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Steuerwesen und Rechtsordnung Author(s): Friedrich Klein Source: FinanzArchiv / Public Finance Analysis, New Series, Bd. 14, H. 1 (1953/54), pp. 1-20 Published by: Mohr Siebeck GmbH & Co. KG Stable URL: http://www.jstor.org/stable/40910201 . Accessed: 12/06/2014 14:17 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at . http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp . JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. . Mohr Siebeck GmbH & Co. KG is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to FinanzArchiv / Public Finance Analysis. http://www.jstor.org This content downloaded from 195.78.108.60 on Thu, 12 Jun 2014 14:17:39 PM All use subject to JSTOR Terms and Conditions

Steuerwesen und Rechtsordnung

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Page 1: Steuerwesen und Rechtsordnung

Steuerwesen und RechtsordnungAuthor(s): Friedrich KleinSource: FinanzArchiv / Public Finance Analysis, New Series, Bd. 14, H. 1 (1953/54), pp. 1-20Published by: Mohr Siebeck GmbH & Co. KGStable URL: http://www.jstor.org/stable/40910201 .

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Steuerwesen und Rechtsordnung l von

Friedrich Klein

A. Die deutsche Steuerrechtswissenschaft krankt seit vielen Jahren an einer

auffälligen und beklagenswerten Unfruchtbarkeit in bezug auf wissenschafts- theoretisch-systematische Untersuchungen. Eine infolge der Hypertrophie und des Stückwerk-Charakters der Steuergesetzgebung vor allem der letzten Jahre üppig wuchernde Kommentarliteratur, ein nicht mehr zu meisternder Wust von Fachzeitschriften mehr oder minder hoher Qualität, eine Unsumme von wissenschaftlich meist wertlosen Broschüren und Traktätchen über Be- steuerungsfragen sowie einige mehr als - an sich gewiß notwendige und dankenswerte - Materialsammlungen und -aufbereitungen denn als tiefere wissenschaftliche Forschungen anzusprechende steuerliche Gesamtdarstel- lungen2 kennzeichnen die alles andere als befriedigende Lage. Fast könnte man daher zu der resignierenden Meinung gelangen, daß die Hoch-Zeit der deutschen Steuerrechtswissenschaft in den 20er Jahren dieses Jahrhunderts eine einmalig-temporäre, durch keine neue Blütezeit seither mehr abgelöste und vielleicht auch künftig nicht mehr abzulösende Angelegenheit gewesen sei.

Um so erfreulicher und hoffnungsvoller wirkt angesichts solcher weit- gehend negativer Feststellungen die Tatsache, daß doch noch oder endlich wieder Kräfte vorhanden und am Werke sind, die sich bemühen, dem düsteren Bilde heutiger deutscher Steuerrechtswissenschaft hellere Farbtönungen zu geben. So hat jüngst der Göttinger Fachvertreter für Steuerrecht, Werner Flume, in der Festgabe für seinen Fakultätskollegen Rudolf Smend unter dem anspruchsvollen Titel ,, Steuerwesen und Rechtsordnung" auf knappem Raum einige Kernfragen aus der Fülle der Rechtsprobleme, um die es bei der Besteuerung geht, herausgegriffen und unter zum Teil neuen Gesichts- punkten behandelt. Seine ,,mit spitzer Feder" 3 niedergeschriebenen Ausfüh-

1 Zugleich eine Besprechung des gleichnamigen Beitrages von Werner Flume in der Festgabe für Budolf Smend ,, Rechtsprobleme in Staat und Kirche", Verlag Otto Schwartz & Co. in Göttingen 1 952 S. 59-] 01 . Ter Festschriftbeitrag ist gleich- zeitig auch als selbständige Broschüre in derselben Eruckanordnung und mit der Seitenbezifferung 5 bis 47 erschienen. Hier werden die Seitenzahlen der Festgabe zitiert.

2 Vgl. dazu meine Buchbesprechungen in Steuer und Wirtschaft 1951 Sp. 859/60. 8 Spitaler (vgl. die nächste Anm.).

1 Finanzarchiv N. F. 14. Heft 1

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rangen sind in mancherlei Hinsicht von so grundsätzlicher Art, daß sie eine eingehendere Würdigung, als sie ihnen in den bisher erschienenen, überwie- gend nur lobenden Anzeigen und Besprechungen der Schrift zuteil geworden ist1, verdienen und erheischen.

Flumes zentrales und vollauf zu billigendes Anliegen, die Einbettung des Steuerwesens und insbesondere der Steuererhebung in die allgemeine Rechtsordnung, wird in dieser höchst beachtenswerten Studie nicht nur in seiner Wurzel, sondern auch in einer Reihe von Verästelungen untersucht, wie etwa: Rechtscharakter des steuerlichen Grundverhältnisses, der Steuer- festsetzung bzw. des Steuerbescheides, des steuerlichen Rechtsmittelverfah- rens, der Ermessensprüfung im Steuerrecht. Im folgenden sollen die Unter- suchungen Flumes, dessen Verdienst entgegen Spitalers2 Meinung größer ist, als nur „mit dieser Abhandlung der bereits zum Stillstand gekommenen Diskussion über die Selbständigkeit des Steuerrechts neue Nahrung gegeben zu haben", einer kritischen Betrachtung unterzogen werden. Dabei soll die prüfende Sonde im Interesse der Sache ohne Zimperlichkeit, wenn selbst- verständlich auch sine ira et studio eingesetzt und gehandhabt werden.

B. 1. 1. Flume behandelt im grundlegenden I. Abschnitt seiner Abhand-

lung (S. 59-73) das „Rechtsproblem des Steuerwesens" (S. 61), die „Rechts- natur des Steuerwesens" (S. 73), das „Wesen des Steuerrechts" (S. 59). Da- bei geht er von der für alles weitere maßgebenden und Richtung weisenden Feststellung aus (S. 60): „Als ,Recht' sind die Steuergesetze Teil der Rechts- ordnung und unterliegen damit dem Gesetz der Einheit der Rechtsordnung, dem Gesetz der Kongruenz." Werde das Gesetz der Kongruenz nicht gewahrt, so ergebe sich statt Ordnung Unordnung (S. 60). Mit der Frage der Kongruenz ergibt sich das Rechtsproblem der kongruenten Einordnung der Regelung der Steuererhebung in die allgemeine Rechtsordnung, und stellt sich die Frage des Rangverhältnisses zwischen dem die Steuererhebung re- gelnden Steuerrecht und der sonstigen Rechtsordnung.

2. Mit Recht und sowohl im Ergebnis als auch in der Begründung zu- treffend postuliert Flume „die Kongruenz des Steuerrechts zur allgemeinen Rechtsordnung" (so seine Formulierang der Überschrift zum I. Abschnitt in der Inhaltsübersicht; diese inhaltliche Übersicht findet sich allerdings nur in der selbständigen Broschüre), die „kongruente Einordnung der Steuer- erhebung in die allgemeine Rechtsordnung" (so seine Formulierung an ins- gesamt vier Stellen auf S. 61 und 63). Grundlegend und kennzeichnend für seine Sicht des Kongraenzproblems ist der Lehrsatz auf S. 63: „Jedes Gesetz,

1 Leibrecht in Steuer und Wirtschaft 1953 Sp. 59/60; Riewald in Deutsches Verwaltungsblatt 1952 S. 482 : Spitaler in Finanz-Rundschau Nr. 8 vom 20. April 1952 (3. Umschlagseite); Der Betrieb Heft 13 vom 26. März 1952 (4. Umschlagseite); Der Steuerzahler 1952 S.42; Der Steuerpraktiker Heft 15 vom 21. April 1952 (3. Umschlagseite); Der Betriebs-Berater Heft 13 vom 10. Mai 1952 (2. Innenseite); vgl. auch Muser, Willy: „Besinnung in unsere Besteuerung" in Der Steuerpraktiker 1952 S. 319/20. 2 A.a.O.

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selbst das reformatorische Gesetz, muß aber auf die bestehende Rechtsord- nung ausgerichtet sein, weil es sich ihr sonst nicht einfügt."

So billigenswert dieser letzte Satz im Grundsätzlichen ist, so bedenklich erscheint er in dieser Art der Formulierung. Es dürfte nämlich insoweit eine petitio principii in ihm stecken - zumindest aber ein mißverständlicher Ge- brauch der Begriffe „bestehende (!) Kechtsordnung" und „einfügen" vor- liegen -, als es doch gerade zum Wesen des reformatorischen (sie!) Gesetzes gehört, daß es sich inhaltlich-materiell nicht in die bestehende Rechtsordnung einzufügen braucht und in aller Regel auch nicht in sie ein- fügt, sondern von ihr abzuweichen, sie mindestens teilweise umzugestalten, zu ändern, zu reformieren in der Lage ist und dies auch regelmäßig tut. So sagt denn auch Flume selbst auf S. 62: „Selbstverständlich (!) kann man auch mit einem Steuergesetz die allgemeine Rechtsordnung reformatorisch ändern." Bei den sogenannten Ordnungssteuern (Wilhelm Gerloff) ergebe sich das sogar „aus der Natur der Sache"; der Zweck des Gesetzes sei ja gerade die Änderung der allgemeinen Rechtsordnung, und die Besteuerung sei nur das Mittel dazu.

Es ist jedoch in diesem Zusammenhang in grundsätzlicher Hinsicht zu bedenken: Von einer Änderung der allgemeinen Rechtsordnung kann nicht oder doch nur sehr bedingt die Rede sein. Geändert werden können durch einen Rechtssatz stets nur die Normen über dieselben Materien, die der geänderte Rechtssatz selbst regelt. Geändert werden können durch ein Steuergesetz also nur die Steuerrechtsordnung und - soweit es sich um Schaffung neuer oberster Sätze der Steuerrechtsordnung handelt - auch Sätze der Verfassungsrechtsordnung, die insoweit nur eine Zusammenfassung der obersten Sätze der einzelnen Teilrechtsordnungen des staatlichen Rechts darstellt. Nicht geändert werden kann durch ein Steuergesetz hingegen eine neben oder über diesen beiden Teilrechtsordnungen bestehende allgemeine Rechtsordnung. Abgesehen davon, daß Flume nicht definiert, was er mit „allgemeiner Rechtsordnung" meint und was er darunter begriffen wissen will, könnte unter einer solchen nur eine Rechtsordnung verstanden werden, zu der die Steuerrechtsordnung als nicht allgemeine Rechtsordnung im Ver- hältnis der Spezialität zur Generalität, bzw. in einem Verhältnis der Ausnahme zur Regel steht. Darüber hinaus ist rechtlich selbst eine Änderung der Verfassungsrechtsordnung durch Schaffung oder Neuschaffung dieser wider- sprechender oberster Sätze der Steuerrechtsordnung in dem erschwerten Verfahren nach Art. 79 Abs. 1 und 2 und mit der einzigen materiellen Schranke des Art. 79 Abs. 3 des Bonner Grundgesetzes zulässig. Demgegenüber er- scheint es doch sehr bedenklich, auch nur über die rechtspolitische Zweckmäßigkeit solcher „Änderungen", die Flume wohl vorzugsweise im Sinne hat (auch darüber sagt er allerdings nichts), so unsubstantiiert zu ur- teilen, wie er es tut.

II. 1. Das Rechtsproblem der kongruenten Einordnung der Steuer- erhebung in die allgemeine Rechtsordnung besteht nach Flumes Meinung in der Problematik der Kongruenz der Besteuerung sowohl zu den entscheidenden, grundsätzlichen Strukturprinzipien der allgemeinen Rechts- ordnung als auch zu deren Einzelregelungen und Einzelinstitutionen. Diese 1*

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konkrete Kongruenzfrage wird von ihm an einigen Beispielen erläutert und veranschaulicht, und zwar „solchen, bei denen noch heute ein Gegensatz klafft, und solchen, bei denen er durch die Gesetzgebung oder die praktische Handhabung überwunden worden ist" 1. Dieses Vorgehen bezweckt offenbar zweierlei : einmal, den Nachweis für die zunehmende Emanzipation und Iso- lierung des Steuerrechts vom Zivilrecht zu führen, und zum anderen, auf die Kluft aufmerksam zu machen, die sich nachgerade zwischen der ,,ganz und gar" positivistischen Steuergesetzgebung (vgl. dazu S. 59 und 83) und den Strukturprinzipien der allgemeinen Rechtsordnung aufgetan hat2.

2. Nach Flumes Meinung steht die gesamtschuldnerische Haftung der kraft des Vermögen- und des Einkommensteuerrechts zusammenveranlagten Ehegatten und Kinder gemäß § 7 des Steueranpassungsgesetzes ,,im unver- einbaren Gegensatz zu der Regelung unseres Familiengüterrechts", da da- nach die Vermögen der einzelnen Familienmitglieder - abgesehen von den auf Vereinbarung beruhenden Güterständen der Gemeinschaft - grundsätz- lich getrennt seien und nur die Einkommen infolge des ehemännlichen bzw. väterlichen Verwaltungs- und Nutznießungsrechtes zusammenflössen und da die dadurch erzielte gesamtschuldnerische Haftung eine steuerliche Sippen- haft begründe (S. 64-67); führt die Körperschaftsbesteuerung zur „struk- turellen Dividendenunfähigkeit" der Aktiengesellschaften und damit zu einer grundsätzlichen Veränderung unseres Aktien wesens (S. 68-70), und ist die unbeschränkte gewerbesteuerliche Haftung des Kommanditisten mit der vom Handelsrecht geschaffenen Rechtsfigur der Kommanditgesellschaft un- vereinbar (S. 70/71).

3. Beim ersten seiner Beispiele glaubt Flume gezeigt zu haben, „daß durch eine steuerliche Regelung der gesamtschuldnerischen Haftung der Familienmitglieder aus Zusammenveranlagung entsprechend dem Wortlaut des § 7 St. Anp.Ges. die allgemeine Rechtsordnung umgestürzt wird" (S. 65). Diese sehr weitgehende Schlußfolgerung stellt jedoch zumindest eine starke Übertreibung dar. Denn einmal wird durch die ja nur für das Steuerrecht geltende und dort aus der Orientierung der Einkommen- und der Vermögen- steuer an dem Familienstand zu erklärende Ausnahme von der allgemeinen Regel des Familiengüterrechts des Bürgerlichen Gesetzbuchs noch nicht „die allgemeine Rechtsordnung umgestürzt"; zum andern weist Flume selbst in kritischer Würdigung der in dieser Frage in der Tat unbefriedigenden Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs auf die Möglichkeit hin, „den Zusam- menprall der steuerlichen Regelung der Gesamthaftung aus Zusammenver- anlagung mit der zivilrechtlichen Vermögensordnung aufzulösen" (S. 66), und zwar mit Hilfe des Umstandes, daß die Inanspruchnahme der nicht erst- schuldnerischen, sondern nur mithaftenden Familienmitglieder vom finanz-

iRiewald a.a.O. 2 Es sei hier auch auf das Kelerat von .Frot. Dr. Meilicke, ßonn/Jtserim über

das Thema „Wandlungen des Gesellschaftsrechtes unter steuerlicher Einwirkung" auf der 5. Bonner Steuertagung (27. bis 29. April 1952) des Instituts für Steuerrecht an der Universität Köln und die Diskussionsrede von Flume dazu hingewiesen (vgl. die Berichte über diese Tagung in Steuer und Wirtschaft 1952 Sp. 385-408, besonders Sp. 394-399, in der Finanz-Rundschau 1952 S. 139/40 und in Die Wirt- schaftsprüfung 1952 S. 234/35).

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amtlichen Ermessen abhängt. Daß danach vom ,, Umsturz" der allgemeinen Eechtsordnung so gut wie nichts mehr übrig bleibt, ist offensichtlich und wird überdies durch den Schlußsatz seiner einschlägigen Ausführungen von Flume selbst bestätigt: ,,Über die Abhängigkeit der Inanspruchnahme des Mithaftenden von der Ausübung des Ermessens wird also die sich nach dem Wortlaut des §7 St.Anp.Ges. ergebende steuerliche Sippenhaftung gebro- chen" (S. 67).

Auch Flumes zweites Beispiel zur konkreten Kongruenzfrage kann nicht unbesehen hingenommen werden, um so weniger, als es von ihm unter das besonders stark pointierte Motto ,, Übergriff des Steuerwesens auf die allgemeine Kechtsordnung mit dem Ergebnis einer völligen ( !) Verkehrung ( !) derselben" (S. 68) gestellt ist. Gewiß ist die mehrfache steuerliche Belastung des von einer Aktiengesellschaft (oder sonstigen Kapitalgesellschaft) erzielten Gewinnes - als Einkommen sowohl der Kapitalgesellschaft als auch des An- teilseigners derselben - unerfreulich und sachlich wohl kaum zu rechtfertigen. Es muß aber bestritten werden, daß die Folge einer so gearteten Körper- schafts- bzw. Einkommensbesteuerung eine ,, strukturelle" Dividendenun- fähigkeit der Aktiengesellschaft ist. Auch Flume selbst deutet durchaus an, daß erst die außerordentliche Erhöhung des Körperschaftsteuersatzes die von ihm bemängelte Folge zu einer allgemein als untragbar empfundenen gemacht habe. Ist das aber richtig, dann handelt es sich nicht nur um ein Strukturproblem, sondern auch um eine weitgehend situationsbedingte und -beeinflußte Angelegenheit.

Zutreffend erscheint hingegen Flumes Kritik an den beiden grund- sätzlichen Gutachten des Großen Senats des Reichsfinanzhofs (Gr.S.D. 1/38 vom 6. April 1938 und Gr.S.D. 1/40 vom 27. April 1940) zur Frage seines dritten Beispiels, zur Haftung des Kommanditisten für die Gewerbesteuer des Unternehmens der Kommanditgesellschaft (S. 70). Es ist in der Tat un- angängig, mit dem Reichsfinanzhof anzunehmen, daß der Kommanditist trotz seiner nach Handelsrecht beschränkten Haftung unbeschränkt haften- der Schuldner der Gewerbesteuer sei; denn die unbeschränkte steuerliche Haftung ist mit der Rechtsfigur der Kommanditgesellschaft, die als eine solche ,,nur einheitlich gesehen werden" kann (S. 71), unvereinbar und ,, stellt einen Einbruch in den Kernsatz des Rechts der Kommanditgesellschaften dar, der durch § 113 AO. gerade verhindert werden sollte und sehr wohl vom RFinH. als verhindert hätte betrachtet werden können"1.

III. Was die Frage des Rangverhältnisses zwischen Steuerrecht und sonstiger Rechtsordnung angeht, so wird sie von Flume ein- deutig dahin beantwortet, daß ein „grundsätzlicher Vorrang der allgemeinen Rechtsordnung vor der Besteuerung" im Sinne einer entsprechenden Maxime der Steuergesetzgebung und erst recht eines dahin lautenden Prinzips der Auslegung von Steuergesetzen bestehe (S. 70), daß die Zivilrechtsordnung vor der Steuerordnung, daß das Zivilrecht vor dem Steuerrecht Vorrang be- anspruche und vom Steuerrecht zu respektieren sei (S. 73 Anm. 25). Wenn demgemäß das Steuerrecht in allen seinen Teilen auf die allgemeine Rechts-

1 Bühler, Ottmar: ,, Steuerrecht. Grundriß in zwei Bänden. I. Allgemeines Steuerrecht", Wiesbaden (Gabler) 1951 S. 152.

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Ordnung abgestimmt sein müsse, so brauche es doch deshalb nicht streng dieselben Begriffe zu verwenden wie das Zivilrecht. „Unsere These besagt, daß die Zivilrechtsordnung, nicht der Zivilrechtsbegriff, vom Steuerrecht zu respektieren ist. Wie ein im Zivilrecht geprägter Begriff, der von einem Steuergesetz verwandt wird, bei der Auslegung des Steuergesetzes zu ver- stehen ist, muß aus dem Sinn des Steuergesetzes ermittelt werden. Dabei wird man aber nur, wenn ein aus dem Sinn des Steuergesetzes sich ergebender Anlaß besteht, von dem zivilrechtlichen Begriff abweichen dürfen" (S. 73 Anm. 25).

Gegen diese Ausführungen sind besonders vom Standpunkt des öffentlich- Rechtlers schwere Bedenken zu erheben, da sie - entsprechend der akademi- schen Fachrichtung ihres Autors - viel zu einseitig *■ auf das Zivilrecht ab- stellen. Abgesehen davon, daß Flume mit keinem Wort begründet, warum allgemeine Rechtsordnung und Zivilrechtsordnung identisch sein sollen, wird dabei - trotz richtiger Sicht der Dinge an anderer Stelle der F lu m eschen Schrift (vgl. unten unter IV 1) - zu wenig berücksichtigt, daß das Steuerrecht seit reichlich einem Menschenalter zu einer eigenständigen und eigengearteten Sonderrechtsdisziplin geworden ist, für die sehr wohl die Frage ihrer Zuge- hörigkeit zum bzw. ihrer Einordnung in den Gesamtbereich des sogenannten öffentlichen Rechts interessant und belangvoll ist, diejenige ihres Verhält- nisses zum sogenannten privaten Recht (Zivilrecht) hingegen mehr und mehr an Bedeutung verloren hat.

IV. 1. In den letzten Jahrzehnten ist in Deutschland die Auffassung üblich und durchaus herrschend geworden, daß es sich beim Steuerrecht um sogenanntes öffentliches Recht und beim Steueranspruch demgemäß um einen sogenannten öffentlich-rechtlichen Anspruch handele; von dieser rich- tigen Auffassung geht Flume auf S. 71/72 aus. Grundlegend und maßgeb- lich für manche seiner weiteren Deduktionen, insbesondere für die Frage nach dem Wesen des Verhältnisses des Steuerpflichtigen zum Staat, des so- genannten steuerlichen Grundverhältnisses oder - einfach - Steuerverhält- nisses, nach dem Charakter des Rechtsmittelverfahrens gegen die Steuer- festsetzung, nach der Behandlung von Ermessensfragen, ist sein Lehrsatz: „Man muß im öffentlichen Recht zwei grundsätzlich verschiedene Normen- komplexe unterscheiden, nämlich Handlungsnormen und Sachentscheidungs- normen"(S. 85). Würden durch die Handlungsnormen „nur ein Spielraum und Gesichtspunkte für ein Handeln des Trägers der öffentlichen Gewalt festgelegt", so werde durch die Sachentscheidungsnormen „die Sache selbst entschieden" (S. 86). Innerhalb der Festlegungen durch Handlungs- normen sei das Betätigungsgebiet für die obrigkeitliche Gewalt. Die Sache selbst, um die es gehe, werde innerhalb dieses Bereiches nicht durch Rechts- normen entschieden, „so daß das Handeln nur noch Vollziehung einer Rechts- norm wäre, die selbst entschiede, was zu geschehen hat" (S. 85). So seien beispielsweise für die Handhabung der Polizeigewalt zwar Gesichtspunkte und Grenzen festgelegt, aber die Rechtsordnung normiere nicht, was im konkreten Fall geschehen solle; das bleibe vielmehr - unter Beachtung der

1 Auch Spitaler rügt die „Einseitigkeit" der Flumeschen Abhandlung, wenn er sie auch gerade deswegen „sehr bemerkenswert" findet (a. a. O.).

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gesetzlichen Festlegungen - Sache des im Einzelfall als Träger der öffentlichen Gewalt Handelnden. Der Betroffene eines solchen Handelns stehe zum Staat in diesem Bereiche in einem Gewaltverhältnis. Eechtlich könne nur die Kon- stituierung und Begrenzung des Gewaltverhältnisses sein. Das in der Polemik gegen die Gewalt des Fürsten entstandene Postulat der „Gesetzmäßigkeit der Verwaltung" verlange die Konstituierung und Begrenzung der Gewalt durch Gesetz; es negiere aber nicht die Gewalt, mache sie nicht zu Recht, sondern legitimiere und begrenze sie nur durch das Recht. Hinsichtlich der Sachen tscheidungsnormen hingegen könne von „Gewalt" nur insoweit die Rede sein, als auf Grund der „Gesetzgebungsgewalt" solche Normen erlassen würden und der Staat seine Machtmittel dafür einsetze, daß sie verwirklicht würden. Für eine inhaltliche Entscheidung kraft Gewalt sei kein Raum mehr, weil die Entscheidung inhaltlich durch die Sachentscheidungsnorm bestimmt werde (S. 86).

Auf das Steuerwesen angewandt, ergebe sich danach (S. 86/87): Die Steuernormen würden kraft der Finanzgewalt erlassen, die nur einen inhalt- lichen Ausschnitt aus der allgemeinen Gesetzgebungsgewalt darstelle. Durch die Steuernormen als Sachentscheidungsnormen werde für jeden Einzelfall bestimmt, ob und welche Steuerpflicht bestehe. Die Steuerpflicht als Geld- leistungspflicht werde inhaltlich ausschließlich durch Rechtsnormen be- stimmt. Im Gegensatz zu einem Gewaltverhältnis, das „nicht inhaltlich unter Sachentscheidungsnormen gestellt ist", bei dem vielmehr „das Handeln der Verwaltung - innerhalb der gesetzlichen Grenzen - das Verhältnis bestimmt" (S. 87), sei ein Verhältnis, das inhaltlich voll bzw. ausschließlich durch Rechts- normen bestimmt sei, ein Rechtsverhältnis. Gewaltverhältnis und Rechts- verhältnis seien sich gegenseitig ausschließende Begriffe. Das Verhältnis des Steuerpflichtigen zum Staat sei ausschließlich durch Rechtsnormen bestimmt und deshalb ein Rechtsverhältnis. Von einem Gewaltverhältnis könne im Steuerwesen - abgesehen von der Vollstreckung der Steuerbescheide, die im Prinzip nichts anderes als die Vollstreckung von „zivilen Urteilen" sei -nur die Rede sein, soweit es sich um die Ermittlung der Verwirklichung von Steuertatbeständen handele.

2. Flumes interessanter Lehre von dem grundlegenden Unterschied zwischen „Handlungsnormen" und „Sachentscheidungsnormen" kann ich nicht zustimmen. Es erscheint nämlich zunächst fraglich, ob es wirklich in allen Bereichen des weitverzweigten öffentlichen Rechts diese „zwei grund- sätzlich verschiedenen Normenkomplexe" gibt, ob Flumes zwei Arten von Normen den Gesamtbestand öffentlich-rechtlicher Normen erschöpfen oder nur einen Ausschnitt davon darstellen, insbesondere, ob nicht im Bereich der den Staatsbürger nicht belastenden Verwaltung, der „Daseinsvorsorge", und im Bereich der Gesetzgebung ein überhaupt rechtsfreier Raum der Staats- tätigkeit besteht, ob Flumes Unterscheidung nicht im wesentlichen auf ein Teilgebiet des öffentlichen Rechts, das Verwaltungsrecht, beschränkt ist und ob sie stets in absoluter Reinheit oder aber nicht mindestens teilweise in Vermischung der beiden Komplexe auftritt. Abgesehen jedoch von diesen Grundfragen, denen hier nicht näher nachgegangen werden kann und soll, erheben sich gegen Flumes Exemplifizierung von seiner öffentlich-recht-

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lichen Ausgangsstellung im allgemeinen auf das Steuerwesen im besonderen die folgenden speziellen Bedenken :

Sein Lehrsatz ,, Gewaltverhältnis und Rechtsverhältnis sind sich gegen- seitig ausschließende Begriffe" (S. 85) ist unbewiesen und insbesondere in- soweit fragwürdig, als zwar ein (reines) Gewaltverhältnis kein Rechtsverhält- nis ist und sein kann, als jedoch ein Rechtsverhältnis durchaus Elemente des Zwanges und der Gewalt aufweisen kann und mitunter aufweist, ohne da- durch seinen spezifischen Charakter als Rechtsverhältnis zu verlieren, und als ein Gewaltverhältnis im Bereich von „Handlungsnormen" immerhin durch diese rechtlich bestimmt ist. So räumt denn auch Flume - entgegen seiner Ausgangsposition, nach der „das Verhältnis des Steuerpflichtigen zum Staat" „ausschließlich durch Rechtsnormen bestimmt und deshalb ein Rechtsver- hältnis" ist (S. 87) - ein Gewaltverhältnis im Steuerwesen insoweit ein, als „es sich um die Ermittlung der Verwirklichung von Steuertatbeständen han- delt" (S. 87). Da aber die Ermittlung der Verwirklichung von Steuertatbe- ständen kraft Handlungsnormen einen sehr wesentlichen Bestandteil des „Verhältnisses des Steuerpflichtigen zum Staat" ausmache und da in dem fraglichen Bereich das Verhältnis des Steuerpflichtigen zur Finanzverwaltung wegen des erforderlichen Handelns derselben nach Handlungsnormen nach Flumes eigenem Zugeständnis (S. 87) mit Recht als Gewaltverhältnis zu bezeichnen ist, ist das Verhältnis Steuerpflichtiger - Staat inhaltlich nicht „voll durch Rechtsnormen bestimmt" (S. 86), nicht „ausschließlich durch Rechtsnormen bestimmt" (S. 87) und deshalb kein reines Rechts- verhältnis (im Sinne Flumes, d. h. als kontradiktorischer Gegensatz zum Gewaltverhältnis) .

V. 1. In dem von der Steuerfestsetzung handelnden III. Abschnitt seiner Abhandlung (S. 78-84) geht Flume davon aus, daß zur Steuererhe- bung die Ermittlung der Steuertatbestände, die Festsetzung der Steuern und die - gegebenenfalls zwangsweise - Einziehung der Steuern gehören. „Ermittlung und Einziehung sind von der Festsetzung der Steuern, die durch den Steuerbescheid erfolgt, scharf zu scheiden" (S. 73/74). Seien die der Er- mittlung und Einziehung dienenden Akte der Finanzverwaltung zweifellos „Verwaltung", so habe die Festsetzung der Steuern nach ihrer Intention mit „Verwaltung" im Sinne eines Handelns nichts zu tun, sondern sei „reine Feststellung dessen, was Rechtens ist" (S. 74), „Rechtsanwendung" (S. 83), „Rechtsanwendung . . ., d. h. Feststellung dessen, was Rechtens ist" (S. 84) x, „Rechtsanwendung ... im Sinne der Feststellung und Verkündung dessen, was Rechtens ist" (S. 88), „Rechtsanwendung, Rechtsprechung im materiel- len Sinne, und nicht verwaltungsmäßiges Handeln" (S. 89). Demgemäß sei auch in der Ordnung unseres Steuerrechts der Steuerbescheid von den ande- ren Akten der Finanzverwaltung, welche der Ermittlung und Einziehung dienen, gesondert (S. 74). Der Steuerbescheid sei „eine Feststellung dessen . . ., was Rechtens ist" (S. 81), er habe „nichts anderes zum Inhalt . . ., als die Feststellung dessen, was Rechtens ist" (S. 79; der Sache nach ebenso S. 74, 78, 80: „der Staat erhebt mit dem Steuerbescheid den Anspruch, daß die

1 Vgl. dazu auch S. 81 : „Wenn der Staat . . . selbst das Recht anwendet, d. h. mit Geltungsanspruch feststellt, was Rechtens ist, . . ."

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Forderung Rechtens sei, weil er sie als Rechtens festgestellt habe", S. 83, 84, 88, 89). „Die Feststellung des Steuerbescheides unterscheidet sich inso- weit materiell in nichts von der Feststellung eines Zivilurteils" (S. 74) *. Wenn man den Steuerbescheid wie alles andere Handeln der Finanzverwal- tung gemeinhin als „Verwaltungsakt" bezeichne, so sei damit über ihn jedoch nichts Wesentliches ausgesagt (S. 74). Er gehöre nur formell zur Verwaltung, weil er von einer Verwaltungsbehörde in einem verwaltungsmäßigen Verfahren« ergehe; aus dieser formellen Zugehörigkeit zur Verwaltung ergebe sich aber nichts für seinen Inhalt; „Inhaltlich bleibt er Entscheidung einer Rechts- sache" (S. 78), „materielle Rechtsprechung" (S. 91), „materiell Rechtspre- chung" (S. 95 Anm. 76).

2. Diese Darlegungen begegnen in zweifacher Hinsicht erheblichen Be- denken: einmal hinsichtlich des materiellen Begriffs der Rechtsprechung, sodann hinsichtlich des Rechtscharakters des Steuerbescheides.

a) Flume setzt sich in diesem Zusammenhang eingehend mit Ernst Friesenhahn auseinander, der jüngst einen gehaltvollen Beitrag zu dem alten Problem eines materiellen Begriffs der Rechtsprechung gegen- über dem der Verwaltung geliefert hat2 und das Wesen der Rechtsprechung im materiellen Sinne in der streitentscheidenden Gesetzesanwendung sieht. Flume lehnt diese Auffassung ab3; er meint, daß es „einen anderen ma- teriellen Begriff der Rechtsprechung als den der Feststellung und Verkün- dung dessen, was Rechtens ist", nicht geben könne (S. 79). Diesem Begriff unterfalle aber auch ein „Verwaltungsakt" wie der Steuerbescheid, „der nichts anderes zum Inhalt hat, als die Feststellung dessen, was Rechtens ist".

Eine Stellungnahme zu der Flume -Friesenhahn sehen Kontroverse über Begriff und Wesen der materiellen Rechtsprechung würde eine ein- gehende grundsätzliche Untersuchung erfordern; eine solche ist hier nicht möglich. Sie ist aber auch in diesem Zusammenhang entbehrlich, da die F lu m esche Argumentation gegenüber Friesenhahn in der hier interes- sierenden Hinsicht bereits daran scheitert, daß der Steuerbescheid sehr wohl mehr und anderes zum Inhalt hat, als die bloße Feststellung dessen, was Rechtens ist. Damit ist die Frage nach dem Rechtscharakter des Steuer- bescheids angeschnitten, die eine nähere Prüfung erfordert.

b) Mit besonderer Schärfe betont Flume den Unterschied zwischen „Handeln kraft eigener Initiative" und „kognitiver Feststellung dessen, was Rechtens ist" (S. 75), zwischen den „Akten der Verwaltung, die ein Handeln in eigener Initiative darstellen", und denen, „die auf Feststellung dessen,

1 Vgl. dazu auch S. 87: „. . . abgesehen von der Vollstreckung der Steuerbe- scheide, die im Prinzip nichts anderes ist als die Vollstreckung von zivilen Urtei- len . . ."

2 „Über Begriff und Arten der Rechtsprechung unter besonderer Berücksich- tigung der Staatsgerichtsbarkeit nach dem Grundgesetz und den westdeutschen Landesverfassungen" in der Festschrift für Richard Thoma zum 75. Geburtstag am 19. Dezember 1949, Tübingen (Mohr) 1951 S. 21-69; auch als Sonderdruck er- schienen.

3 Es verdient hervorgehoben zu werden, daß Flume die Friesen h ah nsche Lehre immerhin insofern ausdrücklich billigt, als „Rechtsprechung nur durch einen unbeteiligten Dritten erfolgen könne" (S. 80/81).

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was Rechtens ist, gerichtet sind" (S. 77/78), zwischen dem „verwaltungs- mäßigen Handeln" und der „Rechtsanwendung durch Verwaltungsbehörden im Sinne der Feststellung und Verkündung dessen, was Rechtens ist" (S. 88) ; es bestehe zwischen beidem eine „abgrundtiefe Kluft" (S. 88), es handele sich dabei um „etwas in der Essenz so grundsätzlich Verschiedenes, daß dem- gegenüber die Gemeinsamkeiten, daß der Akt von einer Behörde ausgeht und daß er hoheitliche Verbindlichkeit beansprucht, verblassen" (S. 75). Mit Überraschung liest man auf S. 75, daß die berühmte Definition Otto Mayers „zweifellos unzutreffend" sei, wonach der Verwaltungsakt „ein der Verwaltung zugehöriger obrigkeitlicher Ausspruch" ist, „der dem Untertanen im Einzel- fall bestimmt, was für ihn Rechtens sein soll"1, weil ein Akt verwaltungs- mäßigen Handelns - sicher ein echter Verwaltungsakt - nicht unter diese Definition falle, denn er sei nicht Ausspruch dessen, „was Rechtens ist". Zutreffend und mit Recht hat hiergegen bereits Alfred Riewald2 einge- wandt: „Hier wäre eine größere Deutlichkeit am Platze. Wenn auch nicht jeder Akt verwaltungsmäßigen Handelns, so hat doch mindestens jede „Ver- fügung" einer Verwaltungsbehörde rechtsgestaltende Wirkung, d.h. sie bestimmt, was Rechtens „sein soll"; ein Wink des Polizeibeamten ζ. Β. be- gründet die Verpflichtung zum Weitergehen. Andererseits setzt sie eine Prüfung voraus, ob die Verpflichtung begründet werden darf; man kann in ihrem Erlaß also in gewissem Sinne auch eine Feststellung erblicken, daß die Verfügung begründet werden darf, eine Feststellung ,was Rechtens ist4." Insbesondere gilt dies für den belastenden Verwaltungsakt, der stets Rechtsanwendung darstellt (vgl. Art. 20 Abs. 2 des Bonner Grundgesetzes), die eben - was Flume außer acht läßt - sowohl in der Rechtsprechung (= verselbständigter Ausspruch dessen, was Recht ist) als auch in der Ver- waltung (= Konkretisierung der Rechtsordnung in einem Einzelfall im Hin- blick auf einen bestimmten Zweck) vorliegt. In beiden Bereichen der Staats- tätigkeit gibt es ferner „gestaltende" und nur „feststellende" Staatsakte, woraus sich ergibt, daß die F lume sehe Formulierung „kognitive Feststel- lung dessen, was Rechtens ist", eine unzulässige Verbindung zweier Begriffe (kognitiv; Feststellung des Rechts) darstellt, die auf zwei ganz verschiedenen Ebenen liegen.

Beim Steuerbescheid, den Flume als Akt „materieller Rechtsprechung" den Akten verwaltungsmäßigen Handelns gegenüberstellt, ist es nicht anders, wie ich bereits in zwei Abhandlungen in den Jahren 1939 und 1940 3 ein- gehend dargetan habe. Die genaue Analyse des Wesens und der Funktionen des Steuerbescheids ergibt nämlich, daß dieser nicht rein deklaratorisch wirkt, daß er vielmehr entscheidungsmäßige und gestaltende Elemente in sich ver- einigt, daß er teils rechtsfeststellend (deklaratorisch), teils rechtsbegründend (konstitutiv) wirkt, daß er sowohl rechtsfeststellende als auch rechtsgestal-

1 „Deutsches Verwaltungsrecht", München und Leipzig (Duncker & Humblot), 2. Aufl. 1914, Bd. I S. 95. Hervorhebung von mir.

2 A. a. ü. 3 ,, S teuerrecht und materielle Rechtskraft in Fischers Zeitschnt tur Ver-

waltungsrecht Bd. 77 (1939) S. 241-270, besonders S. 254-257; „Zum Problem der materiellen Rechtskraft von Steuerverwaltungsakten, insbesondere von Steuerbe- scheiden" in Verwaltungsarchiv Bd. 45 (1940) S. 49-73, besonders S. 62-64.

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tende Funktionen zu erfüllen hat. Nach richtiger und nunmehr vorherrschen- der Meinung1 ist der Steuerbescheid ein zusammengesetzter, ein gemischter Verwaltüngsakt, ein „konstitutives Urteil", ein Akt „mit konstitutivem Ur- teilsinhalt" (Otto Mayer). Diese Meinung hat die folgenden Gründe auf ihrer Seite:

Für jeden Steuerbescheid sind zwei Voraussetzungen wesentlich: einmal die Anforderung eines „bestimmten Betrages" (vgl. § 212 AO.) und so- dann die „Beanspruchung" (vgl. § 212 AO.) des festgesetzten Steuer- betrages. Beide Bestandteile des Steuerbescheids können und müssen hin- sichtlich ihrer Eechtswirkung scharf unterschieden werden. Dabei ist aller- dings zuzugeben, daß es nicht einfach ist, zu einer reinlichen Scheidung der verschiedenen Funktionen des Steuerbescheids zu gelangen, die Grenzen zwischen Feststellungs- und Gestaltungswirkung zu ziehen. Diese Schwierig- keit der Abgrenzung kann jedoch nicht den Schluß auf das Nicht Vorhanden- sein einer Grenze rechtfertigen.

Die Festsetzung des Steuerbetrages wirkt für die Steuerschuld nicht rechtsbegründend (konstitutiv), sondern nur rechtsfeststellend oder rechts- bestätigend (deklaratorisch). Denn zur Entstehung gelangen der Steuer-,, An- spruch" und die ihm entsprechende Steuer-,, Schuld" nach § 3 Abs. 1 des Steueranpassungsgesetzes bereits mit der Verwirklichung des Tatbestandes, an den das Gesetz die Steuer knüpft. Hingegen folgen aus der Entstehung der Steuerschuld kraft Gesetzes noch nicht die Notwendigkeit und der Zeit- punkt der Festsetzung, der Fälligkeit und der Zahlbarkeit (Entrichtung) der Steuer. Die Feststellung, daß eine Steuerschuld kraft Gesetzes bereits ent- standen sei, hat also im weiteren Verlauf des Steuer verfahrene gestaltende Funktionen zu erfüllen. So hängen unmittelbar mit dem Erlaß des Steuer- bescheids die Fälligkeit der Steuerschuld, die Befugnis zur Einlegung des Rechtsmittels gegen die im Bescheid getroffene behördliche Feststellung und das Recht zur Beitreibung der festgesetzten Geldsumme zusammen. Wenig-

1 Außer den von mir a. a. 0. S. 254 Anm. 44 bzw. S. 62 Anm. 57 Genannten (Giese, Hensel, Köttgen, Mirbt) neuerdings etwa Bühler a.a.O. S. 325: „in der Hauptsache hat der Steuerbescheid . . . rechtsfeststellende und rechts- bestätigende (deklaratorische) Wirkungen, gewisse konstitutive Elemente enthält er aber doch auch sofern 1. mit seiner Bekanntgabe eine Bindung des Finanzamts entsteht, so daß dieses nur mit Zustimmung des Pflichtigen den Be- scheid noch ändern kann ... 2. sofern er für den Schuldner die Schuld konkreti- siert und inhaltlich genau bestimmt, auch die Rechtsmittelfrist und damit den Prozeß der rechtskräftigen Feststellung der Schuld in Gang setzt"; Riewald, Alfred: „Reichsabgabenordnung und Steueranpassungsgesetz" Teil II, Berlin und Köln (Heymann) 1951, § 210 Anm. 1 (1) S. 253: „'Steuerfestsetzung' ist eine Verfügung, durch die die Behörde das Vorliegen einer Steuerschuld feststellt und die ihr entsprechende Steuerzahlungsschuld begründet", Anm. 1 (5) S. 255: „Die Steuerfestsetzung bedeutet zweierlei: die Feststellung der Steuerschuld und die Begründung der entsprechenden Steuerzahlungsschuld. Mit der „Feststellung" der Steuerschuld ist ihre Konkretisierung gemeint . . . Dies kann man als Feststel- lungswirkung des Steuerbescheids bezeichnen . . . Die ,Begründung der entspre- chenden Steuerzahlungsschuld' ist eine konstitutive Wirkung der Steuerfest- setzung"; Riewald in Deutsches Verwaltungsblatt a.a.O.: „Durch den Steuer- bescheid wird festgestellt, daß eine Verpflichtung zur Zahlung der Steuer be- gründet werden darf, und es wird gleichzeitig die Verpflichtung zur Zahlung be- gründet."

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stens insoweit sind daher dem Steuerbescheid auch gestaltende Wirkungen zuzuerkennen. Rechtsbegründend (konstitutiv) wirkt also jedenfalls der zweite wesentliche Bestandteil jedes Steuerbescheids, die „Beanspruchung", d. h. die hoheitliche Anforderung des Steuerbetrags, für dessen Fälligkeit. Diese Wirkung tritt - mit Ausnahme der etwa vorgeschriebenen, zu früheren Zeitpunkten fällig werdenden Vorauszahlungen - sofort oder befristet im Zeitpunkt der Zustellung des Steuerbescheids ein.

Dafür, daß der Steuerbescheid die Verpflichtung zum Zahlen begründet, sie nicht nur aufdeckt, weist Riewald1 auf zwei weitere Gesichtspunkte hin : Die im Steuerbescheid festgesetzte Steuer müsse, so lange der Bescheid nicht aufgehoben sei, entrichtet werden, auch wenn der Steuertatbestand in Wirklichkeit nicht gegeben sei, also vor Erlaß des Steuerbescheids irgend- welche Verpflichtung dessen, an den der Bescheid gerichtet worden sei, nicht bestanden habe; deutlich werde die rechtsbegründende, rechtsgestaltende Wirkung des Steuerbescheids insbesondere auch beim Blick auf Ermessens- entscheidungen, die u. U. im Steuerbescheid zu treffen seien, z. B. im Falle des § 34 des Einkommensteuergesetzes, wenn die Steuer für gewisse außer- ordentliche Einkünfte im Steuerbescheid von 10 bis 40 ν. Η. festzusetzen sei. Erst aus dem Erlaß des Steuerbescheids ergebe sich der zahlenmäßige Betrag der Zahlungsverpflichtung.

VI. 1. Einen weiteren Beweis für die Richtigkeit seiner Auffassung, daß die Steuerfestsetzung „Rechtsanwendung, Rechtsprechung im materiellen Sinne, und nicht verwaltungsmäßiges Handeln" sei, sieht Flume im Rechtsmittelverfahren gegen die Steuerfestsetzung (V.Abschnitt, S. 89-97). Sei die Veranlagungstätigkeit der Finanzverwaltung nur materiell Rechtsprechung, so sei die Tätigkeit der Steuergerichte im Rechtsmittel- verfahren gegen Steuerbescheide materiell und formell Rechtsprechung, keineswegs Verwaltung (S. 89). „Die inhaltliche Übereinstimmung der Steuer- veranlagung durch die Finanzverwaltung und der Entscheidung des Finanz- gerichts unterscheidet das finanzgerichtliche Urteil im Rechtsmittelverfahren gegen Steuerbescheide grundsätzlich von dem verwaltungsgerichtlichen Ur- teil über einen Verwaltungsakt im Sinne verwaltungsmäßigen Handelns" (S. 89/90).

Der Verwaltungsakt als Akt verwaltungsmäßigen Handelns und das verwaltungsgerichtliche Urteil als rechtliche Kontrolle dieses Handelns stün- den auf verschiedenen Ebenen. Der Verwaltungsakt sei auf den Lebenssach- verhalt bezogen, in den der Handelnde eingreife; das verwaltungsgericht- liche Urteil greife dagegen nicht unmittelbar in den Lebenssachverhalt ein. Zur rechtlichen Beurteilung des Verwaltungshandelns müsse das Verwaltungs- gericht zwar von dem Lebenssachverhalt ausgehen, es entscheide aber nicht unmittelbar über diesen Sachverhalt, sondern über den für ihn ergangenen Verwaltungsakt oder die Unterlassung eines Verwaltungsaktes. „Wenn das verwaltungsgerichtliche Urteil den Lebenssachverhalt selbst unmittelbar als Beziehungspunkt hätte, so müßte es auch selbst handeln und wäre damit kein Urteil mehr" (S. 90).

1 Deutsches Verwaltungsblatt a. a. O.

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Das Verhältnis des finanzgerichtlichen Urteils zum Steuerbescheid sei ein ganz anderes als das des verwaltungsgerichtlichen Urteils zu dem durch es kontrollierten Verwaltungsakt. Im steuerlichen Rechtsmittelverfahren sei es genau so wie im Rechtsmittelverfahren der Zivil- und der Strafgerichts- barkeit. Das Rechtsmittelgericht nehme hier zwar seinen Ansatz bei dem vorinstanzlichen Urteil; es prüfe, ob das Urteil richtig sei, und weise das Rechtsmittel im Falle der Bejahung dieser Frage zurück. ,,Das Rechtsmittel- verfahren hat aber das vorinstanzliche Urteil nur als Ansatzpunkt, entschie- den wird unmittelbar über den Lebenssachverhalt und nicht über den Urteils- akt der Vorinstanz" (S. 90). Die unmittelbare Beziehung zum Lebenssach- verhalt habe auch das Urteil des Revisionsgerichts, selbst wenn für dieses die Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz bindend seien. Anders sei es im zivil- und im strafgerichtlichen Rechtsmittelverfahren nur, wenn ein Verfah- rensurteil ergehe, d. h. die vorinstanzliche Entscheidung wegen Verfahrens- mängeln aufgehoben, die Sache selbst aber nicht entschieden werde. Ein sol- ches Urteil stehe zum vorinstanzlichen Urteil in der gleichen Beziehung wie ein verwaltungsgerichtliches Urteil zu dem von ihm kontrollierten Verwaltungs- akt. Die Sachentscheidung werde aber durch das Verfahrensurteil nicht aus- geschlossen, sondern bleibe offen. Auch im steuerlichen Rechtsmittelver- fahren ,,ist der Steuerbescheid nur der Ansatzpunkt, entschieden wird über die Sache selbst, ob und in welcher Höhe eine Steuerpflicht auf Grund der Verwirklichung eines Steuertatbestandes besteht" (S. 91).

2. Meines Erachtens erweist sich auch hier klar, daß sich Flumes Un- terscheidung von Sachentscheidungsnormen und Handlungsnormen nicht immer und überall durchführen läßt und daß sie Zusammengehöriges aus- einanderreißt. Es kann und soll hier dahingestellt bleiben, ob im zivilgericht- lichen und im strafgerichtlichen Rechtsmittelverfahren - abgesehen von den Verfahrensurteilen - wirklich nur über den Lebenssachverhalt und nicht auch über den Urteilsakt der Vorinstanz entschieden wird und ob das zivilgericht- liche und das strafgerichtliche Verfahrensurteil zum vorinstanzlichen Urteil wirklich in der gleichen Beziehung wie das verwaltungsgerichtliche Urteil zu dem von ihm kontrollierten Verwaltungsakt steht. Denn jedenfalls trifft Flumes Behauptung, daß die Finanzgerichte im Rechtsmittelverfahren gegen Steuerbescheide nur Sachentscheidungen nach Sachentscheidungs- normen zu fällen hätten, nicht zu. Vielmehr haben sie - „als die das Handeln der Finanzverwaltung kontrollierenden Verwaltungsgerichte" (so die Cha- rakterisierung der Stellung und Aufgabe der Finanzgerichte durch Flume selbst auf S. 91) - auch darüber zu befinden - und zwar nach „Handlungs- normen" ! -, ob der durch die Finanz ver waltung vorgenommene Handlungs- akt (vgl. oben unter V 2 b) der Steuerfestsetzung rechtmäßig ist.

Die hier vertretene Auffassung, daß das Verhältnis des finanzgericht- lichen Urteils zum Steuerbescheid entgegen Flumes Meinung nicht ,,ein ganz anderes als das des verwaltungsgerichtlichen Urteils zu dem durch es kontrollierten Verwaltungsakt" ist, daß es im steuerlichen Rechtsmittel ver- fahren entgegen Flumes Meinung nicht „genau so wie im Rechtsmittel- verfahren der Zivil- und Strafgerichtsbarkeit" ist, wird durch die im Ent- wurf vorliegende Finanzgerichtsordnung nachdrücklich bestätigt. Aus der

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zutreffenden Erkenntnis heraus, daß das Rechtsmittel gegen Steuerbescheide nicht „Berufungs-", sondern „Anfechtungs"-Charakter hat, haben die Ver- fasser dieses Entwurfs das bisherige Berufungsverfahren der Abgabenordnung neuartig in der Bezeichnung und eindeutig in der Sache zu einem regelrechten „Anfechtungsverfahren*

' (mit „Vorverfahren") entsprechend demjenigen der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit um- und ausgestaltet.

VII. 1. Eine besondere Verdeutlichung des Unterschiedes des verwal- tungsgerichtlichen Urteils als Kontrolle verwaltungsmäßigen Handelns nach Handlungsnormen einerseits und der Sachentscheidung nach Sachentschei- dungsnormen anderseits sieht Flume in der Behandlung von Ermessens- fragen (S. 97-101). Im Anschluß an die Unterscheidung von Handlungs- normen und Sachentscheidungsnormen unterscheidet er zwischen „Hand- lungsermessen" und „Urteilsermessen".

a) Es sei „bewährte Tradition", daß im verwaltungsgerichtlichen Ver- fahren zur Kontrolle verwaltungsmäßigen Handelns das Verwaltungsgericht nicht sein Ermessen an die Stelle des in dem angefochtenen Akt von der Verwaltungsbehörde betätigten Ermessens setzen dürfe. „Würde das Ver- waltungsgericht sein Ermessen an die Stelle des Ermessens der Verwaltungs- behörde setzen, so würde es nicht mehr über die Handlung der Verwaltungs- behörde rechtlich urteilen, sondern selbst handeln, was nicht seine Aufgabe ist" (S. 97). Nicht um solches „Handlungsermessen", sondern um „Urteils- ermessen" handele es sich, soweit bei der Feststellung dessen, was Rechtens ist, auf das Ermessen des Urteilenden abgestellt sei - was im Steuerrecht nach dem Wortlaut der gesetzlichen Bestimmungen durchaus die Ausnahme bilde. „Weil durch das Sachurteil über den Lebenssachverhalt selbst und nicht über das vorinstanzliche Urteil geurteilt wird, so ist es selbstverständ- lich, daß das Urteilsermessen der Vorinstanz nicht für das Rechtsmittelgericht bindend sein kann. Denn ohne eigene Ausübung des Urteilsermessens könnte das Rechtsmittelgericht, wenn Ermessensfragen für die Beurteilung bestehen, über den Lebenssachverhalt gar nicht urteilen. Für die Rechtsmittelent- scheidung, die Sachurteil ist, ist die Betätigung eigenen Urteils-Ermessens durch das Rechtsmittelgericht ebenso begriffsnotwendig, wie andererseits für die rechtliche Beurteilung verwaltungsmäßigen Handelns durch das Ver- waltungsgericht die Betätigung eigenen verwaltungsmäßigen Ermessens sei- tens des Verwaltungsgerichts begriffsnotwendig ausgeschlossen ist" (S. 98).

b) Das bei verwaltungsmäßigem Handeln der Finanzverwaltung be- tätigte Ermessen sei ein Handlungsermessen, ein verwaltungsmäßiges Er- messen. Im Rechtsmittelverfahren gegen solches verwaltungsmäßiges Han- deln könne das Finanzgericht nicht sein Ermessen an die Stelle des Ermes- sens der Finanzverwaltung setzen, weil es nicht selbst auf den Lebenssach- verhalt bezogen handeln, sondern nur die Rechtmäßigkeit des verwaltungs- mäßigen Handelns nach Handlungsnormen beurteilen solle. Das Finanzge- richt habe also nur zu prüfen, ob die Grenzen des Ermessens, insbesondere die Grenzen von „Recht und Billigkeit", eingehalten seien. „Das Handlungs- ermessen, z. B. bei der Steueraufsicht, dem Erlaß und der Stundung ist nur auf die Rechtmäßigkeit nachzuprüfen. Das Finanzgericht hat nicht sein Er- messen an die Stelle des Ermessens des Finanzamts zu setzen, weil das Han-

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dein der Finanzverwaltung nur zu überprüfen ist, das Finanzgericht aber nicht an Stelle des Finanzamts handeln soll" (8. 100). Zum Beweis der Rich- tigkeit dieser Auffassung meint Flume, sich auf die folgenden Ausführungen des Großen Senats des Bundesfinanzhofs unter Ziffer 7 des Gutachtens vom 17. April 1951 Gr. S. D 1/51 S (Bundessteuerblatt 1951 III S. 107-110 = Steuer und Wirtschaft 1951 Nr. 97 = Juristenzeitung 1951 S. 596-599) be- rufen zu können: „Die Steuergerichte haben bei reinen Ermessensakten der Finanzverwaltungsbehörden lediglich das Recht und die Pflicht zur Prü- fung, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens durch die Finanzverwal- tungsbehörden eingehalten sind. Sie sind nicht berechtigt, selbst das Ermessen auszuüben". Dieser Feststellung sei beizupflichten, wenn auch der Terminus ,, reines Ermessen" mißverstanden werden könne; „Gemeint ist vom Bundesfinanzhof das Handlungsermessen im Gegensatz zum Urteils- ermessen" (S. 100).

c) „Anders" als im Falle des Handlungsermessens sei es, „wenn Urteils- ermessen bei der Anwendung von Rechtsnormen zu üben ist, durch welche die Steuerpflicht bestimmt wird" (S. 100). So sei das Ermessen, das bei der Anwendung des § 7 des Steueranpassungsgesetzes zu betätigen ist (vgl. oben unter Β II 2 und 3), Urteils-, nicht Handlungsermessen; im Rechtsmittel- verfahren habe deshalb das Finanzgericht sein Ermessen an die Stelle des Ermessens des Finanzamts zu setzen (S. 67 Anm. 13). Sei das Bestehen oder die Höhe einer Steuerschuld oder sonstigen Steuerpflicht Voraussetzung eines Handelns der Finanzverwaltung nach Ermessen, so könne es vorkommen, daß zugleich für das Bestehen oder die Höhe der Steuerpflicht oder das Be- stehen einer sonstigen Pflicht vom Gesetz auf das Urteilsermessen ab- gestellt sei. Das Finanzamt habe dann gleichzeitig Urteilsermessen hinsicht- lich der Rechtsfeststellung und Handlungsermessen hinsichtlich des verwal- tungsmäßigen Handelns zu betätigen. Zur Nachprüfung des Finanzgerichts stehe in diesem Falle der Akt verwaltungsmäßigen Handelns. Das Finanz- gericht habe im Rechtsmittelverfahren gegen diesen Akt hinsichtlich des Urteilsermessens sein Ermessen an die Stelle des finanzamtlichen Ermessens zu setzen. „Denn es handelt sich insoweit um die Überprüfung der rechtlichen Grenzen, innerhalb deren das Finanzamt sein - nicht ersetzbares, sondern nur überprüfbares - verwaltungsmäßiges Ermessen nachzuprüfen hat" (S. 100)1.

2. Flumes Sich-Berufen auf den Bundesfinanzhof im Bereich der Er- messensfragen erscheint in mehrfacher Hinsicht bedenklich und anfechtbar.

a) Das gilt zunächst für seine Unterscheidung von „Handlungsermessen" und „Urteilsermessen" überhaupt. Insoweit ist zunächst festzustellen, daß der Bundesfinanzhof die Entgegensetzung zweier Ermessensarten in dieser Formulierung nicht kennt bzw. nicht verwendet. Er gebraucht vielmehr an mehreren Stellen des fraglichen Gutachtens nur die Ausdrücke „reine Er- messensakte der Finanzverwaltungsbehörden" (unter Ziff. 5 Abs. 2 und 4, Ziff. 6 Abs. 2 und Ziff. 7 Abs. 1), „reine Ermessensakte der Verwaltungs- behörden" (unter Ziff. 6 Abs. 1), „reine Ermessensakte" (unter Ziff. 6 Abs. 2),

1 Vgl. dazu auch den oben unter b wiedergegebenen Satz aus dem BFH.-Gut- achten.

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„reine Ermessensakte der Ministerien" (unter Ziff. 6 Abs. 5). Das Wesen dieser Akte bestehe darin, „daß die Ausübung des Ermessens grundsätzlich den Verwaltungsbehörden zusteht, die Gerichte nur das Recht und die Pflicht haben, zu prüfen, ob die Verwaltungsbehörden die Grenzen des Ermessens eingehalten haben, ob also bei Ausübung des Ermessens kein Verstoß im Sinne des Gesetzes vorgekommen ist" (unter Ziff. 6 Abs. 2)1.

Obwohl diese Charakterisierung des „reinen Ermessens" mit derjenigen des Handlungsermessens durch Flume übereinstimmt, ergibt doch das Gut- achten des Bundesfinanzhofs in keiner Weise, welches nach seiner Meinung der Gegensatz zu einem „reinen Ermessensakt" bzw. zum „reinen Ermessen" ist und worin das Wesen eines nicht „reinen Ermessensaktes" bzw. des nicht „reinen Ermessens" besteht. Erscheint es schon insofern ungerechtfertigt, wenn Flume den Bundesfinanzhof ohne nähere Untersuchung und Begrün- dung einfach dahin interpretiert, daß dieser mit „reinem Ermessen" das Handlungsermessen im Gegensatz zum Urteilsermessen gemeint habe (S. 100), so kommt ein weiteres Bedenken hinzu: Obwohl er selbst einräumt, daß der Ausdruck „reines Ermessen" mißverstanden werden kann, und obwohl ihm - wie sein Zitat in der Anmerkung £4 auf S. 100 beweist - durchaus bekannt ist, daß die auf das „reine Ermessen" bezüglichen Stellen des Bundesfinanz- hofsgutachtens im Schrifttum von mehreren Seiten und mit beachtlichen Gründen angegriffen worden sind2, pflichtet Flume dem Bundesfinanzhof kritik- und vorbehaltslos bei. In Hinblick auf die große Bedeutung des in Frage stehenden Problems kann ein solches Vorgehen jedoch nicht gebilligt werden.

b) Auf S. 97/98 führt Flume aus: „Es ist bemerkenswert, daß der Bundesfinanzhof in letzter Zeit wiederholt im Rechtsmittelverfahren gegen Steuerbescheide die Ansicht der Finanzämter zurückweisen mußte, daß das Finanzgericht nicht bei Ermessensentscheidungen sein Ermessen an die Stelle des Ermessens des Finanzamts setzen könne, wenn dieses seine Ermessens- grenzen nicht überschritten habe. Gemäß bewährter Tradition hat der Bun- desfinanzhof entschieden, daß im Rechtsmittelverfahren gegen Steuerbe- scheide die Betätigung des eigenen Ermessens an Stelle des Finanzamts gerade die Aufgabe der Finanzgerichte ist." Flume beruft sich dafür auf das Gut- achten des Großen Senats vom 17. April 1951 Gr. S.D 1/51 S (a.a.O.) und die Urteile des IV. Senats vom 2. Februar 1951 IV 44/50 S (Bundessteuer- blatt 1951 III S. 55/56 = Steuer und Wirtschaft 1951 Nr. 65) und 23. Fe-

1 Vgl. auch Urteil des Bundesfinanzhofs vom 29. Januar 1952 I 103/51 U in BStBl. III S. 57-59, S. 58: „Es wäre mit den Grundsätzen der Gewaltenteilung nicht vereinbar, wenn die Steuergerichte bei reinen Ermessensentscheidungen (Kr- messensakte der Verwaltung) auf Grund von Erwägungen, die im Ergebnis nicht die Ermessensgrenzen berühren, sondern lediglich ein abweichendes Ermessen im Rahmen der Ermessensgrenzen darstellen, in die Maßnahmen und damit in die Zuständigkeit der Verwaltung eingreifen würden."

2 Vgl. die Besprechungen des Gutachtens von Zitzlatt m «teuer unü Wirt- schaft 1951 Sp. 723-727, besonders unter Ziff. 3 (Sp. 726/27), Stieler ebenda Sp. 727-729, besonders unter Ziff. 1 (Sp. 728) und Loewer -ebenda Sp. 729-734, besonders Abs. 3 bis 5 (Sp. 730/31); aber auch Hoffmann, „Die Bedeutung des Art. 19 Abs. 4 GG. für die Finanzgerichtsbarkeit" in Deutsche Steuer-Rundschau 1952 S. 285-287.

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bruar 1951 IV 81/50 S (Bundessteuerblatt 1951 III S. 77-79 = Steuer und Wirtschaft 1951 Nr. 86) sowie des I. Senats vom 17. Juli 1951 I 58/51 U (Bundessteuerblatt 1951 III S. 160/61). Dazu ist festzustellen:

1. Sowohl der IV. (im Urteil vom 2. Februar 1951) als auch der I. Senat (im Urteil vom 17. Juli 1951) des Bundesfinanzhofs hat uneingeschränkt aus- gesprochen, daß Steuerbescheide ,, keine Ermessensentscheidungen" seien, da im allgemeinen hier der Gesetzgeber nach § 3 Abs. 1 des Steueranpassungs- gesetzes die Steuern an einen fest umrissenen Tatbestand geknüpft habe (so die Begründung des IV. Senats) bzw. da der Steuerbescheid eine einheitliche Verfügung sei, gegen die es nur ein einheitliches Rechtsmittelverfahren gebe, und die Rechtsmittelbehörden nach § 244 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung die Befugnisse hätten, die das Finanzamt im Besteuerungsverfahren habe (so die Begründung des I. Senats). Demgemäß treffe der in den Verwaltungs- gerichtsbarkeitsgesetzen ausgesprochene Grundsatz, daß das Gericht bei Er- messensentscheidungen der Verwaltungsbehörden nur in begrenztem Rahmen ein Nachprüfungsrecht habe, auf Ermessensentscheidungen, die im Rahmen der Veranlagung ergingen, nicht zu (so der I. Senat).

Die Aussage der beiden Senate des Bundesfinanzhofs, daß Steuerbe- scheide keine Ermessensentscheidungen seien, geht in ihrer Formulierung gewiß zu weit, da der Gesetzgeber ,,in Sonderfällen in die Steuerfestsetzung auch Ermessensfragen eingeschaltet" hat (so der IV. Senat selbst; vgl. dazu unten unter 2), da u. U. Ermessensentscheidungen im Steuerbescheid zu treffen sind - man denke beispielsweise an die Verbrauchsbesteuerung nach § 48 des Einkommensteuergesetzes oder die Besteuerung gewisser außer- ordentlicher Einkünfte nach § 34 des Einkommensteuergesetzes, wonach die Steuer im Steuerbescheid auf 10 bis 40 ν. Η. festzusetzen ist. Immerhin be- weist sie - auch und gerade unter Berücksichtigung der hier für notwendig erklärten Einschränkung -, daß Flumes Formulierung, entsprechend „be- währter Tradition" sei ,,im Rechtsmittel verfahren gegen Steuerbescheide die Betätigung des eigenen Ermessens an Stelle des Finanzamts gerade die Aufgabe der Finanzgerichte" in dieser Allgemeinheit unrichtig ist.

2. Daß die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs Flumes Behauptung sachlich nicht trägt, ergibt sich erst recht bei einer Einzelbetrachtung der einschlägigen Urteile.

Das erste Urteil vom 2. Februar 1951 betrifft einen Fall der Verbrauchs- besteuerung nach § 48 des Einkommensteuergesetzes. Nach der Aussage, daß Steuerbescheide keine Ermessensentscheidungen seien, fährt das Urteil fort: „Der Gesetzgeber hat nun in Sonderfällen in die Steuerfestsetzung auch Ermessensfragen eingeschaltet, so bei der Verbrauchsbesteuerung des § 48 EStG. Da die Steuerfestsetzung in einem einheitlichen Verfahren vorgenom- men wird, hat hier der Gesetzgeber auch die Nachprüfung der Ermessens- fragen in vollem Umfange dem Finanzgericht übertragen. Gegen den Steuer- bescheid und den Einspruchbescheid steht dem Steuerpflichtigen lediglich die Berufung zu (§§ 261, 263 AO.). Es gibt hier kein gesondertes Beschwerde- verfahren für die Ermessensfragen vor den Verwaltungsbehörden. Im Inter- esse der Vereinfachung erfolgt die Nachprüfung der Entscheidung des Fi- nanzamts in einem einheitlichen Verfahren, das auch die volle Nachprüfung 2 Finanzarchiv N. F. 14 Heft 1

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der Ermessensfragen in sich schließt. Das Finanzgericht kann deshalb im Veranlagungsverfahren sein Ermessen an die Stelle der Vorentscheidung setzen, wenn es bei seiner Würdigung von dem Ermessen des Finanzamts abweicht."

Das zweite Urteil vom 23. Februar 1951 verweist „im einzelnen" für seinen - stark verallgemeinernden - Satz „Das Finanzgericht ist vielmehr hier (bei Berufungen gegen Steuerbescheide und Beschwerdeentscheidungen der Oberfinanzdirektionen über Vorauszahlungsbescheide) berechtigt, sein Ermessen an die Stelle des Ermessens des Finanzamts zu setzen, wenn es vom Ermessen des Finanzamts abweicht" ausdrücklich auf die im vorigen Absatz wiedergegebene Entscheidung vom 2. Februar 1951, kann also nicht anders verstanden und in seinem Anwendungsbereich gewürdigt werden als jenes Urteil.

Im dritten Urteil vom 17. Juli 1951 schließlich tritt der I. Senat dem oben wiedergegebenen Rechtssatz des Urteils des IV. Senats vom 2. Februar 1951 bei, kann also ebenfalls nicht anders verstanden und in seinem Anwen- dungsbereich gewürdigt werden als jenes Urteil.

Wenn es auch richtig ist, daß Steuerbescheide in aller Regel keine Er- messensentscheidungen sind, so wird das, was Flume mit „Handlungs- ermessen" bezeichnet, doch in den einschlägigen Ausnahmefällen praktisch. Berücksichtigt man den oben unter V 2 b herausgearbeiteten Doppelcharakter des Steuerbescheids als sowohl rechtsfeststellenden als auch rechtsbegrün- denden Verwaltungsaktes, so darf für die fraglichen Ausnahmefälle Rie- walds1 Bemerkung Geltung beanspruchen: „Die Notwendigkeit der Er- messensausübung nimmt dem Steuerbescheid nicht den Charakter eines feststellenden Verwaltungsakts'." Wird ein solcher Steuerbescheid angefoch- ten, so darf und muß daher das Finanzgericht im Rahmen seiner Entschei- dung auch dieses Ermessen ausüben, in den früher erwähnten Beispielsfällen demgemäß darüber entscheiden, ob das Finanzamt mit Recht oder Unrecht die Verbrauchsbesteuerung nach § 48 des Einkommensteuergesetzes ange- wandt oder ob es den angemessenen Steuersatz zwischen 10 und 40 ν. Η. gewählt hat.

3. Flume hat es unterlassen, klarzulegen, was er unter „Urteilsermes- sen" versteht, so sehr auch sein Begriff des Handlungsermessens dem des „freien Ermessens" der Verwaltungsrechtslehre gleichgesetzt zu sein scheint. Insbesondere vermißt man außer einer wissenschaftlichen Definition des Be- griffes „Urteilsermessen" - die übrigens bei allen von Flume neu einge- führten Begriffen fehlt - eine Abgrenzung, ja überhaupt jedes Inbeziehung- setzen jenes Begriffes gegen die in der Rechtslehre sonst als Gegensatzbegriffe zum Verwaltungsermessen oder freien Ermessen gebräuchlichen Begriffe „richterliches Ermessen" und „gebundenes Ermessen".

Unter diesen letzteren Arten des Ermessens und wohl auch unter dem Urteilsermessen Flumes ist nichts anderes als die Auslegungsfreiheit des Richters und überhaupt jedes Anwenders von Rechtsnormen zu ver- stehen. Es ist also ganz mißverständlich, in diesen Fällen überhaupt von

1 Deutsches Verwaltungsblatt a. a. O.

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Steuerwesen und Rechtsordnung 19 £

„Ermessen" zu reden1. Darüber hinaus ist es unrichtig, wenn Flume mit dem Urteilsermessen eine exakte Entscheidungssicherheit und Entschei- dungsbestimmtheit meint. Über die Problematik von Rechtsanwendung und Auslegungsfreiheit, über den letztlich doch nicht logischen, sondern teleo- logischen Charakter und über den häufig weitgezogenen Rahmen der Aus- legung geben die Lehrbücher der Rechtsphilosophie und der Allgemeinen Rechtslehre eingehend Auskunft und wird in den bekannten einschlägigen, rechtstheoretischen Arbeiten von Philipp Heck, Rudolf Müller-Erzbach, Max Rümelin, Hermann Isay (Rechtsnorm und Entscheidung) und Erwin Rie zier (Das Rechtsgefühl) ausführlich gehandelt. Man muß erstaunt dar- über sein, wie Flume diese Problematik im allgemeinen - vor allem in seiner Kritik an einem Hinweis von Kurt Ball auf die letztlich doch nur in Gewissen und Rechtsgefühl des Richters liegende Verankerung richtiger Auslegung (S. 83, insbesondere Anm. 52) - und im besonderen in seiner Kri- tik des Begriffs der unbestimmten Rechtsbegriffe so sehr bagatellisieren kann.

Gegen diesen Begriff führt Flume nämlich auf S. 96/97 aus: „Die neuere Verwaltungsrechtsprechung mit der Tendenz, an Stelle der Ermessens- prüfung materielle Sachentscheidungen zu fällen, indem sie den unbestimm- ten Rechtsbegriff an die Stelle des Ermessens setzt, zeigt deutlich, wie pro- blematisch die Verrechtlichung der Verwaltung ist und daß ihr Grenzen ge- setzt sind." In diesen Ausführungen läßt er jede Auseinandersetzung mit der einschlägigen verwaltungsrechtlichen Literatur und vor allem Judikatur 2 vermissen. Aus diesen Unterlagen ergibt sich klar, daß die Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe geradezu das Schulbeispiel des richterlichen, gebundenen oder eben „Urteils* '-Ermessens ist und daß dies für die unbe- stimmten Rechtsbegriffe des öffentlichen Rechts (ζ. Β. öffentliches Interesse, Bedürfnis, Zuverlässigkeit) in gleicher Weise gilt wie für die aus dem Zivil- recht hervorgegangenen (z. B. Treu und Glauben, gute Sitten). Alle diese Rechtsbegriffe sind deshalb Musterbeispiele für Flumes Urteilsermessen, weil ihre Anwendung den Richter infolge ihrer Unbestimmtheit in ganz be- sonderem Maße auf sich stellt, seiner Auslegung gegenüber dem starren Wortlaut des Rechtssatzes den weitesten Spielraum läßt und ihm die Heran- ziehung der größtmöglichen Zahl von Auslegungsmitteln aufgibt. Nach alledem ist klar, daß die F lu m esche Unterscheidung zwischen Urteilser- messen und Handlungsermessen in Wahrheit nichts anderes zum Inhalt hat als die Unterscheidung zwischen Staatstätigkeit im Wege der Auslegung von Rechtsnormen (Rechtsanwendung) und Staatstätigkeit, die nur durch Rechts- satz (die Handlungsnorm Flumes!) angeordnet und abgegrenzt oder die gar überhaupt rechtsfrei ist.

Mithin gibt es Urteilsermessen nicht nur im Bereich der Rechtsprechung, wie dies Flume apodiktisch meint, sondern auch - wenn auch eben nicht in der Art des verselbständigten Ausspruches dessen, was Rechtens ist - im

1 Ebenso Forsthoff, Ernst: „Lehrbuch des Verwaltungsrechts", München und Berlin (Beck), 1. Aufl. 1950, S. 66 Anm. 2.

* btatt aller vgl. Ulinger, Hans: „Die Verordnung über die Verwaltungs- gerichtsbarkeit in der Britischen Zone", Göttingen (Schwartz), 1950, Anm. D 2 zu § 23, S. 101 ff. 2·

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Bereich jeder Staatstätigkeit, die an ihr übergeordnete Normen gebunden ist (vgl. Art. 1 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 2 des Bonner Grundgesetzes).

C. Im Vorstehenden wurde dargelegt; daß Flumes Ausführungen an zahl-

reichen Stellen der begrifflichen Schärfe und derjenigen Tiefe ermangeln, welche die Erörterung eines so anspruchsvollen Themas erfordert, und daß darüber hinaus ihr Ansatz" in manchen Punkten verfehlt erscheint. Es bleibt nunmehr nur noch zusammenzufassen und teilweise zu ergänzen, welches wirklich das in der Kritik an Flume bisher nur in Einzelheiten beleuchtete Verhältnis von Steuerwesen und Rechtsordnung ist.

1. Das Steuerwesen ist eine sachlich gesonderte Rechtsmaterie des öffent- lichen Rechts; mit diesem ist das Steuerrecht der Privatrechtsordnung, ins- besondere deren Teil der Zivilrechtsordnung, nicht unter-, sondern neben- geordnet.

2. Das Steuerrecht öteht zu einer alle Teilrechtsordnungen überwölben- den allgemeinen Rechtsordnung nicht im Verhältnis notwendiger Konkurrenz, sondern möglicherweise in einem Regel- Ausnahme Verhältnis; nur müssen seine obersten Sätze in die jeweilige Verfassungsordnung eingebettet sein.

3. Ein generelles Verbot der Änderung bestehenden Rechts durch neues Recht besteht ebenso wie allgemein so auch für das Steuerrecht nur in Gestalt des Art. 79 des Bonner Grundgesetzes.

4. Das Steuerrechtsverhältnis ist ebenso wie jedes Rechtsverhältnis so- wohl Rechtsverhältnis als auch Gewaltverhältnis, letzteres in dem Sinne, daß auch die Rechtsordnung eine Satzung der Staatsgewalt, daß sie eine Zwangs Ordnung ist und daß sie in ihrer Anwendung stets der Ergänzung durch die Ausübung freien Ermessens bedarf.

5. Das finanzgerichtliche Verfahren ist dem Verfahren der allgemeinen Verwaltungsgerichte wesensgleich; Finanzgerichte und allgemeine Verwal- tungsgerichte üben im wesentlichen Rechtsprechung im materiellen Sinn aus, können aber ebenso wie jeder Rechtsanwender auch (freie) Ermessensent- scheidungen fällen, wenn dies in dem anzuwendenden Rechtssatz bestimmt oder wenn auf die zu entscheidende Frage überhaupt kein Rechtssatz an- wendbar ist, eine Rechtsverweigerung aber wie stets nicht zulässig ist.

6. Finanzverwaltungsbehörden sind ebenso wie alle Verwaltungsbehör- den im Rechtsstaat in erster Linie Rechtsanwender, die durch Auslegung von Rechtssätzen im Einzelfall ermitteln (entscheiden, feststellen, festsetzen, anordnen), was Rechtens ist; daneben, besonders im Bereich der nichtbe- lastenden Verwaltung, üben sie im selben Sinne (freies) Ermessen aus, wie dies unter Ziffer 5 für die Gerichte dargelegt wurde. Der Umfang der Er- messensausübung im Verhältnis zur Rechtsanwendung ist in den einzelnen Verwaltungsbereichen davon abhängig, wie weit die betreffenden Materien durch Rechtsnormen geordnet sind. Da das Steuerrecht als rechtliche Rege- lung fast ausschließlich belastender Verwaltungstätigkeit das Steuerwesen in hohem Maße rechtlich erfaßt, spielt die Ermessensausübung im Bereich des Steuerwesens allerdings eine weit geringere Rolle als im Bereich anderer Verwaltungszweige, insbesondere als im Bereich der Daseinsvorsorge.

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