tischen Geschichte oft bestritten. Wirtschaftsgeschichte im besonderen wurde

von einer prominenten internationalen Gruppe von Wissenschaftern gefördert.

Die ,Economic History Review' wurde beispielsweise zwei Jahre zuvor - 1927

- gegründet. E. Lipson und Richard H. Tawney waren die Herausgeber, der

Inhalt der frühen Bände unterschied sich nicht so sehr von dem der A nnaleJ

zur selben Zeit; tatsächlich waren einige der Mitarbeiter dieselben, vor allem

Henri Pirenne, der von Bloch und Febvre gebeten wurde, ihre Zeitschrift zu

redigieren. Die VierteljahrJchrift für Sozial- und WirtJchaftJgeJchichte wurde

1903 gegründet.

Allerdings, wie das auch Febvre mit charakteristischer Vehemenz vertrat,

waren die AnnaleJ nicht als weitere Zeitschrift für Wirtschaftsgeschichte ge­

gründet worden, sondern um eine bestimmte (enge) Konzeption von Wirt­

schaftsgeschichte zu bekämpfen.40

Und wo bleiben die Marxisten? Es ist schade, daß eine Gesamtschau der

marxistischen Geschichtsschreibung immer noch fehlt - sowohl in den Ländern,

in denen der Marxismus obligatorisch betrieben wurde, als auch in jenen, wo

er verboten war. Es erscheint jedoch nicht zu kühn anzunehmen, daß zur Zeit,

als die A nnaleJ gegründet wurden, marxistische Geschichtsschreibung in vielen

Ländern ein relativ niedriges Niveau hatte. Es ist nicht einfach, Hauptwerke die­

ser Tradition zu nennen - Arbeiten, die den professionellen Standards genügen -, die vor Mitte der 30er Jahre publiziert worden sind.41 Das Niveau der mar­

xistischen Geschichtsschreibung war auch deswegen so niedrig, weil einige der

beeindruckendsten Beiträge in Sprachen publiziert wurden, die viele westliche

Wissenschafter nicht lasen, wie niederländisch, norwegisch und russisch.42 So­

mit trat die Verbreitung der marxistischen Geschichtsschreibung und der An­

40 Lucien Febvre in: Annales 1933, 267.

41 1930 rezensierte Febvre die Studie von Henri see über historischen Materialismus in den

Annales. 42 Halvdan Koht, Norsk Bondereising, Oslo 1926; Jan Marius Romein, De Lage Landen

bij de Zee, Utrecht 1934; Jewgenij Alexejewitsch Kosminsky, AnglisJcaya Dereviya v XIII

veke, Moskau 1935. Es sollte auch Jean Leon Jaures, Histoire socialiste de la Revolution

Franc;aise, 4 Bde., Paris 1901-1903, genannt werden, nicht weil es eine professionelle Arbeit

war, sondern wegen ihres Einflusses auf den jungen Lucien Febvre. Vgl. Franeo Venturi, Jean

Jaures historien, Thrin 1948, Ndr. in seinem ,Historiens du XXe siecle', Genf 1966, 5-70.

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nale" mehr oder weniger zusammen ein, ungeachtet der sehr unterschiedlichen

Chronologie ihrer Anfänge. Wenn wir anerkennen, daß es die grundlegende Leistung der Gruppe der

Annale" war, das Monopol oder - besser fomuliert - den Würgegriff der politi­schen Geschichte zu brechen und der Wirtschafts-, Sozial und Kulturgeschichte

einen Platz·an der Sonne zuzugestehen, dann müssen wir zugeben, daß dieses Ideal bereits alt war. Die Dominanz des Ranke'schen Paradigmas wurde schon vorher oft bestritten.

In Deutschland war es beispielsweise Karl Lamprecht, der den Fehdehand­schuh in den 1890er Jahren mit einem Manifest gegen die Dominanz der politi­

schen Geschichte geworfen hatte, die bloße ,Geschichte von Personen' im Gegen­

satz zur Kultur- und Wirtschaftsgeschichte, welche die Geschichte des Volkes war. Er definierte Geschichte später als "eine in erster Linie soziopsychologische Wissenschaft".43 Eine Generation vor Lamprecht hat der Wirtschaftshistoriker

Gustav Schmoller (1838-1917) den, wie er ihn nannte, ,Imperialismus' der poli­

tischen Geschichte kritisiert. Noch früher veranschaulicht die Arbeit von Jacob

Burckhardt, vor allem seine "Kultur der Renaissance in Italien" (1860), einen Zugang zur Geschichte, der schwerlich anders als ,total' zu nennen ist. Die­

selbe Feststellung kann über die Konzeption der Geschichte von Burckhardts Zeitgenossen Karl Marx gemacht werden.

Auch im England des 19. Jahrhunderts konnten abweichende Stimmen von Historikern gehört werden. John R. Green leitete seine "Short History of the English People" (1874) mit dem kühnen Anspruch ein, er habe in der Arbeit "devoted more space to Chaucer than to Cressy, to Caxton than to the petty

strife of Yorkist and Lancastrian, to the Poor Law of Elizabeth than to her victory at Cadiz, to the Methodist revival than to the escape of the Young Pre­tender".44 In ähnlicher Weise beklagte der Soziologe Herbert Spencer, daß"The

43 Karl Lamprecht, Deutsche Geschichte, 2. Aufl., Leipzig 1894, Vorwort; ders., Moderne

Geschichtswissenschaft, Leipzig 1904. Über Lamprecht vg\. Karl Joachim Weintraub, Visi­

ons of Culture, Chieago 1966, Kap. 4. Brycc Lyon, Mare Bloch: Did he r~pudiaLe Annales

history?, in: Journal oe Medieval History 11 (1985), 183, behauptete (mit einiger Übertrei­

bung), daß die Ideen von Bloch und Febvre in großem Maße jene von Lamprecht waren. Es

ist jedoch wahrscheinlich, daß sie von Lamprecht durch die Arbeit von Henri Pirenne wußten.

Die Durkheimianer wußten dagegen schon lange davon; vg\. Celestin Bougle's Darstellung

in: Annee Sociologique 2 (1897/98), 139 r. 44 John Richard Green, A Short History oe the English People, London 1874, Vorwort.

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biographies of monarchs (and our dlildren learn little else) throw scarcely

any light upon the science of society", und er forderte eine andere Art von

Geschichte, beispielsweise jene, die über "the control exercised by dass over

dass as displayed in social observances - in titles, salutations and forms of

address" handelte. 45

In Frankreich wurde Durkheim's Kritik an der Ereignisgeschichte von

Auguste Comte vorweggenommen, der sich noch vernichtender darüber äußerte,

was er "les details trop minutieux, si puerilement recherches par la curiosite irra­

tionelle des aveugles compilateurs d'anecdotes steriles" nannte; und er verfocht

in einem berühmten Satz "l'histoire sans noms d'hommes, ou meme sans noms de peuples" .46 Eine ähnliche Forderung nach einer Geschichte ohne Namen

oder einer Geschichte von unten wurde einige Jahre vorher von Jules Michelet

erhoben, der von "l'histoire de ceux qui ont souffert, travaille, langui, fini, sans

pouvoir dire leur souffrance" sprach.47

In der diesbezüglichen Kritik an Ranke (oder exakter an Rankes Nachfol­

gern) kehrten die eben zitierten Soziologen und Historiker des 19. Jahrhunderts

zu einer früheren Tradition zurück, der hi3tory 0130ciety, die in Frankreich von Boulainvillers, Montesquieu und Voltaire, in Italien von Giannone und Vico,

in DeutscWand von Möser und in Schottland von David Hume, Adam Smith,

John Millar und William Robertson betrieben wurde.48

Diese Wissenschafter strebten bewußt nach einer Geschichte, die nicht auf

militärische und politische Ereignisse beschränkt war, sondern sich mit Ge­

setzen, dem Handel, Moral und ,Sitten' beschäftigte. Einige von ihnen boten,

lange vor Durkheim und Simiand, ganz zu schweigen von Febvre und BraudeI,

eine Kritik an der hi3toire evenementielle.49 Lord Kames bemerkte, daß "Sin­gular events, which by the prevalence of chance and fortune, excite wonder,

are greatly relished by the vulgar. But readers of solid judgement find more

45 Herbert Spencer, Essays on Education (1861), London u. New York 1911, 26 f.

46 Auguste Comte, Cours de philosophie positive 5, Paris 1864, Le<;on 52, 10-14.

47 Lecture (1842) zitiert in Jules Michelet, Oeuvres completes 4, Paris 1974, 8; vgl. Toby

Burrows, Their Patron Saint and Eponymous Hero: Jules Michelet and the Annales School,

in: Clio 12 (1982/83), 67-82.

48 Ich behandle diesen Punkt ausführlicher in: Peter Burke, Ranke the Reactionary, in:

Syracuse Scholar 9 (1988), 25-30.

49 Vgl. A. Momigliano, 18th-Century Prelude to Mr. Gibbon, in: ders., Sesto Contributo,

Rom 1980, 249, der die Beispiele von d' Alembert und Anquetil-Duperron nennt.

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entertainment in studying the constitution of astate, its government, its laws,

the manners of its people". In derselben Weise wies sein Glasgower Kollege

John Millar von sich, was er "that common surface of events which occupies

the details of the vulgar historian" nannte. 50

Auch andere Wissenschafter waren an der Geschichte der Mentalitäten in­

teressiert: beispielsweise Montesquieu, der eine Erklärung mittelalterlicher Got­

tesurteile unter dem Aspekt von "la maoiere de penser de nos peres" lieferte.51

Der Hauptunterschied zwischen ihnen und ihren Nachfolgern im 20. Jahrhun­

dert ist, daß die Gruppe der Annales die professionellen Standards der "Ran­

keaner akzeptierte und integrierte, ohne deren Einschränkungen zu unterliegen.

Zusammenfassend sei festgestellt: Mein Ziel ist in keiner Weise, die Leistun­

gen der Gruppe der A nnales zu schmälern, sondern sie in eine etwas breitere

Perspektive einzuordnen und somit präziser zu beschreiben. All die Neuerun­

gen, die mit Bloch, Febvre und Braudel in Verbindung gebracht werden, haben

Vorläufer - deren Kombination jedoch nicht. Ihr prinzipielles Ziel, die Gestal­

tung einer neuen Art von Geschichte, wurde von vielen Personen über eine lange

Periode geteilt. Die französische Tradition, von Michelet und Fustel zur Annee

Sociologique, und von Vidal de la Blache zu Henri Berr ist wohlbekannt. Auf der

anderen Seite bleiben die alternativen Traditionen (besonders in Deutschland)

generell unterbewertet.

Es ist sicher auch richtig, daß andere Beweg\lllgen in Richtung einer ,neuen

Geschichte' weniger erfolgreich als die Annales waren. Obwohl James Harvey

Robinson beispielsweise in weitem Maße für die Einführ\lllg von Kursen über

,westliche Zivilisation' in die Curricula amerikanischer Universitäten verant­

wortlich war, ist es ihm und Harry Eimer Barnes nicht gelungen, eine Bewegung für die Zusammenarbeit von Geschichts- und Sozialwissenschaften in Gang zu setzen. Wiederum, trotz - oder wegen - der Kontroverse, die er entfachte, war

Karl Lamprecht nicht in der Lage, eine starke Wirkung auf das deutsche histori­sche Establishment auszuüben. 52 Die Leistung von Bloch, Febvre und Braudei

war es, weiter zu gehen als alle anderen Wissenschafter oder Gruppen von Wis­

50 Lord Kames, Historieal Law-Traets, Edinburgh 1758, Vorwort; John Miliar, An Historical

View oe the English Government, London 1787.

51 Montesquieu, Esprit des Lois, Paris 1744, Buch 28, Kap 17.

52 Vgl. Gerhard Oestreich, Die Fachhistorie und die Anfange der sozialgeschichtliehen For­

schung in Deutschland, in: Hilltorische Zeitschrift 208 (1969), 320-363.

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senschaftern, die diese Ziele verfolgt haben, und eine Bewegllllg zu gründen, die

sich stärker ausbreitete und länger besteht als die ihrer Konkurrenten.

(Aus dem Englischen von Brigitte Rath)

ÖZG 1/1990 P. Burke: Ann81e:I,9-24