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Ulf Pindur 50 Stereoelektronische Effekte in der Organischen und Bio-organischen Chemie Teil I: Modellbeispiele aus der Organischen Chemie Entwicklung neuer Strategien in der organi- schen Synthese. Im biologischen Bereich lie- fert dieses Modell ein besseres Verstandriis iiber die chemische Struktur und biologische Aktivitat und dariiber hinaus iiber den Verlauf und die Stereochemie enzymatischer Prozesse. An einigen ausgewahlten markanten Modell- Beispielen wird im 1. Teil die Steuerung von Struktur und Reaktivitat durch den stereo- elektronischen Effekt aus der organischen Chemie aufgezeigt. Die dargestellten Ergeb- nisse, durch sorgfaltige Experimente belegt und z. T. durch qualitative und quantitative MO-Theorie abgeschatzt, stehen als Modelle stellvertretend fur bio-organische Reaktions- ablaufe, iiber die in einem 2. Aufsatz (2. Teil) berichtet wird. Einleitung In den letzten Jahren haufen sich die Befunde aus zahlreichen Experimenten, dai3 Elektro- nendelokalisierung oder elektronische Wech- selwirkung organischer Molekiile dann opti- mal wird, wenn die Elektronenpaare am Sub- strat oder an den Reaktandenpaaren die ,,rich- tige" raumliche Orientierung aufweisen. Durch ,,delokalisierte" Uberlappung wechsel- wirkender Orbitale in der richtigen Stereoche- mie kann die Geometrie des Grundzustandes (Konformation, Konfiguration), aber auch ein Ubergangszustand einer Reaktion stabilisiert werden, so daf3 daraus die Bevorzugung einer Molekiilstruktur oder einer hoheren Reaktivi- tat resultiert. Da sich dieser Sachverhalt so- wohl elektronisch (Delokalisierung von Elek- tronen) als auch sterisch (raumliche Anord- nung) beschreiben IaBt, wird er als stereoelek- tronischer Effekt (Faktor) bezeichnet. Diese niitzliche Modellvorstellung erklart z. B. die Gleichgewichtslagen von Konformationen, die Bevorzugung bestimmter Konfigurationen und besondere Reaktivitaten. Speziell bei re- gio- und stereoselektiven Reaktionen erhellt sie die Stereochemie der Ubergangszustande. Neben der thermodynamischen Stabilisierung von Molekiilstrukturen spielen stereoelektro- nische Effekte bevorzugt bei der Hydrolyse von Acetalen, Estern und Amiden eine domi- nierende Rolle, aber auch bei Reaktionen am sp3-, sp2- und sp-C-Atom. Sie erklaren unge- wohnliche Reaktivitaten und ermoglichen die Stabilisierung der Grundzustands-Konfor- mation bzw. -Konfiguration durch den ste- reoelektronischen Effekt Bekanntlich bestimmen die Wechselwirkun- gen von Orbitalen in einem MoIekiil viele Ein- zelheiten der chemischen Struktur. Stereo- elektronische Effekte konnen daher die Kon- formation bzw. die Konfiguration von Aceta- len, insbesondere bei Kohlenhydraten, signifi- kant beeinflussen. Dieses zuerst bei dieser Ver- bindungsklasse entdeckte Phanomen wird heute allgemein als stabilisierender anomerer Effekt bezeichnet [l]. In der Acetalkonforma- tion 1 ist der elektronische Effekt infolge der Dipol-Dipol-AbstoRung der benachbarten Elektronenpaare (rabbit ear effect) destabili- sierend [2]. In der Konformation 2 dagegen 1 2 fiihrt der stereoelektronische Faktor zu Sta- bilisierung, da ein freies Elektronenpaar am 0-Atom antiperiplanar zu der polaren C-O- Bindung angeordnet ist. Dieser Effekt in 2 re- sultiert aus dem partialen Elektronentransfer von einem Elektronenpaar an einern Hetero- atom zum anderen elektronegativen Atom. Dieser anornere Effekt irn Sinne einer Stabili- sierung kann mit dem Konzept der ,,Doppel- bindung-nicht-Bindungs-Resonanz" durch Pbamazie in Ionserer Zeit / 14. Jabrg. 1981 / Nr. 2 0 VCH Verlagsgesellscbafi mbH, 0-6940 Weinheim, 1981 0048-3664/81/G203-001G $ 02.10/0

Stereoelektronische Effekte in der Organischen und Bio-organischen Chemie Teil I: Modellbeispiele aus der Organischen Chemie

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Page 1: Stereoelektronische Effekte in der Organischen und Bio-organischen Chemie Teil I: Modellbeispiele aus der Organischen Chemie

Ulf Pindur

50

Stereoelektronische Effekte in der Organischen und Bio-organischen Chemie Teil I: Modellbeispiele aus der Organischen Chemie

Entwicklung neuer Strategien in der organi- schen Synthese. Im biologischen Bereich lie- fert dieses Modell ein besseres Verstandriis iiber die chemische Struktur und biologische Aktivitat und dariiber hinaus iiber den Verlauf und die Stereochemie enzymatischer Prozesse.

An einigen ausgewahlten markanten Modell- Beispielen wird im 1. Teil die Steuerung von Struktur und Reaktivitat durch den stereo- elektronischen Effekt aus der organischen Chemie aufgezeigt. Die dargestellten Ergeb- nisse, durch sorgfaltige Experimente belegt und z. T. durch qualitative und quantitative MO-Theorie abgeschatzt, stehen als Modelle stellvertretend fur bio-organische Reaktions- ablaufe, iiber die in einem 2. Aufsatz (2. Teil) berichtet wird.

Einleitung

In den letzten Jahren haufen sich die Befunde aus zahlreichen Experimenten, dai3 Elektro- nendelokalisierung oder elektronische Wech- selwirkung organischer Molekiile dann opti- mal wird, wenn die Elektronenpaare am Sub- strat oder an den Reaktandenpaaren die ,,rich- tige" raumliche Orientierung aufweisen. Durch ,,delokalisierte" Uberlappung wechsel- wirkender Orbitale in der richtigen Stereoche- mie kann die Geometrie des Grundzustandes (Konformation, Konfiguration), aber auch ein Ubergangszustand einer Reaktion stabilisiert werden, so daf3 daraus die Bevorzugung einer Molekiilstruktur oder einer hoheren Reaktivi- tat resultiert. Da sich dieser Sachverhalt so- wohl elektronisch (Delokalisierung von Elek- tronen) als auch sterisch (raumliche Anord- nung) beschreiben IaBt, wird er als stereoelek- tronischer Effekt (Faktor) bezeichnet. Diese niitzliche Modellvorstellung erklart z. B. die Gleichgewichtslagen von Konformationen, die Bevorzugung bestimmter Konfigurationen und besondere Reaktivitaten. Speziell bei re- gio- und stereoselektiven Reaktionen erhellt sie die Stereochemie der Ubergangszustande.

Neben der thermodynamischen Stabilisierung von Molekiilstrukturen spielen stereoelektro- nische Effekte bevorzugt bei der Hydrolyse von Acetalen, Estern und Amiden eine domi- nierende Rolle, aber auch bei Reaktionen am sp3-, sp2- und sp-C-Atom. Sie erklaren unge- wohnliche Reaktivitaten und ermoglichen die

Stabilisierung der Grundzustands-Konfor- mation bzw. -Konfiguration durch den ste- reoelektronischen Effekt

Bekanntlich bestimmen die Wechselwirkun- gen von Orbitalen in einem MoIekiil viele Ein- zelheiten der chemischen Struktur. Stereo- elektronische Effekte konnen daher die Kon- formation bzw. die Konfiguration von Aceta- len, insbesondere bei Kohlenhydraten, signifi- kant beeinflussen. Dieses zuerst bei dieser Ver- bindungsklasse entdeckte Phanomen wird heute allgemein als stabilisierender anomerer Effekt bezeichnet [l]. In der Acetalkonforma- tion 1 ist der elektronische Effekt infolge der Dipol-Dipol-AbstoRung der benachbarten Elektronenpaare (rabbit ear effect) destabili- sierend [2]. In der Konformation 2 dagegen

1 2

fiihrt der stereoelektronische Faktor zu Sta- bilisierung, da ein freies Elektronenpaar am 0-Atom antiperiplanar zu der polaren C-O- Bindung angeordnet ist. Dieser Effekt in 2 re- sultiert aus dem partialen Elektronentransfer von einem Elektronenpaar an einern Hetero- atom zum anderen elektronegativen Atom.

Dieser anornere Effekt irn Sinne einer Stabili- sierung kann mit dem Konzept der ,,Doppel- bindung-nicht-Bindungs-Resonanz" durch

Pbamazie in Ionserer Zeit / 14. Jabrg. 1981 / Nr. 2 0 VCH Verlagsgesellscbafi mbH, 0-6940 Weinheim, 1981 0048-3664/81/G203-001G $ 02.10/0

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die Formulierung von Resonanzhybriden 3 und 4 zum Ausdruck gebracht werden.

R/O.,---\ Oh +o,> "% R-PJ-H -

: OR R :OR-

3 4

Nach der aquivalenten Grenzorbital-Betrach- tung kornrnt diese elektronische Delokalisie- rung in 2 oder 3 durch Uberlappung eines Elektronenpaar-Orbitals am 0-Atom mit dem antibindenden Orbital (d-Orbital) der benachbarten C-OR-0-Bindung zustande [3]. Aus der Newman-Projektion 5 und 6 1aRt sich der stabilisierende und destabilisierende'

OR

5 6

Effekt in ein Orbital-Wechselwirkungsdia- gramm (Abb. 1) iibertragen. Dieses zeigt qua- litativ die Anwendung der Storungstheorie zur Strukturbestimmung organischer Mole- kiile.

Der Bindungsgewinn ist also groRer, wenn der OR-Substituent axial, d. h. antiperiplanar zu einern freien p - A 0 des benachbarten Sauer- stoffatoms angeordnet ist.

Ein bekanntes Beispiel fur den anorneren Ef-

* im Sinne von weniger stabilisierend. 1

fekt ist das Gleichgewicht zwischen den Me- thylglucosiden 7 und 8. Die Summe dieser

HO u 7

8

elektronischen Einfliisse ist grof3er als der iib- liche, die aquatoriale Anordnung begiinsti- gende sterische Effekt [3]. Die Resultierende aus sterischen (destabilisierenden) Wechsel- wirkungen und dem elektronischen Energie- gewinn iiber den anomeren Effekt bestimmen die Gleichgewichtslage der Isomerisierung, also die Bevorzugung der Konfiguration mit axialer Methoxygruppe.

Die saurekatalysierte Isomerisierung der cis- und trans-bicyclischen Acetale 9 und 10 fiihrt

9 u 10 " bei 8OoC zu einer Gleichgewichtsmischung aus 57% cis- und 43% trans-Isomer [I]. Das cis-Iso-rner 9 ist um 0.17 kcal/mol stabiler als das trans-Isomer 10. Unter Beriicksichtigung sterischer und entropischer Faktoren resultiert der Energiegewinn aus der stereoelektroni- schen Stabilisierung.

Stereoelektronischer Effekt und Reaktivitat

(Beeinflussung der Energie der Ubergangszu- stande)

1. Stereoelekt~onischer Effekt bei deer saurekata- lysierten Enolisierung und Protonierung cycli- scher Ketone

An deuterierten (D statt HaX oder Haq) starren Cyclohexanonen 11 zeigten E. J. Corey und

u 11

A OH

12

Abb. 1. Orbital-Wechsel wirkungsdin- gramm, Uberlappung eines einsarnen Elek- t ronenparrs am 0-Atom rnit dem 0*-

Orbital einer C-0 (A)- bzw. C-H (B)- Bindung.

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R. A. Sneen [4], daf2 bei der saurekatalysier- ten Enolisierung axiale a-Wasserstoffatome schneller abgegeben werden als aquatoriale, und daR bei der Riickreaktion axiale Wasser- stoff-Atome vom Enol wiederurn schneller aufgenommen werden als aquatoriale. Diese Reaktivitatsunterschiede lassen sich aus der Newman-Projektion eines protonierten Cy- clohexanons 12 ableiten.

Die Bindung C-2-Hax steht nahezu parallel zu den Achsen der pz-Orbitale der benachbar- ten Carbonyl-Gruppe. Schon wahrend ihrer Losung kann sich daher (und mit fortschrei- tender Reaktion in standig zunehmendem Mag) die Stabilisierung des Enols auswirken und zu erhohter Reaktionsgeschwindigkeit fiihren. Zur Eliminierung von Hiq muR dage- gen erst Energie aufgewandt werden, um durch innere Rotation C-2-Hiq parallel zu den Achsen der pz-Orbitale zu orientieren (ungiinstige Twist-Konformation des Cyclo- hexanringes), wonach dann, wie fur C-2-H, beschrieben, Ablosung des Protons erfolgen kann. Auch axiale Protonierung des Enols (Riickreaktion) ist begiinstigt und verlauft schneller, da nur eine relativ geringe Ande- rung der Positionen von C-3 und dem eintre- tenden H unter weitgehendem Erhalt der Par-

stattfindet. Diese schnellere Reaktion ge- horcht dem Prinzip der minimalen Struk- turveranderung. Die Einfiihrung eines aqua- torialen Protons (H+ -+ H,J in 13 hat dagegen tiefgreifende Anderungen und damit einher- gehenden friihzeitigen Verlust der Orbital- parallelitat oder Bildung der ungiinstigen Twist-Konformation zur Folge [5]. Die bevor- zugte Abstraktion der axialen a-Protonen wurde auch beim basekatalysierten Wasser- stoff-Deuterium-Austausch des 4-t-Butylcy- clohexanons nachgewiesen [6].

2. Stereoelektronischer Effekt bei der Hydrolyse von Orthoestern

Die bicyclischen unsymmetrischen Ortho- ester 14a-14c werden alle glatt zum identi- schen Methylester 15 hydrolysiert [7]. Die se-

c OR I - .

angeordnet ist [8] (stereoelektronische Theo- rie nach Deslongchamps [I]).

Die saurekatalysierte Hydrolyse von Ortho- estern verlauft in der Regel nach Protonierung und Heterolyse zunachst zu den Dialkoxy- carbenium-Ionen vom Typ 17 bzw. 19 [9], die schlieRlich ein Wassermolekul addieren oder in peripherer Reaktion direkt entalkyliert werden [lo]. Die Hydrolysegeschwindigkeit zum einfachen Ester wird von der Bildungsge- schwindigkeit des Dialkoxycarbenium-Ions bestimmt, da die Entstehung dieses Kations in der Regel den geschwindigkeitsbestimmenden Schritt darstellt. Basis-Reaktionen zur Hydro- lyse-Kinetik cyclischer und acyclischer Or- thoester lieferten in diesem Zusammenhang eine weitere Bestatigung der stereoelektroni- schen Modellbetrachtung zur Analyse der Reaktivitat [I 11. Insbesondere bei cyclischen, also konformativ weniger flexiblen Ortho- estern ist die Kationenbildungstendenz im Vergleich zu acyclischen Vertretern aus stereo- elektronischen Griinden erhoht [l 11.

14a CHI b CD, c C1H5

n

allelitat der drei beteiligten p-Orbitale in 13 -0""

lektive Abspaltung der OR-Gruppe laRt sich mit demstereoelektronischen Effekt erklaren, da von den drei C-0-Bindungen am Ortho- ester-Zentrum nur die axiale C-OR-Bindung antiperiplanar zu einem freien Elektronen- paar beider benachbarter Sauerstoff-Atorne

Bei den acyclischen Orthoestern 16a-16c wird in dieser Reihe Zunahme der Dialkoxy- carbenium-Ionen-Bildungsgeschwindigkeit bzw. Hydrolysegeschwindigkeit festgestellt.

Die langsamere Reaktion des Benzoesaureor- thoesters 16a ist auf sterische Behinderung der Konjugation im Kation 17a zuriickzufiihren [11, 121. Die relativ schnelle Hydrolyse beim Essigsaureorthoester 16c laf3t sich durch hy- perkonjugative Stabilisierung des Ubergangs- zustandes zu 17c erklaren.

In der 2-Alkoxy-l,3-dioxolan-Reihe 18a- 2

Abb. 2. Stereoelektronische Kontrolle bei der Kationenbildung au9 acyclischen und cyclischen Orthoestern 20 und 21. Bei den Orthoestern 20 und 21 ist diejenige Konfor- mation angegeben, die unter minimalrr Struhturinderung stereoelektronisch kon- trolliert 2 u den Dialkouycarbenium-Ionen 22.1 und ?rb fuhrt. Bei 2C herrscht hohere Lonforrn2tip.e Beweglichheit, bei 21 dagegen i r t infolge der Starrheit des Funfringes die ,optimak" Konformation weitgehend fi- uiert, wodurch in diesem Fall die Heterolyse h6here Reahtionsgeschwindigkeit aufweist [ 131.

52 Phannazie in unserer Zeit / 14. Jahrg. 1981 / Nr. 2

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18d nimmt die Kationenbildungstendenz und folglich auch die Hydrolysegeschwindigkeit in der Reihe R - H, CH,, C,H,, C,H, zu [ 1 13. Die hier prinzipiell hoheren Reaktivita- ten im Vergleich zu 16 sind mit dem stereo- elektronischen Konzept vereinbar (s. Abb. 2), denn das Dioxolan-Geriist in 18 bzw. in 21 ist konformativ relativ starr, so daB die Kationen- bildung aus geometrischen Griinden be- schleunigt ist. Andererseits nimmt auch die thermodynamische Stabilitat der Kationen 19 in dieser Reihe zu. So sind z. B. im Kation 19d

17 P 19 d

(Phenylsubstitution) beide Ringe coplanar an- geordnet, so dai3 hier eine volle Konjugation im Vergleich zu 17a, welches aus sterischen Griinden verdrillt vorliegt, uneingeschrankt moglich ist. Die Hydrolysegeschwindigkeits- Verhaltnisse (kcycl/kacycl = 100) zeigen, daB I

18d bei der Hydrolyse um den Faktor 100 schneller reagiert als 16a. Diese stereoelektro- nische Betrachtungsweise erlaubt also in an- schaulicher Form eine plausible Deutung die- ser grogen Reaktivitatsunterschiede. Ohne vie1 Miihe lai3t sich dieses Model1 auch auf an- dere Substrate, wie Amidacetale, Orthoamide u. a. ubertragen.

E. L. Eliel stellte bei den diastereomeren kon- formativ fixierten Orthoestern 23a und 23b fest, dai3 nur 23a in einer Boudroux-Chichiba- bin-Reaktion mit Grignard-Reagenzien be- vorzugt reagiert [14].

Im Falle von 23a iiberwiegt die Konformation mit einer axialstandigen Methoxygruppe im Gleichgewicht (anomerer Effekt und steri- scher Effekt), so dai3 diese Verbindung im Ge- gensatz zu 23b glatt unter stereoelektroni-

OC H3

23 a

27 trans

scher Kontrolle reagieren kann. Dies wird in der Tat durch das Experiment bestatigt; wah- rend 23a bereits bei RT rasch reagiert, findet bei 23b infolge der nahezu orthogonal an- geordneten Orbitale in der Vorzugskonforma- tion unter gleichen Bedingungen keine Reak- tion statt.

Im Falle von 23a erfolgt nach Komplexierung der axialstandigen Methoxygruppe mit dem Grignard-Reagenz glatt die Bildung eines 1,3-Diox-l-enium-Ions 24, welches von der carbanionischen Gruppe des Reagenzes stereo- elektronisch von der axialen Seite angegriffen wird. Obwohl dieser Angriff des Carbanions in der Richtung des leeren p,-A0 am C-2 von 24 von oben und von unten zur o-Geriistebene stereoelektronisch gleichermailen begiinstigt ist, mug fur die Bevorzugung einer ,,Seite" auch die aus dem Angriff resultierende Uber- gangszustands-Konformation beriicksichtigt werden. Der Angriff iiber den Weg ,,b" fiihrt zum energiereicheren ,,Boot"-gestalteten Ubergangszustand und damit zu hoherer Ak- tivierungsenergie. Die daraus resultierende Bootkonformation 25 mug sich durch ,,Ein- schwingen" in den konformativen Grundzu- stand stabilisieren. Erfolgt der Angriff des Carbanions jedoch iiber den Weg ,,a", so wird die Bildung des Additionsproduktes 27, die unter minimaler Strukturanderung verlauft,

zweifellos begunstigt sein. E. L. Eliel [14] hat also gezeigt, dai3 bei der Substitution dieser cyclischen Orthoester die Mitwirkung der axial angeordneten Elektronenpaare an bei- den 1,3-Dioxan-O-Atomen, sowohl bei der Bildung der Oxonium-Zwischenstufe 24, als auch bei der Weiterreaktion mit dem Nukleo- phil, von entscheidender Bedeutung ist.

3. Stereoelektronischer Effekt bed der SN1- Solvolyse

Aus den Beispielen aus der Literatur sol1 hier eine markante Reaktion vorgestellt werden. Von den stabilen 9-Chlortetraphenyl-triben- zocycloheptatrien-Konformationsisomeren 28a und 28b reagiert nur die ,,axialel' Form 28a

28 a 28 b

mit Nukleophilen iiber das Tropylium-Ion 29 [15]. Die relativ grogen Phenylringe in der 1,4-Position sollten sich der volligen Eineb- nung des Kations und auck dem Konforma- tionswechsel von 28a 28b widersetzen. Die Stereospezifitat der Ionisation von 28a zu 29, dessen 7-Ring vermutlich in einer relativ fla- chen Bootkonformation vorliegt, und die stereoelektronisch beschleunigte Reaktion mit Nukleophilen konnen darauf zuriickgefiihrt werden, daB die axiale C-CI-Bindung nahezu parallel zu den pz-Orbitalen der unmittelbar benachbarten Benzenkerne steht.

Die C-Cl-Bindung in 28b ist dagegen stereo- elektronisch ungiinstig (nahezu orthogonal zu den pz-Orbitalen der angrenzenden Arene) lo- kalisiert.

4. Stereoelektmnischer Effekt bei der SN2- Hnd SN2 '-Redtion

Verbindungen mit a-standigen Carbonyl- oder Nitrilgruppen sind in SN2-Reaktionen besonders reaktiv. Beispielsweise reagieren u- Chloraceton 35 OOOmal und p-Chloracetoni- tril3 OOOmal rascher mit Kaliumiodid in Ace-

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ton als n-Butylchlorid [16]. Diese enorrne Reaktionsbeschleunigung bei den funktionali- sierten Substraten kann durch den stereoelek- tronischen Effekt unter Nachbargruppenbe- teiligung im Ubergangszustand erklart wer- den. Im Rahmen dieser Modellbetrachtung tragt das n-System der am Reaktionsort be- nachbarten funktionellen Gruppe in einer be- stimrnten Konformation zur betrachtlichen Delokalisierung des SN2-Ubergangszustandes bei [17] (s. Reaktionsbeispiel der SN2-Reaktion von Iodid rnit Chloraceton 30 uber den Uber- gangszustand 31).

Auch die SJ-Reakcion am gesatdgten Sub- strat kann unter dem Aspekt der stereoelek- tronischen Steuerung behandelt werden, zu- ma1 hier die Stereochemie des Produktes infolge des konzertierten Verlaufs eindeutig festgelegt ist. Nach der Grenzorbital-Betrach- rung [3] komrnt hier der bindenden ,,colinea- ren" stereoelektronischen Wechselwirkung von HOMO-Nukleophil und LUMO-Elek- trophil im Ubergangszustand die entschei- dende Bedeutung fur den sterisch einheitli- chen Reaktionsablauf (Konfigurationsumkehr am Substrat) zu (Abb. 3).

Bei der birnolekularen nukleophilen Substitu- 3

4

tion mit Allylumlagerung (SN2') im Substrat konnen im Prinzip das eintretende und das austretende Nukleophil (Nu) antiperipianar (Ubergangszustand 33) oder synplanar (Uber- gangszustand 34) angeordnet sein [l8] (Abb. 4). Von den bisher stereochemisch untersuch- ten SN2'-Reaktionen lauft die uberwiegende Zahl mit hoher syn-Praferenz ab [19].

S 2 I- Reaktion

\/-.Nu' - Nu

Auf Grund theoretischer Untersuchungen zur Stereochernie der SN2'-Reaktion [20] wird diese syn-Bevorzugung damit begrundet, dai3 der quasicyclische Ubergangszustand 34 hin- reichend stereoelektronisch (Huckel-Aren) gegeniiber dem nichtcyclischen Ubergangszu- stand 33 begunstigt sei. Die starkere sterische AbstoBung in 34 und bei negativ geladenen Ubergangszustanden die elektrostatische Ab- stoRung konnten diese stereoelektronische Stabilisierung jedoch kompensieren. Zugun- sten der syn-Reaktion wird daher noch ein weiterer stereoelektronischer Faktor disku- tiert [18]. Insbesondere bei einem schwer am- tretenden Nukleophil sollte bei Ansammlung negative Ladung im Ubergangszustand der zentrale Orbitallappen auf die den beiden Nu- kleophilen entgegengesetzte Seite ausweichen und so zum Ubergangszustand 35 fiihren. Die Urnhybridisierung des zentralen C-Atoms YaBt sich rnit dem Grenzorbitai-Modell deuten [3, 181. Durch die HOMO-LUMO-Wechsel- wirkung wird eine Verzerrung des Kerngerii- stes induziert, so daB der mittlere Orbitallap- pen ausweicht (s. Ubergangszustand 35) und entlang der gesamten Reaktionskoordinate

auf der den Nukleophilen entgegengesetzten Seite verbleibt.

5. Stereoelektronische Kontrolle bei der E , Reaktion

E,-Reaktionen (birnolekulare 1,2-Eliminie- rungen) verlaufen konzertiert, wobei der An- griff der Base am P-Proton und die C-X- Bindungsspaltung (X = nukleofuge Abgangs- gruppe) gleichzeitig erfolgen [21]. In der Regel kann das Spektrum der E,-Ubergangszu- stande von einem E,cB-ahnlichen Ubergangs- zustand 36, in dem die C-H-Bindungslosung betrachtlich weiter als die C-X-Bindungslo- sung fortgeschritten ist, bis zu einern E,- ahnlichen Ubergangszustand 38 reichen [22]*. Dazwischen liegt der ,,reine" E,-Ubergangs- zustand 37.

B

X x x E ~ c B Ez - Ei

Da alle E,-Ubergangszustande einen gewissen Doppelbindungscharakter besitzen, mussen fur einen elektronisch giinstigen Reaktions- ablauf Hp und X irn Ubergangszustand eine syn- oder antiperiplanare Lage einnehmen (39,40). In der Regel sind, wie das Experiment zeigt, bei acyclischen Substraten anti-Elimi- nierungen begiinstigt, da in diesem Fall der anti-Ubergangszustand 40 stereoelektronisch giinstige gestaffelte Struktur besitzt. Bei der

's. a. Lehrbucher der Organischen Chernie.

Abb. 3. HOMO-Nukleophil- und LUMO- Elektrophil-Wechselwirkung im Uber- gangszustand einer S,Z-Reaktion (nach [31).

Abb. 4. Ubergmgszustiinde bei S,T-Reak- tionen (Nu = eintretende bzw. austretende Gruppe).

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w syn-E2 anti - E 2

39 40

syn-Eliminierung sind zwar die stereoelektro- nischen Voraussetzungen ahnlich, es treten aber hier zusatzliche destabilisierende eklipti- sche Wechselwirkungen auf (s. Ubergangszu- stand 39).

Ubergangszustande der syn- und anti-E,- Reaktion

So fiihrt z. B. das konformativ bewegliche rne- so-Stilbendibromid 41 mit Kaliurnmethylat stereoelektronisch kontrolliert glatt zu E-Bromstilben 42.

B r H

H 41 42

\ '

H H 98% 0% 43 44 45

Eine syn-E,-Reaktion wird u. a. dann bevor- zugt, wenn im Substrat ein H-X-Diederwin- kel von O', nicht aber von 180' aus geometri- schen Griinden zuganglich ist, oder wenn be- sondere sterische Verhaltnisse vorliegen. So zeigen die experimentellen Ergebnisse von H. C. Brown und K.-J. Liu [23], dai3 die E,- Reaktion des Norbornyltosylats 43 rnit Hilfe des Natriumsalzes von Cyclohexylcyclohexa- no1 in Triglyme' in 98%iger Ausbeute aus- schlieiSlich zurn Norbornen 44 fiihrt. Der Di- ederwinkel zwischen D und Tosylat betragt O', jener zwischen H am C-2 und Tosylat aber 120'. Daraus IaGt sich mit Hilfe des stereoelektronischen Konzepts das Ergebnis des Experimentes deuten. Die syn-Eliminie- rung verlauft in diesem Fall vergleichsweise zur anti-Reaktion ,,optimal" stereoelektro- nisch kontrolliert, da die wechselwirkenden Orbitale bereits die ,,richtige" raumliche An- ordnung aufweisen.

*2,5,8,1l-Tetraoxadodecan

Weitere Beispiele fur typische syn-Eliminie- rungen sind die Cope-Eliminierung von ter- tiaren Arninoxiden sowie die Tschugaeff- Reaktion von Xanthogensaureescern zu Alke- nen, bei denen ein stereoelektronisch giinsti- ger 5- bzw. 6-gliedriger Ubergangszustand durchlaufen wird.

Schlufibemerkung

Das Model1 des stereoelektronischen Effekts stellt ein niitzliches, einfaches Prinzip zur Deutung zahlreicher experimenteller Ergeb- nisse aus Struktur- und Reaktivitats-Untersu- chungen dar. Insbesondere bei Reaktionen, die sterisch einheitlich ablaufen, erhellt diese Modellbetrachtung die Bevorzugung einer be- stimmten Produkt-Stereochemie. Im Rahrnen dieses Aufsatzes wurden aus dem grogen syn- thetischen Reservoir der organischen Chemie nur einige markante Modellbeispiele vorge- steilt. Die hier erlauterten Prinzipien sind auf zahlreiche weitere Reaktionen wie auf intra- und interrnolekulare Cyclisierungen iiber- tragbar. Auch die pericyclischen Reaktionen lassen sich unter dem Aspekt der stereoelek- tronischen KontrolIe behandeln. Dieser Reak- tionstyp ist jedoch in einschlagigen Monogra- phien im Rahmen der Woodward-Hoffmann- Regeln und der Grenzorbitaltheorie ausfiihr- lich abgehandelt. In einem folgenden Aufsatz werden bio-organische Reaktionen unter dem Aspekt des stereoelektronischen Effekts be- schrieben.

Literatur

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[3] I. Fleming, Grenzorbitale und Reaktionen organischer Verbindungen, Verlag Chernie, Weinheim, New York, 1979.

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[18] W.-D. Stohrer, Angew. Chem. 95, 642 (1983).

[21] T. H. Lowry, K. S . Richardson, Mechanis- men und Theorie in der Organischen Chemie, Verlag Chemie, Weinheirn, 1980.

Vorstellung des Autors S . Pharmazie in unserer Zeit 12, 135 (1983) und 11, 74 (1982).

Das komplette Literaturverzeichnis kann beim Autor angefordert werden.

Anschrift:

Prof. Dr. Ulf Pindur, Institut f. Pharmazie und Lebensmictelchemie der Universitat, am Hub- land, 8700 Wiirzburg.

Pharmazie in umerer Zeit / 14. Jahrg. 1981 / Nr. 2 55