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34 | Elektrotechnik 10/15 Installations- und Gebäudetechnik Störlichtbögen sind gefürchtete Zwischenfälle in der elektrischen Energietechnik: Sie können den Weiterbetrieb von Leistungsabnehmern in Energieverteilungen einschränken oder gar unmöglich machen und so immense Folgekosten verursachen. Bei Menschen können sie schwere Verbrennungen, Schäden des Seh- und des Hörvermögens sowie Verletzungen durch wegfliegende Anlagenteile verursachen. Der folgende Beitrag zeigt den Stand der Technik zum Schutz von Personen und Anlagen auf. Störlichtbogenschutzsysteme – Schutzmassnahmen nach IEC/TR 61641 Laut eidgenössischem Starkstromins- pektorat ESTI konnte bis 2014 kein Rückgang von Elektrounfällen ver- zeichnet werden (siehe auch ET 1/2015 Seiten 54 bis 61). Nebst der elektri- schen Durchströmung sind Störlicht- bögen häufig die Ursache von lebens- gefährlichen Verletzungen. Gründe für die Entstehung solcher Störlichtbögen, Sicherheit für Personen und Anlagen Sebastian Gerber * können grundsätzlich in drei Katego- rien eingeteilt werden: Das sind zum einen Handhabungs- fehler einschliesslich Wartungs- und Inspektionen, bei Arbeiten an unter Spannung stehenden Teilen sowie dem Ersetzen von Sicherungen und Anschlüssen. Auch liegen gebliebene Fremdkörper wie Werkzeug oder Arbeitsmaterialien können Störlicht- bögen auslösen. Ein weiterer Ursachen-Schwerpunkt bilden betriebsbedingte Fehler. Dar- unter fallen beispielsweise Überspan- nungen, mangelhafte Isolationen, schlechte Kontaktierungen, fehler- hafte Dimensionierung oder eine zu hohe Packungsdichte eingebauter Geräte. Aber auch unverhältnismäs- sige Verschmutzungen sowie die Ent- stehung von Kondenswasser fallen in diesen Bereich. Als dritte Kategorie sind schliesslich noch Nagetierverbisse statistisch erfasst. Technische Definition des Störlichtbogens Bei einem Lichtbogen handelt es sich um eine elektrische Gasentladung mit hohem Strom zwischen zwei Elektro- den, die sich mit einer Geschwindigkeit von bis zu 100 m/s in Stromrichtung fortbewegt. Dabei bildet sich zwischen zwei aktiven Leitern oder einem aktiven und einem passiven Leiter ein elek- trisch leitfähiges Plasma, dessen Tem- peratur bis zu 20 000 °C betragen kann. Tritt dieser Lichtbogen nicht betriebs- mässig, sondern durch eine Störung auf, spricht man von einem Störlicht- bogen. Durch die hohe Temperatur kommt es zu einer explosionsartigen Druck- erhöhung von bis zu zwei Bar. Das ent- spricht dem Gewicht von 20 000 kg/m² und ist mit den Auswirkungen eines Sprengsatzes zu vergleichen. Bei Men- schen kann es dadurch zu schweren Verbrennungen, Schäden des Augen- lichtes durch den Lichtblitz, Beein- trächtigung des Hörvermögens durch den Detonationsknall sowie zu Verlet- zungen durch wegfliegende Anlagen- teile kommen. Zudem drohen Ver- Störlichtbogenprüfung ohne Schutzmassnahmen. * Sebastian Gerber, Product Manager Energie- systeme, Hager AG Schweiz, Emmenbrücke.

Störlichtbogenschutzsysteme – Schutzmassnahmen nach IEC · PDF fileStörlichtbogenbedingungen nach IEC/ TR 61641 dokumentiert. Zu beachten ist, dass diese Prüfung keine Bauartprü-fung

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Störlichtbögen sind gefürchtete Zwischenfälle in der elektrischenEnergietechnik: Sie können den Weiterbetrieb von Leistungsabnehmernin Energieverteilungen einschränken oder gar unmöglich machenund so immense Folgekosten verursachen. Bei Menschen können sieschwere Verbrennungen, Schäden des Seh- und des Hörvermögenssowie Verletzungen durch wegfliegende Anlagenteile verursachen.Der folgende Beitrag zeigt den Stand der Technik zum Schutz von Personenund Anlagen auf.

Störlichtbogenschutzsysteme – Schutzmassnahmen nach IEC/TR 61641

Laut eidgenössischem Starkstromins-pektorat ESTI konnte bis 2014 keinRückgang von Elektrounfällen ver-zeichnet werden (siehe auch ET 1/2015Seiten 54 bis 61). Nebst der elektri-schen Durchströmung sind Störlicht-bögen häufig die Ursache von lebens-gefährlichen Verletzungen. Gründe fürdie Entstehung solcher Störlichtbögen,

Sicherheit für Personenund Anlagen

Sebastian Gerber * können grundsätzlich in drei Katego-rien eingeteilt werden:• Das sind zum einen Handhabungs-

fehler einschliesslich Wartungs- undInspektionen, bei Arbeiten an unterSpannung stehenden Teilen sowiedem Ersetzen von Sicherungen undAnschlüssen. Auch liegen gebliebeneFremdkörper wie Werkzeug oderArbeitsmaterialien können Störlicht-bögen auslösen.

• Ein weiterer Ursachen-Schwerpunkt bilden betriebsbedingte Fehler. Dar-unter fallen beispielsweise Überspan-nungen, mangelhafte Isolationen,schlechte Kontaktierungen, fehler-hafte Dimensionierung oder eine zuhohe Packungsdichte eingebauterGeräte. Aber auch unverhältnismäs-sige Verschmutzungen sowie die Ent-stehung von Kondenswasser fallenin diesen Bereich.

• Als dritte Kategorie sind schliesslich noch Nagetierverbisse statistischerfasst.

Technische Definitiondes StörlichtbogensBei einem Lichtbogen handelt es sichum eine elektrische Gasentladung mithohem Strom zwischen zwei Elektro-den, die sich mit einer Geschwindigkeitvon bis zu 100 m/s in Stromrichtungfortbewegt. Dabei bildet sich zwischenzwei aktiven Leitern oder einem aktivenund einem passiven Leiter ein elek-trisch leitfähiges Plasma, dessen Tem-peratur bis zu 20 000 °C betragen kann.Tritt dieser Lichtbogen nicht betriebs-mässig, sondern durch eine Störungauf, spricht man von einem Störlicht-bogen.

Durch die hohe Temperatur kommtes zu einer explosionsartigen Druck-erhöhung von bis zu zwei Bar. Das ent-spricht dem Gewicht von 20 000 kg/m²und ist mit den Auswirkungen einesSprengsatzes zu vergleichen. Bei Men-schen kann es dadurch zu schwerenVerbrennungen, Schäden des Augen-lichtes durch den Lichtblitz, Beein-trächtigung des Hörvermögens durchden Detonationsknall sowie zu Verlet-zungen durch wegfliegende Anlagen-teile kommen. Zudem drohen Ver-

Störlichtbogenprüfung ohne Schutzmassnahmen.* Sebastian Gerber, Product Manager Energie-systeme, Hager AG Schweiz, Emmenbrücke.

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giftungen durch das Entstehen von ge-sundheitsschädlichen Gasen und Me-talldämpfen. Ein zentrales Ziel desStörlichtbogenschutzes ist daher diePersonensicherheit.

Neben der Personensicherheit zielendie zu ergreifenden Schutzmassnahmenauf den Erhalt der Funktionsfähigkeiteiner Anlage ab. Mehrheitlich führenStörlichtbogenunfälle zu Schäden ander Anlage und in der Folge zu kosten-intensiven Produktions- und Service-ausfällen. Da die Verfügbarkeit einerNS-Schaltanlage im professionellenUmfeld wie beispielsweise in Rechen-zentren, Unter- und Kraftwerken oderindustriellen Prozessen eine entschei-dende Rolle spielt, tragen die norma-tiven Vorgaben hinsichtlich des Stör-lichtbogenschutzes dieser ZielsetzungRechnung.

Die NormenlageEine zusätzliche Sicherheit aktiverSchutzsysteme im Bereich von Nieder-spannungsanlagen wird durch das Ab-solvieren einer Sonderprüfung unterStörlichtbogenbedingungen nach IEC/TR 61641 dokumentiert. Zu beachtenist, dass diese Prüfung keine Bauartprü-

fung nach EN 61439 ist, sondern eineSonderprüfung, die zwischen Anwenderund Hersteller zu vereinbaren ist. Da-bei erfolgt die Zündung eines Lichtbo-gens durch einen Zünddraht zwischenden Aussenleitern an Punkten mit denhöchsten Auswirkungen. Ziel ist es, dieAuswirkungen eines Störlichtbogens be-zogen auf den Personen- und Anlagen-schutz so klein wie möglich zu halten.Dies wird durch die Einhaltung ver-schiedener Prüfkriterien sichergestellt.

Im Bereich des Personenschutzessind hierbei insgesamt fünf Kriterien zuerfüllen. So dürfen sich gesicherte Tü-ren oder Abdeckungen beim Auftreteneines Störlichtbogens nicht öffnen undTeile, die eine Gefährdung verursachenkönnten, dürfen nicht wegfliegen. Aus-serdem dürfen in der äusseren Umhül-lung keine Löcher entstehen, vertikalvor der Anlage angebrachte Indikatorendürfen sich nicht entzünden und derSchutzleiterstromkreis für berührbare

Energieverteiler weber.unimes H mit aktivem Störlichtbogenschutz.

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Teile der Umhüllung muss nach derPrüfung noch funktionsfähig sein.

Beim Anlagenschutz ist nachzuwei-sen, dass der Störlichtbogen im defi-nierten Bereich, beispielsweise in einemFeld oder Fach, verbleibt und dass kei-ne Neuzündung in den angrenzendenBereichen erfolgt. Sinnvollerweise wirddazu die Form 2-4 der inneren Unter-teilung zur Definition der Bereiche ge-nutzt. Zudem wird geprüft, ob nach derStörungsbeseitigung oder dem Abtren-nen des definierten Bereichs ein Notbe-trieb möglich ist.

Passive SchutzmassnahmenOberstes Schutzziel bei der Planungund Projektierung einer Schaltanlage istes, die Entstehung und das unkontrol-lierte Ausbreiten von Störlichtbögen zuverhindern. Bei passiven Störlichtbo-genschutzsystemen stellt in der Pla-nungs- und Projektierungsphase bereitsdie Wahl der inneren Unterteilung(Bauform 1, 2b und 4b) bei der Ausle-gung der Anlage einen Anlagenschutzdar, da auf diese Weise innerhalb derFunktionsräume (Sammelschienenraum,Geräteraum und Kabelanschlussraum)das Eindringen fester Fremdkörper ver-hindert wird. Damit wird die Wahr-scheinlichkeit der Entstehung einesStörlichtbogens begrenzt und ein Aus-breiten in benachbarte Funktionsein-heiten teilweise verhindert. Sollte esdennoch zu einem Störlichtbogen kom-men, so schränken Massnahmen wieDruckentlastungsklappen, Lichtbogen-barrieren oder eine mechanische Ver-stärkung der Schaltanlagenhülle dieAuswirkungen ein. Die Begrenzung desStörlichtbogens auf die betroffeneFunktionseinheit bedeutet jedoch meist,dass diese komplett zerstört und ausge-

tauscht werden muss. Hinzukommt,dass der Personenschutz meist über dieverstärkte Gehäusehülle bei geschlosse-nen Türen realisiert wird, daher ist fürWartungsarbeiten bei geöffneten Schalt-anlagentüren nur ein geringer oder keinPersonenschutz geboten.

Aktive StörlichtbogenschutzsystemeEine aktives Störlichtbogenschutzsystemgreift aktiv in den Entstehungsprozesseines Störlichtbogens ein und löschtdiesen innert Millisekunden. So werdendie Auswirkungen eines Störlichtbogensstark reduziert oder ganz vermieden.Hierzu wird ein ausgefeiltes Systemelektrischer und elektronischer Kom-ponenten eingesetzt, wie das Beispieldes aktiven Störlichtbogenschutzsystemsvon Hager zeigt. Dieses besteht aus ins-

gesamt fünf Bauteilen: Lichtsensoren (1.)erfassen den Lichtbogen und leiten dieSignale an ein Erfassungsgerät (2.) wei-ter. Speziell konstruierte Schutzwandler(3.) für Eingangsströme von bis zu80 kA erkennen den rasanten Anstiegdes Stromes durch den Störvorfall. Istein solcher Stromanstieg sowie eine zu-sätzliche Lichtquelle erkennbar, wirddie Kurzschliessereinheit (4.) ausgelöst.Durch das Zuschalten eines 3-phasigensatten Kurzschlusses wird dem Licht-bogen innerhalb von drei Millisekundendie gesamte Energie entzogen. Nach 30bis 50 Millisekunden wird das Systemdurch Fernauslösung eines offenen Leis-tungsschalters (5.) entlastet und span-nungsfrei geschaltet. Die intelligentenSysteme von Hager detektieren auch diePosition (6.) der Fehlerquelle und er-möglichen so eine schnelle Ursachen-untersuchung.

Nach der Störungsbehebung kann imIdealfall die Anlage nach nur einer hal-ben Stunde wieder in Betrieb genom-men werden.

Ein System beherrschtdie fünf SicherheitsregelnEin konsequentes Anwenden der fünfSicherheitsregeln ist zur Vermeidungvon Elektrounfällen unabdingbar. Akti-ve Störlichtbogenschutzsysteme sind inkeinem Fall ein Ersatz dieser Regeln,schützen jedoch bei Nachlässigkeit.Nebst der Löschung eines Störlicht-bogens wird nach einem Fehlerfall dasSystem automatisch freigeschaltet, wo-bei grundlegende Elemente der fünfSicherheitsregeln angewendet werden.

Funktionsprinzip aktiver Störlichtbogenschutz für weber.unimes H.

Leistungsschalterfeld mit Kurzschliessereinheit.

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• Freischalten und allseitig trennen: Das System schaltet sich durch dieAnsteuerung des Einspeiseschaltersnach einem Fehlerfall automatischfrei.

• Gegen Wiedereinschalten sichern: Selbsthalterelais sichern den Leis-tungsschalter gegen Wiedereinschal-ten, bis der Fehler behoben undquittiert wird.

• Auf Spannungslosigkeit prüfen: Auf eine Prüfung mit einem geeigne-ten Messgerät darf in keinem Fallverzichtet werden, jedoch ist dieSpannungsfreiheit nach einem Feh-

lerfall durch die Kurzschlussbrückegewährleistet.

• Erden und kurzschliessen: Im Fall von aktiven Schutzsystemen ist das Kurz-schliessen ein Hauptbestandteil derganzen Funktionsweise. Nach einerAuslösung gilt das System bis zumAusbau der Kurschlusseinrichtung alskurzgeschlossen.

• Gegen benachbarte, unter Spannung stehende Teile schützen: Durch denEinsatz von hohen Schottungsformenkann ein Berühren von benachbartenTeilen verhindert werden. Für denEnergieverteiler weber.unimes Hwurde die Funktionsweise der Sen-sorik auch bei Schottungsform 4bnachgewiesen.

Aktive Schutzsysteme verkürzen alsodie Lichtbogenzeit durch Kurzschlies-

sen der Aussenleiter deutlich. Anlage-schäden durch Störlichtbögen werdenso verhindert und das Personal wirdauch bei offenen Anlagetüren geschützt.Durch die Verknüpfung von Strom-und Lichtsensoren wird das Risiko zurFehlauslösung auf ein absolutes Mini-mum reduziert.

Für den bauartgeprüften Energiever-teiler weber.unimes H von Hager wur-de die ganze Sensorik aller Feldtypengeprüft. So kann auch bei höherenSchottungsformen eine normkonformeund sichere Funktionsweise gewährleis-tet werden.

Eine Investition, die sich lohntBei Anlagen mit dem Anspruch an einehohe Verfügbarkeit ist die Wirtschaft-lichkeit eines aktiven Störlichtbogen-schutzsystems einfach nachzuweisen.Dies kann über eine Risikoanalyse er-folgen oder man berücksichtigt dieReduktion des sogenannten MTTR(Mean Time To Repair) der gesamtenAnlage. Da im Fehlerfall kein grosserSchaden an der Anlage entsteht, kanndiese schnell wieder in Betrieb genom-men werden und es mindert somit dieZeitdauer eines Betriebsausfalls. BeiSchaltgerätkombinationen ohne dieseSchutzeinrichtungen müssen dabei meistganze Funktionsgruppen oder es musssogar die ganze Anlage ausgetauschtwerden. So kann die Investition für einaktives Störlichtbogenschutzsystem auchmit dem anderseits notwendigen Ersatzvon Anlageteilen aufgewogen werden.Letztlich kann dem erhöhten Personen-schutz nur eingeschränkt eine finanziel-le Bewertung gegeben werden. Betrei-ber, die jedoch Wert auf ihre Betriebs-sicherheit legen, berücksichtigen aktiveStörlichtbogenschutzsysteme in ihrerSicherheitsplanung. ■

Auswirkungen ohne Schutzsystem.

Auswirkungen mit einem aktiven Störlichtbogen-Schutzsystem.