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Basisbeitrag Kinder mit Schwierigkeiten Wie didaktische Materialien die Einsicht in mathematische Strukturen ermöglichen Wie viele Punkte hat das Hunderterfeld? Margret Schmassmann, Marion Diener Der vorliegende Artikel wird sich – ins- besondere im Hinblick auf Kinder mit mathematischen Lernschwierigkeiten – mit den Bedingungen befassen, unter welchen didaktische Materialien zur Ein- sicht in die mathematische Struktur eines Themas verhelfen und die Nutzung dieser Struktur unterstützen. Es wird am Beispiel des Hunderterfeldes gezeigt, wann und wofür der Einsatz eines Materials sinnvoll ist (und wann und wofür nicht). Zudem wird gezeigt, dass didaktische Materialien nicht nur als Unter- stützung für Schülerinnen und Schüler mit Lernschwierigkeiten gedacht sind, sondern dass sie neben der Entwicklung von Vorstellungen auch für weiterfüh- rende Argumentationen, Erkundungen, Entdeckungen von Gesetzmäßigkeiten und Regeln genutzt werden können – und zwar von allen Kindern. beim Rechnen

Strukturen ermöglichen Wie viele Punkte hat das Hunderterfeld? · stehen des Zahlaufbaus (34 besteht aus 3 Zehnern und 4 Einern, der 4. Zehner ist schon angefangen), für das Ergänzen

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Basisbeitrag Kinder mit Schwierigkeiten

 

Wie didaktische Materialien die Einsicht in mathematische Strukturen ermöglichen

 

Wie viele Punkte hat das Hunderterfeld?  Margret Schmassmann, Marion Diener Der vorliegende Artikel wird sich – ins- besondere im Hinblick auf Kinder mit mathematischen Lernschwierigkeiten – mit den Bedingungen befassen, unter welchen didaktische Materialien zur Ein- sicht in die mathematische Struktur eines Themas verhelfen und die Nutzung dieser Struktur unterstützen. Es wird am Beispiel des Hunderterfeldes gezeigt, wann und wofür der Einsatz eines Materials sinnvoll ist (und wann und wofür nicht). Zudem wird gezeigt, dass didaktische Materialien nicht nur als Unter- stützung für Schülerinnen und Schüler mit Lernschwierigkeiten gedacht sind, sondern dass sie neben der Entwicklung von Vorstellungen auch für weiterfüh- rende Argumentationen, Erkundungen, Entdeckungen von Gesetzmäßigkeiten und Regeln genutzt werden können – und zwar von allen Kindern.

beim Rechnen

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Basisbeitrag Kinder mit Schwierigkeiten

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beim Rechnen »50, 100 … viele?« Auf die Frage, aus wie vielen Punkten das Hunderterfeld besteht, antworten nicht al- le Kinder spontan mit »100« obwohl sie das Hunderterfeld (auch Hunderterpunktefeld genannt) im Unterricht schon kennenge- lernt haben. Ihre Antworten reichen von

Für Kinder mit Lernschwierigkeiten ist es besonders wichtig, dass sie genügend Zeit und Gelegenheit erhalten, um die Basisin- halte (insbesondere das Zählen, das Ver- ständnis der Operationen und den dezima- len Zahlaufbau) zu erarbeiten. Nur so können sie nachhaltig Verständnis

Literatur Diener, M. & Schmassmann, M.: Lernförderung in Mathematik braucht abgestimmte Materialien. In: Bildung Schweiz, 2013 (3), 14-15. Diener, M. & Schmassmann, M.: Lernschwierigkeiten entschärfen – aber wie? In: Tagungsband Verband Dyslexie Schweiz, 2012, 5-13. Moser Opitz, E.: Rechenschwäche di- agnostizieren. In: A. Fritz, G. Ricken & S. Schmidt: Handbuch Rechenschwäche, 2. Auflage. Weinheim: Beltz-Verlag, 2009. Moser Opitz, E.: Rechenschwäche/ Dyskalkulie. Theoretische Klärungen und empirische Studien an betroffenen Schülerinnen und Schülern. Beiträge zur Heil- und Sonderpädagogik. Erzie- hung Unterricht Diagnostik Therapie. Bern: Haupt Verlag, 2007. Schmassmann, M. & Moser Opitz, E.: Heilpädagogischer Kommentar zum Schweizer Zahlenbuch 2. Hinweise zur Arbeit mit Kindern mit mathematischen Lernschwierigkeiten. Zug: Klett und Bal- mer Verlag, 2008. Schmassmann, M. & Moser Opitz, E.: Heilpädagogischer Kommentar zum Schweizer Zahlenbuch 3. Hinweise zur Arbeit mit Kindern mit mathematischen Lernschwierigkeiten. Zug: Klett und Bal- mer Verlag, 2011 (Nachdruck). Schmassmann, M.: Gestütztes Üben, eine Brücke zwischen konkret und ab- strakt. In: Mathematik Differenziert, 2013 (1), 12–15. Spiegel, H. & Selter, Ch: Kinder & Mathematik. Was Erwachsene wissen sollten. Seelze-Velber: Kallmeyer, 2003.

     

Fotos Marion Diener

»weiß nicht«, über »viele«, »50« bis zu »1000?« Die Präsenz des Hunderterfeldes im Unter- richt trägt nicht automatisch dazu bei, die Fünfer- und Zehnerstruktur der Punktean- ordnung hervorzuheben und zentrale Vor- stellungen wie die Anzahl und den additi- ven und multiplikativen Aufbau aus zehn Zehnern (100 = 10 + 10 + + 10 = 10 · 10) zu entwickeln. Die Folge davon kann sein, dass die Nutzung des Dezimalsystems für das Rechnen (insbesondere das Ergänzen auf größere Einheiten, die Multiplikation mit Einheiten, die Division durch Einheiten, das Schätzen, Runden und Überschlags- rechnen) nicht gelingt.

 Lernschwierigkeiten im Unterricht begegnen Mathematische Lernschwierigkeiten wer- den heute nicht mehr isoliert als Proble- matik des betroffenen Kindes allein ange- sehen, sondern immer im Kontext mit dem Mathematikunterricht, der eine wesentli- che Rolle bei der Entstehung, der Präventi- on und der Entschärfung von Schwierigkei- ten einnimmt. Eine der zentralen Aufgaben der Schule be- steht darin, alle Kinder – auch solche mit mathematischen Lernschwierigkeiten – so weit wie möglich im Klassenunterricht zu fördern (vgl. Diener & Schmassmann 2012, S. 6). Viele Lehrwerke bieten eine große Stofffülle an, die nicht selten zu einem ge- hetzten Abarbeiten von Schulbuchseiten führt. Dabei wird der Blick – welches die Basisinhalte und welches vertiefende oder zusätzliche Inhalte sind – oft vernachläs- sigt beziehungsweise den einzelnen Lehr- personen zur Entscheidung überlassen (vgl. Diener & Schmassmann 2013, S. 14). Dies birgt aber zwei Gefahren in sich: Um die Stofffülle zu bewältigen, bleibt einer- seits kaum Zeit, die Basisinhalte, die alle Kinder zu verstehen haben, sorgfältig zu bearbeiten. Andererseits wird das Material zu schnell beiseitegelegt und zu früh »for- mal« gearbeitet, um voranzukommen. So bleibt die Einsicht in die Struktur eines Sachverhaltes oft auf der Strecke.

aufbauen. Da die Basisinhalte oft aufeinander auf- bauen, müssen sie in einer bestimmten Abfolge erarbeitet werden, sonst kann der jeweils folgende Inhalt ebenfalls nicht ver- standen werden. Zugleich ist aber auch die Vernetzung der Inhalte für das Verständnis hilfreich. Welchen Stellenwert die didakti- schen Materialien in diesem Prozess ein- nehmen, zeigt folgendes Beispiel: Bei häufigen Fehlern wie 63 + 47 = 100 oder 56 – 9 = 37 muss nicht in erster Linie das Rechnen geübt werden, sondern zuerst die Struktur des Zahlenraumes (hier sind es die Nachbarzehner) anhand von verschie- denen didaktischen Materialien wie Hun- derterfeld, Zahlenstrahl und Rechenstrich erkundet und verstanden werden (siehe M 1). Die Materialien leiten aber zugleich zum Operieren über: wird der Nachbarzeh- ner am Hunderterfeld oder am Zahlen- strahl gefunden, kann das Operieren am Rechenstrich protokolliert werden. Die Kin- der bauen dabei ein flexibles mathemati- sches Wissensnetz auf, das mehr ist als Ab- speichern und Abrufen von Fakten (vgl. Spiegel & Selter 2003, S. 30). Geeignete Fokussierung der Inhalte auf das Wesentliche allein genügt jedoch nicht. Auch mit einer guten Inhaltsauswahl kann den Lernschwierigkeiten erst dann begeg- net werden, wenn den Kindern eine hohe Eigenaktivität ermöglich wird. Didaktische Materialien unterstützen die Eigenaktivi- tät: 63 + = 100 kann zum Beispiel am Re- chenstrich als »+ 10 + 10 + 10 + 7« oder als »+ 40 – 3« protokolliert oder am Hunderter- feld »+ 7 + 30« oder als »63 + 10 = 73, 73 + 10 = 83, 83 + 10 = 93, 93 + 7 = 100« abgele- sen werden. Damit die Lehrperson die Ei- genaktivitäten in Gang bringen, adäquat einschätzen und für das Weiterlernen nutzbar machen kann, sind neben soliden fachdidaktischen auch diagnostische Fä- higkeiten erforderlich, um einen Weg zu verstehen, auf seine Tauglichkeit hin ein- zuschätzen und wenn nötig Alternativen anzuregen (vgl. Diener & Schmassmann 2012, S. 5-7).

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Didaktische Materialien Didaktische Materialien nehmen im Ver- stehen von mathematischen Begebenhei- ten und Zusammenhängen eine wichtige Rolle ein. Drei uns diesbezüglich bedeut- sam erscheinende Aspekte möchten wir hier aufgreifen: Die Auswahl passender Materialien, die Loslösung auf dem Weg zur Abstraktion und die Nutzung durch die Kinder.

 Fokussierung auf zentrale mathematische Aspekte Didaktische Materialien verdeutlichen je- weils einen spezifischen mathematischen Aspekt (siehe M 1). So betonen zum Bei- spiel Punktefelder die Anzahl, Stellenwert- karten den Zahlaufbau sowie die Ziffern- schreibweise, und der Zahlenstrahl hebt die Anordnung der Zahlen hervor. Das Prin- zip der Bündelung wird durch das Dezimal- systemmaterial (Einerwürfel, Zehnerstäbe, Hunderterplatten usw.) oder Stellentafeln verdeutlicht. In ihrer Gesamtheit bauen sie die Vorstellung von abstrakten Begriffen wie »Zahl« oder »Operation« auf. Es gilt daher immer zu beachten, dass sich nicht jedes Material für jeden Zweck eignet. Geht es um die Ablösung vom zählenden Rechnen, sind die strukturierte Anzahler- fassung und das Darstellen von Rechnun- gen mit Wendeplättchen am Zwanzigerfeld zentral. Zugleich wird damit der Grund- stein für das flexible Rechnen (Ableiten von Kern- oder Schlüsselaufgaben, Nach- baraufgaben, Nutzen der Rechengesetze) gelegt. In größeren Zahlenräumen werden die Rechenstrategien mit dem Material

zum Dezimalsystem, am Rechenstrich oder an der Stellentafel entwickelt und darge- stellt. Der Zahlenstrahl und das Hunder- terfeld hingegen sind weder für die Ablö- sung vom zählenden Rechnen noch für das Entwickeln von Strategien geeignet, da an ihnen nur weitergezählt werden kann.

 Begleiter auf dem Weg zur Abstraktion Didaktische Materialien tragen zum Auf- bau von Vorstellungen bei und ermögli- chen es dadurch, sich von ihnen loszulö- sen. Die Loslösung ist nötig – Abstraktion ist ja eine Vereinfachung – darf aber nicht zu früh und nie endgültig erfolgen. Die Kinder sollen immer wieder die Möglich- keit haben, auf Material zurückzugreifen, um bereits gewonnene Einsichten und Vor- stellungen in Erinnerung zu rufen und zu festigen. Im Weiteren sollen sie die Materi- alien immer wieder gebrauchen, um Re- chen- oder Denkwege zu zeigen und Ergeb- nisse selbständig zu überprüfen.

 Lernstoff Wie der Titel des Artikels zeigt, sind didak- tische Materialien nicht selbsterklärend. Sie werden nicht en passant verstanden, sondern sind Lernstoff. Es genügt nicht, dass Schülerinnen und Schüler mit Materi- al hantieren, sie müssen die mathemati- sche Bedeutung, welche mit dem Material hervorgehoben wird, erkennen und nutzen können. Das heißt, dass ein didaktisches Material nur dann unterstützend ist, wenn es so eingeführt und erkundet wird, dass seine Bedeutung und Verwendung verstan- den wird.

beim Rechnen

                                           

Abbildung 1a und 1b: Steine herauszählen, gruppieren, strukturieren

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beim Rechnen Damit der Knabe, der gemeint hat das Hunderterfeld bestehe aus 50 Punkten, eine klare Vorstellung von 100 entwickeln kann, muss er das Hunderterfeld in seiner Struktur verstehen. Dazu kann er es nach- erfinden, indem er 100 Steine aus der Schachtel heraus zählt, gruppiert und strukturiert (Abb. 1a und 1b). Bei fertigen Feldern soll er sich immer wieder versi- chern, ob es 100 Punkte sind: 10 Reihen mit je 10 Punkten, 10 Spalten mit je 10 Punk- ten, 4 Felder mit je 25 Punkten, 2 Blöcke mit je 50 Punkten. Dabei entsteht neben der Anzahl von 100 die Vorstellung der multiplikativen Zerlegung, die zum Beispiel für das spätere Verständnis der Dezimal- brüche so zentral ist (ein Zehntel = 0,1; ein Viertel = 0,25; 1/2 = 0,5).

Er nimmt aber nicht die in zwei Viererrei- hen strukturierte Anzahl 8 wahr, sondern legt in der Vorstellung eine Hundertertafel (Matrix mit den Zahlen von 1 bis 100) auf das Hunderterfeld. In der rechten unteren Ecke des 2 · 4-Feldes liest er die Zahl 14 als Ergebnis ab (Abb. 2b).

 Ein Grund könnte sein, dass er zum Addie- ren die Hundertertafel benutzt hat und dies nun auch für die Multiplikation auto- matisch (in der Vorstellung) tut. Ein ande- rer, dass das Bild der Hundertertafel für ihn einprägsamer ist und dasjenige des Punktefeldes überlagert. Solche Fehler ge- ben Anlass dazu, über Zahlaspekte nach- zudenken und sie zu diskutieren. Die bei- den Materialien heben jeweils einen

Abbildung 2a: 2 · 4 mit dem Malwinkel am Hunderterfeld zeigen

     

Abbildung 2b: Überlagerung der Strukturen

     

Abb. 3: 3 · 4 = 12

 

 Indem die mathematische Struktur des Materials »nachgebaut« wird, können die Kinder das Material verstehen und seine Struktur nutzen: zum Beispiel für das Ver- stehen des Zahlaufbaus (34 besteht aus 3 Zehnern und 4 Einern, der 4. Zehner ist schon angefangen), für das Ergänzen auf den nächsten Zehner und auf den nächs- ten Hunderter. Da die didaktischen Materialien aufeinan- der aufbauen und mit den Zahlenräumen »mitwachsen«, muss nicht jedes Jahr der Umgang mit einem neuen Material erlernt werden: Fünf Zwanzigerfelder untereinan- der ergeben ein Hunderterfeld, zehn Hun- derterfelder nebeneinander ein Tausender- feld. Zu Beginn eines neuen Schuljahres können die Kinder aus der entsprechenden Anzahl der »alten« Felder das neue legen und damit an die Themen der vorigen Klasse anknüpfen. Ähnlich wächst die Tau- sender- aus der Hundertertafel, der Tau- sender- aus dem Hunderterstrahl und der Zahlenstrahl für rationale Zahlen aus dem für ganze Zahlen.

 Differenzierte Diagnosen Dass Kinder, die dem Material innewoh- nende Struktur aber auch dann, wenn es sorgfältig eingeführt und erkundet wurde, nicht immer so nutzen, wie sie gedacht ist (oder sie gar nicht nutzen), zeigen die fol- genden Beispiele: Ein Knabe grenzt mit dem Malwinkel auf dem Hunderterfeld die Rechnung 2 · 4 ab und nennt als Ergebnis »14« (Abb. 2a).

anderen Zahlaspekt hervor und können nicht beliebig ausgetauscht werden. So wie es keinen Sinn macht, auf der Tafel (ordi- nal, positional) eine Anzahl zu bestimmen, macht es auf dem Feld (kardinal) keinen Sinn, auf einen Punkt zu zeigen und zu fra- gen: »Wie heißt die Zahl?« Jeder Punkt re- präsentiert die Anzahl 1. Ganz anders handhabt das Mädchen den Malwinkel, um 3 · 4 darzustellen (Abb. 3). Sie kennt das Ergebnis und versucht nun, den Malwinkel so hinzulegen, dass 12 Punkte sichtbar sind: »1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11 und 2 halbe geben 12«. Ihre Vorge- hensweise kann verschieden interpretiert werden: Das Mädchen hat zwar das Ergeb- nis automatisiert, kennt aber die zugrunde liegende multiplikative Struktur nicht. Oder sie kennt die Struktur und das Ergeb- nis, schafft es aber nicht, den Malwinkel richtig zu platzieren. Um einen genaueren Einblick zu gewinnen, soll sie aufgefordert werden, eine zu 3 · 4 passende Situation mit Plättchen zu legen, ein Bild zu zeich- nen oder eine Geschichte zu erzählen.

 Mit Überraschungen rechnen Das folgende Beispiel von Anna, Pia und Fritz, welche die gezeigte Anzahl auf dem Hunderterfeld (Abb. 4) bestimmen sollen, zeigt, wie unerwarteter Gebrauch des Ma- terials einerseits Einblick in den Lernstand gibt und andererseits gewinnbringend für den Unterricht genutzt werden kann.

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Abb. 4: Anzahl strukturiert erfassen

 

Anna: 3, 6, 9, 12, 15, 18, 22, 26, 30, 34, Pia: 5, 10, 15, 19, 24, 29, 34 Fritz: 4, 8, 12, 16, 19, 22, 25, 28, 31, 34

 

 Keines der Kinder hat die Struktur »3 Zeh- ner, 4 Einer« genutzt, aber alle haben eige- ne Strukturen gefunden. Diese sind sehr aufschlussreich, weil sie Auskunft über an- dere, hier aber nicht im Zentrum stehende Kompetenzen geben: zum Beispiel Zählen in Schritten und flexibles Wechseln der Schrittgröße. Und zugleich sagen sie etwas über bevorzugte Richtungen aus: von rechts nach links oder von links nach rechts, spaltenweise oder zeilenweise. Die- se Beobachtung kann hilfreich sein, um Fehler beim Einhalten von Richtungen auf dem Zahlenstrahl oder beim Umgang mit waagrechten oder senkrechten Tabellen zu verstehen und richtig einzuordnen. Die Lehrperson muss sich entscheiden, wie sie reagiert. Will sie den Zahlaufbau mit den Kindern erarbeiten, wird sie die Vorge- hensweise der Kinder würdigen, aber die Nutzung der Struktur »Zehner, Einer« in den Vordergrund rücken (vgl. Schmass- mann & Moser Opitz 2011, S. 18) (Abb. 5).

 

Abb. 5: 3 Klammern weisen auf 3 Zehner hin.

 

Sollen aber interessante und vielfältige Zählweisen in den Vordergrund rücken, wird die Lehrperson die Kinder ermuntern, nach weiteren zu suchen, diese vorzustel- len und zu dokumentieren. Ein Knabe (Abb. 6a) zählte von außen nach innen in Schichten, ein Mädchen (Abb. 6b)

 

       

konzentrierte sich auf die vier 25er–Quad- rate. Sie kam auf 64 Punkte. »Ich habe 4 · 16 gerechnet, denn in einem Kästchen sind ja 16 – nein, das sind ja 25. Dann muss ich noch 36 dazuzählen, dann sind es 100.« Wie ist das Mädchen vorgegangen? Was kann sie, was nicht?

 

 Abb. 6a: in Schichten von außen nach innen Abb. 6b: in »Haken« von oben nach unten

 

Möglichkeiten und Grenzen des Einsatzes von didaktischen Materialien Didaktische Materialien ermöglichen Ein- sicht in mathematische Zusammenhänge und Strukturen. Es ist wichtig, dass sie bei der Einführung eines Themas, aber auch bei weiteren Phasen des Mathematikler- nens wie zum Beispiel beim Auffrischen von bereits Gelerntem, beim Üben (vgl. Schmassmann 2013, S. 12) oder Erkunden von weiterführenden Zusammenhängen immer wieder und von allen Kindern ver- wendet werden. Lernschwierigkeiten können mit Hilfe von didaktischen Materialien alleine zwar nicht immer verhindert oder aufgearbeitet wer- den, aber sie werden entschärft. Bei zusätz- licher Förderung zu Hause oder in Förder- stunden sollen die Übungen und die dazu verwendeten Materialien aufeinander ab- gestimmt werden. Es ist dem Lernprozess abträglich, wenn sich die Materialien mit den im Unterricht verwendeten »beißen« oder wenn statt didaktisch klar aufgebau- ter Übungen fachlich ungeeignete Produkte verwendet werden. Dem Einsatz von didaktischen Materialien sind allerdings Grenzen gesetzt. Um zu ver- allgemeinern, um von hundert Steinen zur abstrakten Zahl »100« zu gelangen, muss die Übersetzung in die formale mathemati- sche Sprech- und Schreibweise geschehen. Materialien erleichtern zwar den Weg zur Abstraktion, können und sollen diese aber nicht ersetzen. Damit erfolgreiches mathe- matisches Lernen stattfinden kann, müs- sen sich der wohlüberlegte Einsatz des Ma- terials und die Schritte zur Ablösung von diesem die Balance halten.

Basisbeitrag Kinder mit Schwierigkeiten beim Rechnen

                     

Autorinnen Margret Schmassmann, dipl. math., Lernberatung Mathe- matiklabor Zürich, Pädagogische Hochschule Zürich Fachbereich Mathematik.

 Marion Diener, Primarlehrerin, Pädagogin lic phil I, Pädagogi- sche Hochschule Zürich Fachbe- reich Mathematik.

           

Die Materialien zu diesem Beitrag

M 1 Das Zusammenspiel zwischen Inhalten und Materialien: eine Übersicht

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Hier 1. H

älfte ankleben

M1 Kinder mit Schwierigkeiten beim Rechnen Praxis Mathematik

     Das Zusammenspiel zwischen Inhalten und Materialien: eine Übersicht

   

(vgl. Schmassmann & Moser Opitz 2011, S. 40)    

Didaktisches Material Verwendung Was es nicht leisten kann  

Wendeplättchen Anzahl darstellen und erfassen (zählen, simultan, quasisimul- tan, Zahlbeziehungen), Muster legen, Verständnis von Zerle- gungen, Grundoperationen aufbauen Fokus: kardinaler und ordinaler

Beziehungen zwischen Zahlen und zwischen Rechnungen her- vorheben, auf Strukturen wie Kraft der Fünf und Zehn fokus- sieren, Rechenwege und -stra- tegien ermöglichen

Wendepunkte zu »Mathematik 1 Primarstufe«, Lehrmittelverlag des Kantons Zürich Zahlaspekt

   

Zwanzigerfeld Anzahl strukturiert darstellen, er- fassen, Kraft der Fünf und Zehn, Erkunden von Zahleigenschaf- ten und -beziehungen, Zerle- gungen, Darstellung von Addi-

Ordinalen Zahlaspekt hervor- heben, da es keine fixe Reihen- folge auf dem Feld gibt (es kann im Prinzip oben oder un- ten, links oder rechts begonnen

Zwanziger-Punktefeld und Wendepunkte zu »Mathematik 1 Primarstufe«, Lehrmittelverlag des Kantons Zürich tions- und Subtraktionsstra-

tegien. Fokus: Kardinaler Zahlaspekt, keine geschriebenen Zahlen

werden)

   

Hunderter- und Tausenderfeld Anzahl strukturiert darstellen, erfassen, Zahlaufbau aus Ein- heiten, Vorstellung von Anzahle im Zahlenraum bis 100 bzw. 1000 entwickeln, additive und multiplikative Zerlegung von 100 und 1000, ergänzen auf Zehner, Hunderter, Tausender, Felddarstellung der Multipli- kation. Fokus: kardinaler Zahlaspekt, keine geschriebenen Zahlen

Einzelne Zahlen benennen, da die Punkte Mengen (Anzahlen) repräsentieren Ausführen von Rechnungen wie 27 + 35 (die Operation kann zwar veranschaulicht werden, um grundlegendes Verständnis aufzubauen, aber flexible Re- chenstrategien können nicht er- probt werden)

 Begleitband zum Schweizer Zahlenbuch 2 und 3. Klett und Balmer Zug

               

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Kinder mit Schwierigkeiten beim Rechnen Praxis Mathematik

       

Hunderter- und Tausender- tafel (Tausenderbruch)

Gesetzmäßigkeiten des Zahlauf- baus und der -schreibweise, formale Orientierung im Zahlen- raum 100 bzw. 1000, Entde- cken von Mustern und Strukturen. Fokus: Ordinaler Zahlaspekt

Hilfsmittel zum Rechnen (verlei- tet zum zählenden Rechnen, keine Entwicklung von Strategien)

     

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 201 202 203 204 205 206 207 208 209 210 301 305 401 12 14 15 16 18 20 117 120 211 212 213 214 215 216 217 218 219 220 312 316 320 412 420

21 24 25 27 28 30 121 127 130 221 222 223 224 225 226 227 228 229 230 323 324 327 423 32 35 36 40 137 140 231 232 233 234 235 236 237 238 239 240 334 434 42 45 48 49 50 141 142 143 144 145 146 147 148 149 150 241 242 243 244 245 246 247 248 249 250 341 345 350 441 445 450

54 56 60 157 160 251 252 253 254 255 256 257 258 259 260 352 356 360 456 63 64 70

72 80 81 90

100

167 169 170 261 262 263 264 265 266 267 268 269 270 361 367 177 180 271 272 273 274 275 276 277 278 279 280 187 190 281 282 283 284 285 286 287 288 289 290

196 197 200 291 292 293 294 295 296 297 298 299 300

378  389  

400

461 462 463 464 465 466 467 468 469 470 478 480

484 489 490 500

 501 504

 601 606 610 701 710 801 805 810 901

512 514 523 524 529

615 619 624 625 628 630

719 720 728 729

815 819 825 828 927

919

534 540 544 545 646

637 640 731 732 733 734 735 736 737 738 739 740 746

835 837 841 845 846

933

554 556 560 564 567 574 576 578

655 660 664 669

673 676  

773 764

755 855 864 865

873 875

955 961 969

584 589 682 782 784 882 885 983 594 600 691 700 791 800 891 895 900

Begleitband zum Schweizer Zahlenbuch 2 und 3. Klett und Balmer Zug

1000

 

Material zum Dezimalsystem und zugehörige Stellenwertkarten

 

 

Stellentafel

Bündeln und entbündeln, Zah- len mittels dezimaler Einheiten darstellen, multiplikativer Zu- sammenhang der Einheiten, Rechenstrategien. Stellenwertkarten: Zahlschreib- weise und ihre Bedeutung verstehen: 1234 = 1000 + 200 + 30 + 4 Fokus: kardinaler Zahlaspekt, hierarchischer Aufbau aus Ein- heiten

         

Anzahl Einheiten mittels Plätt- chen oder Ziffern darstellen (ganze und rationale Zahlen), Ausführen und Darstellen von Rechenstrategien, Fokus: stellengerechte Notation

Beziehung zur nächsten Einheit (zum Beispiel kann 347 im Tau- senderwürfel nicht geortet werden)

                                 

Größenbeziehung zwischen den Einheiten veranschaulichen

 

Zahlenstrahl und Rechenstrich

 

Heilpädagogischer Kommentar zum Schweizer Zahlenbuch 3, Klett und Balmer Zug

Zahlenstrahl: Zahlen genau platzieren, ablesen, Zählen in Schritten, Übergänge, Bezie- hungen zwischen den Einheiten, Größenvorstellung von Zahlen Rechenstrich: Reihenfolge von Zahlen, Rechenstrategien protokollieren Fokus: ordinaler Zahlaspekt

Zahlenstrahl: Rechenhilfsmittel (verleitet zum zählenden Rech- nen, verhindert Entwickeln von Strategien) Rechenstrich: Hilfsmittel zur Lö- sung von Teilaufgaben

   

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