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8 Moleküle mit ungewöhnlicher Struktur Moleküle mit ungewöhnlicher Struktur haben den Chemiker schon immer faszi- niert. Einerseits stellt die Synthese solcher Verbindungen eine große Herausforde- rung dar und erfordert häufig die Entwicklung neuer präparativer Methoden. Ande- rerseits besitzen diese Moleküle auch außergewöhnliche Eigenschaften und vermit- teln somit ein tieferes Verständnis für grundsätzliche chemische Zusammenhänge. Das Interesse an derartigen Substanzen kann man an der großen Anzahl theore- tischer und experimenteller Arbeiten ablesen, die sich in den letzten Jahren - oft in enger Kooperation verschiedener Arbeitsgruppen - mit ihrer Darstellung und ihren Eigenschaften befaßten. Wie wir bereits in Abschn. 3.2.4 und Kapitel 7 gesehen haben, kann einmal die Häufung sterisch anspruchsvoller Substituenten und zum anderen der Einbau in ein Ringsystem größere Veränderungen in der Geometrie bestimmter Strukturelemente gegenüber ihren normalen Werten bewirken. Die Frage, wie weit ein Strukturelement in einer isolierbaren Verbindung deformiert sein kann, ist zweifellos von außer- ordentlichem Interesse. 8.1 Gespannte Alkene und Alkine 8.1.1 Brückenkopf-Alkene Ein gespanntes Alken läßt sich auf unterschiedliche Weise erzeugen: durch Verän- derung der Bindungswinkel, durch Torsion der Doppelbindung (l) und durch Faltung längs der Doppelbindung. Die Bindungswinkel können entweder in der Ebene verändert werden oder aber mit einer Pyramidalisierung (2) verbunden sein. (2) Stark von der Norm abweichende Bindungswinkel liegen in Kleinring-Cycloalke- nen (l, s. Abschn. 7.3), kleinen Ringen mit exocyclischen Doppelbindungen (2) sowie entsprechenden Bicycloalkylidenen (3) vor. Strukturen organischer Moleküle. Paul Rademacher Copyright © 1987 VCH Verlagsgesellschaft mbH, Weinheim ISBN: 3-527-26545-7

Strukturen organischer Moleküle (RADEMACHER:STRUKTUREN O-BK) || Moleküle mit ungewöhnlicher Struktur

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8 Moleküle mit ungewöhnlicherStruktur

Moleküle mit ungewöhnlicher Struktur haben den Chemiker schon immer faszi-niert. Einerseits stellt die Synthese solcher Verbindungen eine große Herausforde-rung dar und erfordert häufig die Entwicklung neuer präparativer Methoden. Ande-rerseits besitzen diese Moleküle auch außergewöhnliche Eigenschaften und vermit-teln somit ein tieferes Verständnis für grundsätzliche chemische Zusammenhänge.Das Interesse an derartigen Substanzen kann man an der großen Anzahl theore-tischer und experimenteller Arbeiten ablesen, die sich in den letzten Jahren - oft inenger Kooperation verschiedener Arbeitsgruppen - mit ihrer Darstellung und ihrenEigenschaften befaßten.

Wie wir bereits in Abschn. 3.2.4 und Kapitel 7 gesehen haben, kann einmal dieHäufung sterisch anspruchsvoller Substituenten und zum anderen der Einbau in einRingsystem größere Veränderungen in der Geometrie bestimmter Strukturelementegegenüber ihren normalen Werten bewirken. Die Frage, wie weit ein Strukturelementin einer isolierbaren Verbindung deformiert sein kann, ist zweifellos von außer-ordentlichem Interesse.

8.1 Gespannte Alkene und Alkine

8.1.1 Brückenkopf-Alkene

Ein gespanntes Alken läßt sich auf unterschiedliche Weise erzeugen: durch Verän-derung der Bindungswinkel, durch Torsion der Doppelbindung (l) und durch Faltunglängs der Doppelbindung. Die Bindungswinkel können entweder in der Ebeneverändert werden oder aber mit einer Pyramidalisierung (2) verbunden sein.

(2)

Stark von der Norm abweichende Bindungswinkel liegen in Kleinring-Cycloalke-nen (l, s. Abschn. 7.3), kleinen Ringen mit exocyclischen Doppelbindungen (2) sowieentsprechenden Bicycloalkylidenen (3) vor.

Strukturen organischer Moleküle. Paul RademacherCopyright © 1987 VCH Verlagsgesellschaft mbH, WeinheimISBN: 3-527-26545-7

180 8 Moleküle mit ungewöhnlicher Struktur

Bicyclopropyliden (4), ein symmetrisch tetrasubstituiertes Alken, in dem zweiDreiringe über eine Doppelbindung verknüpft sind, ist der Extremfall des letztge-nannten Strukturtyps. Bemerkenswert ist die Länge der Doppelbindung (131.4 pm),die deutlich kürzer ist als in normalen Alkenen (133.5 pm). Die Ursache dieserBindungsverkürzung liegt in der ungewöhnlichen Hybridisierung der beiden Kohlen-stoff-Atome (zwischen sp2 und sp), die mit einem hohen s-Charakter der zentralena-Bindung verbunden ist (Traetteberg et al., 1984).

In acyclischen Alkenen kann die Doppelbindung durch sterische Effekte, in cycli-schen durch die Beschaffenheit des Ringsystems verdrillt werden. Während beiC—C-Einfachbindungen eine Aufweitung durch sterisch anspruchsvolle Gruppenerfolgt (vgl. Abschn. 3.2.4), bewirken voluminöse Substituenten bei Alkenen leichtereine Torsion, die durch Schwächung der rc-Bindung ebenfalls zu einer Dehnung derC=C-Bindung führt. Das bislang unbekannte Tetra-t-butylethen (S) soll nach Kraft-feldberechnungen um 45° verdrillt und die C=C-Bindung etwa 4 pm länger als derNormalwert sein (Burkert, 1981).

(p = 43°

Beim Bifluorenyliden (6) und ähnlichen Molekülen lassen sterische Wechselwir-kungen zwischen den beiden Molekülhälften eine planare Struktur nicht zu undbewirken eine Torsion der Doppelbindung (6, cp = 43°). Entsprechend der sterischenDestabilisierung seines Grundzustandes besitzt 6 eine relativ niedrige Barriere fürdie innere Rotation von ca. 100 kJ/mol - etwa halb soviel wie Ethen. Dazu trägtallerdings auch die Mesomerie-Stabilisierung des um 90° verdrillten, biradikalischenÜbergangszustandes bei (Ammon u. Wheeler, 1975).

Eine durch Torsion gespannte Doppelbindung kann in einem Cycloalken vorlie-gen, wenn der Ring eine planare Anordnung nicht zuläßt. Bei den gewöhnlichenCycloalkenen mit einer m-Doppelbindung ist offenbar keine Verdrillung vorhanden,unvermeidlich ist sie jedoch in den kleineren rra^-Cycloalkenen (s. Abschn. 8.2)und Molekülen wie Twisten (7, cp = 20°).

8.1 Gespannte Alkene und Alkine 181

(p = 20° 7

Seine Untersuchungen an Campher- und Pinanderivaten zwischen 1900 und 1924veranlaßten J. Bredt zur Aufstellung der nach ihm benannten Regel, nach der eineDoppelbindung nicht von einer Verzweigungsstelle (Brückenkopf) eines bicyclischenSystems ausgehen kann. Ausnahmen sind bei planarer Doppelbindung nur in größe-ren Ringen möglich. Andernfalls handelt es sich um mehr oder weniger unbeständigeVerbindungen mit verdrillter Doppelbindung. Es ist offensichtlich, daß die Stabilitätsolcher anti-Bredt- Verbindungen (8) mit der Größe des Bicyclus zunimmt, als Grenzegilt das Bicyclononen-System (S = 7) (Köbrich, 1973).

(CH2L

(CH2)M

8 s=l + m + n

Das Bicyclo[3.3.1]non-l-en (9) ist die kleinste isolierbare Verbindung dieses Typs,noch kleinere - wie das Bicyclo[2.2.1]hept-l-en (1-Norbornen, 10) - wurden alsreaktive Zwischenprodukte z. B. bei der Hofmann-Eliminierung der entsprechendenAmmonium-Verbindungen nachgewiesen.

9 10

In 9 liegt ein /rows-Cycloocten-Ring vor, und die auf die Brückenkopf-Doppelbin-dung zurückzuführende Spannungsenergie von 50 kJ/mol entspricht derjenigen desMonocyclus (s. Abschn. 8.1.2). Die Olefin-Spannung, um die das Brückenkopf-Alken also stärker gespannt ist als das entsprechende Alkan, kann man im Fallestabiler Verbindungen wie 9 experimentell, andernfalls z.B. mit Hilfe Molekül-mechanischer Methoden rechnerisch ermitteln (Maier u. Schleyer, 1981). Ihr Wertliegt bei isolierbaren Verbindungen unterhalb von 70 kJ/mol.

In den beiden mit 9 isomeren Bicyclo[3.2.2]nonenen 11 und 12 liegt die Doppelbin-dung in einem Siebenring. Sie sind deshalb stärker gespannt als 9 und können nurbei tiefer Temperatur untersucht werden.

182 8 Moleküle mit ungewöhnlicher Struktur

155°C

+)N(CH3)3

OH'-'

-N(CH3)3

-H20

11 12

Adamanten (13) besitzt eine stark verdrillte Doppelbindung; q> beträgt etwa 56°(Ermer, 1981). Für die Olefin-Spannung wurden 165 kJ/mol berechnet (Maier u.Schleyer, 1981). 13 konnte bei verschiedenen Reaktionen als Zwischenprodukt nach-gewiesen werden und besitzt partiellen Biradikalcharakter. In einer Argonmatrix istes bis 70 K stabil, bei höherer Temperatur dimerisiert es (Conlin et al., 1979).

Wie Maier und Schleyer (1981) fanden, gibt es auch Alkene mit negativer Olefin-Spannung. Ihre Spannungsenergie ist also kleiner als die der entsprechenden Al-kane. Ein solches hyperstabiles Brückenkopf-Olefin wurde in Form desBicyclof 4.4.2 Jdodec-1-ens (14) kürzlich von Kukuk et al. (1982) dargestellt.

Die Faltung eines Alkens längs der Doppelbindung (15) bewirkt, daß die vierSubstituenten alle in eine Richtung weisen. Eine solche Anordnung kommt in acycli-schen Alkenen nicht vor, in geringem Ausmaß ist sie aber z. B. beim Cyclopenten(s. Abschn. 7.4) und beim 2-Norbornen ausgeprägt.

j 15

Das Strukturmerkmal 15 besitzen in verstärktem Umfang Kleinring-Bicyclen miteiner zentralen Doppelbindung, sofern sie mindestens einen Dreiring enthalten, wieBicyclo[1.1.0]but-l(3)-en (16, 9 - 128°), Bicyclof 2. l.OJpent-1 (4 )-en (17, S = 129°)und Bicyclof 3. 1.0 ]hex-l( 5 )-en (18, 9 = 155°). Bicyclo[2.2.0]hex-l(4)-en (19, 3 =180°), das aus zwei anellierten Vierringen besteht, ist planar. Die angegebenenFaltungswinkel entstammen ab-initio-Berechnungen (Wagner et al., 1978).

<CX16 17 18 19

8J Gespannte Alkene und Alkine 183

16 ist offenbar äußerst stark gespannt und bislang unbekannt. Ein Derivat,Tricyclo[4.L0.02'7]hept-l(7)-en (20), konnte jedoch als Intermediat nachgewiesenwerden. Auch die Existenz von 17 und 18 als kurzlebige Zwischenprodukte istgesichert. Die zu 18 isomere Verbindung 19 ist in Lösung bis Raumtemperaturbeständig, und beim Bicyclo[3.3.0]oct-l(5)-en (21) ist die Stabilitätsgrenze erreicht.

20 21

Stark gefaltet sind auch die Doppelbindungen in Molekülen wie Quadricyclen(22) und Tricyclo[3.1.0.02'6]hex-l(6)-en (23), die als kurzlebige Zwischenproduktenachgewiesen wurden.

23

Das aus dem Dimer von 19 durch Umlagerung entstehende einfachste „Super-phan" Tricyclo[4.2.2.22'5]dodeca-l,5-dien (24), wurde durch Röntgenstruktur-Analyse untersucht. Die Konfiguration der olefinischen Kohlenstoff-Atome ist deut-lich pyramidal: sie liegen 40 pm oberhalb der durch die benachbarten Atome verlau-fenden Ebene. Der Faltungswinkel längs der Doppelbindung beträgt 144°. 24 weistmit 135.4 pm eine nur mäßig verlängerte C=C-Doppelbindung auf. Deutlich vergrö-ßert sind dagegen die C—C-Abstände der Ethylen-Brücken (Wiberg et al., 1984;1984 a).

24

Phane sind wegen der intramolekularen Wechselwirkung zwischen ihren rc-Elek-tronen-Systemen von Interesse. Bei einem Abstand von nur 239.5 pm zwischen denbeiden Doppelbindungen von 24 sollte man eine beträchtliche Aufspaltung derbeiden rc-MOs erwarten. Das PE-Spektrum von 24 weist jedoch nur eine 7ü-Ionisa-tionsbande bei 8.6 eV auf. Demnach müssen die beiden rc-MOs entartet oder nurganz geringfügig aufgespalten sein. Dieser Befund erklärt sich mit einer indirekten„through-bond"-WQchsQlwirkung der beiden Doppelbindungen, die der direkten„through space'-Wechselwirkung entgegenwirkt (Honneger et al., 1983). Auch dieAuswirkungen der Verdrillung und Faltung auf die elektronische Struktur vonAlkenen wurde eingehend mit Hilfe der PE-Spektroskopie untersucht (s. z. B. Heil-bronner u. Maier, 1977).

Auch einige Imine mit verdrillter Doppelbindung konnten in Form reaktiver anti-Bredt-Verbindungen dargestellt und in einer Matrix bei tiefer Temperatur spektro-

184 8 Moleküle mit ungewöhnlicher Struktur

skopisch untersucht werden. Als Beispiele seien das 2-Azaadamanten (25) und das2-Azabicyclo[3.2.1]oct-l-en (26) genannt.

26Z

In 25 liegt die C=N-Bindung in einem Sechs- und in 26 in einem Siebenring. DieVerdrillung ist daher in 25 größer als in 26. Dies ist an der Erniedrigung der vc=N-Frequenz gegenüber dem Normalwert in einem ungespannten Imin von etwa200 cm"1 in 25 und etwa 100 cm"1 in 26 zu erkennen. Bemerkenswert ist auch, daß26 als Z- und als ^-Isomer vorliegen kann (Radziszewski et al., 1985).

8.1.2 fra/is-Cycloalkene, Cycloalkine und cyclische Allene

Cycloalkene können ab einer bestimmten Ringgröße auch die ^-Konfigurationbesitzen (vgl. auch 9, Abschn. 8. l. 1). Die kleinste isolierbare Verbindung dieses Typsist das trans-Cycloocten (27). Das nächstkleinere Homologe, trans-Cyclohepten (28),das bei tiefer Temperatur aus dem ds-Isomer durch Photoisomerisierung erzeugtwerden kann [vgl. (3)], besitzt bei 0°C eine Lebensdauer von nur 10 min.

27

-78°C

(3)

~o°c 28

/nms-Cyclohepten und trans-Cycloocten haben Spannungsenergien von 113 bzw.70 kJ/mol. Die Achtringverbindung besitzt eine Kronen-Konformation mit einemTorsionswinkel für die Doppelbindung von 136°. Die Doppelbindung ist trotz derVerdrillung mit 133pm normal lang. Dies wird mit einer stärkeren a-Bindungerklärt, die die Schwächung der 7i-Bindung ausgleicht. Auch die folgenden Homolo-gen besitzen eine verdrillte Doppelbindung: £r<ms-Cyclononen, cp = 150°, trans-Cy-clodecen, cp = 160° (Traetteberg, 1975).

S.l Gespannte Alkene und Alkine 185

trans-Cycloocten ist chiral, und seine Enantiomere konnten getrennt werden.Wegen der hohen Barriere für die Racemisierung gemäß (4) von 150 kJ/mol kannman ein Enantiomer wochenlang auf über 60 °C erhitzen, ohne daß die optischeAktivität verlorengeht. Die hohe Barriere resultiert aus einer sterischen Destabilisie-rung des Übergangszustandes durch Wasserstoff-Atome, die bei der Inversion in dieRingmitte gezwängt werden. /nms-Cyclononen racemisiert leichter und kann dahernur bei Temperaturen unterhalb von 0°C in die optischen Antipoden gespaltenwerden (Greenberg u. Liebman, 1978).

Racem.

27

(4)

Die Energiedifferenz zwischen den m/^nrns-Isomeren ändert sich erwartungsge-mäß stark mit der Ringgröße. Während für Cyclohepten ein A7/°-Wert von 113 kJ/mol berechnet wurde, konnte dieser Wert bei den stabilen Homologen als Differenzder Hydrierungswärmen experimentell ermittelt werden. Beim Cycloocten (A//° =47.6 kJ/mol), Cyclononen (A#° - 12.1 kJ/mol) und Cyclodecen (A#° = 15.0 kJ/mol) ist das cw-Isomer jeweils deutlich stabiler als das frww-Isomer. Im Falle derbeiden Cycloundecene findet man dagegen einen etwas höheren Energiewert für diecis-Form (A#° - -0.50 kJ/mol).

In Verbindungen des Typs 29 - [m.nJBetweenanenen - gehört eine C=C-Doppel-bindung zu zwei /nms-Cycloalken-Ringen. Bekannt sind die [8.10]- und die [10.10]-Verbindung.

29

Bei den Cycloalkinen (30) ist eine spannungsfreie Struktur mit einer linearenDreifachbindung erst in großen Ringen möglich. In einem Ring mittlerer Größemüssen die an die Dreifachbindung grenzenden Bindungen geknickt sein. Dadurchwird die in der Ebene liegende Ti-Bindung geschwächt [vgl. (5), während die anderekaum beeinträchtigt werden dürfte.

30

Auch in dieser Klasse stellt der Achtring die kleinste isolierbare Verbindung dar,während Cycloheptin, Cyclohexin und Cyclopentin als reaktive Zwischenprodukte

186 Moleküle mit ungewöhnlicher Struktur

nachgewiesen werden konnten. Die Spannungsenergie des Cycloheptins beträgt130 kJ/mol und diejenige der nächstgrößeren Homologen 88, 67 und 41 kJ/mol.Hinsichtlich der Strukturen dieser Moleküle sind die Abweichungen von der Lineari-tät der acetylenischen Bindung und die Länge der C=C-Dreifachbindung von beson-derem Interesse. Die Achtring- und die Neunring-Verbindung wurden durch Elektro-nenbeugung untersucht. Man fand eine C=C-Bindungslänge von 122.8 bzw.121.2 pm und C^C-C-Winkel von 154.5° und 160°. Die Dreifachbindung vonCyclooctin ist außerdem um ca. 40° verdrillt (Krebs u. Wilke, 1983; Traettebergetal., 1985). Vergleichbar mit diesen Verbindungen ist das 1,2-Dehydrobenzol (s.Abschn. 9.5.1), dessen Dreifachbindung auf ca. 130.4pm aufgeweitet ist. Die ge-nannten Bindungslängen lassen deutlich eine Abhängigkeit von der Ringgröße er-kennen.

l,5-Cyclooctadiin (31), das unter Schutzgas bis 0°C stabil ist, weist bezüglich derbeiden Dreifachbindungen in etwa die gleiche Geometrie auf wie Cyclooctin.

31 32

Das kleinste bei Raumtemperatur beständige cyclische Cumulen ist das 1,2-Cyclo-nonadien (32). Kleinere Homologe konnten auch hier als reaktive Zwischenproduktenachgewiesen und in Form von Derivaten isoliert werden. 1,2-Cyclohexadien wurdein einer Argonmatrix bei 11 K untersucht (Wentrup et al., 1983). Auch die orthogo-nale Anordnung der beiden Doppelbindungen wird in einem cyclischen Allen-Deri-va,t beeinträchtigt. Jedoch ist nach experimentellen und theoretischen Befunden dieH>C=C=C<H-Einheit nicht planar, und 32 ist wie ein acyclisches Allen chiral.

Im 1,2,6,7-Cyclodecatetraen (33) sind zwei Allen-Einheiten in einem Ring vorhan-den. Die C=C=C-Einheit ist in diesen Verbindungen mit 170° leicht geknickt. 1,2,3-Cyclodecatrien (34) ist das kleinste isolierbare Ringsystem mit drei kumuliertenDoppelbindungen.

33 34

8.2 Nichtebene Benzolringe 187

8.2 Nichtebene Benzolringe

8.2.1 HeliceneAuch Benzolringe lassen sich durch sterischen und cyclischen Zwang verformen.

Bei den Helicenen erzwingt die van-der-Waals-Abstoßung zwischen den übereinan-derliegenden Ringen - die halbe Höhe des Benzolringes beträgt 170pm - eineVerbiegung der kondensierten Ringe in der schraubenförmigen, chiralen Struktur.Die räumliche Anordnung des [6]Helicens (35) kann mit Hilfe der in Schema (6)gezeichneten drei Ebenen wiedergegeben werden. Der Winkel zwischen den Ebenen7T2 und 7C3 beträgt 58.5°. Die sechs zentralen CC-Bindungen sind im Mittel 143.7 pmlang, während die parallel zu diesen liegenden Bindungen eine mittlere Länge von133.4 pm aufweisen. Die kürzesten C---C-Abstände zwischen Ring l und Ring 6betragen etwa 300 pm. Die Verzerrung der Benzolringe bedeutet, daß in einemgrößeren Helicen auf eine Helixwindung nur 5 !/2 Benzolringe kommen (Martin,1974).

35

Auch die Struktur größerer Helicene, z.B. des [ll]Helicens, wurde bestimmt(LeBas et al., 1976).

8.2.2 CyclophaneDurch Verethern zweiwertiger Phenole wie Hydrochinon und Resorcin mit !,&>-

Dihalogenalkanen lassen sich cyclische Ether mit großer Ringweite darstellen, dieauch als Ansa-Verbindungen (36) (lat. ansa = Henkel) bezeichnet werden. NachCram nennt man Ansa-Verbindungen mit carbocyclischen Ringen Cyclophane. IhreStruktur zeichnet sich bei den Vertretern mit kleinen Brücken durch verbogeneBenzolringe aus (Cram u. Cram, 1971).

36 37

188 8 Moleküle mit ungewöhnlicher Struktur

Bei den [nJParacyclophanen (37) sind die Homologen mit n > 8 planare, p-Xylol-artige Verbindungen. Bei n = 8 tritt erstmals eine Wannen-förmige Faltung desBenzolringes auf, die man mit dem Winkel a charakterisiert, a hat beim[8]Paracyclophan einen Wert von 12.5°. Mit kürzer werdender Brücke nimmt akontinuierlich zu und erreicht bei n = 5 einen Wert von 26.5°. In Tab. 8-1 sind dieSpannungsenergien und die Winkel a für einige Paracyclophane zusammengestellt.

Tab. 8.1. Spannungsenergie Es (in kJ/mol) und FaltungswinkelÖL (in °) von Paracyclophanen.

£§ of

[8] Paracyclophan[7]Paracyclophan[6] Paracyclophan[5]Paracyclophan

[3.3]Paracyclophan[2.2]Paracyclophan (39)[2.2]Paracyclophan- 1 ,9-dien

70.387.5

120.1163.250.2

138.1163.2

915-1822.426.56.4

12.613.5

Die erzwungene Faltung des Benzolringes in einem Cyclophan führt zu physikali-schen und chemischen Eigenschaften, die signifikant von denen normaler Benzol-derivate abweichen. In einem verbogenen Benzolring könnte es zu einer Cyclohexa-trien-artigen Bindungsfixierung kommen - die erhöhte Neigung einiger Cyclophanezu Diels-Alder-Reaktionen ist in diesem Sinne diskutiert worden (s. z. B. Muradetal., 1980). Strukturuntersuchungen zeigten jedoch, daß die CC-Bindungslängenauch in einem stark verbogenen Benzolring völlig normal sind (s. z. B. Jenneskenset al., 1984). Daß die Aromatizität noch weitgehend intakt ist, wird auch durchRingstromeffekte in den NMR-Spektren gestützt. Selbst das stark gefaltete[5]Paracyclophan besitzt - wie UV- und NMR-Spektren zeigen - einen aromatischenSechsring mit delokalisierten rc-Elektronen. Allerdings hat es seine Stabilität, diesonst ein Merkmal aromatischer Verbindungen ist, eingebüßt: es ist nur bis 0°Cbeständig (Jenneskens et al., 1985).

Die /m,n]Cyclophane bieten die Möglichkeit, die Wechselwirkung von zwei Ben-zolringen in Abhängigkeit von ihrer räumlichen Orientierung zu untersuchen. Das[l,7]Paracyclophan (38) ist die kleinste Verbindung dieses Typs mit einer CrBrücke.

(CH2)7

38

Im [2.2]Paracyclophan (39) beträgt der mittlere O-C-Abstand zwischen denRingen weniger als 300 pm. Die starke Abstoßung der beiden Benzolringe bewirkt

8.2 Nichtebene Benzolringe 189

auch eine Aufweitung der C—C-Bindungen in den Brücken. Ihre Längen betragen151.4 und 156.9pm. Außerdem ist die erste Bindung der Kette um weitere 11.2°gegen den Benzolring abgeknickt [s. (7)] (vgl. Vögtle u. Neumann, 1974).

157 pm (7)

139 pm

39

Auch Moleküle mit mehreren übereinanderliegenden Benzolringen konnten syn-thetisiert werden. Mehrschichtige [2.2]Paracyclophane mit einer schraubenförmigenStapelung sind chiral, und einige Verbindungen dieses Typs wurden Enantiomeren-rein erhalten. Wegen der augenscheinlichen Ähnlichkeit ihrer Struktur mit einerjapanischen Lampe wurde für sie der Name Chochine (Japan. Lampe) vorgeschlagen.Ein Beispiel ist das [6]Chochin (40). Die inneren Benzolringe besitzen in diesenMolekülen eine rvra^-Konformation (Misumi u. Otsubo, 1978). Noch größere Ver-bindungen dieses Typs könnten Halbleitereigenschaften besitzen: Die intramoleku-lare elektronische Wechselwirkung zwischen den Ti-MOs der einzelnen Benzolringekönnte zu Orbitalen führen, die über den ganzen Stapel delokalisiert sind. Damitwäre dann u.U. ein Elektronentransport mit geringem Energieaufwand möglich.

40 41

Die elektronische Struktur zahlreicher Cyclophane, einschließlich des Superphans[2.2.2.2.2.2](l,2,3,4,5,6)Cyclophan (41), wurde eingehend durch Photoelektronen-spektroskopie untersucht (s. z.B. Heilbronner u. Yang, 1983). Zahlreiche Untersu-chungen galten auch den interessanten stereochemischen Aspekten der Reaktionendieser Verbindungen.

190 8 Moleküle mit ungewöhnlicher Struktur

8.3 Gespannte Alkane und Valenzisomere

8.3.1 VorbemerkungZahlreiche hochsymmetrische - also schöne - Moleküle mit ungewöhnlicher Struk-

tur findet man unter den Verbindungen mit der allgemeinen Formel (CH)„. Die zueinem bestimmten Wert von n gehörige Gruppe bezeichnet man als Valenzisomere.Geht man von n Methingruppen aus, so kann man eine Energiehyperfläche alsFunktion von 3n — 6 unabhängigen Geometrieparametern aufspannen, in derenMinima je ein Isomer liegt. Für die jeweils höchstsymmetrische Verbindung benötigtman als Strukturparameter nur eine C—C- und eine C—H-Bindungslänge. Aller-dings sind die „schönsten" Moleküle oft auch die am stärksten gespannten unddeshalb am schwersten zugänglich. Die anderen Valenzisomere weisen auch Mehr-fachbindungen auf und besitzen niedrigere Symmetrie. Viele der nachfolgend aufge-führten Verbindungen nennt man aus naheliegenden Gründen auch Käfig-Moleküle.Tab. 8-2 enthält Angaben über einige hochgespannte polycyclische Alkane.

Tab. 8-2. Symmetrie, Spannungsenergie Es (in kJ/mol) und C—C-Bindungslängen r(in pm) von polycyclischen Alkanen.

Verbindung

BicyclobutanTetrahedrana) (42)Prismana) (47)Cuban (50)Pentaprismana) (52)Dodecahedrana) (58)[l.l.l]Propellan(60)[2.2.2]PropellanFenestran (63)

Punktgruppe

Qv

T,Ah

oh^5h

4£>3h

#3h

£>2d

ES

278605451694392161422386766

r

149.8, 149.7°)148.5150.8, 158.8b)157.1154.8, 156.5b)154.5152.5, 159.6C>155.1, 157.5b>, 151.2C>

a die Strukturdaten wurden nicht an der Stammverbindung, sondern an einem Derivatbestimmt

b Bindung parallel zur Achsec zentrale Bindung

8.3.2 Tetrahedran

Tetrahedran (42), der kleinste Platonische Kohlenwasserstoff, ist nur in substituier-ter Form beständig. Nach theoretischen Berechnungen beträgt seine Spannungs-energie 605 kJ/mol. Das ist mehr, als zum Spalten einer C—C-Bindung benötigtwird (ca. 350 kJ/mol). Diese Spannung verteilt sich aber auf die sechs C—C-Bindungen, auf die demnach jeweils 101 kJ/mol entfallen.

8.3 Gespannte Alkane und Valenzisomere

tßu

148.5 pm

191

149.0 pm43

Das Tetra-t-butyltetrahedran (43) wurde im Jahre 1978 von Maier und Mitarbei-tern dargestellt und seine Struktur im Jahre 1984 durch Röntgenstrukturanalysebestimmt (Irngartinger et al., 1984). Bemerkenswert ist der kurze C—C-Abstand imTetraeder von nur 148.5 pm. Auch die C—C-Abstände zwischen Tetraeder undSubstituent (149.0 pm) erscheinen für eine Einfachbindung zwischen zwei sp3-hybri-disierten Kohlenstoff-Atomen reichlich kurz; sie liegen im Bereich der C(sp)-C(sp3)-Einfachbindungen. Nach 13C-NMR-Messungen sind die Orbitale der letraeder-atome in dieser Bindung tatsächlich sp-hybridisiert (s. Beispiel 3-3).

8.3.3 Prisman und andere Valenzisomere des Benzols

Sechs CH-Gruppen lassen sich theoretisch auf sechs verschiedene Weisen zusam-mensetzen. Davon sind bislang fünf verschiedene Isomere bekannt, nämlich Benzol(Kekule-Benzol, 44), Bicydo[2.2.0]hexa-2,5-dien (Dewar-Benzol, 45), Benzvalen(Hückel-Benzol, 46), Prisman (Ladenburg-Benzol, 47) und 3,3'-Bicyclopropenyl (48),letzteres allerdings nur in substituierter Form. Ein Molekül mit der Konstitutiondes Claus-Benzols (49) gibt es nicht. An den Namen erkennt man, daß diese Verbin-dungen mit Ausnahme von 48 ursprünglich als Benzol-Formeln vorgeschlagen wur-den (Schmidt, 1977).

45

In dieser Reihe ist das Benzol thermodynamisch bei weitem am stabilsten, währendes sich bei den anderen um hochgespannte Moleküle handelt. Die BezeichnungValenzisomere deutet an, daß sich diese Verbindungen thermisch oder photochemischineinander umwandeln lassen. Tab. 8-3 enthält eine Zusammenstellung von Energie-werten sowie einige Angaben zur Stabilität dieser Verbindungen.

192 8 Moleküle mit ungewöhnlicher Struktur

Tab. 8.3. Bildungsenthalpie A/ff (in kJ/mol), Spannungsenergie Es (in kJ/mol) und ther-mische Stabilität der (CH)6-Valenzisomeren. Die A/frWerte stammen aus experimentellenDaten (Greenberg u. Liebman, 1978) und aus ^-/«///^-Berechnungen (Schulman u.Disch, 1985). Die thermische Stabilität wird mit der Halbwertszeit tl/2 (in Tagen) beiRaumtemperatur charakterisiert. Die E$-Werte wurden aus den berechneten Bildungs-enthalpien ermittelt.

A/Zf -Cg t\j2

exp. ber.

Benzol (44)Dewar-Benzol (45)Benzvalen (46)Prisman (47)

3,3'-Bicyclopropenyl (48)

82.9331.9365.4464.5

-

-393.3377.5570.8

575.8

-266.1340.2623.1

448.6

stabil2

10stabil( l lhbe i90°C)unbeständig

Den Werten der Tab. 8-3 entnimmt man, daß 47 das am stärksten gespannteMolekül dieser Gruppe ist. Die Spannungsenergie von 48 ist doppelt so groß wiediejenige des Cyclopropens (225 kJ/mol). Hinsichtlich der thermodynamischen Sta-bilität von 45 und 46 differieren die experimentellen und die berechneten Daten.Die für die Spannungsenergie angegebenen Werte beruhen auf den berechnetenBildungsenthalpien. Danach wäre 46 also stärker gespannt als 45. Die Diskrepanzgegenüber den experimentellen Befunden ergibt sich vermutlich aus dem Umstand,daß letztere nicht sämtlich aus den Verbrennungswärmen der Stammverbindungenermittelt werden konnten, sondern daß auch Daten von Derivaten herangezogenwerden mußten.

Daß das Prisman (47) trotz seiner hohen Spannungsenergie stabil ist und nichtspontan zum Benzol isomerisiert, muß auf den Umstand zurückgeführt werden, daßes für diese - nach den Woodward-Hoffmann-Regeln verbotene - Reaktion keinenWeg mit einer niedrigen Aktivierungsenergie gibt. Sehr anschaulich ist der Vergleichmit einem „wütenden Tiger, der unfähig ist, aus einem Papierkäfig auszubrechen".Ähnliches gilt auch für die übrigen Verbindungen dieser Gruppe (Woodward u.Hoffmann, 1969).

Benzol wurde als eine der wichtigsten organischen Verbindungen mit sämtlicheneinschlägigen experimentellen und theoretischen Methoden untersucht, so daß seineStruktur genau bekannt ist (CC 139.6 pm, CH 108.5 pm, rav-Werte). Die Strukturenvon 45 (s. Abschn. 1.3.2) und 46 wurden durch Elektronenbeugung bestimmt,diejenige von 47 in Form des Hexamethylderivates. In der letztgenannten Verbin-dung beträgt die Länge der C—C-Bindung in den Dreiringen 150.8 pm und parallelzur Prismenachse 158.8 pm (Karl et al., 1975).

8.3.4 Cuban und andere Valenzisomeredes Cyclooctatetraens

Unsubstituiertes Cuban (50) wurde von Eaton und Cole (1964) erstmals darge-stellt. 50 gehört wie Tetrahedran (Abschn. 8.3.2) und Dodecahedran (Abschn. 8.3.6)

8.3 Gespannte Alkane und Valenzisomere 193

zu den Platonischen Kohlenwasserstoffen und besitzt eine Spannungsenergie von694 kJ/mol. Dieser Wert gleicht ziemlich genau dem Sechsfachen der Spannungsener-gie des Cyclobutans (Tab. 7-1), entsprechend den sechs quadratischen Würfelflächen.Während jedoch beim Cyclobutan die Spannungsenergie pro C—C-Bindung28.6 kJ/mol beträgt, ist dieser Wert beim Cuban doppelt so groß, da jede C—C-Bindung zu zwei Vierringen gehört.

50

Wegen der hohen Symmetrie des Cubans (Punktgruppe Oh) sind zur Beschreibungseiner Struktur nur zwei Geometrieparameter erforderlich. Die Strukturanalysedurch Elektronenbeugung (Almenningen et al., 1985) ergab für die C—C-Bindungeneine Länge von 157.1 pm und für die C—H-Bindungen eine Länge von 110.0 pm.Die C—C-Bindungen des Cubans sind also wesentlich länger als diejenigen desCyclobutans (Tab. 7-2). Hierfür dürften vor allem nichtbindende Wechselwirkungenzwischen den Kohlenstoff-Atomen verantwortlich sein.

Andere (CH)8-Verbindungen, also Valenzisomere des Cubans, deren Strukturuntersucht wurde, sind das Cyclooctatetraen (s. Abschn. 7.6) und dasBicyclo[2.2.2]octa-2,5,7-trien (Barrelen, 51) (Yamamoto et al., 1982).

51

8.3.5 Pentaprisman und andere (CH)10-Moleküle

Zu den zahlreichen (CH)10-Valenzisomeren - insgesamt sind es 91 - gehörenVerbindungen wie Pentaprisman (52), Diademan (53), Triquinacen (54), Barettan(55), Basketen (56) und Bullvalen (57). Die Struktur der beiden letztgenanntenVerbindungen wurde durch Elektronenbeugung, diejenige von 52 und 54 - ersterein Form des Carboxy-Derivates - durch Röntgenstrukturanalyse bestimmt.

54 55

Im Pentaprisman, dessen Synthese Eaton et al. (1981) gelang, besetzen die zehnMethingruppen die Ecken eines regelmäßigen pentagonalen Prismas (PunktgruppeD5h). Die beiden parallelen Fünf ringe sind über fünf Vierringe miteinander verbun-den. Die C—C-Bindungen haben im Fünfring eine Länge von 154.8 pm und parallel

194 8 Moleküle mit ungewöhnlicher Struktur

zur Prismenachse eine Länge von 156.5 pm. Die Spannungsenergie von 52 beträgtetwa 392 kJ/mol (Tab. 8-2, vgl. Tab. 8-4) (Engel et al., 1982).

Tab. 8-4. Bildungsenthalpien A//f und Spannungsenergien Es (inkJ/mol) einiger (CH)10-Moleküle.

A#f'> £s"> £sc'd>

Pentaprisman (52)Diademan (53)Barettan (55)

302342d>405

392432495

572561619

a MNDO-Ergebnisseb berechnet nach dem in Abschn. 7.2 angegebenen Verfahren

mit einem Inkrement von —9.04 kJ/mol pro CH-Gruppec berechnet mit dem Programm MM2 von Allingerd S. Kirchmeyer u. A. de Meijere, unveröffentlichte Ergebnisse

(*)

57

54 besitzt eine schalenförmige Struktur mit C3v-Symmetrie. Die drei Doppelbin-dungen könnten sich in gewissem Umfang auf der konkaven Seite des Molekülsüberlappen. 54 ist also ein potentielles trishomoaromatisches System. Die Struktur-analyse ergab jedoch ebenso wie PE-spektroskopische Untersuchungen keine An-haltspunkte für eine nennenswerte Wechselwirkung der Doppelbindungen (Stevensetal, 1976).

Barettan (55) ist das am stärksten gespannte der gesättigten (CH)10-Isomere (Tab.8-4). Daß Spannung nicht gleichzeitig Instabilität bedeutet, zeigt sich in der hohenthermischen Stabilität dieses Moleküls: Selbst nach fünfstündigem Erhitzen in Toluolauf 190 °C konnte es unverändert zurückgewonnen werden. Das schwächer ge-spannte Diademan (53) isomerisiert demgegenüber sehr leicht zu 54 (Bosse u. deMeijere, 1978).

56 weist deutlich deformierte Vierringe mit C—C-Bindungslängen zwischen 152und 161 pm auf und besitzt eine gedehnte Doppelbindung (136 pm) (Khaikin et al.,1978).

Wegen seiner schnellen Valenzisomerisierung gemäß (8) via 1.2 x l O6 unabhän-gige, entartete Cope-Umlagerungen ist das Bullvalen (57) zweifellos der Star des(CH)10-Ensembles. Seine Synthese und das Studium seiner Eigenschaften erregtenvor etwa zwanzig Jahren großes Aufsehen. Da bei dieser Isomerisierung keine neueVerbindung entsteht, sondern wieder ein Bullvalen-Molekül mit einer anderenVerknüpfung der zehn Methingruppen, spricht man auch von einem Molekül mitfluktuierender Struktur. Im Gegensatz zur Mesomerie liegen hier die Grenzstruk-turen jedoch in einem Energieminimum. Die Kinetik dieses Vorgangs kann man sehrgut NMR-spektroskopisch untersuchen. Oberhalb von 80 °C registriert das NMR-

8.3 Gespannte Alkane und Valenzisomere 195

Spektrometer nur noch ein mittleres Signal für sämtliche Protonen, während unter-halb von — 80 °C ein Spektrum der fixierten Struktur erhalten wird. Aus der Tempe-raturabhängigkeit des ^-NMR-Spektrums wurde für die Valenztautomerisierungdes Bullvalens eine Aktivierungsenergie von 48.9 kJ/mol ermittelt (Schröder et al.,1965). Analoge 13C-Untersuchungen ergaben Werte um 58 kJ/mol (Kalinowski et al.,1984).

Wegen der weitaus kleineren Zeitkonstante der Elektronenbeugung (s. Tab. 5-3)stört die Valenztautomerie nicht bei der Strukturanalyse. Für die Bindungslängenvon 57 wurden folgende Werte gefunden: C=C 134.6 pm, C—C (im Dreiring)154.2 pm, C(Dreiring)—C(Doppelbindung) 146.5 pm und C(Brücken-kopf)—C(Doppelbindung) 152.3 pm sowie C—H 111.1 pm (Mittelwert) (Andersenu. Marstrander, 1971).

8.3.6 Dodecahedran

Die Erstbesteigung des „Mount Everest der Alicyclen-Chemie", nämlich die Dar-stellung des größten Platonischen Kohlenwasserstoffs, Dodecahedran (58), gelangim Jahre 1982 Paquette und Mitarbeitern in einer 23stufigen Synthese, ausgehendvom Cyclopentadienyl-Anion (Ternansky et al., 1982):

58 ist nur aus Fünfringen aufgebaut und gehört zur Punktgruppe 7h. Es besitztoffensichtlich keine nennenswerte Winkelspannung, jedoch liegen die 30 C—C- undauch die 20 C—H-Bindungen in ekliptischer Anordnung vor. Leider wurde dieBildungsenthalpie noch nicht experimentell bestimmt. Die Ergebnisse von Molekül-mechanischen Rechnungen differieren stark ( — 0.8 bis +192.5 kJ/mol), eine ab-/mY/ö-Berechnung lieferte einen Wert von —20 kJ/mol (Schulman u. Disch, 1984).Aus dem letzten Wert ergibt sich nach dem in Abschn. 7.2 beschriebenen Verfahreneine Spannungsenergie von 161 kJ/mol.

Wie eine Röntgenstrukturanalyse zeigte, wird im Kristall die Symmetrie von 58zu rd erniedrigt, und dementsprechend findet man zwei geringfügig verschiedeneCC-Bindungslängen (153.5 und 154.1 pm) (Gallucci et al., 1986). Diese Werte sindnicht wesentlich vom C—C-Abstand des Cyclopentans (154.6 pm) verschieden.

Zur Darstellung dieser interessanten Verbindung sei noch angeführt, daß diephotochemisch erlaubte Dimerisierung von Triquinacen (54) zu 58 nicht gelang.Dafür dürfte in erster Linie die mit der genauen gegenseitigen Orientierung von zweiMolekülen 54 verbundene hohe negative Aktivierungsentropie verantwortlich sein.

196 8 Moleküle mit ungewöhnlicher Struktur

8.3.7 PropellaneEines der wichtigsten Strukturelemente der organischen Chemie ist der tetraedri-

sche vierbindige Kohlenstoff. Abweichungen von einem idealen Tetraeder sind üb-lich, im allgemeinen aber ziemlich klein (s. Abschn. 3.2.3). Umgestülpt oder invertiertwird die normale Geometrie, wenn sämtliche vier Substituenten auf derselben Seitedes Kohlenstoff-Atoms liegen. Solche Verbindungen konnten in Form der Propel-lane (59) und ähnlicher Substanzen tatsächlich dargestellt werden (Wiberg, 1984).

(CH2)n

60 61

Während z.B. [4.1.1]-, [3.1.1]- und [2.2.1]Propellan rasch polymerisieren und[2.2.2]Propellan bei 20 °C eine Halbwertszeit von nur einer Stunde besitzt, ist diekleinste Verbindung dieser homologen Gruppe, [1.1.1]Propellern (60), trotz ihrerhohen Spannungsenergie von 422 kJ/mol bei Raumtemperatur stabil. Eine Thermo-lyse erfolgt erst oberhalb 100 °C. 60 ist damit das am stärksten gespannte, beiRaumtemperatur stabile organische Molekül. Die Ursache dieser unerwarteten Sta-bilität von 60 liegt in der relativ geringen Abnahme der Spannung bei der Spaltungder zentralen Bindung, da das Diradikal 61 auch stark gespannt ist (Michl et al.,1983).

Die Strukturen einiger Propellane wurden durch Röntgenstrukturanalyse be-stimmt, diejenige von 60 durch Elektronenbeugung. In den meisten Propellanen istdie zentrale C—C-Bindung mit 155-158 pm etwas länger als der Normalwert; für60 wurde ein Wert von 159.6 pm gefunden (Hedberg u. Hedberg, 1985).

Obwohl 60 bedeutend stabiler ist als das Diradikal 61, ist die zentrale C—C-Bindung doch relativ schwach. Dies erkennt man an der niedrigen Elektronendichtein der Mitte des Moleküls längs dieser Bindung. Zum [2.2.2]Propellan s. auch Band l,S. 232.

8.3.8 Moleküle mit planarem vierbindigem Kohlenstoff

Die Einebnung oder Planarisierung der vier Bindungen eines Kohlenstoff-Atomsist bei einem Kohlenwasserstoff nur mit roher Gewalt möglich. Für Methan (62)sind dazu nach quantenchemischen Berechnungen ca. 640 kJ/mol erforderlich. Das

HC<1_

X HX

8.3 Gespannte Alkane und Valenzisomere 197

ist weit mehr, als man zur Spaltung einer C—H-Bindung (413 kJ/mol) benötigenwürde. Für das Dikation, CH^+, ist allerdings eine planare Struktur zu erwarten (s.Abschn. 2.1).

Im bislang unbekannten Fenestran (Tetracyclo-[5.1.1.03'8.05'8]nonan, 63) und ähn-lich gebauten Verbindungen wird dem zentralen Kohlenstoff eine planoide Strukturaufgezwungen. Für 63 wurden C—C—C-Bindungswinkel von ca. 140° berechnet.Diese Winkel gelten für gegenüberliegende C—C-Bindungen, hätten also in derplanaren Form einen Wert von 180°. Bei Röntgen-Strukturanalysen an größerenVerbindungen mit einer vergleichbaren Struktureinheit wurden bislang allerdingsnur Winkel bis zu 125° gefunden (Keese, 1982).

63

Sogenannte anti-van't-Hoff-Geometrien lassen sich mit Hilfe quantenchemischerMethoden untersuchen. Durch aWmY/o-Berechnung an einer Vielzahl von Struk-turen hat Schleyer zeigen können, daß gewisse, zumeist bislang jedoch unbekannteVerbindungen wie z. B. das Dilithiumdifluormethan (64), die planare Konfigurationder tetraedrischen vorziehen sollten (von Rague Schleyer, 1984).

Li \64

Dies ist auch zu erwarten, wenn man zwei geminale Wasserstoff-Atome des Me-thans, Ethens oder Allens durch eine HB—BH-Gruppe ersetzt. Für das Methan-und das Allen-Derivat (65 bzw. 67) werden planare Strukturen und für das Ethylen-Derivat (66) eine Struktur mit um 90° verdrillter CC-Doppelbindung als stabilsteFormen berechnet.

HB. HB,

HB'

X -H

HB

65 66 67

Der Energieunterschied zu den van't-Hoff-Strukturen beträgt 60-80 kJ/mol.Während in letzteren Dreiringe mit klassischen a-Bindungen (Zweizentren-Zwei-elektronen-Bindungen) vorliegen, besitzen diese Ringe in den anti-van't-Hoff-For-men nur vier a-Elektronen, und die beiden restlichen besetzen ein aromatischesCyclopropenium-Ion-ähnliches 7c-Orbital. (Näheres s. Krogh-Jespersen et al., 1979).Zu den hier aufgeführten ungewöhnlichen Molekülen gehören auch hypervalenteVerbindungen wie CLi5 und CLi6.

198 8 Moleküle mit ungewöhnlicher Struktur

Weiterführende und ergänzende Literatur zu Kapitel 8

Meijere A. de (1982): „Sport, Spiel, Spannung- Die Chemie kleiner Ringe", Chem. Unserer Zeit 16,13.Ferguson L. N. (1973): Highlights of Alicydic Chemistry. Franklin, Palisade, New Jersey.Ginsburg D. (1975): Propellanes. Verlag Chemie, Weinheim.Grahn W. (1981), „Platonische Kohlenwasserstoffe", Chem. Unserer Zeit 15, 52.Greenberg A. und Liebman J.F. (1978): Strained Organic Molecules. Academic Press, New York.Keehn P.M. und Rosenfeld S.M. (1983): Cyclophanes. 1 Bde, Academic Press, New York.Maier G. (1972): Valenzisomerisierungen. Verlag Chemie, Weinheim.Szeimies G. (1983), „Bridgehead Olefins", in Abramovitch R. A. (Hrsg.), Reactive Intermediates,Bd. 3, S. 299. Plenum Press, New York.Wentrup C. (1984): Reactive Molecules. The Neutral Reactive Intermediates in Organic Chemistry.Wiley, New York.Wiberg K.B. (1984), „InvertedGeometries at Carbon", Acc. Chem. Res. 17, 379.