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Stuttgart 21-Isabelle

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Auf der Suche nach ihrem Mann und der Flucht vor den Ereignissen in Tübingen, gerät Isabelle mitten in das Chaos, vor dem sie sich eigentlich verstecken wollte.

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Kapitel 1

»Du hast gesagt, in Stuttgart hat es angefangen?«, fragte Isabelle. Sonja nickte.

Alex war ihr über den Rückspiegel hinweg einen seltsamen Blick zu. Isabelle biss

sich auf die Unterlippe. Ihr Mann wollte heute nach Vaihingen. Vielleicht hatte Nadja

ihn aber doch dazu überreden können, mit ihr im botanischen Garten zu picknicken.

Zumindest hoffe Isabelle, nach allem, was im Pub geschehen war, dass ihre kleine

Tochter erfolgreich gewesen war. Falls nicht, würde ihr keine andere Wahl bleiben,

als ... »Dann sollten wir nach Stuttgart gehen. Irgendwie. Und die Wahrheit ans Licht

bringen.« Und mir die Möglichkeit geben, nach meiner Familie zu schauen.

»Du meinst, wir brechen in das Labor ein und besorgen die

Forschungsunterlagen?« Sonja klang skeptisch und Isabelle konnte mühelos

heraushören, dass ihr dieser Gedanke nicht gefiel. »Eigentlich keine schlechte Idee.

Aber wie sollen wir da reinkommen? Wie sollen wir das Labor überhaupt finden?«

Isabelle unterdrückte ein genervtes Stöhnen. Es war nur natürlich, dass Sonja

ihren Vorschlag hinterfragte, sie selbst würde ja nicht anders handeln, aber sie hatte

jetzt bei Weitem andere Sorgen, als gegen Sonjas Skepsis anzukämpfen. Doch sie

würde anders nicht weiterkommen. Fieberhaft überlegte sie sich eine Antwort, als sie

unerwartete Hilfe bekam.

»Das sollte kein Problem sein«, bemerkte Jennie zu Isas Erstaunen. »Wenn du

den Namen hast, dann wird man das sicher finden. Das Internet vergisst nichts, und

wenn der da irgendwie auf diese Pflanze stolz ist, wird man da sicher was finden.«

»Ich bin mir sicher, dass das nicht so einfach ist«, meinte Isa und hätte sich am

liebsten selbst geohrfeigt, kaum hatte sie den Mund geschlossen. Klasse gemacht,

Isabelle. Willst du nun zu deinem Mann oder nicht?

»Sei kein Spielverderber, Isa. Sonja, wie hieß der Kerl?« Isa gelang es nicht, ihre

Überraschung zu verbergen, als sie sah, wie Jennie ihr Smartphone in der Hand

hielt. Keine Spur von Schock oder Entsetzen in ihrem Gesicht, nein, die Freundin

und Kollegin wirkte nahezu rational, emotionslos. Nicht einmal Linda würde so ruhig

bleiben, da war sich Isa sicher. Ob sie wollte oder nicht, sie war beeindruckt.

»Baumann.« Kurz und knapp - typisch Sonja. Während Jennie tippte, konnte

Isabelle nicht widerstehen. Sie spähte über deren Schulter und zählte innerlich bis

zehn, während das Internet lud und lud.

»Na also. Also, er befindet sich im Laboratorium für Lebensmittelforschung und

Nahrungstechnologie. Das sollte wohl nicht schwer zu finden sein. Das Gebäude ist

direkt am Schloss. Vor ein paar Jahren frisch erbaut.«

Isa nickte, langsam. Sie wusste nicht, wie sie jetzt reagieren sollte, ohne ihre

wahren Absichten zu verraten.

»Selbst wenn er die Unterlagen zu der Bacon-Pflanze nicht da hat, werden wir

dort Hinweise darauf finden, wo sich das eigentliche Labor befindet.« Jennie klang

erstaunlich zuversichtlich, fand Isa. Angesichts der Lage vielleicht etwas zu

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zuversichtlich, aber jeder wie er mochte. Als Alex abbog, wusste Isa, sie musste

handeln. Musste sich überzeugen, ob Mann und Kind zu Hause waren.

Alex, du musst hier andersrum abbiegen. Ich muss nach Hause!« Sie beugte sich

vor, ihr Gesicht auf Höhe seines Kopfes. »Ich wohn da vorne. Wir müssen meinen

Mann und meine Tochter mitnehmen.« Oder nachschauen, ob sie Zuhause sind.

Wenn ja, dann muss ich nicht mit nach Stuttgart. Wenn nein, naja, dann hab ich wohl

keine andere Wahl.

»Dafür haben wir keine Zeit. Schreib ihnen. Schreib ihnen und sag ihnen, dass

sie aus der Stadt fliehen sollen.«

»Aber zu mir können wir doch, oder? Ich will wenigstens noch ein, zwei Sachen

mitnehmen. Glücksbringer, wenn du so magst.« Jennie drängte sich neben Isa, stieß

sie etwas zur Seite. Isa unterdrückte ein Fauchen. Das hatte ihr gerade noch gefehlt.

»Leute, so sehr ich euch auch verstehe, aber dafür bleibt keine Zeit. Das geht

nicht. Wenn die Lage so bleibt, können wir ja wieder zurückkehren und alles holen.

Aber Jennies Plan ist gut. Wir müssen nach Stuttgart. Wir müssen die Öffentlichkeit

über alles informieren. Und ich weiß auch schon, wer uns dabei helfen wird.«

Isa wusste, dass Sonja recht hatte. Ihr war auch klar, dass Sonja auf ihre Hilfe

baute. Stuttgart war abgeriegelt - nach den Ereignissen im Pub fiel ihr das nicht mehr

so schwer zu glauben. Sie verstand auch dieses Hin- und Herfahren, auch wenn sie

es für absolut schwachsinnig hielt. Da hätte es sicher auch einfachere Wege

gegeben, die von Sonja gebunkerten Sachen mitzunehmen. Nur Esther - das war für

Isa der einzig wirklich nachvollziehbare Grund für das ganze Chaos. Es war viel

zeitaufwendiger, erst zu Sonja, dann zum Pub zu fahren, doch sie hielt den Mund.

Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um zu streiten oder zu diskutieren. Jetzt musste

sie schnell schalten. Jetzt musste sie sich ganz schnell etwas einfallen lassen. Isa

ließ sich in ihren Sitz zurücksinken. Alex würde nicht zu ihr fahren, das war sicher,

doch sie konnte auch nicht bei ihnen bleiben. Ja, natürlich war sie auch der Meinung,

die Wahrheit müsse an die Öffentlichkeit geraten, aber sie wollte erst einmal ihre

Familie in Sicherheit wissen. Danach war sie bereit, jeder Zeitung, jedem Reporter

Rede und Antwort zu stehen.

Die Ampel wechselte von Grün auf Rot, Alex bremste und hielt pflichtbewusst an.

Isa schloss für einen kurzen Augenblick die Augen, schluckte - und sprang aus dem

Auto. Es war vielleicht dumm. Es war vielleicht unverantwortlich. Aber es war die

einzige Möglichkeit, die Isa sah, um zu ihrer Familie zu gelangen. Als die Tür hinter

ihr ins Schloss fiel, ignorierte sie das schlechte Gewissen, das ungute Gefühl, das

sich in ihr ausbreitete und rannte. Sie wich den hupenden Autos aus, rannte über die

vierspurige Straße. Jennie schien ihrem Beispiel zu folgen, wie ein weiteres Knallen

einer Tür zeigte. Sie taten also alle genau das, was man in solchen Situationen nicht

tun sollte: Sich trennen und einzeln durchschlagen. Aber Isabelle konnte nicht

anders. Ihre Familie war ihr nun einmal wichtiger.

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Sie schlüpfte durch die Studentengruppen hindurch, wich flink einzelnen

Menschen aus. So friedlich, so ruhig - keiner von ihnen ahnte von der Gefahr, die

ihnen drohte. Missbilligende Blicke, verärgerte Ausrufe - Isabelle scherte sich nicht

darum, was man von ihr hielt. Sie rannte einfach weiter. Musste weiterrennen.

Stehen bleiben würde zu viel Zeit kosten. Wertvolle Zeit, die ihre beiden Liebsten

vielleicht nicht mehr hätten.

»Ey! Pass doch auf!«

Isa strauchelte. Für einen kurzen Augenblick war sie abgelenkt gewesen. Hatte

einen Skaterboarder übersehen. Sie stolperte einige Schritte, brauchte einen

Moment, um ihr Gleichgewicht wiederzufinden, sich wieder zu fangen. Mit einer

gemurmelten Entschuldigung lief sie weiter. Kümmerte sich nicht darum, um ob er

sich verletzt hatte. Ob ihm was passiert war. Die ein, zwei Kratzer würden sein

kleinstes Problem sein, wenn die Kacke richtig anfing zu dampfen. Autos hupten, als

sie erneut über die Straße hetzte. Die Einbahnstraßen und nicht sonderlich klug

geschalteten Ampeln, die zu oft von Rot auf Grün wechselten, erschwerten ihr den

Heimweg. Doch schlussendlich hatte sie das Hochhaus erreicht. Schweiß lief ihr in

Strömen über Stirn und Rücken. Die kühle Luft im Treppenhaus ließ sie frösteln,

obwohl es für deutsche Verhältnisse relativ gutes Wetter war und die Temperatur

hoch. Isa sprang die Stufen hinauf, mehrere auf einmal, wusste, viel Zeit blieb ihr

nicht, wenn die beiden wirklich nicht in Tübingen waren. Ihre Hand zitterte, als sie

ihre Wohnungstür aufschloss. Ihr Herz schlug wild in ihrer Brust, das Blut rauschte in

den Ohren - Isabelle war sich nicht sicher, ob sie nicht gleich ohnmächtig werden

würde. Als die Tür endlich aufsprang, war das Erste, was ihr auffiel, das blinkende,

rote Licht des Anrufbeantworters. Auch wenn es altmodisch war, Bashir hatte sich

durchgesetzt. Er mochte Anrufbeantworter und hinterließ ihr immer wieder kleine,

süße Nachrichten, doch etwas sagte Isa, dass diese Nachricht nicht so süß sein

würde, wie sonst. Ihr Atem ging stoßweise, sie biss sich auf die Unterlippe, als sie

den Knopf drückte und die Nachricht abhörte.

»Schatz, Nadja und ich sind in Vaihingen. Meine alte Professorin hat uns zum

Kaffee eingeladen, du weißt doch, wie sehr ich Valerie Baumann schätze. Aber wir

sind zurück, bevor du Feierabend hast - und dann haben wir eine Überraschung für

dich. Wir lieben dich, Superfrau!«

Isa lächelte, auch wenn ihr nicht wirklich danach war. Ja, die Nachricht war nicht

wie sonst voll süßer Liebesbekundungen, sondern mehr informativ, aber leider nicht

so, wie sie gehofft hatte. Die beiden waren also mitten in der Gefahrenzone. Das war

definitiv nichts, was sie erfreute, aber sie wusste auch, dass Bashier, ihr geliebter

Ehemann, seiner alten Ägyptisch-Dozentin nichts abschlagen konnte. Nicht,

nachdem sie ihn voreinigen Jahren in Ägypten an der Forschung an einer alten

Pyramide beteiligt hatte und sie dort einen sagenhaften Fund alter Schriften

gestoßen waren. Seitdem vergötterte Bashier Valerie Baumann Bashier. In

schwachen Momenten wurde sie manchmal eiferrsüchtig, doch dann hinterließ ihr

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Bashier wieder eine süße, liebe Nachricht und alles war vergessen. Doch nun, nun

war er mit Nada bei Valerie. In Vaihingen. Unmittelbar an der Sperrzone. Isabelle

schluckte, atmete tief durch. Sie durfte jetzt nicht den Kopf verlieren. Sie wählte die

Kurzwahltaste ihres Handys, unter der sie Bashiers Nummer eingespeichert hatte,

und wartete. Freizeichen um Freizeichen, doch ihr Mann ging nicht ran.

»Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für Höflichkeit!«, fauchte sie und stecke ihr

Handy wieder ein. Gut, dann muss ich wohl einfach auf gut Glück losfahren und

schauen, dass ich dich erreich, dachte sie, griff nach ihrem Autoschlüssel und verließ

die Wohnung. Erneut stürmte sie aus dem Haus und kaum hatte sie ihr Auto erreicht,

wählte sie erneut seine Nummer, das Handy mit fahrigen Bewegungen in die

Freisprechhalterung klemmend.

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Kapitel 2

Das Freizeichen nervte sie. Dieser monotone Ton zerrte an ihr, während sie im

Schneckentempo aus der Straße fuhr. Wieder einmal bewies Tübingen, dass die

stadteigene Straßenführung nichts für Ungeduldige war oder Menschen, die es eilig

hatten. Isa knirschte mit den Zähnen, krallte sich am Lenkrad fest, während sie

versuchte, dem Drang zu widerstehen, die Fahrer vor ihr anzuschreien und mit

einem regelrechten Hupkonzert vor sich herzutreiben. Erfahrungsgemäß ging es

dann zwar auch nicht schneller, aber sie konnte zumindest ihrem Unmut freien Lauf

lassen. Das Freizeichen tönte laut durch ihr Auto und sie zuckte zusammen. Isabelle

seufzte, drehte am Radioknopf. Suchte einen Sender, der dieses nervige Tuten

ablösen und ihre Nerven nicht weiter strapazieren würde. Als die Rolling Stones

durch den Innenraum ihres Peugot 306 dröhnten, entspannte sie sich etwas. Sie

legte auf und beschloss, erst dann wieder zu wählen, wenn sie Tübingen hinter sich

gelassen hatte. Zwanzig Minuten müssten reichen, damit Bashier eine Ausrede

finden und rangehen konnte. Das Warten trieb sie jedenfalls in den Wahnsinn. Die

Rolling Stones schmetterten gerade ihren »Doom and Gloom«-Song, als sie einer

schnitt und ohne zu blinken von der äußersten rechten Spur einfach vor sie fuhr und

Isabelle nichts anderes übrig blieb, als eine Vollbremsung hinzulegen.

»Du Mongo!« Ihr Herz sprang ihr fast aus der Brust, das Hupen der Fahrer hinter

ihr brachte sie allerdings wieder auf Spur. Fauchend gab sie wieder Gas, schaltete

und fuhr weiter - immer noch langsam.

Sie streckte gerade den Finger aus, um noch einmal die Nummer ihres Mannes

zu wählen, als die leise, basslastige Musik zu einem sehr lauten Getöse wurde, das

die Nachrichten ankündigte. Isa fluchte. Sie vergaß immer diese automatische

Umschaltfunktion auszumachen und erschrak jedes Mal, wenn die Traffic-Funktion

griff und die Musik von sehr lauten Nachrichtensprechern mit betont lockeren

Sprüchen abgelöst wurde.

»So eben haben wir erfahren, dass es in Tübingen zu Aufständen gekommen

sein soll. Natürlich waren wir von SWR3 vor Ort und haben nachgefragt. Wir haben

Katja, die direkt am Pub steht, in der Leitung. Katja, was ist da passiert?« Die

Stimme des jungen Mannes, dessen Namen sie sich einfach nie merken konnte,

klang überaus fröhlich und aufgedreht. »Wie ist denn die Lage in Tübingen?«

»Nun, Kai, hier sieht es echt abenteuerlich aus. Eingeschlagene Fenster,

zerbrochene Stühle - Blut. Krass. Ich stehe hier neben dem Chef des Restaurants,

der genauso schockiert ist wie ich. Herr Wolf, können Sie mir sagen, was hier

geschehen ist?«

Isa hob eine Augenbraue. Das Ganze war so surreal, dass jeder Künstler

neidisch werden würde. Zumindest die zahlreichen verkorksten Hipster-Autoren im

Brechtbau.

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»Das war eindeutig ein Aufmarsch, ein Aufstand. Das waren eindeutig die Leute

von Natureen, die mal wieder gegen unsere Burger-Karte gehetzt haben. Die

meckern alle paar Wochen und drohen mit einem Aufmarsch, einer Demo. Die haben

schon öfters randaliert oder Scheiben eingeworfen.«

Isabelle runzelte die Stirn, als die tiefe Stimme ihres Chefs aus den Boxen drang.

»Chefchen, das ist völliger -«

»Die waren das eindeutig. Haben unsere Gäste angegriffen. Meine Angestellten

haben sich versteckt, sind geflüchtet. War alles ziemlich gewalttätig.«

»Wie erklären Sie sich das, dass alles voller Blut ist und keine Verletzten

gefunden wurden? Dass Gerüchte rumgehen, dass man zahlreiche Leichen

herausgetragen hat?«

Gut gesagt, kleine Moderatorin. Isabelle drehte das Radio lauter.

»Das ist nur aufgebauscht. Natureen ist gefährlich, aber niemand ist zu Schaden

gekommen. Vor allem droht keinerlei Gefahr, bei uns zu essen. Wir werden natürlich

alle erdenklichen Maßnahmen ergreifen, damit so etwas nicht noch einmal passieren

kann. Aber Natureen muss gestoppt werden!«

Ach, Chefchen. Wer hat dir dieses Märchen erzählt?

»Es wird ja vermutet«, konnte sie die Moderatorin, Katja, sagen hören, »dass der

Aufstand was mit der Abriegelung Stuttgarts zu tun hat. Was sagen Sie denn dazu?«

»Ich bin nur der Besitzer des Pubs. Ich habe von einer Abriegelung nur aus der

Zeitung gelesen - warum sollte es etwas mit diesen Lebensmittel-Terroristen zu tun

haben?«

Isabelle schmunzelte. Ja, da hatte er recht. Der Zusammenhang zwischen den

beiden Ereignissen war mehr als dürftig. Wer auch immer diesen Stuss verzapft

hatte, wusste genau, was er tat. Nun würden alle Natureen noch skeptischer

betrachten, als sie es ohnehin schon taten. Isa fand, sie hatte genug gehört. Als die

Moderatorin wieder eine Vermutung äußerte, wechselte sie zurück auf ihre Rolling

Stones und wählte endlich erneut die Nummer ihres Mannes. Das erneute Tuten des

Freizeichens ließ sie mit den Zähnen knirschen. Gerade, als sie wieder aufgeben

wollte, knackte es in der Leitung und Bashiers Stimme war zu hören.

»Baby, was ist los?«

»Schatz, seid ihr noch in Vaihingen? Ist alles in Ordnung bei euch?« Isabelle

verschwendete keine Zeit mit Smalltalk. Nicht jetzt. Nicht heute. »Stuttgart ist

abgeriegelt - haben sie Vaihingen auch schon abgesperrt? Schatz, nimm Nadja und

komm da weg!«

»Ich verstehe nicht. Ja, die Situation in Stuttgart scheint ernst, aber Valeries

Mann ist schon mit der Lösung beauftragt. Wir sind hier in Sicherheit. Baby, warum

rufst du an? Ist etwas passiert? Und warum willst du, dass wir hier weggehen?«

»Es gab ... eine Art Virenbefall im Pub. Das ist alles nicht normal. Wie in diesen

schlechten Horrorfilmen. Ich bin auf dem Weg zu euch, ich hol euch ab. Dann fahren

wir weit weg. Weit, weit weg.«

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»Du arbeitest zu viel. Du siehst schon Dinge ...«

»Bashier. Ich meine es ernst. Wir müssen weg aus Baden-Württemberg. Stuttgart

war sicher erst der Anfang. Du willst doch auch, dass Nadja in Sicherheit aufwächst,

oder?«

»Baby -«

»Nein. Nein, ich hol euch. Bleibt, wo ihr seid. Wenn ihr jetzt auf die Straßen geht,

weiß ich nicht, ob sie euch nicht doch auflesen und einsperren. Ich hol euch da raus.

Aber versprich mir, dass du auf mich warten wirst. Dass du nichts Dummes tust!«

»Isabelle, übertreibst du es nicht ein bisschen? Was ist vorgefallen? Etwas muss

doch passiert sein, so wie du dich aufführst.«

Isabelle schluckte. Wie sollte sie ihm davon erzählen, ohne als völlig verrückt

abgestempelt zu werden? Auch Liebe hatte ihre Toleranzgrenzen und bei Wahnsinn

war meist eine solche Grenze erreicht. »Nun, dieser Ausbruch, dieses Virus - die

Leute sind ... wir haben ein neues, veganes Gericht auf die Karte genommen. Und

als die das gegessen haben, ist die Hölle losgebrochen. Die sind praktisch über uns

hergefallen. Haben uns angegriffen, uns gebissen. Die haben Linda und Kathi

getötet. Wie Tollwütige! Schatz, wir müssen hier weg!«

»Bist du dir sicher?«

»Ich hab es doch genau gesehen! Und ich weiß, was Sonja erzählt hat. Das alles

ergibt Sinn. Das ist viel zu gefährlich! Wir müssen hier wirklich weg, bevor etwas

noch Schrecklicheres passiert!«

»Nun ... das würde die Polizisten hier erklären. Wenn eine mutierte Form der

Tollwut umgeht. Valerie und ich haben in den Aufzeichnungen aus der Pyramide von

ähnlichen Ereignissen gelesen. Aber - vielleicht ist das auch nur eine neue Droge,

die völlig unkontrollierte Wirkungen hat.«

Isabelle schüttelte den Kopf. Manchmal machte er es ihr echt schwer, nicht vor

Frust zu schreien.

»Schatz, ich komm dich holen. Irgendwie schaffen wir es da raus. Wir müssen

einfach weg. Zu unserem Schutz. Zu Nadjas Schutz. Aber lass dir nichts anmerken.

Ich will nicht, dass meine Süße sich fürchtet. Und ... bitte, bleibt bei den Baumanns.

Ich bin so schnell wie möglich da!«

»Schatz -« Doch sie konnte die Resignation in Bashiers Stimme hören. Er würde

tun, worum sie ihn gebeten hatte. Doch wenn sie ehrlich war, fürchtete sie sich davor,

was geschehen würde, wenn Bashier mit Valerie darüber sprach. Sie traute der

schrulligen Dozentin durchaus zu, seltsame heidnische Rituale durchzuführen oder

mit ihrem Mann über alles zu sprechen. Dann würde dieser Vaihingen wirklich

abriegeln lassen. Isabelle hauchte ein paar Küsse ins Telefon, bevor sie auflegte.

»Egal, was passiert. Ich beschütze euch!«, murmelte sie. Sie würde sich ihre

Familie, für die sie so lange gekämpft und auf die sie so lange gewartet hatte, nicht

wegnehmen lassen. Von niemandenem. Schon gar nicht seltsamen, durchgeknallten

Kannibalen. Als sie endlich das Stadtschild Tübingens passierte, trat sie das

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Gaspedal durch und überholte die Fahrzeuge vor ihr. Entschlossen, sich von nichts

aufhalten zu lassen, verlangte sie ihrem Auto alles ab - und genoss es.

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Kapitel 3

Kaum war sie von der Autobahn runter Richtung Vaihingen abgebogen, beschlich

sie ein ungutes Gefühl. Die Straße war wie ausgestorben. Gut, dass niemand

Richtung Stuttgart fuhr, war ihr natürlich klar. Abgeriegelte Städte waren nicht gerade

beliebe Ziele und auch nicht sonderlich einladend. Doch dass ihr kein Auto aus

Vaihingen entgegen kam, verwunderte und beunruhigte sie zugleich. Sie drosselte

die Geschwindigkeit, fuhr gemächliche 80, auch wenn es in ihrem Fuß juckte, das

Gaspedal durchzudrücken. Geduld war angebracht, auch wenn sie nicht wusste, wie

sie die Stärke aufbringen sollte, geduldig zu bleiben. Auf Französisch bis zehn

zählend fuhr sie weiter, das Herz flatterte, das Blut rauschte in ihren Ohren. Es fiel ihr

nicht leicht, doch sie durfte jetzt keine Aufmerksamkeit erregen. Wenn sie jetzt

unangenehm auffiel, konnte sie das alles kosten. Doch weit und breit war keine

Menschenseele zu sehen. Das mulmige Gefühl in ihrem Bauch verstärkte sich.

Isabelle schluckte. Es fiel ihr schwer, einen kühlen Kopf zu bewahren. Als sie um

eine Kurve bog, wäre sie beinahe in die Bremsen gestiegen. Der Ortsrand von

Vaihingen war noch ein gutes Stück entfernt und nicht mehr sichtbar, was seltsam

war, denn eigentlich sollte sie von hier aus schon einen guten Blick auf die Häuser

haben. Stattdessen starrte sie auf ein riesiges Aufgebot an Polizeiautos, Sprintern

und Hubschraubern. Autos, unzählige verschiedene Modelle in allen Farben parkten

vor großen, weißen Zelten, wie man sie eigentlich nur vom Wasen kannte. Isa

schluckte erneut trocken. Angst kroch ihr den Nacken hinauf. Das war nicht gut. Das

war gar nicht gut. Weit vor den Zelten standen mehrere Polizeiautos, nebeneinander,

stellenweise kreuz und quer. Es sah verdächtig nach einer Blockade aus. Isabelle

fluchte.

Sie drosselte die Geschwindigkeit noch ein wenig, fuhr langsam auf die Blockade

zu und erschrak zutiefst, als mehrere Soldaten hinter den Fahrzeugen auftauchten

und die Gewehre in ihre Richtung hielten.

»Okay, Jungs. Das ist nicht lustig.« Isabelle schluckte. »Wenn ihr glaubt, ihr könnt

mich damit einschüchtern, habt ihr euch getäuscht.« Sie drückte den Knopf, um das

Fenster zu öffnen und fuhr in Schrittgeschwindigkeit heran.

»Guten Tag.« Ein Polizist hatte sich zu ihr gebeugt. »Ich muss Sie informieren,

dass Sie nicht nach Vaihingen einfahren können. Es besteht höchste

Alarmbereitschaft und Sicherheitsstufe. Ich muss Sie bitten, Ihr Fahrzeug an den

Rand zu stellen, auszusteigen und mir zu folgen. Einer der Militärs wird sich um Ihr

Fahrzeug kümmern. Keine Sorge, wir haben alles unter Kontrolle. Wir müssen nur

sichergehen, dass wir sie gefahrlos in die Stadt lassen können.«

Isabelle runzelte die Stirn. Schön. Zeigen wir mal, wie gut wir schauspielern

können. »Was ist denn hier passiert? Ich meine, die Blockade ist schon ... so etwas

gab es doch noch nie! Sagen Sie mir bitte, was hier los ist. Ich habe Angst.« Sie

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zwang ihre Stimme in eine hohe, unschuldig klingende Tonlage. Verängstigt,

unsicher, hilfesuchend. Zumindest hoffte sie es.

»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Aber vertrauen Sie mir, Sie sind bei uns in

Sicherheit. Es wird alles wieder gut. Es ist nur eine Vorsichtsmaßnahme.«

»Hat es mit ... hat es mit Stuttgart zu tun?« Isabelle wusste, sie pokerte hoch. Die

Aussage des Polizisten war zu schwammig, zu ungenau. Zu unstimmig, um in

irgendeiner Form als Erklärung für all das gelten zu können. Zumindest kritisch

denkende Gemüter würden sich nicht so einfach abspeisen lassen. Isabelle biss auf

die Lippe. Es fiel ihr schwer, all die Fragen zurückzuhalten, doch wenn sie jetzt

übertrieb oder das Falsche fragte, wäre sie geliefert. Sie sah, wie der Polizist bei

ihrer Frage mit sich zu kämpfen hatte. Sie konnte ihn beinahe schon denken hören.

Es hätte sie auch nicht gewundert, wenn sie Zahnrädchen hinter seiner Stirn hätte

arbeiten hören, so angestrengt schien er nachzudenken. Sie widerstand dem Drang

mit den Fingern ungeduldig zu trommeln. Noch war sie nicht ausgestiegen, noch

konnte sie wegfahren. Weit wegfahren. Nur der Gedanke an ihre Liebsten ließ sie

ausharren.

»Ja. Es gab einen terroristischen Anschlag auf Stuttgart. Zur Sicherheit der

Bevölkerung und um die Lage unter Kontrolle zu halten, haben wir

Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Wenn Sie also nach Vaihingen wollen, müssen

wir Sie untersuchen. Nicht, dass Sie doch irgendwie den Erreger in sich tragen, mit

dem Stuttgart konfrontiert wurde. Sie sehen, es ist alles nur zu Ihrer Sicherheit.« Der

Polizist lächelte sie an, Isabelle schaffte es, keine Miene zu verziehen, als sie das

unechte Mienenspiel sah. »Steigen Sie also bitte aus dem Fahrzeug, lassen Sie den

Schlüssel stecken - wir kümmern uns um alles weitere.« Es folgte eine auffordernde

Geste, doch Isa zögerte. Sie war noch nicht bereit, das sichere Refugium ihres Autos

zu verlassen. Aber es würde ihr nichts anderes übrig bleiben, wenn sie die Gesichter

der Polizisten und Soldaten betrachtete. Mit einem Seufzen löste sie den Gurt und

stieg aus. Sofort war einer der Soldaten bei ihr, griff nach ihrem Arm und versuchte

sie, in Richtung der weißen Zelte zu dirigieren. Isa sah sich um, ließ ihren Blick

schweifen. So einfach ließ sie sich nicht irgendwohin bringen, wo Fremde an ihr

hermdoktorten. der Wald, der Nationalpark war nicht wirklich weit entfernt. In Isa

reifte ein Plan.

»Kommen Sie. Es wird Ihnen nichts geschehen. Es ist nur zu Ihrem eigenen

Besten.« Der Soldat schien keinerlei Freude daran zu haben, sie zu den Zelten zu

führen. Bevor Isa zu einer drastischen Methode griff, wollte sie noch etwas

versuchen. Sie drehte den Kopf, las den Namen des Soldaten. M. Bayer.

»Herr Bayer?«

Der Soldat schien für einen Augenblick aus dem Konzept gebracht worden zu

sein. Mit großen Augen sah er sie an.

»Herr Bayer, ich habe Mann und Kind. Meine Tochter ist in Vaihingen. Ich muss

wissen, dass es ihr gut geht. Se ist erst neun Jahre alt. Sie können doch sicher ...

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sicher nachschauen, ob sie in einer der Krankenstationen ist. Oder ob mit ihr alles in

Ordnung ist. Bitte!«

Sie sah, wie er mit sich rang.

»Sie haben doch sicher auch Familie.Sie müssen dich verstehen, wie ich mich

fühle.« Plötzlich fiel ihr wieder ein, warum ihr der Name so bekannt vorgekommen

war. »Sie sind nicht zufällig mit Maria Bayer verwandt? Maria war eine gute Freundin

und Kollegin von mir, bevor sie mit ihren Studium fertig war. Ich weiß, dass sie eine

kleine Schwester hat, die schwer krank ist. Sie müssten doch meine Sorge

verstehen!«

»Ja, Maria und Marion sind meine Schwestern. Ich wusste nicht, dass Sie sie

kennen. Das bedeutet, Sie arbeiten auch im Pub? In dem Pub in Tübingen?« Der

Soldat war stehen geblieben, seine Augen hatten einen eindringlichen ernsten

Ausdruck angenommen. Isa schluckte. Das war nicht gut. Aber nun musste sie

diesen Weg zu Ende gehen.

»Ja.« Gut, die Welt war nicht untergegangen, der Höllenschlund hatte sich nicht

geöffnet. Isa hätte beinahe erleichtert gelacht, wäre da nicht der Soldat, der sie mit

glühenden Augen anstarrte.

»Der Pub, in dem es einen Ausbruch gab? Der Pub, wo es keine Überlebenden

gab?«

Mist, verdammter! Zögernd nickte sie. Abstreiten erschien ihr sinnlos. Er wusste

Bescheid.

»Verdammt! So kann ich dich nicht einmal zu den anderen lassen.« Er fuhr sich

durch die Haare, eine fahrige, nervöse Bewegung, wie sie bemerkte. »Okay, ich kann

dir so viel sagen.« Er zögerte kurz, sah sich um. Es schien ihn nicht zu kümmern,

dass er sie duzte und Isa war es herzlich egal. Es war defintiv nicht die richtige Zeit,

sich über Höflichkeiten zu ärgern. »Wie heißt deine Tochter?«

»Nadja. Nadja Yusuf.« Isabelle hielt den Atem an. Hoffnung und Angst kämpften

unbarmherzig in ihrer Brust, in ihrem Herzen. Sie sah, wie er einen kleinen

Blackberry hervorzog oder zumindest etwas Ähnliches und wild drauflostippte.

»Sie lebt. Zumindest ist sie nicht in Quarantäne oder in einer der

Krankenstationen.« Er schenkte ihr einen strengen Blick. »Du allerdings wirst genau

dort landen. In Quarantäne. Es tut mir leid, ich kann nicht anders mit dir verfahren.

Die Gefahr, dass du infizierst bist, ist zu groß.«

Isa nickte. Ihr genügte die Antwort, dass Nadja also nirgends gemeldet war. Das

bedeutete, sie war noch mit Bashier bei den Baumanns. Ein leichtes Lächeln stahl

sich auf ihre Lippen. Der Griff des Soldaten um ihren Arm verstärkte sich. Er zog sie

mehr oder weniger hinter sich her, zu einem Zelt abseits der anderen.

»Hier wirst du untersucht. Bluttest, Vitaltest. Alles steril. Dann, und das lässt sich

halt wirklich nicht verhindern, kommst du in eine Quarantänezelle. Es tut mir leid.

Aber sollte ich deine Tochter finden oder treffen, werde ich auf sie aufpassen.« Mit

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diesen Worten schob er Isa durch den Zelteingang. Die dort anwesenden Ärzte

sahen auf, erstaunt, erschrocken.

»Die hier muss getestet werden. War in kontaminierten Räumlichkeiten. Zeigt zwar noch keine Anzeichen, aber muss in Quarantäne.« Er schubste Isa und verschwand. Isabelle rieb sich den Nacken. Das war nicht so verlaufen, wie sie sich erhofft hatte. Nervös beobachtete sie die Ärzte, die ihre Schutzanzüge anlegten und auf sie zukamen.