18
6 Acyclische Moleküle In diesem Kapitel wird das Konformationsverhalten acyclischer Moleküle behan- delt. Dabei kann wiederum keine erschöpfende Übersicht gegeben werden, sondern nur die wichtigsten Befunde sollen zusammen mit den zum Verständnis nützlichen Erklärungen vorgestellt werden. Wie auch in anderen Fällen ist hier eine Untertei- lung nach der Natur der Bindung, deren Torsion betrachtet wird, zweckmäßig. In Tab. 6-1 sind die Barrieren für die innere Rotation von einigen unterschiedlichen Verbindungen aufgeführt. 6. l Rotation um Einfachbindungen 6.1.1 Ethan und ähnliche Moleküle In diesem Abschnitt soll das Konformationsverhalten des Ethans und anderer einfacher Moleküle mit einer Einfachbindung zwischen zwei sp 3 -hybridisierten Ato- men behandelt werden. Die innere Rotation des Ethans, bei der die beiden Methylgruppen gegeneinander gedreht werden, kann man mit einer sinusförmigen Potentialenergiekurve beschrei- ben (Abb. 6-1). Die Minima bei 60, 180 und 300° entsprechen den gestaffelten Konformationen und die Maxima bei 0, 120 und 240° den ekliptischen (verdeckten) Formen. Da Teilchen auf einem Potentialenergiemaximum keine endliche Lebens- dauer besitzen, sind nur die gestaffelten Konformationen physikalischen Beobach- tungen zugänglich. Solche Formen, die im Falle des Ethans identisch sind, nennt man Konformere oder Rotamere (vgl. Abschn. 5-1). Die in Abb. 6-1 gezeichnete Kurve läßt sich mit Gl. (6-1) beschreiben, wobei E 3 die Höhe der Barriere zwischen zwei gestaffelten Konformationen, also die Aktivierungsenergie für einen Konformationswechsel, angibt. Der Index 3 zeigt an, daß es sich um ein dreizähliges Potential handelt*). Die Torsionsschwelle des Ethans, die sich z. B. aus dem IR-Spektrum ermitteln läßt, besitzt einen Wert von 12.1 ±0.1 kJ/mol; die Drehung um die C—C-Bindung ist also zwar nicht frei, aber auch nicht allzu stark behindert. = 0.5 £ 3 (1+cos3#>) (6-1) * Gl. (6-1) stellt eine Näherung dar. Eine genauere Beschreibung ist durch Berücksichtigung weiterer Terme einer Fourier-Reihe, wie 0.5 E 6 (\ + cos6q>), möglich. Strukturen organischer Moleküle. Paul Rademacher Copyright © 1987 VCH Verlagsgesellschaft mbH, Weinheim ISBN: 3-527-26545-7

Strukturen organischer Moleküle (RADEMACHER:STRUKTUREN O-BK) || Acyclische Moleküle

  • Upload
    paul

  • View
    222

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Strukturen organischer Moleküle (RADEMACHER:STRUKTUREN O-BK) || Acyclische Moleküle

6 Acyclische Moleküle

In diesem Kapitel wird das Konformationsverhalten acyclischer Moleküle behan-delt. Dabei kann wiederum keine erschöpfende Übersicht gegeben werden, sondernnur die wichtigsten Befunde sollen zusammen mit den zum Verständnis nützlichenErklärungen vorgestellt werden. Wie auch in anderen Fällen ist hier eine Untertei-lung nach der Natur der Bindung, deren Torsion betrachtet wird, zweckmäßig.

In Tab. 6-1 sind die Barrieren für die innere Rotation von einigen unterschiedlichenVerbindungen aufgeführt.

6. l Rotation um Einfachbindungen

6.1.1 Ethan und ähnliche Moleküle

In diesem Abschnitt soll das Konformationsverhalten des Ethans und anderereinfacher Moleküle mit einer Einfachbindung zwischen zwei sp3-hybridisierten Ato-men behandelt werden.

Die innere Rotation des Ethans, bei der die beiden Methylgruppen gegeneinandergedreht werden, kann man mit einer sinusförmigen Potentialenergiekurve beschrei-ben (Abb. 6-1). Die Minima bei 60, 180 und 300° entsprechen den gestaffeltenKonformationen und die Maxima bei 0, 120 und 240° den ekliptischen (verdeckten)Formen. Da Teilchen auf einem Potentialenergiemaximum keine endliche Lebens-dauer besitzen, sind nur die gestaffelten Konformationen physikalischen Beobach-tungen zugänglich. Solche Formen, die im Falle des Ethans identisch sind, nenntman Konformere oder Rotamere (vgl. Abschn. 5-1).

Die in Abb. 6-1 gezeichnete Kurve läßt sich mit Gl. (6-1) beschreiben, wobeiE3 die Höhe der Barriere zwischen zwei gestaffelten Konformationen, also dieAktivierungsenergie für einen Konformationswechsel, angibt. Der Index 3 zeigt an,daß es sich um ein dreizähliges Potential handelt*). Die Torsionsschwelle des Ethans,die sich z. B. aus dem IR-Spektrum ermitteln läßt, besitzt einen Wert von 12.1 ±0.1kJ/mol; die Drehung um die C—C-Bindung ist also zwar nicht frei, aber auch nichtallzu stark behindert.

= 0.5 £3(1+cos3#>) (6-1)

* Gl. (6-1) stellt eine Näherung dar. Eine genauere Beschreibung ist durch Berücksichtigung weitererTerme einer Fourier-Reihe, wie 0.5 E6(\ + cos6q>), möglich.

Strukturen organischer Moleküle. Paul RademacherCopyright © 1987 VCH Verlagsgesellschaft mbH, WeinheimISBN: 3-527-26545-7

Page 2: Strukturen organischer Moleküle (RADEMACHER:STRUKTUREN O-BK) || Acyclische Moleküle

134 6 Acyclische Moleküle

Tab. 6-1. Barrieren für die innere Rotation und bevorzugte Konformationen von verschie-denen Bindungstypen.

Verbindung

a)C(sp3)-C(sp3)CH3— CH2X

X=HFClBrICHOCNNH2

OH(CH3)3C— C(CH3)2^

X = HFClBrI

b)C(sp3)-C(sp2)CH3— CH=CH2

CH3— CHOCH3-C6H5

CH3— COCH3

CH3— COC1

c) C(sp2)-C(sp2)CH2=CH— CH=CH2

CH2=CH— CH=O0=CH— CH=0C6H5— CHOBiphenyle

d) C-XCH3— OHC2H5— OHC6H5-OHCH3— OCH3

CH3— NH2

CH3— SHCH3— SCH3

CH3— PH2

RC— OR'O

RC— NR2O

RC— NR2S

R2C=CH— NR^

AG*kJ/mol

12.113.815.415.413.59.5

12.815.713.9

29.233.743.744.946.6

8.44.90.063.34.2

30.020.826.019.540-120

4.55.0

13.011.48.35.38.98.2

40-50

60-90

70-100

50-80

bevorzugteKonformation*)

gestaffelt

ekliptisch (sp)ekliptisch (sp)ekliptisch (sp)ekliptisch (sp)ekliptisch (ap)

antiperiplanarantiperiplanarantiperiplanarplanar (sp)synclinal

gestaffeltantiperiplanarplanar (sp)gestaffeltgestaffeltgestaffeltgestaffeltgestaffeltantiperiplanar

planar

planar

planar Z

* Zur Nomenklatur s. Tab. 6-2.

Page 3: Strukturen organischer Moleküle (RADEMACHER:STRUKTUREN O-BK) || Acyclische Moleküle

6.1 Rotation um Einfachbindungen 135

kJ/mol

10

60° 120° 180° 240° 300° 360°

Abb. 6-1. Torsionspotentialkurve des Ethans. Die Minima bei 60, 180 und 300° gehören zu dengestaffelten, die Maxima bei 0, 120 und 240° zu ekliptischen Konformationen. Die Energiedifferenzzwischen gestaffelter und ekliptischer Form beträgt 12.1 kJ/mol.

Auch wenn es sich beim Ethan um ein denkbar einfaches Molekül handelt, läßtsich die Ursache der Rotationsbehinderung nicht ganz leicht angeben. Normaler-weise sagt man, daß die sterische Abstoßung zwischen den beiden Methylgruppenin der ekliptischen Konformation größer ist als in der gestaffelten. Eingehendequantenmechanische Berechnungen zeigten nun, daß weder die gegenseitige Absto-ßung der Wasserstoff-Atome aufgrund von Dispersionskräften (Abschn. 3.5.3) nochelektrostatische Effekte eine wesentliche Rolle spielen (Pitzer, 1983). Wie in Abschn.2.3.1 dargelegt, besteht die Hauptursache sterischer Abstoßung in Wechselwirkun-gen zwischen besetzten Orbitalen. Beim Ethan sind dies die Pseudo-Ti-MOs derbeiden Methylgruppen (7iCH3 und 7ÜCH3, s. Band l, S. 96), deren destabilisierendeÜberlappung in der ekliptischen Form größer ist als in der gestaffelten.

Die E3-Werte von Ethan, Methylamin und Methanol verhalten sich annähernd wie3:2:1.

E,:CH3—CH3

12.1CH3—NH2

8.3CH3—OH4.5 kJ/mol

Daß E3 mit der Länge der Torsionsbindung abnimmt, belegen die folgenden Werte:

E,:CH3—CH3

12.1CH3—SiH3

7.0SiH3—SiH3

4.9 kJ/mol

Page 4: Strukturen organischer Moleküle (RADEMACHER:STRUKTUREN O-BK) || Acyclische Moleküle

136 6 Acydische Moleküle

6.1.2 Propan und Butan

Bei den Alkanen mit größerer Kohlenstoffzahl sind gleichzeitige Rotationen ummehrere C—C-Bindungen möglich, die häufig nicht voneinander unabhängig sind.Für das Propan läßt sich die Potentialenergie gemäß Gl. (6-2) als Funktion derTorsionswinkel cpl und cp2 ausdrücken, die jeweils die Rotation einer Methylgruppebetreffen.

.5 EI (l + cos 3^00.5 ££ [l -cos 3

+0.5 E3 (l +cos3<p2) (6-2)

E3 und £3 besitzen aufgrund experimenteller Befunde die Werte 14.9 und 2.6 kJ/mol, jedoch werden je nach Methode auch etwas andere Werte gefunden. E'3 bringtdie Wechselwirkung der zwei Rotorgruppen zum Ausdruck. Die zu ̂ = (p2 = 180°(l a), (pi = 0° und (p2 = 180° (l b) sowie q>i = (p2 = 0° (l c) gehörigen Konformationensind nachstehend zusammen mit den aus Gl. (6-2) resultierenden Energiewertendargestellt.

a)

Page 5: Strukturen organischer Moleküle (RADEMACHER:STRUKTUREN O-BK) || Acyclische Moleküle

6.1 Rotation um Einfachbindungen 137

H H H H

H H v V\

la

q>i 180°<p2 180°E (kJ/mol) 0.0°

Ib

0°180°

12.3

Ic

0°0°

29.8

l a stellt die stabilste Konformation dar, l b bildet den Übergangszustand für dieRotation, und Ic ist die energiereichste Konformation. Wegen der dreizähligenSymmetrie der Methylgruppen wiederholen sich äquivalente Formen bei Änderun-gen der Torsionswinkel um 120°.

180°

120° -

60° - -

0° -

-60° - -

-120° -

-180°

b)-180° -120° -60

Abb. 6-2. Graphische Darstellung des Torsionspotentials von Propan [Gl. (6-2) mit E3 = 14.9und £3 = 2.6 kJ/mol]. a) dreidimensional, b) Höhenliniendiagramm (— Minimum, + Maximum,Abstand der Konturlinien 2 kJ/mol).

Page 6: Strukturen organischer Moleküle (RADEMACHER:STRUKTUREN O-BK) || Acyclische Moleküle

138 6 Acyclische Moleküle

Abb. 6-2 zeigt eine Darstellung der Potentialfunktion, zum einen als dreidimensio-nale Zeichnung und zum anderen als Höhenliniendiagramm (Konformationskarte).Man erkennt, daß der Übergang zwischen zwei Energieminima (l a) über den dazwi-schen liegenden Sattelpunkt (l b) erfolgt, indem nur eine Methylgruppe gedreht wird.Es erfolgt also keine Zahnrad-artige, synchrone Torsion, wie man sie im Fallegrößerer Substituenten findet (Bürgi et al., 1983).

Das n-Butan-Molekül stellt einen dreifachen Rotor dar. Die Torsion um dieCH3—CH2-Bindungen läßt sich näherungsweise mit Gl. (6-2) beschreiben. Wirwollen hier nur die Drehung um die zentrale Bindung betrachten und dabei denEinfluß der beiden übrigen Rotationen außer Acht lassen. Die zugehörige Torsions-potentialkurve ist zusammen mit einigen Konformationen in Abb. 6-3 dargestellt.Man erkennt, daß die verschiedenen ekliptischen und gestaffelten Konformationenunterschiedliche Energiewerte besitzen. Die Bezeichnung der Konformationen, dieauch für andere Moleküle mit einer Einfachbindung zwischen zwei sp3-Zentren gilt,ist in Tab. 6-2 angegeben.

Die Bezeichnung der Konformationen erfolgt nach einem von Klyne und Prelog(1960) vorgeschlagenen System, das auch von der IUPAC empfohlen wird (Crossu. Klyne, 1976). Dabei geht man vom Torsionswinkel (p aus, der allerdings nicht wiein Abb. 6-1 und 6-3 für den Bereich 0° bis 360°, sondern von - 180° bis 180° definiertwird. Die in Abb. 6-3 bei 300° und 240° gezeichneten Konformationen des n-Butansentsprechen (p = —60° und —120°. Für einen Winkelbereich von jeweils 60° wird

25.1 kJ/mol

Abb. 6-3. Torsionspotentialkurve des n-Butans für die Drehung um die C2—C3-Bindung. Fürdie ekliptischen und die gestaffelten Konformationen sind Newman-Projektionen angegeben. ZurBezeichnung der Konformationen siehe Tab. 6-2.

Page 7: Strukturen organischer Moleküle (RADEMACHER:STRUKTUREN O-BK) || Acyclische Moleküle

6.1 Rotation um Einfachbindungen 139

Tab. 6-2. Bezeichnung der Konformationen von Ethanderivaten und ähnlichen Mole-külen mit Einfachbindungen.

Torsionswinkel <p Bezeichnunga) Alternative,übliche Bezeichnung

0° ± 30°

+ 30° bis +90°+ 90° bis +150°

+ 150° bis +180°-30° bis -90°-90° bis -150°

-150° bis -180°

± synperiplanar ( + sp)

+ synclinal (+sc)+ anticlinal (+ ac]+ antiperiplanar (+ ap)— anticlinal ( — ac)— synclinal (— sc)— antiperiplanar (— ap)

ekliptisch,syn, s-cisgauche, skewteilweise verdecktanti, s-transteilweise verdecktgauche, skewanti, s-trans

a nach Klyne und Prelog (1960)

dann eine Bezeichnung festgelegt. Diese sind in Tab. 6-2 zusammen mit älteren, aberz. T. heute noch üblichen Bezeichnungen*) aufgeführt.

Bei höher substituierten Ethanen sind noch Konventionen zur Festlegung von (perforderlich:- Liegt ein Kohlenstoff-Atom mit drei verschiedenen Substituenten (CXYZ) vor, so

bezieht man <p auf den nach der Sequenzregel von Cahn, Ingold und Prelog (1966)ranghöchsten Liganden.

- Im Falle eines Kohlenstoff-Atoms mit zwei gleichen Substituenten (CX2Y) beziehtman (p auf den einzelnen Liganden Y, unabhängig vom Rang nach der Sequenz-regel. Analog wird auch bei Dialkylaminogruppen, NR2, verfahren; hier fungiertdas einsame Elektronenpaar als Referenzgruppe.

- Sind alle Substituenten an einem der beiden Kohlenstoff-Atome gleich (CX3), istfür (p der kleinste der möglichen Winkel maßgebend.Die vorstehenden Nomenklaturregeln lassen sich ohne Schwierigkeit auf Mole-

küle mit Einfachbindungen zwischen anders hybridisierten Atomen übertragen.n-Butan bildet wie die meisten n-Alkane und deren Derivate im flüssigen und im

gasförmigen Zustand ein Konformer engemisch. Bei 25 °C liegt ein 70:30-Gemischaus ap- und soKonformer vor. Die Konstante für dieses Gleichgewicht besitzt alsoden Wert K= 30/70 = 0.43. Nach AG° = -RTlnK erhält man als Differenz derfreien Ethalpie von sc- und op-Form AG° = 2.1 kJ/mol. Bei der Berechnung desEnthalpieunterschiedes, A/f ° = AG° + TAS0, ist zu berücksichtigen, daß es zwei sc-Formen (+ sc und — sc) gibt (vgl. Abschn. 5.1). Für den Entropie-Unterschied istalso AS° = Rln2 anzusetzen. Damit erhält man für A/P den Wert 3.8 kJ/mol. Einegenaue Untersuchung ergab aus der Temperaturabhängigkeit des Raman-SpektrumsA//° = 4.0 + 0.2 kJ/mol (Verma et al., 1974). Dieser Wert kann in guter Näherungmit der Energiedifferenz A£ der beiden Konformere gleichgesetzt werden.

Außer dem Konformerenverhältnis und dem Energieunterschied A£ zwischenden Konformeren bzw. zwischen den Potentialminima in Abb. 6-3 sind noch dieEnergiemaxima, also die Übergangszustände für die Konformationsänderungen,von Interesse. Beim n-Butan liegt das Energiemaximum für die a/j/rc-Umwandlung

* Dies gilt insbesondere für gauche statt synclinal.

Page 8: Strukturen organischer Moleküle (RADEMACHER:STRUKTUREN O-BK) || Acyclische Moleküle

140 6 Acyclis ehe Moleküle

(cp « 120°) um 15.5 kJ/mol und dasjenige für die + sc/— ^-Umwandlung ((p = 0°)um 25. l kJ/mol oberhalb des als Bezugspunkt gewählten ̂ -Konformers ((p = 180°).

Die Potentialenergiekurve des n-Butans kann man ebenso wie diejenige anderer1,2-disubstituierter Ethane gemäß Gl. (6-3) durch eine Fourier-Reihe beschreiben.Zur Deutung dieser Kurve s. Abschn. 6.1.4.

0.5

6.1.3 Höhere n-Alkane

Die energieärmste Konformation der längerkettigen n-Alkane ist stets die ge-streckte Anordnung, in der sämtliche C4-Einheiten in der ap-¥orm vorliegen. Biszum C16H34 wird im kristallinen Zustand allein diese Zickzack-Struktur gefunden.Auch kristallines Polyethylen besteht aus solchen zusammengefalteten Kettenab-schnitten in paralleler Lage. In Lösung und im gasförmigen Zustand kommen jedochstets auch synclinale Konformere vor. Deren statistisches Gewicht nimmt mit derKettenlänge stark zu. So lassen sich z. B. für das n-Hexan sechs wöfto-soKonformerekonstruieren, und zwar wie beim n-Butan für jede CH2—CH2-Bindung ein Konfor-mations-Enantiomerenpaar. Jedes dieser Konformere ist zwar um ca. 3.3 kJ/molenergiereicher als die gestreckte Form, dennoch liegen sie bei 300 K jeweils zu ca.8.5% vor. Hinzu kommen noch zwölf di-sc- und acht mXsoKonformere. Ersteremachen bei 300 K zusammen etwa 16% und letztere l % des Konformerengemischesaus. Bei dieser Temperatur ist also die all-ap-Form nur zu etwa V3 vertreten, und bei600 K ist ihr Anteil auf etwa l/6 gesunken, da sich der rAS-Term in AG° =A/P - TAS° stärker bemerkbar macht.

6.1.4 l ,2-Disubstituierte Ethane

Die Torsionspotentialkurve 1,2-disubstituierter Ethane, X—CH2—CH2—Y, äh-nelt derjenigen des n-Butans (Abb. 6-3). Dementsprechend findet man auch für dieseMoleküle zumeist ein Gemisch aus ap- und sc-Konformeren. Die Potentialkurvekann man wieder durch eine Fourier-Reihe [Gl. (6-3)] ausdrücken. Abb. 6-4 zeigtdie Zerlegung der Gesamtkurve in die Teilpotentiale mit ein-, zwei- und dreifacherZähligkeit.

Eine solche Analyse des Gesamtpotentials hat den Vorteil, daß man die Teilkurvenwesentlich leichter deuten kann (Radom et al., 1972):- Das einzählige Potential mit einem Maximum in der syn- und einem Minimum in

der antiperiplanaren Form bringt die direkte Wechselwirkung der beiden Substi-tuenten X und Y zum Ausdruck. Diese kann bei polaren Gruppen in einer Dipol-Dipol-Wechselwirkung bestehen, aber auch die van der Waals-Abstoßung derMethylgruppen im n-Butan bedeuten.

- Das dreizählige Potential ist wie beim Ethan zu interpretieren (s. Abschn. 6.1.1).- Durch das zweizählige Potential werden die Konformationen bei 90 und 270°

begünstigt, also Formen, in denen die Substituenten X und Y senkrecht zueinander

Page 9: Strukturen organischer Moleküle (RADEMACHER:STRUKTUREN O-BK) || Acyclische Moleküle

6.1 Rotation um Einfachbindungen 141

20

kJ/mol

180°

Abb. 6-4. Zerlegung der Torsionspotentialkurve eines Ethanderivates X—CH2—CH2—Y in Teilpo-tentiale. Das dreizählige Potential, das den größten Betrag zum Gesamtpotential E((p} liefert, istwie beim Ethan mit „sterischen" Effekten zu deuten, d.h. die destabilisierende Wechselwirkungzwischen den 7iCH2-, den ac_x- und den ac_Y-Orbitalen ist in den ekliptischen Formen größer alsin den gestaffelten. Das zweizählige Potential beschreibt die hyperkonjugativen Wechselwirkungenzwischen den beiden Molekülhälften, also nCH2/a*^x

und 7iCH2/aJ_Y. Die direkte Wechselwirkungder Substituenten X und Y wird durch das einzählige Potential erfaßt.

angeordnet sind. Die Deutung dieses Potentials bereitete längere Zeit Schwierig-keiten. Mit Hilfe der FMO-Theorie wird es als eine hyperkonjugative Wechselwir-kung erklärt (s. Abschn. 2.3). Und zwar ergibt sich zwischen dem TCCH2-Orbitaleiner Methylengruppe und dem a*-Orbital der benachbarten C—X- bzw. C—Y-Bindung eine Wechselwirkung, die bei (p = 90 und 270° Maximalwerte besitzt,wodurch die zugehörigen Konformere stabilisiert werden. Die Stabilisierung istbei elektronegativen Gruppen X und Y am größten, da diese niedrige ag_x-Orbitale besitzen. Dies erkennt man z.B. am Überwiegen der sc-Form im 1,2-Difluorethan.Die Überlagerung der drei Teilkurven in Abb. 6-4 bringt es mit sich, daß das

Minimum für die syndinale Form nicht genau bei (p = 60° liegen muß. 1,2-Difluor-ethan besitzt z. B. in der sc-Konformation einen Torsionswinkel von 63.5°.

Page 10: Strukturen organischer Moleküle (RADEMACHER:STRUKTUREN O-BK) || Acyclische Moleküle

142 6 Acyclische Moleküle

Tab. 6-3. Energieunterschiede (in kJ/mol) zwischen synclinalem und antiperiplanaremKonformer l ,2-disubstituierter Ethane X—CH2—CH2—Ya).

X

CH3

FClBrCl

Y

CH3FClBrOH

Gas

4.004.66.3

-4.0

Flüssigkeit

3.2-3.8

02.9

-4.0

Kristallkonformer

apsc + apapapsc

a positive Werte, wenn die op-Form bevorzugt ist

Das sc/ap-Verhältnis wird in starkem Ausmaß von den Substituenten X und Ybeeinflußt. In Tab. 6-3 sind die Energieunterschiede für eine Reihe solcher Verbin-dungen als Gase und als Flüssigkeiten angegeben.

Man erkennt, daß außer beim l,2-Dtfluorethan und beim 2-Chlorethanol die ap-Form bevorzugt wird. Von den drei gestaffelten Konformationen des 2-Chloretha-nols ist die 0/7-Form (2 a) zwar sterisch begünstigt; in den beiden enantiomerensynclinalen Konformationen ( + sc, 2b, und — sc, 2c) kann sich jedoch eine intramo-lekulare Wasserstoff-Brückenbindung ausbilden, die diese Formen um etwa 10 kJ/mol stabilisiert. Damit werden letztere um 4 kJ/mol energieärmer als die ap-Form.Noch stärker ausgeprägt ist dieser Effekt beim 2-Fluorethanol, in dem die sc-Formum etwa 8 kJ/mol stabiler ist.

H Q

0

OH

2b(+sc) 2c(-sc)

In der flüssigen Phase wird bei den gleich substituierten Verbindungen, wie dieWerte in Tab. 6-3 ausweisen, das sc-Konformer verhältnismäßig stabiler als in derGasphase. Diesen Befund kann man als eine Folge der Dipolassoziation erklären,denn nur die soKonformere besitzen ein Dipolmoment.

Eine elektrostatische Anziehung zwischen den Substituenten läßt sich als Erklärungfür die Begünstigung der soKonformation in einigen Ethanderivaten mit sperrigenSubstituenten erkennen. Als Beispiel sei das Acetylcholin (3) genannt, das als Neuro-transmitter eine wichtige physiologische Rolle spielt.

OAc

Page 11: Strukturen organischer Moleküle (RADEMACHER:STRUKTUREN O-BK) || Acyclische Moleküle

6.1 Rotation um Einfachbindungen 143

6.1.5 Hochsubstituierte Ethane

Durch sperrige Substituenten und bei höherer Substitution wird die Rotationsbar-riere der C—C-Bindung erwartungsgemäß erhöht. Besonders hohe Torsionsschwel-len findet man, wenn die Rotamere in wenig gespannten gestaffelten Konformatio-nen vorliegen, die ekliptischen Übergangszustände jedoch hochgespannt sind (s. z. B.Ernst, 1983). Dies ist z. B. in Triptycen-Denvaten mit einer tertiären Alkylgruppe anC9 (4) der Fall.

Im Grundzustand ruhen die drei Alkylreste in den Lücken zwischen den aromati-schen Ringen, so daß keine besonders hohe Spannung auftritt. Die beim Konforma-tionswechsel zu durchlaufende ekliptische Form weist jedoch äußerst starke sterischeAbstoßung mit den Wasserstoff-Atomen an C1, C8 und C13 auf. Der Übergangszu-stand ist deshalb sehr energiereich und die Rotationsbarriere sehr hoch. Bei denuntersuchten Beispielen wurden AG*-Werte zwischen 135 und 170 kJ/mol gefunden(Yamamoto und Oki, 1974). Der Weltrekord wird mit 226 kJ/mol vom Di(2-methyl-9-triptycyl) (5) gehalten (Schwartz et al., 1977).

In einem Strukturfragment CHR2 bewirkt die sterische Abstoßung zwischen dengeminalen Resten R eine Aufweitung des Bindungswinkels R—C—R, die bei einemtetrasubstituierten Ethan, R2CH—CHR2, nicht ohne Folgen für das Konformations-verhalten bleibt. Die Minderung der geminalen Abstoßung vergrößert nämlich inder fl/?-Konformation (6 a) die vicinale Repulsion. Günstigere sterische Verhältnissefindet das Molekül dann in der soKonformation (6b), die bei Molekülen diesesTyps die Vorzugskonformation bildet.

6a 6b

Analoge Betrachtungen gestatten auch bei hexasubstituierten Ethanen,C—CR^R3, mit unterschiedlich großen Resten R eine Abschätzung der

bevorzugten Konformationen. Verbindungen dieses Typs können sehr hohe Barrie-ren für die Rotation um die zentrale C—C-Bindung haben, so daß in Einzelfällensogar die Trennung von Konformeren möglich ist (Rüchardt u. Beckhaus, 1980/85;Ernst, 1983).

Page 12: Strukturen organischer Moleküle (RADEMACHER:STRUKTUREN O-BK) || Acyclische Moleküle

144 6 Acyclische Moleküle

6.1.6 Einfachbindungen zwischen sp3- und sp2-AtomenDas Konformationsverhalten bezüglich einer Einfachbindung zwischen einem

sp3- und einem ^-hybridisierten Kohlenstoff-Atom, wie sie in Verbindungen desTyps 7 vorliegt, wird ganz wesentlich durch die hyperkonjugative Wechselwirkungzwischen den Molekülhälften geprägt. Die Rotationsbarrieren sind durchweg niedri-

ger als bei —C—C-Bindungen und liegen im Bereich 3 bis 8 kJ/mol (Tab. 6-1). In

nahezu allen Fällen wird eine der ekliptischen oder beinahe ekliptischen Konformatio-nen bevorzugt.

^xR - CH2- c ' mit X = O, NR, CR2XY Y = H, OH, OR, NR2

R X H X H x

j \ H^j \ / \fl * £ Y / V

7a 7b 7c

1-n-Alkene (X = CH2, Y = H) besitzen zwei energiearme Konformationen, diesich in der Lage des Restes R unterscheiden (7 a und 7b). In den meisten Fällen istdas Konformer 7b begünstigt, z.B. bei 1-Buten (R = CH3) um ca. 1.8 kJ/mol. DieRotationsbarriere der Methylgruppe des Propens (R = H) beträgt 8.4 kJ/mol.

Die Bevorzugung der ekliptischen Konformation 7 a (synperiplanar) bzw. 7b(anticlinal) gegenüber 7c (antiperiplanar) läßt sich ähnlich wie bei den 1,2-disubsti-tuierten Ethanen (s. Abschn. 6.1.4) mit hyperkonjugativen Wechselwirkungen zwi-schen Doppelbindung und Alkylgruppe erklären (vgl. Abschn. 2.3). Ein Wechselwir-kungsdiagramm für die beteiligten Orbitale ist für den Fall einer Methylverbindungin Abb. 6-5 dargestellt.

<*— *M.

^'7*— "'" '

."X"^«Me

Abb. 6-5. Wechselwirkungen zwischen den rc-Orbitalen der Doppelbindung und den Pseudo-7r-Orbitalen der Methylgruppe in Molekülen vom Typ CH3—CY-X (nach Hehre und Salem, 1973).Das Diagramm erklärt, weshalb die synperiplanare Form 7 a stabiler ist als die antiperiplanare 7c.In 7 c ist die destabilisierende 7i/7iMe-Wechselwirkung größer und die stabilisierenden Wechselwirkun-gen 7r*/7iMe und 71/71^6 smd kleiner als in 7a.

Page 13: Strukturen organischer Moleküle (RADEMACHER:STRUKTUREN O-BK) || Acyclische Moleküle

6.1 Rotation um Einfachbindungen 145

Die destabilisierende Wechselwirkung zwischen den besetzten Orbitalen ist in 7 akleiner als in 7c. Dadurch wird die koplanare Lage einer C—H-Bindung mit derC=X-Gruppe in ^-Stellung begünstigt. In die gleiche Richtung wirken auch dieWechselwirkungen zwischen jeweils einem leeren und einem besetzten Orbital (vgl.Band l, S. 101).

Aliphatische Aldehyde (7: X = O, Y = H) sowie Carbonsäuren und Ester (7: X =O, Y = OH oder OR') zeigen ein ganz ähnliches Konformationsverhalten wie dieAlkene. Sie bilden durchweg Gemische aus den Formen 7 a und 7b, wobei jedochaus sterischen Gründen auch geringfügig verdrillte Anordnungen möglich sind.Auch aliphatische Ketone liegen überwiegend in ekliptischen Konformationen vor.Nachstehend ist die stabilste Form des Diethylketons (8) gezeichnet.

8

Eine ähnliche hyperkonjugative Wechselwirkung wie die in Abb. 6-5 dargestellteliegt im Toluol (9) vor. Dementsprechend ist auch bei diesem Molekül eine C—H-Bindung der Methylgruppe koplanar zum Ring angeordnet. Das Torsionspotentialdes Toluols ist sechszählig und die innere Rotation nur schwach behindert (Tab.6-1).

Interessant ist das Konformationsverhalten des Hexamethylbenzols (10). In die-sem hochsubstituierten Molekül müssen sich die Methylgruppen zwangsläufig gegen-seitig beeinflussen (Melissas et al., 1985).

10

In Formel 10 ist angedeutet, daß die sechs Methylgruppen ineinander verzahntsind und ihre Rotation Zahnrad-artig bei disrotatorischer Drehung benachbarterGruppen erfolgt. Die Barriere für diese gekoppelte Rotation beträgt ca. 4 kJ/mol.

Page 14: Strukturen organischer Moleküle (RADEMACHER:STRUKTUREN O-BK) || Acyclische Moleküle

146 6 Acyclische Moleküle

6.2 Moleküle mit partiellen Doppelbindungen

1,3-Diene, deren einfachster Vertreter das 1,3-Butadien (11) ist, können im Prinzipzwei planare Konformationen, die synperiplanare (l l a) und die antiperiplanareForm (11 b), einnehmen*). In beiden Formen wären die 7i-Elektronen optimal delo-kalisiert, in 11 a liegt jedoch eine Überschneidung der beiden endo-Wasserstoff-Atome vor, die zu einer Verformung des Moleküls führen könnte.

lla h libObwohl seit geraumer Zeit kein Zweifel mehr daran besteht, daß beim 1,3-Buta-

dien neben 11 b einige % einer energiereicheren Form existieren, ist bislang nichtganz klar, ob es sich dabei um die z. B. bei Diels-Alder-Reaktionen stets formulierteplanare sp-Form oder eine verdrillte Form handelt.

Die Lösung dieser scheinbar einfachen Frage erwies sich als äußerst schwierig,da die experimentellen Methoden entweder versagten oder nicht zu eindeutigenErgebnissen führten. Da lla im Gegensatz zu 11 b nicht zentrosymmetrisch ist,sollte eigentlich die Mikrowellenspektroskopie die Methode der Wahl sein, da manmit ihr selektiv 11 a erfassen könnte. Leider wurde aber von 11 kein MW-Spektrumerhalten.

Bei der Elektronenbeugung mißt man das Konformerengemisch. Da es dabeischwierig ist, die geringe Menge lla neben 11 b zu erkennen, wurde die Temperaturbis auf 900°C erhöht, allerdings ohne daß sich Anzeichen für lla ergaben (Kvesethet al., 1980).

Daß lla bei hoher Temperatur tatsächlich in nennenswerter Menge vorliegt,konnte jedoch gezeigt werden, indem man das Hochtemperatur-Gleichgewichtsge-misch in einer Argonmatrix kondensierte und bei tiefer Temperatur untersuchte. Diespektroskopischen Befunde (IR und UV) wurden im Sinne einer planaren Strukturvon lla gedeutet (Compton et al., 1976; Squillacote et al., 1979).

Demgegenüber führten NMR-spektroskopische Untersuchungen an flüssigemButadien (Lipnick u. Gorbisch, 1973) sowie Molekül-mechanische Berechnungen(Braun u. Lüttke, 1976) zu Verdrillungswinkeln von 20° bzw. 28°. Neueste ab-initio-Ergebnisse favorisieren ebenfalls die C2-Form, die um ca. 35° aus der synperiplanarenForm verdrillt und ca. 12 kJ/mol energiereicher als llb, aber ca. 2 kJ/mol stabilerals planares lla sein soll (de Märe und Neisius, 1984; Breulet et al., 1984; Bocket al., 1985).

Wegen der Delokalisierung der Ti-Elektronen besitzt die zentrale CC-Bindung desButadiens partiellen Doppelbindungscharakter (vgl. Abschn. 3.3). Dies äußert sich

* Diese Konformationen werden auch mit s-cis und s-trans bzw. s-Z und s-E bezeichnet; derBuchstabe s steht für single bond (vgl. Tab. 6-2).

Page 15: Strukturen organischer Moleküle (RADEMACHER:STRUKTUREN O-BK) || Acyclische Moleküle

6.2 Moleküle mit partiellen Doppelbindungen 147

u. a. in einer Barriere für die innere Rotation von ca. 25 kJ/mol, die doppelt so großist wie diejenige des Ethans.

Acrolein (12) und Glyoxal (13), bei denen eine oder beide CH2-Gruppen desButadiens durch Sauerstoff ersetzt wurden, zeigen qualitativ das gleiche Konforma-tionsverhalten wie die Stammverbindung. In beiden Fällen ist die ap-Form diebei weitem überwiegende Konformation. Die energiereichere ^-Form ist jedochebenfalls planar, da die H---H-Abstoßung als destabilisierende Wechselwirkungnicht mehr vorhanden ist. Der Energieunterschied zwischen sp- und o/7-Konformerbeträgt beim Acrolein 8.6 und beim Glyoxal 13.4 kJ/mol. Beim Diacetyl, demDimethylderivat von 13, findet man nur das an //-Konformer (van Alsenoy et al.,1984).

14

Acrolein besitzt von den hier diskutierten Molekülen als einziges auch in der ap-Form ein elektrisches Dipolmoment. Es war daher möglich, die Struktur beiderKonformere durch MW-Spektroskopie zu bestimmen. Dabei ergaben sich nur mini-male Unterschiede in den Strukturparametern (Blom et al., 1984).

Formaldazin (14) bildet ebenfalls ein Konformerengemisch (Hagen et al., 1977).Auch bei diesem Molekül überwiegt die ap-Form. Die Potentialenergiekurve für dieinnere Rotation besitzt jedoch bei einem Verdrillungswinkel von 0° (s/7-Form) keinMinimum. Daher findet man ein anticlinales Konformer, das um etwa 5 kJ/molenergiereicher ist als das ö/?-Isomer, bei (p = 130°*\

Auch in der Aktivierungsenergie für die innere Rotation, d. h. für die Umwandlungder beiden Konformere ineinander, unterscheidet sich das Formaldazin von denisoelektronischen Molekülen 11 bis 13 (s. Tab. 6-1): Während die Barrieren vonAcrolein und Glyoxal in etwa derjenigen des Butadiens entsprechen, findet man für14 einen Wert von nur 6.3 kJ/mol, also weniger als beim Ethan. Dieser Befundkönnte zu der Vermutung verleiten, daß in der planaren Konformation des Form-aldazins keine Delokalisierung der ii-Elektronen vorhanden sei. Die Barriere für dieinnere Rotation stellt jedoch die Energiedifferenz zwischen der antiperiplanarenKonformation als dem Grundzustand und der um etwa 100° verdrillten Form (14 a)als dem Übergangszustand dar. In der letztgenannten Konformation sind jeweilseine 7i-Bindung und das einsame Elektronenpaar des benachbarten Stickstoff-Atomskoplanar angeordnet. Durch die n/n-Konjugation wird die Energie des Übergangszu-stands offensichtlich so stark abgesenkt, daß die innere Rotation kaum behindertwird. Daß die Konjugation der beiden Doppelbindungen von 14 in der ap-Formtatsächlich größer ist als beim 1,3-Butadien, konnte durch Photoelektronenspektro-skopie nachgewiesen werden (Kirste et al., 1984).

* Neuere Befunde sprechen dafür, daß 14 nur in der ap-¥orm vorliegt (s. z. B. Bock et al., 1984).

Page 16: Strukturen organischer Moleküle (RADEMACHER:STRUKTUREN O-BK) || Acyclische Moleküle

148 6 Acyclische Moleküle

14 a

Mit 14 vergleichbar ist das Konformationsverhalten des N-Methylenformamids(15). Allerdings ist bei dieser Verbindung die o/?-Form um 12 kJ/mol weniger stabilals die um 25.4° verdrillte ^-Konformation. Für die ^/a/?-Isomerisierung wurdeeine Barriere von 17 kJ/mol berechnet. Die Eigenschaften dieser Verbindung, dieselbst bislang nicht dargestellt, aber in Form ihres Diphenylderivates einer Röntgen-strukturanalyse unterzogen wurde, läßt sich ebenfalls mit einer neben der n/n-Konjugation wirksamen n/rc-Wechselwirkung deuten. Erstere wäre wiederum beiplanarer Atomanordnung (sp und ap\ letztere bei einem Verdrillungswinkel von ca.90° am wirksamsten. Das Minimum der potentiellen Energie bei 25.4° stellt danneinen Kompromiß zwischen beiden Konjugationsmöglichkeiten dar (Allmann et al.,1984).

W 15

Auf andere Verbindungen mit einer partiellen Doppelbindung wie Amide u. ä.Moleküle wurde bereits in Abschn. 5.4.5.2 hingewiesen.

Biphenyl (16) läßt wegen der Delokalisierung der 7i-Elektronen wie konjugiertePolyene eine planare Struktur (16 a) erwarten.

M ! • M

16 a 16b

Diese wird für die kristalline Substanz tatsächlich beobachtet. In 16 a gibt esjedoch eine ungünstige sterische Wechselwirkung der ortho-Wasserstoff-Atome, diedurch eine Verdrillung zu 16b aufgehoben werden kann. Das freie Molekül besitzteinen mittleren Torsionswinkel von 42°, der offensichtlich einen Kompromiß zwi-schen H H-Abstoßung und Einschränkung der rc-Elektronen-Delokalisierungdarstellt. Die Planarität im kristallinen Zustand ist auf zwischenmolekulare Wechsel-wirkungen (Packungseffekte) zurückzuführen. Durch Substituenten in den ortho-Positionen kann man die Verdrillung der beiden Benzolringe und auch die Barrierefür die innere Rotation variieren. Die Trennbarkeit von Biphenyl-Derivaten in

Page 17: Strukturen organischer Moleküle (RADEMACHER:STRUKTUREN O-BK) || Acyclische Moleküle

6.3 Große Moleküle 149

Enantiomere wurde zuerst 1922 am Beispiel der 6,6'-Dinitrodiphensäure (17) nachge-wiesen.

N02 C02H

17

6.3 Große Moleküle

Nach den eher grundsätzlichen Ausführungen in diesem Kapitel über das Konfor-mationsverhalten relativ einfacher Moleküle soll jetzt zumindest ein Ausblick aufdie Konformationsanalyse großer Moleküle gegeben werden. Dank verfeinerter ex-perimenteller und theoretischer Techniken konnten sogar biologische Moleküle wieNucleinsäuren, Proteine, Polysaccharide und Lipide sowie andere Moleküle vonpharmakologischem Interesse untersucht werden (Govil und Hosur, 1982; Pullman,1976; Saenger, 1984; Schulz u. Schirmer, 1979). Das Studium solcher Verbindungensoll nach Möglichkeit in Lösung erfolgen, da im kristallinen Zustand die Mobilitätder Moleküle, die für ihre physiologische Wirkung von entscheidender Bedeutungist, weitestgehend eingeschränkt wird. Deshalb ist die Röntgenstrukturanalyse alsalleinige Methode unzureichend. Für Lösungsuntersuchungen wird vor allem dieNMR-Spektroskopie (vgl. Abschn. 5.4.5) eingesetzt.

Im Prinzip muß dann für jede Einfachbindung (außer denen mit Wasserstoff-Atomen) der Torsionswinkel ermittelt werden. Als Beispiel seien hier die Verhältnisse

Abb. 6-6. Torsionswinkel in Peptiden. Die Winkel (p, y und CD charakterisieren das Peptidgerüst(„backbone") und die Winkel /b /2 • • • die Seitenketten. Für jede Aminosäure und Peptidbindungwird ein vollständiger Satz dieser Winkel benötigt.

Page 18: Strukturen organischer Moleküle (RADEMACHER:STRUKTUREN O-BK) || Acyclische Moleküle

150 6 Acyclische Moleküle

bei den Proteinen etwas näher dargelegt (Kessler, 1982). Die Konformation einerPolypeptidkette kann mit den Torsionswinkeln (p, y und CD für das Gerüst (backbone)und den Winkeln x für die Seitenkette charakterisiert werden (Abb. 6-6). Fürjede Peptidbindung bzw. Aminosäure benötigt man einen vollständigen Satz dieserWinkel.

Die Peptidbindung C'—N ist wegen ihres partiellen Doppelbindungscharakters inder Regel planar (CD = 0° bzw. 180°), und die Flexibilität der Kette ergibt sich ausden Rotationen an den beiden Einfachbindungen, C'—Ca und Ca—N. Diebevorzugten Werte von y und (p hängen von den Seitenketten, also den Substituentenam Ca, ab. Konventionsgemäß wählt man (p = \j/ = 180° für die vollständig gestreckteKette und positive bzw. negative Werte von cp und y für rechts- bzw. linksgängigehelicale Anordnungen. In einem sog. Ramachandran-Diagramm (Ramachandran u.Sasisekharan, 1968) charakterisiert man - ähnlich wie in Abb. 6-2 - energetischgünstige und ungünstige Bereiche von (p und y für die Kombination von jeweilszwei Aminosäuren.

Ein aktuelles Beispiel für die Konformationsanalyse eines Oligopeptids ist dasCyclosporin A, ein cyclisches Undecapeptid, das in der Medizin wegen seiner Minde-rung der Immunabwehr verwendet wird. Die Signale sämtlicher 111 Protonen,62 Kohlenstoff- und 12 Stickstoff-Atome konnten in den 1H-, 13C- und 15N-NMR-Spektren zugeordnet und die Konformation des gesamten Moleküls in Lösungermittelt werden (Kessler et al., 1985). Solche Untersuchungen sind unerläßlicheVoraussetzung für das Verständnis von Wirkstoff-Rezeptor-Wechselwirkungen, alsoder Funktionsweise von Pharmaka.

Weiterführende und ergänzende Literatur zu Kapitel 6

Bahr W. und Theobald H. (1973): Organische Stereochemie. Begriffe und Definitionen. Springer-Verlag, Berlin.Lister D. G., Macdonald J.N. und Owen N. L. (1978): Internal Rotation and Inversion. AcademicPress, London.Oki M. (1983), „Recent Advances of Atropisomerism", Topics Stereochem. 14, 1.Testa B. (1983): Grundlagen der Organischen Stereochemie. Verlag Chemie, Weinheim.S. auch die Literaturangaben zu Kapitel 5.