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3 Größe und Gestalt von Molekülen 3.1 Einleitung Die experimentellen Strukturuntersuchungen haben zusammen mit dem Verständ- nis der chemischen Bindung auf quantentheoretischer Grundlage zu ziemlich klaren Vorstellungen von der geometrischen Struktur organischer Moleküle geführt. Auch wenn eine bestimmte Verbindung nicht selber Gegenstand einer Strukturanalyse war, läßt sich ihre Gestalt zumeist z.B. mit Hilfe von Molekülmodellen ziemlich realistisch veranschaulichen. Dieser Umstand ist in erster Linie darauf zurückzufüh- ren, daß sich die Gesamtstruktur in guter Näherung aus Inkrementen wie C—H- und C—C-Einfachbindungen, C=C-, C=O- und C=N-Doppel- sowie C=C- und C=N-Dreifachbindungen usw. unter Berücksichtigung der aus der Hybridisierung der Atome resultierenden Bindungswinkel zusammensetzen läßt. Auch Abweichun- gen von Standardbindungsparametern kann man in vielen Fällen durch elektrosta- tische, induktive, konjugative, sterische, stereoelektronische u. ä. Effekte erklären. In diesem Kapitel sollen zunächst Standardwerte für Bindungslängen und -winkel präsentiert werden. Anschließen soll sich eine Diskussion über Effekte, die zu Abwei- chungen von den Standardwerten führen. Einige dieser Effekte können durch spek- troskopische Messungen erfaßt werden. Darauf wird in Abschn. 3.4 näher einge- gangen. Die Wasserstoff-Brückenbindung und andere zwischenmolekulare Wechselwirkun- gen, die neben den kovalenten Bindungen für die räumliche Gestalt der Moleküle insbesondere im kondensierten Zustand mitverantwortlich sind, sollen in den Abschn. 3.4 und 3.5 behandelt werden. 3.2 Standardgeometrien 3.2.1 Bindungslängen Ein Chemiker wird bei der Konstitutionsanalyse einer unbekannten Verbindung die unterschiedlichen Bindungsarten üblicherweise mit Hilfe spektroskopischer Me- thoden erkennen. So sind C—H-Bindungen in gesättigten Aliphaten im IR-Spektrum an charakteristischen Absorptionen zwischen 2850 und 2960 cm" 1 zu erkennen, Carbonylgruppen an intensiven Absorptionsbanden im Bereich von 1650 bis Strukturen organischer Moleküle. Paul Rademacher Copyright © 1987 VCH Verlagsgesellschaft mbH, Weinheim ISBN: 3-527-26545-7

Strukturen organischer Moleküle (RADEMACHER:STRUKTUREN O-BK) || Größe und Gestalt von Molekülen

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3 Größe und Gestaltvon Molekülen

3.1 Einleitung

Die experimentellen Strukturuntersuchungen haben zusammen mit dem Verständ-nis der chemischen Bindung auf quantentheoretischer Grundlage zu ziemlich klarenVorstellungen von der geometrischen Struktur organischer Moleküle geführt. Auchwenn eine bestimmte Verbindung nicht selber Gegenstand einer Strukturanalysewar, läßt sich ihre Gestalt zumeist z.B. mit Hilfe von Molekülmodellen ziemlichrealistisch veranschaulichen. Dieser Umstand ist in erster Linie darauf zurückzufüh-ren, daß sich die Gesamtstruktur in guter Näherung aus Inkrementen wie C—H-und C—C-Einfachbindungen, C=C-, C=O- und C=N-Doppel- sowie C=C- undC=N-Dreifachbindungen usw. unter Berücksichtigung der aus der Hybridisierungder Atome resultierenden Bindungswinkel zusammensetzen läßt. Auch Abweichun-gen von Standardbindungsparametern kann man in vielen Fällen durch elektrosta-tische, induktive, konjugative, sterische, stereoelektronische u. ä. Effekte erklären.

In diesem Kapitel sollen zunächst Standardwerte für Bindungslängen und -winkelpräsentiert werden. Anschließen soll sich eine Diskussion über Effekte, die zu Abwei-chungen von den Standardwerten führen. Einige dieser Effekte können durch spek-troskopische Messungen erfaßt werden. Darauf wird in Abschn. 3.4 näher einge-gangen.

Die Wasserstoff-Brückenbindung und andere zwischenmolekulare Wechselwirkun-gen, die neben den kovalenten Bindungen für die räumliche Gestalt der Moleküleinsbesondere im kondensierten Zustand mitverantwortlich sind, sollen in denAbschn. 3.4 und 3.5 behandelt werden.

3.2 Standardgeometrien

3.2.1 Bindungslängen

Ein Chemiker wird bei der Konstitutionsanalyse einer unbekannten Verbindungdie unterschiedlichen Bindungsarten üblicherweise mit Hilfe spektroskopischer Me-thoden erkennen. So sind C—H-Bindungen in gesättigten Aliphaten im IR-Spektruman charakteristischen Absorptionen zwischen 2850 und 2960 cm"1 zu erkennen,Carbonylgruppen an intensiven Absorptionsbanden im Bereich von 1650 bis

Strukturen organischer Moleküle. Paul RademacherCopyright © 1987 VCH Verlagsgesellschaft mbH, WeinheimISBN: 3-527-26545-7

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56 3 Größe und Gestalt von Molekülen

1825 cm"1, sp2-hybridisierte Kohlenstoff-Atome von Alkenen im 13C-NMR-Spek-trum an einem Signal zwischen 80 und 160 ppm, aromatische Gruppen an charakteri-stischen UV-Absorptionsbanden usw. Die IR-Gruppenfrequenzen, die charakteri-stischen chemischen Verschiebungen im NMR-Spektrum und andere spektro-skopische Eigenschaften ebenso wie die Kraftkonstanten von Bindungen, dieBindungsdissoziationsenergien, Bindungsinkremente von Bildungsenthalpien, Di-polmomenten u. ä. lassen sich darauf zurückführen, daß die Bindung zwischen zwei

Tab. 3-1. Standard-Bindungslängen in pm

a) EinfachbindungenH B C N

74 120 110 104162 158 149

154 147145

O

96137143141148

F Si P S Cl Br I

92 148 144 133 127 141 161 H132 198 194 181 174 189 224 B139 187 185 183 179 195 214 C136 174 170 169 175 214 N142 164 162 157 170 165 183 O142 156 157 154 164 176 186 F

234 225 213 202 217 245 Si222 212 204 222 247 P

207 201 224 S199 214 230 Cl

229 247 Br266 I

C(sp3) C(sp2)

H 110.2 107.1C(sp3) 154.4 151.0C(sp2) 146.6C(sp)

b) DoppelbindungenC N O

C 134 129 121N 125 122O 121PSi

C(sp2) C(sp)

C(sp2) 133.5 132C(sp) 128.5

c) DreifachbindungenC N

C 120.2 115.6N 110

C(sp)

105.8145.6143.2137.4

P

167155147203

N(sp2)

129120.0

0

112.8111

N(sp3)

101147143133

S

163152143192

O

121117

P

153

N(sp2) 0 S

99 96 133145 143 183140 135 176133 126

Si

170

216

S

170156

S

147

F Cl Br I

92 127 141 161139 179 195 214135 173 185 203127 163 179 199

Page 3: Strukturen organischer Moleküle (RADEMACHER:STRUKTUREN O-BK) || Größe und Gestalt von Molekülen

3.2 Standardgeometrien 57

Atomen von ihrer Umgebung, also in erster Linie von den übrigen Atomen desMoleküls, entweder nur geringfügig oder aber auf durchsichtige Art und Weisebeeinflußt wird. Zur Energetik von Molekülen siehe Physikalische Organische Che-mie Band 3.

In Tab. 3-1 sind für einige Atompaare typische Werte für die Länge kovalenterBindungen angegeben. Die Bindungen des Wasserstoffs und des Kohlenstoffs mitanderen Atomen variieren bei gleichem Bindungstyp in verschiedenen Molekülennur geringfügig in ihrer Länge, so daß man die aufgeführten Daten als Standardbin-dungslängen bezeichnen kann. Bindungen zwischen anderen Atomen, z. B. zwischenBor und Sauerstoff, zeigen größere Unterschiede in ihrer Länge, so daß es schwerist, Standardwerte festzulegen.

Folgende Faktoren beeinflussen den Bindungsabstand zwischen zwei Atomen:(1) die Hybridisierung der Atome(2) die Elektronegativität und die Polarisierbarkeit der Bindungspartner(3) die Elektronendelokalisierung(4) sterische Effekte

Der erste Punkt macht sich z. B. in charakteristischen Unterschieden von C—H-Abständen bei sp3-, sp2- und sp-hybridisierten Kohlenstoff-Atomen bemerkbar: Mitzunehmendem s-Anteil des C—H-Hybridorbitals erhöht sich die Anziehung desElektronenpaares in der C—H-Bindung durch das Kohlenstoff-Atom, und demzu-folge nimmt ihre Länge ab. Die Länge einer C—C-Einfachbindung verringert sichbei der Hybridisierungsänderung eines Kohlenstoffs von sp3 über sp2 nach sp jeweilsum ca. 4 pm.

Ein sp"-Hybridorbital läßt sich nach Gl. (3-1) mit dem Hybridisierungsparametern beschreiben (s. Band l, S. 281 ff.):

s-Anteil: s= 1/(1 +n) (3-1)p-Anteil: p = n/(l + n)

Der s-Anteil eines sp3-Hybridorbitals (n = 3) beträgt also s = 0.25. Bei einem sp2-Hybrid (n = 2) besitzt s den Wert 0.33, und bei einem sp-Hybrid (n = 1) ist s = 0.5.Zu beachten ist, daß die Summe der s-Anteile in den vier Hybridorbitalen gleich lund die der p-An teile gleich 3 sein muß. Der Einfluß der Hybridisierung auf CH-und CC-Bindungslängen kann mit den Gl. (3-2) und (3-3) beschrieben werden.

rCH = 115.97 - 20.9 sc (pm) (3-2)

rcc = 169.2 - 31 (sCl + *c2) (pm) (3-3)

Eine Systematik der Atomabstände in kovalenten Bindungen ist mit Hilfe der fürdie Atome charakteristischen Bindungsradien (Kovalenzradien) möglich. Die Längeeiner Bindung rxy zwischen zwei Atomen X und Y ist dann im einfachsten Fallgemäß Gl. (3-4) gleich der Summe ihrer Bindungsradien. In Tab. 3-2 sind dieBindungsradien einiger Atome zusammengestellt. Dabei ist zu beachten, daß sichdie Bindungsradien mit der Hybridisierung ändern. Und zwar ist der Kovalenzradiusum so kleiner, je größer der s-Charakter des an der Bindung beteiligten Hybridorbi-tals ist. Die Bindungsradien werden in der Regel aus den jeweiligen homoatomarenAbständen bestimmt. Z. B. ergeben sich die Einfachbindungsradien von Bor und

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58 3 Größe und Gestalt von Molekülen

Tab. 3-2. Bindungsradius von Atomen (in pm)

Atom

HBCNOFSiPSClBrI

Einfach-

328177.072747111711110499114133

Doppel-

7166.76260

10810094

Dreifachbindung

6460.35555

1009387

Kohlenstoff aus den Werten für die B—B- und C—C-Abstände der Tab. 3-1. NachGl. (3-4) erhält man mit rB = 81 pm und rc = 77 pm für die B—C-Bindung einenWert von 158 pm, der mit demjenigen der Tab. 3-1 exakt übereinstimmt.

JXY = rx + >Y (3-4)

Wie bereits angedeutet, sind die Verhältnisse bei polaren Bindungen, also beiAtompaaren mit größerem Elektronegativitätsunterschied, zumeist weniger günstig.Beispielsweise ergibt sich aus den Atomradien von Kohlenstoff und Fluor nachGl. (3-4) ein um 9 pm zu großer C—F-Abstand. Diesem Umstand trägt die vonSchomaker und Stevenson (1941) vorgeschlagene Beziehung (3-5 a) durch ein ent-sprechendes Korrekturglied Rechnung, in welchem xx — xy der Absolutwert derElektronegativitätsdifferenz von X und Y ist. Die Länge der Bindung X—Y ist danngleich der Summe der Radien von X und Y und des Korrekturglieds mit derElektronegativitätsdifferenz. Die empirische Konstante ß besitzt Werte, die von derPosition der Bindungspartner im Periodensystem abhängig sind; für Bindungen inorganischen Molekülen verwendet man /? = 8 pm (Pauling, 1968).

rxY = rx + rv-ß\Xx-XY\ (3-5 a)

Die von L. Pauling eingeführten und in der Folgezeit noch etwas korrigiertenElektronegativitäten sind für einige wichtige Elemente in Tab. 3-3 angegeben. NachGl. (3-5 a) ist die Bindungskontraktion der Elektronegativitätsdifferenz der gebunde-nen Atome proportional. Die nach dieser Beziehung berechneten Bindungslängen

Tab. 3-3. Elektronegativität x von Atomen.

Atom

HBCNOF

X

2.202.042.553.043.443.98

Atom

SiPSClBrI

X

1.902.192.583.162.962.66

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3.2 Standardgeometrien 59

liegen den tatsächlichen Werten meist näher als die durch bloße Addition der Bin-dungsradien mit Gl. (3-4) erhaltenen.

Beispiel 3-1 C—F-Bindungslänge:

Nach Gl. (3-5 a) erhält man mit den Kovalenzradien von Kohlenstoff und Fluor aus Tab. 3-2:

rc_F = 77 + 71 - 8 x 2.04 - 3.441 = 137 pm

Dieser Wert stimmt mit dem in Tab. 3-1 aufgeführten (139 pm) innerhalb des Erwartungsbereichsüber ein.

Aufgrund einer Auswertung zahlreicher, z. T. neuer Strukturdaten schlagen Blomund Haaland (1985) eine Modifikation der Schomaker-Stevenson-Gleichung vor:

>XY = rx + rY - 8.5 | xx - xy \ I A (3-5b)

Die Übereinstimmung der nach Gl. (3-5 b) abgeschätzten Bindungslängen mitexperimentellen Werten ist durchweg besser als bei der Verwendung von Gl. (3-5 a).Allerdings muß man auch etwas andere Bindungsradien und Elektronegativitätenverwenden. (Näheres siehe Band 3 dieser Reihe.)

Zur quantenchemischen Beschreibung polarer kovalenter Bindungen s. Band l,S. 266 ff.

Der Einfluß von Substituenten unterschiedlicher Elektronegativität läßt sich z. B.an den C—H-Bindungslängen von Ethan, Methan und Chloroform verdeutlichen:

CH3CH2—H 110.2pmH3C—H 109.4C13C—H 106

In der Reihe der Chlormethane verkürzt sich die C—Cl-Bindungslänge pro Chlor-Atom um ca. l pm:

H3C—Cl 178.0pmH2C1C—Cl 177.2HC12C—Cl 176.3C13C—Cl 175.5

Diese Befunde sind mit unterschiedlichen s-Anteilen der vier Hybridorbitale desKohlenstoff-Atoms in den C—H-, C—C- und C—Cl-Bindungen zu deuten. Durchdie Substituenten werden in erster Linie die Elektronen in den p-Orbitalen desKohlenstoffs beeinflußt. So erhöht z.B. die eine Methylgruppe des Ethans im Ver-gleich mit dem Methan die Elektronendichte am benachbarten Kohlenstoff-Atom.Dadurch erhalten die Hybridorbitale dieses Kohlenstoff-Atoms einen höheren p-Charakter, und die C—H-Bindungen werden länger.

Ähnliche Effekte findet man auch bei C=C-Doppelbindungen:

H2C=CH2 133.5 pmF2C=CF2 131.3

Auf diese Effekte wird auch bei den Bindungswinkeln (Abschn. 3.2.3) einge-gangen.

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60 3 Größe und Gestalt von Molekülen

3.2.2 Bindungsenergien

Die Stärke einer kovalenten Bindung läßt sich auf verschiedene Weise definieren.Einmal kann man die Bindungsdissoziationsenergie, zum anderen die Kraftkonstanteund schließlich die aus Verbrennungs- oder Hydrierwärmen bestimmte Bindungs-energie verwenden. Letztere stellt im Vergleich mit der Dissoziationsenergie einenMittelwert für die jeweilige Bindungsart dar, während z.B. die Energie für diesukzessive Spaltung der vier C—H-Bindungen des Methans verschiedene Wertebesitzt. In Tab. 3-4 sind die mittleren Bindungsenergien für einige Bindungen auf-geführt.

Tab. 3-4. Mittlere Bindungsenergien (in kJ/mol).

a) EinfachbindungenH C N O F Si P S Cl Br

436 413348

391292161

463351157139

563441270185153

393285301451586

343264251335503

399259192255343

432328200205254

366276222234249

29924072234280

HCNOF

b) Mehrfachbindungen

c=cC=Nc=oc=sN=NN=O

595507707550418607

C=CC=NCEEON=N

7808791077945

Ähnlich wie bei den Bindungslängen sind auch hier Einflüsse der Hybridisierung,Elektronegativität, Elektronendelokalisierung usw. festzustellen. Polare Bindungen,also kovalente Bindungen zwischen Atomen mit großem Unterschied in der Elektro-negativität, sind im allgemeinen fester als unpolare. Dies stimmt mit der obenerwähnten Kontraktion polarer Bindungen überein. Nach Pauling (1968) gestattetein Vergleich der Bindungsenergie einer heteroatomaren Bindung X—Y mit denentsprechenden Werten der beiden homoatomaren Bindungen X—X und Y—Yeine Abschätzung der Polarität der erstgenannten Bindung. Den größten Wert derBindungsenergie besitzt die Dreifachbindung zwischen Kohlenstoff und Sauerstoffim Kohlenmonoxid (1077 kJ/mol). Dies läßt sich damit erklären, daß zur a- und denbeiden Ti-Bindungen noch eine ionische Bindung gemäß (+)C=O(~} hinzukommt.

Auch beobachtet man eine Zunahme der Bindungsenergie von C—C-, C—N-und C—O-Bindungen mit steigendem s-Charakter des Kohlenstoff-Hybridorbitals,entsprechend der Abnahme der Länge dieser Bindungen.

Nähere Angaben zu diesem Thema befinden sich in Band 3 dieser Reihe.

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3.2 Standardgeometrien 61

3.2.3 Bindungs winkel

Die Winkel zwischen den von einem Zentralatom ausgehenden Bindungen werdenbei offenkettigen Verbindungen in erster Linie durch seine Hybridisierung festgelegt:

sp3 109.5°sp2 120°sp 180°

Abweichungen von diesen Werten um einige Grad sind üblich. Der Tetraederwinkelwird exakt nur dann gefunden, wenn das Molekül Tetraedersymmetrie, wie beim CH4

oder beim CC14, besitzt. Bei unterschiedlichen Substituenten kann das Kohlenstoff-Atom für die einzelnen Bindungen etwas unterschiedliche Hybridorbitale verwen-den. Mit dem s-Charakter [Gl. (3-1)] variieren dann die Winkel zwischen den Bin-dungen.

Die CCC-Winkel einer n-Alkylkette sind auf 112° aufgeweitet, während der HCH-Winkel der Methylengruppen mit 106° entsprechend verkleinert ist. Für die C—C-Bindungen werden also Hybridorbitale mit etwas kleinerem, für die C—H-Bindun-gen solche mit etwas größerem s-Anteil betätigt.

Dieser Befund ist als Thorpe-Ingold-Effekt bekannt. Danach geht die Aufweitungdes Winkels zwischen zwei großen geminalen Gruppen G mit der Kompression desBindungswinkels zwischen kleinen Substituenten k einher. Daß hier neben densterischen Effekten auch elektronische mitspielen, zeigt der gegenteilige Befund amMethylenchlorid:

"\ ̂112° C% 108°

Atome mit freien Elektronenpaaren wie zweibindiger Sauerstoff und dreibindigerStickstoff bewirken in einer Kette keine wesentlichen Winkeländerungen:

C—C—C 112°C—O—C 112°C—N—C 111°

Deutliche Unterschiede sind jedoch für die Hydride bekannt:

CH4 H—C—H 109.5°NH3 H—N—H 107.1°OH2 H—O—H 104.5°

Die Änderung des Bindungswinkels dieser isoelektronischen Moleküle läßt sichmit dem Gillespie-Nyholm-Modell durch die Elektronenpaar abstoßung erklären(Gillespie, 1975). Die einsamen Elektronenpaare bei Stickstoff und Sauerstoff befin-den sich näher am Zentralatom als die Bindungselektronenpaare. Sie sind daher fürdie übrigen Elektronenpaare stärker repulsiv als letztere untereinander. Deshalb

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62 3 Größe und Gestalt von Molekülen

nimmt der Bindungswinkel mit steigender Anzahl freier Elektronenpaare ab. Beiden Dimethylderivaten ist dieser Effekt allerdings nur noch geringfügig vorhanden:

CH3

H2C C—C—C 112.4° C—C 153.1 pm

CH3

CH3

HN C—N—C 111.8° N—C 145.5 pm

CH3

CH3

O C—O—C 111.5° O—C 141.6 pm

CH3

Hier kompensiert die bei kleinerem X—C-Abstand größere sterische Wechselwir-kung der Methylgruppen die Winkelkompression.

Bei den Elementen der nächsten Periode, Phosphor und Schwefel, liegen dieBindungswinkel in der Nähe von 90°, da die Bindungen von den unhybridisiertenp-Orbitalen dieser Atome gebildet werden:

PH3 H—P—H 93.5°PR3 C—P—C 99°SH2 H—S—H 92.1°SR2 R—S—R 99°

Während die Bindungswinkel durch Alkylgruppen und andere Donorsubstituen-ten vergrößert werden, bewirken elektronegative Substituenten eine Verkleinerung:

X NX3 OX2

H 107.1° 104.5°CH3 110.9° 111.5°F 102° 100°

Analoge Effekte beobachtet man auch bei sp2-hybridisiertem Kohlenstoff undSchwefel:

CH2 O O

X

HCH3F

A/ \X X

117.2°122.2°110.6°

A/ \X X

115.8°116.0°107.7°

A/ \X X

100°100°92.8°

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3.2 Standardgeometrien 63

Diese Substituenteneffekte sind in gleicher Weise wie bei den Bindungslängen mitHybridisierungsänderungen zu erklären.

Bei der Auswertung der Strukturdaten von Benzolderivaten (1)

stellte man fest, daß die regelmäßige Sechseckstruktur des Ringes durch Substituen-ten X mit starkem Donor- oder Akzeptorcharakter gestört wird (Domenicanoet al., 1975; Allen et al., 1983). So verursachen Elektronen-abziehende Substituenteneine Verkürzung der Bindungen zwischen C1 und C2 sowie zwischen C1 und C6,dementsprechend wird der ipso-Winkel a vergrößert. Bei Fluorbenzol beträgt a123.4°, bei Nitrobenzol 122.1° und bei Benzonitril 122.5°. Donorsubstituenten bewir-ken eine entgegengesetzte Verformung des Benzolringes: Toluol, Anilin und N,N-Dimethylanilin besitzen einen Winkel a von 118.1, 119.4 bzw. 117.2°.

Diese Befunde können qualitativ mit einer Störung des Ti-Elektronensystems desBenzols erklärt werden; in l ist die Entartung der MOs 7i2 und 7i3 aufgehoben.Während 7i2 wegen des Koeffizienten 0 an C1 nur wenig gestört wird, erfährt 7i3 jenach Akzeptor- oder Donorcharakter von X eine Stabilisierung oder eine Destabili-sierung. Im Falle von Akzeptorsubstituenten ist damit eine Verlängerung der Bin-dungen C2—C3 und C5—C6 sowie eine Verkürzung der übrigen verbunden. BeiDonorgruppen treten entgegengesetzte Effekte auf. Eine quantitative Analyse erfor-dert auch eine Berücksichtigung der cr-Bindungen (Bock et al., 1985 a).

7T2 7T3

3.2.4 Sterische Effekte

Ungewöhnliche Bindungslängen und -winkel sind charakteristisch für hochge-spannte cyclische Verbindungen (s. Kapitel 8). Aber auch in acyclischen Molekülenkönnen beträchtliche Abweichungen von den Standardwerten auftreten, wenn dieenge Nachbarschaft raumerfüllender Substituenten normale Verhältnisse nichtzuläßt.

Der Einfluß von Substituentenhäufung auf die Länge einer C—C-Einfachbindung(Rüchardt und Beckhaus, 1980/85; Tidewell, 1978) sei am Beispiel der Elektronen-

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64 3 Größe und Gestalt von Molekülen

beugungs-Resultate für Methyl-substituierte Ethane veranschaulicht (Angaben inpm):

CH3CH2-^-CH2CH3

(CH3)2CH^-CH(CH3)2

(CH3)3C-^C(CH3)3

Den größten Abstand besitzen die beiden quartären Kohlenstoff-Atome in derletzten Verbindung. Dies Molekül verfügt nicht mehr über die Möglichkeit, diegegenseitige Abstoßung der beiden Molekülhälften durch Einstellung einer günsti-gen Konformation mit H- --t-Bu- Wechsel Wirkung zu vermindern.

Durch größere Substituenten kann die C — C-Bindung bis auf über 164 pm aufge-weitet werden:

(C2H5)3C^C(C2H5)3

n-C4H9 n-C4H9

CH

Hierbei handelt es sich um die größten Werte, die für C — C-Bindungen in einemoffenkettigen Molekül gefunden wurden. Sie liegen allerdings nur 7% oberhalb desWertes des Ethans, was anzeigt, wie schwer die Aufweitung einer Bindung ist.

Demgegenüber läßt sich der C — C — C-Bindungswinkel einer Kohlenstoffketteunter dem Einfluß großer Substituenten in stärkerem Ausmaß verändern. Erwar-tungsgemäß werden die größten Winkel an sekundären Kohlenstoff- Atomen gefun-den, z.B. für Di-t-butylmethan 125-128°.

t-C4H9 125-128° t-C4H9

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3.3 Effekte der Elektronendelokalisierung 65

3.3 Effekte der Elektronendelokalisierung

Wie schon bei der Diskussion der Bindungsradien angedeutet, ist der Kovalenz-radius eines Atoms von seiner Hybridisierung abhängig (Tab. 3-2). So beträgt dieKontraktion des Kohlenstoff- Atoms vom sp3- über den sp2- zum sp-Zustand jeweilsca. 4 pm. Dementsprechend ist die C — C-Einfachbindung des Propens um 3 pmkürzer als diejenige des Propans, und im Propin ist sie um weitere 4 pm kürzer.

CH3— CH2— CH3 CH2=CH2 CH=CH

CH2=CH— CH3 CH2 - CH— CH=CH2 CH=C— C=CH

, 146 ̂ yj /^TJ /^

In 1,3-Butadien (vgl. Abschn. 1.3.3) ist die zentrale C — C-Bindung auf 146 pmverkürzt, die beiden Doppelbindungen sind jedoch mit 134pm nicht länger als imEthylen. Die Mesomerielehre deutet diese Befunde mit Hilfe polarer Grenzformeln,

CH2=CH— CH=CH2 <-> (+)CH2— CH=CH— CH^} usw.,

in denen Doppel- und Einfachbindungen vertauscht werden. Die HMO-Theorieliefert für die 7i-Elektronen ein total bindendes Orbital und ein zweites mit binden-dem Charakter zwischen C1 und C2 sowie zwischen C3 und C4, aber antibindendemCharakter zwischen den mittleren Kohlenstoff- Atomen C2 und C3 (s. Band l, S. 57).

Aus den Orbitalkoeffizienten folgt für die Ti-Bindungsordnung:

C1— C2: Pl2 = 2 x 0.372 x 0.602 + 2 x 0.602 x 0.372 = 0.89

C2— C3: p23 = 2 x 0.602 x 0.602 - 2 x 0.372 x 0.372 - 0.45

Demnach ist also die zentrale CC-Bindung des Butadiens als Anderthalbfachbin-dung (Bindungsordnung 1.45) anzusehen, während die beiden übrigen nicht ganzDoppelbindungen sind (Bindungsordnung 1.90). Analoge Befunde zeigen Molekülemit Dreifachbindungen.

Im Allen ist die C=C-Bindungslänge etwas kürzer als im Ethylen. Dies läßt sichmit dem kleineren Bindungsradius des zentralen, sp-hybridisierten Kohlenstoff-Atoms erklären.

Zwischen Bindungslänge r und Ti-Bindungsordnung p besteht in erster Näherungein linearer Zusammenhang. Aus den Werten von Ethylen (r = 134 pm, p = 1.00),Benzol (139.5, 0.67) und Graphit (142.1, 0.54) erhält man die Regressionsgrade(3-6).

r -150.6 -l 6.78 p (pm) (3-6)

Will man den gesamten Bereich der CC-Bindungen von Einfach- (p = 0) bisDreifachbindung (p = 2) erfassen, so ist es zweckmäßiger, zur Korrelation eineExponentialfunktion zu wählen. Unter Einbeziehung der Wertepaare r und p vonEthan (153.5 pm, 0) und von Acetylen (121.2 pm, 2) ergibt sich die Beziehung (3-7),die in Abb. 3-1 dargestellt ist.

r=151.6e-°-12^ (pm) (3-7)

Page 12: Strukturen organischer Moleküle (RADEMACHER:STRUKTUREN O-BK) || Größe und Gestalt von Molekülen

66 3 Größe und Gestalt von Molekülen

> t150-

pm

130-

120 -

1 2

Abb. 3-1. CC-Bindungslänge r und n-Bindungsordnung p. Die Kurve läßt sich mit Gl. (3-6) bzw.(3-7) beschreiben.

Sehr eingehend untersuchten Dewar und Schmeising (1960) den Zusammenhangvon Hybridisierung, Konjugation und C—C-Bindungslänge. Aufgrund der Varia-tion des Kovalenzradius mit der Hybridisierung kann man für die Länge einerEinfachbindung C—X zwischen Kohlenstoff und einem Atom X eine lineare Abhän-gigkeit vom s-Charakter des Kohlenstoffs erwarten. Analog sollte sich die Längevon C—C-Bindungen linear mit dem mittleren s-Charakter der beiden Kohlenstoff-Atome ändern. Daß dies tatsächlich der Fall ist, zeigt Abb. 3-2, in der die Datenaus Tab. 3-1 für die Einfachbindungen zwischen unterschiedlich hybridisierten Koh-lenstoff-Atomen gegen den Mittelwert der s-Anteile [vgl. Gl. (3-1)] aufgetragenwurden.

Nach Abb. 3-2 ist zu vermuten, daß der in Tab. 3-1 angegebene Wert für dieBindungslänge einer Einfachbindung zwischen zwei sp2-hybridisierten Kohlenstoff-Atomen (146.6 pm) um etwa 3 pm zu klein ist. Diese Verkürzung ist eine Folge derKonjugation von zwei C=C-Doppelbindungen, die also mit einer geringen Abnahmeder C—C-Bindungslänge verbunden ist.

Page 13: Strukturen organischer Moleküle (RADEMACHER:STRUKTUREN O-BK) || Größe und Gestalt von Molekülen

3.3 Effekte der Elektronendelokalisierung 67

155

pm

150 -

H5-

KO-

135-

i25

l30

l35 40

i50 %s

Abb. 3-2. Abhängigkeit der Länge r von C—C-Einfachbindungen von der Hybridisierung derKohlenstoff-Atome. Aufgetragen sind die Bindungslängen der sechs verschiedenen C—C-Einfach-bindungen (Tab. 3-1 a) gegen den Mittelwert der s-Anteile [Gl. (3.1)] der beiden Kohlenstoff-Atome.

Wie wir schon am 1,3-Butadien gesehen haben, sind größere Abweichungen vonden Standardwerten der Bindungsparameter zu erwarten, wenn in einem Molekülein delokalisiertes 7i-Elektronensystem vorliegt. Die Struktur kann dann nicht hinrei-chend mit einer Valenzformel beschrieben werden, sondern es gibt zwei oder mehrere,und die tatsächliche Struktur entspricht einer gewichteten Superposition dieserFormeln. So gibt es im Benzol keine den beiden Kekule-Formen entsprechendeStruktur mit lokalisierten Doppel- und Einfachbindungen, sondern die CC-Bindun-gen besitzen alle die gleiche Länge von 139.5 pm. Nach der HMO-Theorie (Band l,Kapitel 2) ergibt sich eine 7i-Bindungsordnung von p = 0.67.

Wegen der Korrelation zwischen CC-Bindungslänge und rc-Bindungsordnung[Abb. 3-1, Gl. (3-6)] lassen sich die CC-Abstände auch größerer Moleküle mit Hilfevon HMO-Rechnungen abschätzen.

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68 3 Größe und Gestalt von Molekülen

Beispiel 3-2 Naphthalin:

Für Naphthalin lassen sich drei Kekule-Formeln angeben:

Der jeder Bindung zukommende Doppelbindungscharakter entspricht dem prozentualen Anteilvon Strukturen, in denen die betreffende Bindung als formale Doppelbindung vorliegt. Demnachist der Doppelbindungscharakter von C1—C2 mit 2/3 doppelt so groß wie bei den übrigen Bindungen.Diese weitgehende Lokalisierung der Doppelbindung spiegelt sich auch in den Bindungslängenwider. Die nachstehende Tabelle zeigt die aus der HMO-Methode resultierenden K-Bindungsordnun-gen p, die daraus nach Gl. (3-6) berechneten sowie die experimentellen Bindungslängen (in pm):

Bindung p ra> rb> rc^

1-22-31-99-10

0.7250.6030.5550.518

138.4140.5141.3141.9

138.1141.7142.2141.2

137.7141.1142.4142.1

a berechnet nach Gl. (3-6).b Elektronenbeugung: Ketkar und Finck (1981).c Röntgenstrukturanalyse: Ponomarev et al. (1976).

Während die Bindungen C2—C3, C1—C9 und C9—C10 ungefähr 142 pm lang sind, ist C1—C2 mit138pm deutlich kürzer. Bekanntlich kommt der olefmische Charakter dieser Bindung auch beiden Additionsreaktionen des Naphthalins zum Ausdruck. Ein Vergleich der berechneten mit denexperimentellen Werten fällt erstaunlich gut aus. Die Übereinstimmung ist durchweg besser alsl pm.

Interessant sind die Strukturen von Verbindungen, für die Formeln mit unter-schiedlicher Geometrie angegeben werden können. Dies ist z. B. bei den sog. Donor-Akzeptor-Molekülen der Fall, bei denen eine Donorgruppe wie NR2 direkt oder überein konjugiertes Doppelbindungssystem mit einer Akzeptorgruppe wie CHO, NO2,CN, C6H5 usw. verbunden ist. Derartige Systeme werden auch als Push-Pull- Verbin-dungen bezeichnet. Es hängt dann vom Ausmaß der Konjugation beider Gruppenab, ob der Aminostickstoff sp3-hybridisiert und damit pyramidal oder sp2-hybridi-siert und damit planar ist. Dafür seien nachstehend einige Beispiele aufgeführt.

Während Harnstoff im festen Zustand planar ist (Guth et al., 1980), besitzt er inder Gasphase pyramidale Stickstoff-Atome (Brown et al., 1975). Im Tetramethyl-harnstoff liegen pyramidale Stickstoff-Atome vor mit einer Pyramidenhöhe von27.2 pm (Fernholt et al., 1981).

H 115.3°ß l Gas Kristall /"hxHJAa ^n^—n^—CH^y' 14-3°

G=O ß: 112.0° 119.9° 119.8° C=O/ v 1120° 1206° /

H—N 7' <U 1ZU'° CH3—N

H CH3

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3.3 Effekte der Elektronendelokalisierung 69

Im Falle des Formamids ist die Frage nach der Konfiguration des Stickstoff-Atoms nicht exakt zu beantworten. Strukturanalysen führten teils zu ebenen undteils zu pyramidalen Strukturen. Nach einer ab-initia-Berechnung besitzt das Mole-kül eine sehr flache Potentialmulde für die Stickstoff-Inversion mit einem Minimumin der Nähe der planaren Struktur, was bedeutet, daß das Molekül bei Mittelungüber die nichtebenen Deformationsschwingungen nahezu planar sein dürfte (Carlsenetal., 1979).

H H CH3 H\120.0° / \118°/^\ '

121.6°( N4-Cyy'118 5°

H Uö° O CH3

Dimethylformamid (Vilkov et al., 1962; Ohtaki et al., 1983), Dimethylnitrosamin(Rademacher u. Stölevik, 1969) und Dimethylnitramin (Stölevik u. Rademacher,1969) sind planar.

Demgegenüber besitzen N-Chlor-N-methylnitramin (Sadova et al., 1977), Cyan-amid und Dimethylcyanamid (Khaikin et al., 1975) pyramidale Stickstoff-Atome.

113.

Auch im Anilin ist die Aminogruppe nicht koplanar mit dem Benzolring ange-ordnet, sondern gegen diesen um 37.5° geneigt. Für die Bindungswinkel am Stick-stoff-Atom wurden bei einer MW-Strukturanalyse folgende Werte gefunden (ListerundTyler, 1974):

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70 3 Größe und Gestalt von Molekülen

Gegenüber Methylamin ist zwar eine deutliche Vergrößerung der Winkel unddamit eine Abflachung der Stickstoffpyramide eingetreten, bis zur planaren An-ordnung müßten die Winkel aber noch um insgesamt 15.1° vergrößert werden. BeimMethylamin sind die Bindungen am Stickstoff-Atom um insgesamt 29.9° aus derebenen Konfiguration abgeknickt (Takagi und Kojima, 1971).

Sterische Effekte können die für eine Delokalisierung der Ti-Elektronen erforder-liche planare Anordnung der beteiligten Atome verhindern. Ein bekanntes Beispielfür die sterische Mesomerie-Behinderung ist das 2,3,5-Trinitroiodbenzol mit deutli-chen Unterschieden in den C—N-Bindungslängen. Für die koplanar mit dem Ben-zolring angeordnete/?anz-Nitrogruppe beträgt sie 135 pm und für die beiden verdrill-ten in den or^/zö-Positionen 145 pm (Wepster, 1958).

Ähnliche Effekte findet man in zahlreichen anderen ungesättigten Verbindungen.Aber auch bei gesättigten Molekülen gibt es ungewöhnliche Bindungslängen, dieman mit Hilfe stereoelektronischer Effekte erklären kann. Ursache ist hier die inAbschn. 2.3 näher beschriebene Wechselwirkung zwischen besetzten und unbesetz-ten Molekülorbitalen.

3.4 Strukturparameter und spektroskopischeEigenschaften

Außer mit den in Kapitel l beschriebenen experimentellen Verfahren könnenInformationen über einzelne Strukturparameter auch aus anderen Messungen ge-wonnen werden. Besonders die spektroskopischen Methoden sind bei der Struktur-aufklärung von unschätzbarer Bedeutung. Allerdings erfolgt hier im Gegensatz zuden in Kapitel l aufgeführten Methoden keine direkte Bestimmung von Geometrie-parametern. Über zumeist empirisch gefundene Beziehungen können bestimmteBindungslängen und -winkel aus Schwingungsfrequenzen, Kopplungskonstantenu.a. ohne größeren Aufwand schnell ermittelt werden. Solche Methoden dürfenjedoch nicht überbewertet werden, da häufig Annahmen mit lediglich begrenzterGültigkeit und weitgehende Näherungen erforderlich sind oder die zugrundeliegen-den physikalischen Zusammenhänge nicht vollständig geklärt sind. Auf die Bestim-mung von Torsionswinkeln wird in Kapitel 5 gesondert eingegangen.

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3.4 Strukturparameter und spektroskopische Eigenschaften 71

3.4. l Schwingungsspektroskopie

Die Schwingungsfrequenzen eines Moleküls spiegeln das Kraftfeld wider, in demsich seine Atome bewegen. Die Streckschwingung v einer Bindung läßt sich nähe-rungsweise wie bei einem zweiatomigen Molekül gemäß Gl. (3-8) aus der Kraftkon-stante/und der reduzierten Masse /i berechnen.

(3-8)

Andererseits ist für eine Streckschwingung mit hohem Normalschwingungscharak-ter eine Beziehung zwischen Frequenz und Bindungsfestigkeit und damit Bindungs-länge zu erwarten. Abb. 3-3 zeigt, daß zwischen CH-Bindungsabständen und der

rCH

pm

111.0

110.0

109.0

108.0

107.0

106.0

OCHF3

OHCNHCCCN

HCCHHCNO

OHCCF

2700 2800 2900 3000 3100 3200 3300 3400

Abb. 3-3. Bindungslänge und CH-Schwingungsfrequenz. (Mit freundl. Genehmigung aus McKean,1984.) Die Kurve läßt sich mit GL (3-9) beschreiben.

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72 3 Größe und Gestalt von Molekülen

CH-Valenzschwingung ein linearer Zusammenhang besteht, der mit Gl. (3-9) be-schrieben werden kann.

rCH = 139.82 - 0.01023 VCH (pm, v in cm"1) (3-9)

Die Anwendung dieser von McKean (1978) gefundenen Beziehung setzt voraus,daß die Frequenz einer bestimmten CH-Bindung gemessen wird. Nun sieht derBereich der CH-Valenzschwingungen bei organischen Verbindungen in der Regelziemlich komplex aus und ist deshalb für eine quantitative Auswertung ungeeignet.Dies liegt einerseits an der wechselseitigen Kopplung der CH-Gruppen, die zu denbekannten symmetrischen und antisymmetrischen Valenzschwingungen von CH3-und CH2-Gruppen führen. Andererseits verursacht die Fermi-Resonanz zwischendiesen Streckschwingungen und den Obertönen der CH3- und CH2-Deformations-schwingungen zusätzliche Frequenz- und Intensitätsänderungen. Diese Schwierig-keiten lassen sich nahezu vollständig beheben, indem man die Wasserstoff-Atomebis auf ein einziges durch Deuterium ersetzt. Die verbliebene vCH-Schwingung kop-pelt nur noch minimal mit anderen Schwingungen und wird auch durch Fermi-Resonanz nicht mehr beeinträchtigt, da die Deformationsschwingungen jetzt starkerniedrigte Frequenzen besitzen. Wie McKean zeigen konnte, führt die noch verblie-bene isolierte CH-Schwingung nach Gl. (3-9) zu sehr genauen Bindungslängen r0;die Fehlergrenze liegt bei etwa ±0.05 pm.

Auch der HCH-Bindungswinkel a der Methylgruppe läßt sich aus der auf diesemWege ermittelten CH-Valenzschwingung ermitteln [Gl. (3-10)], und zwar auf etwa±0.5° genau.

a = 0.0471 VCH - 31.1 (°, v in cm-1) (3-10)

Als ein Beispiel sei hier das Neopentan, C(CH3)4, erwähnt, für das der spektrosko-pisch ermittelte HCH-Winkel von 107.0° sehr gut mit dem durch Elektronenbeugungvon Bartell und Bradford (1977) gefundenen von 106.6° übereinstimmt.

Die Carbonylfrequenz vco und die Reaktivität cyclischer Ketone ändern sichbekanntlich mit der Ringgröße (Haiford, 1956). Eine Korrelation der für Drei-bis Siebenring gefundenen C—CO—C-Winkel y mit vco führt zu Gl. (3-11). Mit

Tab. 3-5. Carbonylfrequenz v (in cm"1) und C—CO—C-Bin-dungswinkel y (in °) von Aceton und cyclischen Ketonen.

vco a) b)

AcetonCyclopropanonCyclobutanonCyclopentanonCyclohexanonCycloheptanonCyclooctanon2-Norbornanon7-Norbornanon

171918251791175017181704170117511780

116.764.693.1

112.4115.3117.3

116.772.486.6

103.7117.1122.9124.2103.391.2

a) Strukturanalyse b) berechnet nach Gl. (3-11)

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3.4 Strukturparameter und spektroskopische Eigenschaften 73

zunehmendem y wird der CCO-Winkel kleiner, und folglich nimmt der s-Charakterder CO-Bindung ab, was zu einer Schwächung dieser Bindung und damit zu einerFrequenzerniedrigung führt. In Tab. 3-5 sind einige Wertepaare vco und y vonAceton und cyclischen Ketonen aufgeführt. Man erkennt, daß die Übereinstimmungder aus der Carbonylfrequenz abgeschätzten Bindungswinkel mit dem entsprechen-den Wert einer Strukturanalyse befriedigend, aber nicht in jedem Fall gut ist. EineAbweichung der Carbonylfrequenz von 1720 cm"1 bedeutet Winkelspannung. DieDaten zeigen, daß sämtliche cyclischen Ketone mit Ausnahme des Cyclohexanonssich sowohl in der Carbonylfrequenz als auch im Bindungswinkel deutlich vomAceton unterscheiden und folglich Winkelspannung aufweisen. Ein Vergleich derbeiden Norbornanone zeigt, daß das 7-Isomer stärker gespannt ist als das 2-Isomer.

y = 835 -0.418 vco (°, v in cm-1) (3-11)

In analoger Weise wurde auch der C — C=C-Bindungswinkel ß von Alkenen mitder Frequenz der C=C- Streckschwingung korreliert:

ß= 1611 -0.91 vc=c (°, v in cm"1) (3-12)

3.4.2 NMR-Spektroskopie

Die mit Hilfe der NMR-Spektroskopie quantitativ meßbare Spin- Spin- Wechsel-wirkung magnetischer Atomkerne vermittelt wichtige Informationen über die Bin-dungsverhältnisse und einzelne Strukturparameter. Die Kopplungskonstante wird als1J, 2/, 3/ usw. bezeichnet, wenn die Kerne direkt gebunden oder zwei, drei usw.Bindungen voneinander entfernt sind. Die Bindungskopplungskonstante 1J ist inspezifischer Weise von der Elektronenverteilung zwischen den beiden gebundenenAtomen abhängig. Nach dem Fermi-Kontakt-Mechanismus erfolgt die Wechselwir-kung zwischen den beiden Kernen über die Bindungselektronen. Da p-Orbitale amOrt des Atomkerns eine Knotenebene haben, können nur s-Elektronen zur Kopp-lung beitragen. Wasserstoff- Atome bilden nur mit ihrem Is-Orbital a-Bindungen.Deshalb ist die 13C — H-Kopplungskonstante dem s- Anteil des Kohlenstoff-Hybrid-orbitals der CH-Bindung proportional. Die 1/(13CH)-Werte von Methan (sp3), Ethy-len (sp2), Benzol (sp2) und Acetylen (sp) wurden als 125, 157, 159 und 249 Hzbestimmt. Aus diesen Werten ergibt sich Gl. (3-13) als lineare Beziehung zwischenKopplungskonstante und dem s- Anteil des Kohlenstoff-Hybridorbitals [Gl. (3-1)](Hansen, 1981). Analog erhält man für NH-Bindungen Gl. (3-14) (Binsch et al.,1964).

SCH = 0.0020 1J(13CH) (3-13)

= 0.0043 ̂ (^NH) - 0.06 (3-14)

Die Benutzung der 13C — H-Kopplungskonstante als Hybridisierungsindikator hatsich insbesondere beim Studium der Bindungsverhältnisse in stark gespannten Mole-külen wie z.B. Bicyclobutan oder Tetrahedran (s. Beispiel 3-3) bewährt. Weshalb

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74 3 Größe und Gestalt von Molekülen

Gl. (3-14) im Gegensatz zu Gl. (3-13) keine durch den Koordinatenursprung verlau-fende Gerade darstellt, ist noch ungeklärt.

Bei Bindungen zwischen anderen Atomen als Wasserstoff hängt die Kopplungs-konstante vom Produkt der s-Anteile der Hybridorbitale beider Atome ab (Frei undBernstein, 1963; Wray, 1979). In Gl. (3-15) und (3-16) sind die Beziehungen für13C—13C- und 13C—15N-Bindungskopplungskonstanten aufgeführt.

2: 1J(13C13C) =658'sci-sc2-1.9 (Hz)

N : 1/(13C15N) = 125^C^N (Hz)

(3-15)

(3-16)

Da der Bindungsradius eines Atoms sich mit der Hybridisierung ändert (s. Abschn.3.1), ist auch ein Zusammenhang zwischen der Länge einer Bindung und der Kopp-lungskonstante der betreffenden Atome zu erwarten. Für CH-Bindungen folgt ausGl. (3-2) und (3-13) eine lineare Beziehung zwischen Bindungsabstand und Kopp-lungskonstante [Gl. (3-17)]. Für CC-Bindungen lassen Gl. (3-3) und (3-15) einenZusammenhang, aber keine einfache Beziehung wie Gl. (3-17) erwarten.

rCH = 115.97 - 0.042 (pm) (3-17)

Tatsächlich lieferten entsprechende Untersuchungen einen kurvenförmigen Ver-lauf von rcc als Funktion von 1/(13C13C), sofern es sich um weitgehend ähnlicheBindungen handelt.

Für ungesättigte Sechsringe wurde eine lineare Beziehung, Gl. (3-18), zwischenCC-Bindungsabstand und vicinaler H—H-Kopplungskonstante gefunden (Abb.3-4).

J Hz

11.00-

10.00-

9,00-

8.00-

7.00-

6.00-

5,00-XI

132 136 138 UO U2 U6 U8 rprn

Abb. 3-4. Vicinale H,H-Kopplungskonstante und CC-Bindungslänge (nach Pawliczek und Günther,1970). I Naphthalin; V Anthracen; VI as-5,6-Dimethylcyclohexa-l,3-dien; VII Benzol; VIII Phen-anthren; IX Biphenylen; X Benzocyclobuten; XI Cyclohexen; XII Tricyclo[4.3.1.01'6]-deca-2,4-dien.

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3.4 Strukturparameter und spektroskopische Eigenschaften 15

rcc = - 2.853/(HH) + 161 (pm) (3-18)

Durch Messung der vicinalen Kopplungskonstanten kann man mit Gl. (3-18) z. B.die Frage untersuchen, ob ein Annulen Bindungsalternanz aufweist oder nicht.

Die Beziehungen zwischen der im NMR-Spektrum beobachteten Kopplungskon-stante einer Bindung und der Hybridisierung der beteiligten Atome führten auch zueinigen empirischen Regeln, die eine Abschätzung von Bindungswinkeln gestatten.Umfangreiches Material existiert für die 13CH-Kopplungskonstanten und die Bin-dungswinkel von Kohlenwasserstoffen. Für die CCC-Bindungswinkel einer gesättig-ten bzw. ungesättigten C3-Kette wurden folgende empirische Beziehungen gefunden(Laszlo und Schleyer, 1964):

H

(3-19)

= -0.91/(13CH) (3-20)

H

Beispiel 3-3 Tetra-t-butyltetrahedran:

An der partiell 13C-substituierten Verbindung wurden13C—13C-Kopphmgskonstanten bestimmt:

13C-NMR-spektroskopisch folgende

1J(C — Cr) = 9.2 Hz1J(C— Cq) =64.0 Hz1/(Cq-CJ = 35.8Hz

Cr = Ring-Kohlenstoff-Atom, Cq = quartäresKohlenstoff-Atom der Methylgruppe

Kohlenstoff-Atom der t-Butyl-Gruppe, Cm =

Nach Gl. (3-15) ergibt sich für die Hybridorbitale der Tetraeder-Kohlenstoff-Atome, die an denRing-CC-Bindungen beteiligt sind, ein s-Charakter von 0.161, entsprechend einer sp5 20-Hybridisie-rung. Daraus läßt sich ableiten, daß die Achsen der endocyclischen Hybridorbitale um jeweils 28.4°gegenüber der Kernverbindungslinie nach außen gebogen sind. Der bent-bond-CharaktQr ist hieralso stärker ausgeprägt als beim Cyclopropan (21.3°) (s. auch Band l, S. 101 ff.).

Da die Summe der s-Charaktere der von einem Kohlenstoff-Atom ausgehenden Hybridorbitalegleich l sein muß, ergibt sich für das von einem Tetraeder-Kohlenstoff-Atom zur t-Butylgruppeweisende Orbital ein s-Charakter von l — 3 x 0.161 = 0.517. Das entspricht einem sp° 93-Hybrid.Tatsächlich ist die Cr—Cq-Kopplungskonstante nur wenig von dem entsprechenden Wert des.t-Butylacetylens (66. l Hz) verschieden, dessen acetylenische Kohlenstoff-Atome sp-hybridisiert sind(Loerzer et al., 1983).

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76 3 Größe und Gestalt von Molekülen

3.4.3 NMR-Spektroskopie nematischer flüssig-kristallinerLösungen

Bestimmte Stoffe wie z.B. 4,4/-Di-n-hexyloxy-azoxybenzol (2) bilden in einembegrenzten Temperaturbereich (ca. 20-60 °C, in besonderen Fällen bis zu 200 °C)oberhalb ihres Schmelzpunktes eine trübe Flüssigkeit, die sich erst beim weiterenErwärmen klärt. In einer solchen Flüssigkeit ist die hohe Ordnung des kristallinenZustands nicht völlig aufgehoben, sondern es gibt noch geordnete Bereiche mit einerparallelen Anordnung der Moleküle. Die Eigenschaften einer sog. mesomorphenenPhase liegen also zwischen denjenigen von (isotropen) Flüssigkeiten und (anisotro-pen) Feststoffen. Mesogene (flüssigkristallbildende) Moleküle besitzen eine Stäb-chen- oder plättchenartige Struktur. Als Untergruppen der flüssigen Kristalle kannman nematische, smektische und cholesterische Phasen unterscheiden (Abb. 3-5)(Steinsträßer und Pohl, 1973; Eidenschink, 1984).

O\ u /S~\\\—N=N_V ( ) \_0_n_C 6 H i 3

/ U) \^^/

Nematische flüssige Kristalle werden durch eine weitreichende Längsorientierungder Moleküle charakterisiert. Cholesterische flüssige Kristalle stellen eine Sonder-form der nematischen Phase dar, die nur von chiralen Molekülen gebildet wird.Die Vorzugsrichtung ändert sich periodisch entlang einer zur Längsorientierungsenkrechten Achse. Die verdrillte Struktur bewirkt ein extrem hohes optisches Dreh-vermögen und ein selektives Reflexionsvermögen für polarisiertes Licht mit einerWellenlänge, die der Schraubenperiode entspricht. Smektische flüssige Kristalle be-stehen aus Schichten parallel geordneter Moleküle. Je nach der Orientierung inner-halb der Schichten kann man verschiedene smektische Modifikationen unter-scheiden.

Der flüssige Aggregatzustand dieser Mesophasen resultiert aus der leichten Ver-schiebbarkeit der ausgerichteten Moleküle bzw. der Schichten gegeneinander. Einetechnische Anwendung flüssiger Kristalle ist heute jedem in Form der elektro-optischen LCD-Anzeige, z. B. bei elektronischen Armbanduhren, bekannt.

In dem Magnetfeld eines NMR-Spektrometers kann es für die Moleküle in einernematischen flüssig-kristallinen Phase eine Vorzugsrichtung parallel zum äußerenFeld geben. Kleinere organische Moleküle, die in einem flüssigen Kristall gelöstsind, werden ebenfalls eine Ausrichtung erfahren. Diese Orientierung ist jedochnicht so starr wie in einem Feststoff, sondern die gelösten Moleküle besitzen nocheine gewisse Beweglichkeit. Benzol-Moleküle werden z.B. parallel zum äußerenMagnetfeld ausgerichtet, ihre Rotation um die sechszählige Drehachse ist jedochnicht behindert.

Da das gelöste Molekül noch beweglich ist, erhält man nicht ein NMR-Spektrummit breiten, nahezu konturlosen Banden, wie es für einen Feststoff charakteristisch

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3,4 Strukturparameter und spektroskopische Eigenschaften 77

ist. Statt dessen sind die Peaks relativ scharf, die Spektren sind aber wesentlichlinienreicher und erstrecken sich über einen viel größeren Frequenzbereich als Spek-tren von isotrop-flüssigen Medien. Der Ordnungsgrad der Moleküle ist stark tempe-ratur- und konzentrationsabhängig. Deshalb hängt das Aussehen des Spektrumsauf empfindliche Weise von diesen Faktoren ab.

Abb. 3-5. Typen flüssiger Kristalle. In Flüssigkristallen sind die Moleküle partiell geordnet. Ineiner nematischen Phase (a) liegt eine Längsorientierung der Moleküle vor. Cholesterische flüssigeKristalle (b) zeigen eine periodische Änderung der Vorzugsorientierung, und smektische Flüssigkri-stalle (c) bestehen aus Schichten mit parallel geordneten Molekülen. (Mit freundlicher Genehmigungaus Demus, 1975.)

Die Bewegung der Moleküle in einer nematischen flüssig-kristallinen Lösung istanisotrop. Deshalb wird das NMR-Spektrum sowohl durch die direkte intramoleku-lare (through space) Dipol-Dipol- Wechselwirkung (Kopplungskonstante Dtj) als auchdurch die indirekte Spin-Spin-Wechselwirkung (Kopplungskonstante //,) der magne-tischen Kerne bestimmt. Außerdem werden Kopplungen zwischen chemisch äquiva-lenten Kernen beobachet. So ergibt z. B. eine isolierte CH3-Gruppe wie im Acetonitrilim ^-NMR-Spektrum ein Triplett-Signal, weil die Protonen untereinander koppeln,und partiell orientiertes Benzol zeigt ein Spektrum mit mehr als 50 Linien.

Die direkte dipolare Kopplung Dtj zwischen den Kernen i und j ist gemäß Gl.(3-21) abhängig von ihrem Abstand rtj und dem Winkel 9 zwischen dem äußerenFeld H0 und der Kernverbindungslinie.

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78 3 Größe und Gestalt von Molekülen

(3-21)

y/ ist das magnetogyrische Verhältnis des Kernes /, und 9 sowie rtj sind die Mittel-werte sämtlicher durch die Molekülbewegungen erzeugten Orientierungen.

Wegen der Abhängigkeit von Dy von den intramolekularen Atomabständen rtj

eignet sich die NMR-Spektroskopie an nematischen flüssig-kristallinen Lösungenzur Bestimmung von Molekülstrukturparametern.

Der durch den Winkel 9 ausgedrückte mittlere Orientierungsgrad der Moleküle istnicht bekannt. Deshalb kann man die Abstände rtj nur relativ zu einem vorgegebenen(gewählten) Abstand bestimmen. Dies bereitet, sofern die Struktur des untersuchtenMoleküls bereits in etwa bekannt ist, zumeist keine Schwierigkeiten. Für genauereStrukturbestimmungen sind wie bei den anderen Methoden Schwingungskorrektu-ren erforderlich, da die beobachteten Werte eine Mittelung über die Schwingungs-zustände der Moleküle darstellen. Damit hat sich die NMR-Spektroskopie partiellorientierter Moleküle zu einer wichtigen Strukturbestimmungs-Methode entwickelt,die zudem den Vorteil hat, daß Lösungen und keine gasförmigen Substanzen wiebei der Mikrowellenspektroskopie und der Elektronenbeugung und auch keinekristallinen Proben wie bei Röntgen- und Neutronenbeugung benötigt werden.

Beispiel 3-4 Allen:

Das ^-NMR-Spektrum von Allen, gelöst in 2, wurde bei 15 °C aufgenommen, und aus demSpektrum wurden folgende Kopplungskonstanten ermittelt:

H2

Atompaar D{j

H1, H2

H1, H3

H1, C1

H1, C2

H1, C3

1356.7 Hz-248.0

357.0-348.0-114.0

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3.4 Strukturparameter und spektroskopische Eigenschaften 79

Zur Beschreibung der geometrischen Struktur sind unter der Annahme von D2d-Symmetrie dieParameter r(Hl,Cl\ r(CJ,C2) und a erforderlich. Da die Winkel 0 jedoch nicht bekannt sind,können nur relative intramolekulare Atomabstände r^ aus den Dy ermittelt werden. Setzt man nunfür die CC-Bindungslänge den bei einer EB-Untersuchung gefundenen Wert an, so erhält man denCH-Bindungsabstand und den HCH-Bindungswinkel a.

NMRa>

C—C 131.16pmc) 131.16pmC—H 112.46 108.16a 117.9° 118.4°

a Sackmann (1969)b Almenningen et al. (1959)c dieser Wert wurde als Bezugslänge gewählt

Daß der CH-Abstand im Vergleich mit dem EB-Wert zu groß ist, kann z. T. auf die Anharmonizitätder Molekülschwingungen zurückgeführt werden, jedoch besteht zwischen den Ergebnissen beiderMethoden eine gewisse Diskrepanz.

Für Benzol wurden mit verschiedenen Methoden folgende CC- und CH-Bindungs-abstände gefunden (pm):

C— CC— H

Gasa>

139.7108.5

Kristall0)

139.2109.0

Lösungc)

139.70d)108.03

a Tamagawa et al. (1976)b Bacon et al. (1964)cDiehletal. (1979)d dieser Wert wurde als Bezugslänge gewählt

NMR-spektroskopisch wurde das Verhältnis der beiden Bindungslängen r (CH)/r(CC) als 0.77327 ± 0.00007 bestimmt. Damit ergibt sich für den CH-Abstand eineGenauigkeit von ± 0.009 pm. Die Fehlergrenze der anderen Methoden ist etwaum den Faktor 100 größer. Die NMR-Spektroskopie liefert also die bei weitemgenauesten Strukturparameter, allerdings mit dem Nachteil, daß nur relative Wertebestimmt werden können.

Die Möglichkeit, Strukturparameter gelöster Moleküle zu bestimmen, gestattetauch das Studium von Solvenseffekten. So wurden z. B. Furan und Thiophen in zweiverschiedenen flüssigen Kristallen untersucht (Diehl et al., 1983). Während fürFuran nur geringfügige Unterschiede beobachtet wurden, traten beim ThiophenAbweichungen bis zu 6% und auch Konzentrationseffekte auf. Möglicherweise istdas unterschiedliche Verhalten dieser beiden Verbindungen auf die höhere Aromati-zität des Thiophens zurückzuführen. Wahrscheinlicher ist aber, daß die unterschied-liche Orientierung in den Flüssigkristallen, andere Wechselwirkungen mit den Sol-vensmolekülen und Unterschiede im dynamischen Verhalten für die Beobachtungenverantwortlich sind.

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80 3 Größe und Gestalt von Molekülen

3.5 Nichtko valente Wechselwirkungen

Die Wasserstoff-Brückenbindung ist die stärkste Form der bei einfachen organi-schen Molekülen auftretenden zwischenmolekularen Wechselwirkungen. Die übrigennichtkovalenten Wechselwirkungen lassen sich als elektrostatische und van derWaals-Wechselwirkungen unterscheiden. Da solche Wechselwirkungen auch intramo-lekular erfolgen können, beeinflussen sie die Molekülstruktur. Auch die sterischenEffekte (Abschn. 3.2.4) stellen intramolekulare, nichtkovalente Wechselwirkungendar. Eine wichtige Rolle spielen diese Kräfte bei den Konformationseigenschafteneines Moleküls (s. Kap. 5).

3.5.1 Wasserstoff-Brückenbindungen

In der organischen Chemie begegnet man der Wasserstoff-Brückenbindung bei denmeisten Verbindungen mit OH- und NH-Bindungen, also bei Alkoholen, Carbonsäu-ren und Aminen. Dabei kann die Wasserstoff-Brücke sowohl intra- als auch intermo-lekular auftreten. Auch die Gestalt von Polysacchariden, die Tertiär Struktur derProteine, die Doppelhelix der Nucleinsäuren und die Funktion von Enzymen werdendurch diesen Bindungstyp wesentlich mitbestimmt.

Ebenso wird die emulgierende Wirkung nichtionischer Detergentien, die Wirkungvon Klebstoffen, die Haftung von Farbstoffen usw. durch Wasserstoff-Brückenbewirkt. Die wohl bekanntesten Auswirkungen der Wasserstoff-Brückenbindungsind die abnorm hohen Siedepunkte des Wassers, der Carbonsäuren, Alkohole undvieler Amine.

Die Wasserstoff-Brückenbindung X—H---Y ist hauptsächlich elektrostatischerNatur. Ihre Energie liegt zumeist zwischen 8 und 30 kJ/mol. Es handelt sich also umeine mäßig schwache Bindung mit zumeist weniger als 10% der Bindungsstärkeeiner gewöhnlichen kovalenten Bindung. Verglichen mit den van der Waals-Kräften(Abschn. 3.5.3) zwischen Molekülen, für die man eine Energie von nur einigen kJ/mol findet, ist die Wasserstoff-Brückenbindung eine relativ starke zwischenmoleku-lare Wechselwirkung. Charge transfer-Molekülkomplexe besitzen eine ähnlich hoheBindungsenergie. In Tab. 3-6 sind die Energien einiger Wasserstoff-Brückenbindun-gen aufgeführt.

Tab. 3-6. Energie einiger Wasserstoff-Brückenbindungen (in kJ/mol).

O—H---N 30 N—H —O 8-12O—H---O 25 N—H---N 8-17C—H---O 8-12 N—H---F 21O—H---7r-Elektronen 1-17 F- - -H-- -F 155

Relativ feste Wasserstoff-Brücken werden gebildet, wenn X möglichst hohe Elek-tronegativität besitzt, die X—H-Bindung also stark polar ist, und Y basisch ist. Diesist in der Regel bei O—H- und N—H-Gruppen als H-Donor und Atomen mit

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3.5 Nichtkovalente Wechselwirkungen 81

einsamen Elektronenpaaren wie Stickstoff und Sauerstoff als H-Akzeptor der Fall.Normale C—H-Bindungen bilden keine Wasserstoff-Brücken zu anderen Atomenaus. Wird jedoch die Elektronegativität des Kohlenstoff-Atoms durch sp-Hybridisie-rung oder durch stark Elektronen-abziehende Substituenten erhöht, kann die ent-standene polare C—H-Bindung Wasserstoff-Brücken ausbilden. Solche Wasserstoff-Brücken sind z. B. in Chloroform, bei Aldehyden, bei Cyanwasserstoff und zwischenAcetylenen und Ethern vorhanden:

CUC—H--C1—CHC1,

O

R—C—H---OCHR

NC—H- - -NC—H- - -NC—H

RCEEC—H---OR2

Eine Wasserstoff-Brückenbindung kann unsymmetrisch, X—H---Y, oder symme-trisch, X---H---X, sein. Üblicherweise sind die Abstände des Wasserstoff-Atomsvon X und Y kleiner als die Summe der jeweiligen van der Waals-Radien. EinenSonderfall stellen verzweigte (gabelförmige) oder Dreizentren-Wasserstoff-Brückendar, die z.B. beim ds-5-Hydroxy-3-phenyl-l,3-dioxan (3) gefunden wurden, aberauch intermolekular auftreten können.

H-

APh

Als Akzeptor des Wasserstoff-Atoms kann in einer Wasserstoff-Brückenbindungauch ein Ti-Elektronensystem fungieren (Aror, 1979). Beispiele sind 2-Phenyletha-nol (4), 0-Hydroxybiphenyl (5) und 7-Hydroxynorbornadien (6).

CH-

Einige Wasserstoff-Brückenbindungen bestehen noch in der Gasphase. So sinddie niederen Carbonsäuren im gasförmigen Zustand dimer (7).

0 -H- — 0

c-,

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82 3 Größe und Gestalt von Molekülen

Interessante Effekte treten bei intramolekularen Wasserstoff-Brückenbindungenauf. Bevorzugt wird ein sechsgliedriger ebener Ring mit konjugierten Doppelbindun-gen. Eine solche Anordnung liegt z. B. in der Enolform des Acetylacetons (8 a) vor,die um 3.4 kJ/mol stabiler ist als die 1,3-Dicarbonylform

ri

/t„,

CH

80%Sa

CH 3 -C-CH 2 -C-CH 3

II II0 0

20%8b

Starke Auswirkungen haben intramolekulare Wasserstoff-Brückenbindungen aufdie Acidität oder Basizität von Verbindungen, wenn sie die Säure oder die korrespon-dierende Base stabilisieren. 2,6-Dihydroxybenzoesäure (9), pKs = 2.94, ist ungefährzehnmal acider als das 3.5-Isomere (10), pKs = 4.04.

OH 10

Andererseits ist o-Phenanthrolin, pKE = 9.0, eine stärkere Base als 2.2'-Bipyri-dinyl, pKE = 9.6, da bei ihm das Proton in einer starren ebenen Anordnung fixiertwird (11), während in 12 die sterisch ungünstige koplanare Anordnung durch dasProton erzeugt werden muß (Benfey und Mills, 1971).

7 V / / \\

11

l,8-Bis(dimethylamino)naphthalin, pKE = 1-66, ist, wie ein Vergleich mit N,N-Dimethylanilin, pKE = 9.62, zeigt, eine ungewöhnlich starke Base. Dies wird mitder sehr stabilen Wasserstoff-Brückenbindung in der konjugierten Säure (13) erklärt(Alder et al., 1968). Noch stärker basisch ist das 4,5-Bis(dimethylamino)fluoren(pKB= 1.2), dessen protonierte Form (14) eine nahezu lineare N-H---N-Brückeaufweist (Staab et al., 1983).

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3.5 Nichtkovalente Wechselwirkungen 83

Me 2 N-"H--NMe 2

13 \X 14

Wasserstoff-Brückenbindungen lassen sich mit verschiedenen Methoden nachwei-sen. Von den spektroskopischen sind die IR- und die NMR-Spektroskopie besonderszu erwähnen. Bei der Ausbildung von Wasserstoff-Brückenbindungen erfahren diebeteiligten funktionellen Gruppen eine Erniedrigung ihrer IR-Frequenzen. Wäh-rend freie OH-Gruppen eine Valenzschwingungsfrequenz von 3600-3650 cm"1 be-sitzen, findet man die entsprechende Bande einer Wasserstoff-Brückenbindung50-1 00 cm"1 niedriger. Häufig liegt nur ein Teil der Moleküle über Wasserstoff-Brücken gebunden vor, dann erscheint im IR-Spektrum sowohl die Absorptions-bande der freien als auch diejenige der assoziierten OH-Gruppen. Da intramoleku-lare Wasserstoff-Brücken nicht wie intermolekulare mit der Verdünnung abnehmen,läßt sich hier mit Hilfe der IR-Spektroskopie eine Entscheidung treffen.

Das gleiche gilt auch für die ^-NMR-Spektroskopie. Da die Wasserstoff-Atomein einer Wasserstoff-Brücke häufig ihre Plätze wechseln, beobachtet man normaler-weise ein gemitteltes Protonensignal, das gegenüber seinem Normalwert Tieffeld-verschoben ist. Außerdem zeigen die Spektren deutliche Änderungen mit der Tempe-ratur und der Konzentration.

Die Geometrie von Wasserstoff-Brückenbindungen ist schwer zu bestimmen, daWasserstoff- Atome z.B. bei der Röntgenstrukturanalyse schlecht zu lokalisierensind (s. Abschn. 1.4). Allerdings wurden in den letzten Jahren zahlreiche Untersu-chungen mit Hilfe der Neutronenbeugung (s. Abschn. 1.5) durchgeführt, bei derWasserstoff- und Deuterium-Atome keine besondere Mühe bereiten. Zur Beschrei-bung einer X — H---Y-Brücke benötigt man drei Parameter: die Abstände X — H,H---Y und X~~\. Statt des X—Y-Abstandes kann auch der X— H---Y-Winkelgewählt werden. Üblicherweise kann nur dann von einer Wasserstoff-Brückenbin-dung die Rede sein, wenn H- - -Y kleiner ist als die Summe der van der Waals-Radien(Tab. 3-7) von Wasserstoff und Y, bei Y = Sauerstoff also kleiner als 240 pm.

t

Eine statistische Auswertung der Ergebnisse für 100 O — H---O-Brücken ergabfolgende Mittelwerte für die Geometrie der Atomanordnung (Ceccarelli et al., 1981;Taylor u. Kennard, 1984):

O— H 96.9 pm O— H- - -O 167.1°H---O 181. 8 pmO -O 276.7 pm

Daß der Wasserstoff nicht in der Mitte zwischen den beiden Sauerstoff- Atomenliegt, geht schon aus der Struktur des Eises hervor. Hier sind die beiden OH-

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84 3 Größe und Gestalt von Molekülen

Abstände 97 bzw. 179pm lang. Allerdings sind auch symmetrische Wasserstoff-Brücken bekannt.

Offensichtlich ist eine lineare bis leicht gewinkelte Anordnung der drei Atome inder Brücke bevorzugt. Ausnahmen findet man jedoch insbesondere bei intramoleku-laren Brücken. Allerdings sind X — H- --Y- Winkel kleiner als 120° selten.

Interessant ist noch die Frage, ob das Proton gegenüber dem Akzeptor-Sauerstoffeine Vorzugslage einnimmt, die aus der Richtung der einsamen Elektronenpaare dessp3-hybridisierten Sauerstoff-Atoms resultieren könnte. Mikrowellen-Strukturun-tersuchungen zeigten, daß in den Addukten des Fluorwasserstoffs mit Wasser, Oxi-ran und Oxetan

F— H — OH2 F— H- — O<] F— H — -O!

die H---O-Bindungen ungefähr in der Richtung der einsamen Elektronenpaareliegen, wie man es bei sp3-hybridisierten Sauerstoff- Atomen erwartet. Demnach gibtes wahrscheinlich eine Vorzugsrichtung für die Wasserstoff-Brücken gemäß der Lageder einsamen Elektronenpaare. Diese dürfte allerdings energetisch nicht sonderlichstark begünstigt sein, so daß sie im festen Zustand praktisch verschwindet. DieUntersuchungen zeigten, daß das Wasserstoff-Atom zwar in einer Ebene liegt, dieden R' — O — R"- Winkel halbiert, aber es scheint auf dieser Ebene keine Vorzugsrich-tung zu geben.

R Rx

\ /O— H---0

R"

Dieser Befund stimmt mit der ziemlich diffusen Ladungsdichte- Verteilung der ein-samen Elektronenpaare eines sp3-hybridisierten Sauerstoff- Atoms überein, die kauman das einfache Kaninchenohr- Modell erinnert.

Auch bei Wasserstoff-Brücken von Carbonylverbindungen gibt es eine gewisseVorzugsrichtung gemäß den für das sp2-hybridisierte Sauerstoff- Atom zu erwarten-den Lagen der einsamen Elektronenpaare.

NHX

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3.5 Nichtkovalente Wechselwirkungen 85

3.5.2 Elektrostatische Wechselwirkungen

Bei den elektrostatischen Wechselwirkungen sind drei Haupttypen von Bedeutung:

Ladung-LadungLadung-DipolDipol-Dipol

Die Energie der Wechselwirkung von zwei Ladungen, e\ und e2, die sich in einemMedium mit der Dielektrizitätskonstante D im Abstand r voneinander befinden, istgegeben durch:

(3-22)Dr

Ersetzt man e^ durch einen Dipol /i, der einen spitzen Winkel 9 mit der Verbin-dungslinie zwischen der Ladung e{ und dem Zentrum des Dipols bildet, wird dieGleichung zu:

<3-23)

Diese Gleichung setzt voraus, daß r groß ist, verglichen mit der Länge des Dipols.Die potentielle Energie von zwei Punktdipolen, /^ und /i2> die sich im Abstand r

voneinander befinden und mit ihrer gemeinsamen Achse die Winkel o^ und a2 bil-den sowie längs ihrer gemeinsamen Achse den Diederwinkel K besitzen (Abb.3-6), ist gegeben durch:

E = — ̂ (cos K — 3 cos «! cos a2) (3-24)Dr3

Sowohl berechnete wie auch experimentelle typische Energiewerte intramolekula-rer elektrostatischer Wechselwirkungen bewegen sich zwischen 0 und 8 kJ/mol.Natürlich gibt es auch Wechselwirkungen bei Molekülen, die Quadrupole und Oktu-pole usw. besitzen. Jedoch nehmen, wie wir gesehen haben, die Wechselwirkungenmit dem Abstand um so rascher ab, je höher die Ordnung des beteiligten Poles ist.So ändern sich die Wechselwirkungen zwischen zwei Ladungen mit r"1, zwischenLadung und Dipol mit r~2 und zwischen zwei Dipolen mit r~3. Entsprechendvariieren Dipol-Quadrupol- Wechselwirkungen mit r~4 und fallen mit dem Abstandsehr schnell ab. Quadrupol- und Oktupol-Wechselwirkungen sind daher für diefolgende Diskussion nur von geringer Bedeutung.

'1

.\1 \ „Abb. 3-6. Geometrische Beziehung zwischen zwei Punktdipolen für Gl. (3-24).

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86 3 Größe und Gestalt von Molekülen

3.5.3 Van der Waals-Wechselwirkungen

Anziehende Wechselwirkungen zwischen nicht gebundenen Teilchen sind für ihrenZusammenhalt im kondensierten Zustand verantwortlich. Andererseits führt wegendes Pauli-Prinzips die enge Annäherung von Atomen oder Atomgruppen, dienicht direkt miteinander verbunden sind, zu Abstoßungskräften zwischen ihrenElektronen. Für die Abschätzung der damit verbundenen Energie wendet manBeziehungen, die aufgrund theoretischer und experimenteller Untersuchungen her-geleitet wurden. Die schwache Anziehung bei großen Kernabständen wird allgemeindurch einen Term mit der sechsten Potenz und die Abstoßung bei kleinen Abständenentweder durch einen Term mit der zwölften Potenz (Lennard-Jones-Potential) oderdurch einen Exponentialterm (Buckingham-Potential) dargestellt. Hendrickson(1961) wählte die letztere Möglichkeit und verwendete die Gleichung:

£L == A e — c/ r \^j~^o)

Hierbei ist E die Wechselwirkungsenergie, r der Abstand zwischen den betreffen-den Atomen, und A, B und C sind für das jeweilige Atompaar charakteristischeKonstanten. Für Wasserstoff-Wasserstoff-Wechselwirkungen schlägt Hendricksondie Funktion (3-26) vor, in der E in kJ/mol und r in Ä (l Ä = 10~10 m) angegebenwerden.

£ = 4.18 x 104e-4-60r-205.9r-6 (3-26)

Diese Funktion ist stark repulsiv bei kleinen Abständen (r < 200 pm) und besitztein schwach anziehendes Potentialenergie-Minimum bei r « 250 pm.

Oft verwendet man das Lennard-Jones-Potential:

(3-27)n-6\r n-6

D ist die Tiefe des Potentialenergie-Minimums, und n wird gewöhnlich als zwölfgewählt. Lifson und Warshel (1968) parameterisierten diese Beziehung für Wasser-stoff-Wasserstoff-Wechselwirkungen zu

/2936V2 /2936\6

E = 1.9 x 10-2 (—l -3.77X10-2 (—l (3-28)\ r J \ r J

E wird wieder in kJ/mol und r in Ä angegeben.Der Abstand, an dem sich abstoßende und anziehende Kräfte zwischen zwei

Atomen aufheben, ist als van der Waals-Abstand bekannt. Er läßt sich als Summeder van der Waals-Radien der betreffenden Atome ausdrücken. Es muß jedochbeachtet werden, daß der van der Waals-Radius eines Atoms von dem Bindungspart-ner und von der Natur dieser Bindung beeinflußt wird. So besitzt Amin-Stickstoffeinen anderen Radius als Amid-Stickstoff, und Carbonyl-Sauerstoff unterscheidetsich von Ether-Sauerstoff. Die Lennard-Jones-Parameter ändern sich daher mit derNatur des betrachteten Systems.

Der van der Waals-Radius eines Atoms oder einer Gruppe ist eine schlechtdefinierte Größe. Van der Waals-Radien können auf verschiedene Weise abgeleitet

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3.5 Nichtkovalente Wechselwirkungen 87

werden, und die Ergebnisse stimmen nicht alle überein. Die von Pauling hergeleitetenvan der Waals-Radien sind in Tab. 3-7 aufgeführt. Sie sind etwa 80 pm größer alsdie Bindungsradien (Tab. 3-2).

Tab. 3-7. Van der Waals-Radien nach Pauling (in pm)

HN0FCH3

100-120150140135200

PSClBrI

190185180195215

halbe Dicke eines aromatischen Moleküls 170

Man erklärt die van der Waals-Anziehung - andere Bezeichnungen sind Disper-sions- oder London-Kräfte - mit einer Korrelation der Elektronenbewegung anbenachbarten, aber nicht gebundenen Teilchen. Die Fluktuation in der Elektronen-wolke eines Teilchens bewirkt ein momentanes Dipolmoment, das seinerseits dieElektronen an benachbarten Teilchen polarisiert und folglich ein ebenfalls momenta-nes Dipolmoment induziert. Eine solche Korrelation in der Ladungsverteilung anbenachbarten Teilchen erniedrigt die Gesamtenergie auch von benachbarten Mole-külteilchen und stellt somit eine bindende Wechselwirkung dar.

Diese Anziehung ist um so vorteilhafter, je größer die Kontaktzone der Teilchenist. Bei Kohlenwasserstoffen machen diese Kräfte pro CH3- oder CH2-Gruppe etwa4 kJ/mol aus. Kettenverzweigung vermindert die Kontaktzone, und dementspre-chend erniedrigen sich die Siedepunkte von Isomeren mit ihrer Verzweigung. Z. B.betragen die Siedepunkte von n-, i-, sek- und ter/-Butanol 117, 107, 100 und 83 °C.

Die Abstoßung aufgrund intramolekularer Gruppenhäufung innerhalb der vander Waals-Radien wirkt sich auf Bindungswinkel, Konformationen und zahlreichechemische und physikalische Eigenschaften des Moleküls aus. Van der Waals-Kräftesind auch für die Bildung von Einschlußverbindungen verantwortlich.

Weiterführende und ergänzende Literatur zu Kapitel 3

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