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Stuttgart 21-Sonja

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Stuttgart 2021 - auf der Suche nach neuen Rezepten, außergewöhnlichen Lebensmitteln und Kochzubehör stoßen Sonja und ihre Freundin auf eine seltsame Pflanze. Als sich Sonja der Pflanze nähert, weiß sie noch nicht, dass sich dadurch ihr Leben von Grund auf ändern wird. Noch während ihre Freundin mit allen Mitteln diese Pflanze in das Restaurant der beiden bringen will, bricht in Stuttgart der Ausnahmezustand aus.

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Kapitel 1

Das grelle Neonlicht und die vielen verschiedenen Gerüche der neuartigen

Lebensmittel, die vorgestellt wurden, vermischten sich zu einer eigenwilligen

Komposition, die ihr in der Nase stach. Sonja kniff die Augen zusammen und

versuchte, möglichst flach und durch den Mund zu atmen. Hätte sie Sarah nicht

versprochen, sie auf die Intergastra zu begleiten, wäre ihr das alles erspart geblieben

und sie hätte sich einen schönen Tag mit ihrem Freund machen können. Aber nein,

um den Pub attraktiver zu gestalten und mehr Gäste anzulocken, war sie mit Sarah

auf die Gastronomie-Messe gegangen, da neue, vegane Gerichte entdecken und die

steigende Nachfrage bedienen wollte. Sonja schüttelte den Kopf. Bisher hatten sie

nichts Interessantes oder ansatzweise Essbares gefunden. Zumindest nichts, was

sie den Gästen persönlich vorgesetzt hätte.

»Da! Schau mal!« Sarah griff nach ihrem Arm und deutete wild auf einen Stand,

an dem sich eine beachtliche Menschenmenge versammelt hatte. »Lass uns mal da

rüber gehen. Eine ganze Theke voll von veganem Fleisch. Das muss ich sehen!«

Sonja verdrehte die Augen. Es handelte sich wahrscheinlich sowieso nur um eine

Art Tofu mit Schweinefleischgeschmack, also nichts Weltbewegendes. Aber Sarah

zwängte sich bereits durch die Menschenmengen hindurch und schubste sie

erbarmungslos zur Seite, weswegen ihr nichts anderes übrigblieb, als sich mit einem

schwachen Lächeln bei ihnen zu entschuldigen und ihr zu folgen.

»Schau mal.« Sarah drückte Sonja eine Broschüre in die Hand. »Bacon-Pflanze.

Witziger Name.«

Sonja hob eine Augenbraue und betrachtete die leuchtend bunte Abbildung auf

dem Flyer. Die Pflanze hatte etwas Unwirkliches an sich: rote Blätter mit weiß-grüner

Faserung, ein einzelner, dicker Stamm, knotenartige Auswüchse. Die Ähnlichkeit

zum Bacon war vorhanden - mit viel Fantasie. Unter appetitlich verstand sie jedoch

etwas anderes. Kurz überflog sie die Informationen, die ihr reißerisch weißmachen

wollten, dass diese Pflanze der Durchbruch der Menschheit darstellen würde und alle

Probleme löste. Sonja schnaubte verächtlich - das klang einfach zu absurd, um wahr

zu sein.

»Das wäre doch der Hammer! Damit könnten wir unseren wahren Wert unter

Beweis stellen, wenn wir diese Pflanze in den Pub mitbringen. Chefchen würde uns

den Boden unter den Füßen vergolden!« Sarahs Stimme überschlug sich beinahe

vor Eifer. Sie hatte Blut geleckt, das konnte Sonja nicht nur hören, das konnte sie

sehen. Die Augen der Freundin waren geweitet, glänzten. Na klasse. Das konnte nur

eines bedeuten: Sarah würde jetzt alles daran setzen, eine dieser Pflanzen zu

bekommen. Ob ich mich schon mal vorsichtshalber bei den Ausstellern

entschuldigen soll? »Wir könnten damit Werbung machen. Wir könnten damit dieser

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komischen, veganen Eisdiele zeigen, dass es auch anders geht. Wir wären endlich

das angesagteste Restaurant der Stadt.«

Dann dürfte dein Kerl aber nicht mehr kochen, das kann er nämlich nicht, schoss

es Sonja durch den Kopf, doch sie verbot sich diesen Gedanken. Jannis war zwar

nicht die hellste Kerze auf dem Kuchen, dafür ertrug er Sarahs Launen - somit waren

sie quitt. Die Küchencrew bekam ihre verdiente Ruhe und Sarah behielt ihren

persönlichen Punchingball.

Jemand stieß sie an und sie taumelte. Sonja musste nicht erst fragen, sie wusste,

dass Sarah sich durch die Menschenmassen drängelte, um ihren Willen zu

bekommen.

»Ey, pass doch auf!«, fuhr sie ein verschwitzter, gehetzt aussehender Mann an.

Dicke Augenringe, so dunkel, dass sie schon schwarz wirkten, unterstrichen die

unfassbare Wut in seinem Blick. Sonja schluckte. Etwas an diesem Blick stimmte

nicht, und sie stammelte eine Entschuldigung. Doch er schien sie nicht zu hören oder

wollte sie nicht hören. Seine Aufmerksamkeit richtete sich jedoch sofort wieder auf

den Stand, er presste die Lippen zusammen und ballte die Hände zu Fäusten. In

Sonja wuchs die Neugier, etwas drängte sie dazu, herauszufinden, was dort vor sich

ging. Der Stand, der Forscher - irgendetwas hatte seinen Zorn geweckt. Aber was?

Sollten nicht alle in Begeisterungsstürme ausbrechen, jetzt, da es veganes Fleisch

gab, das nicht nur so aussah, sondern vermutlich auch nach Tier schmeckte, aber

keins war? Bevor sich Sonja allerdings den Kopf darüber zerbrechen und ihre

Neugier befriedigen konnte, schrillten Sarahs Worte in ihren Ohren. Die Aufregung

ließ die Stimme der Freundin mehrere Oktaven höher klingen. Der Forscher, auf den

ihre Freundin einredete, wirkte überfordert, er suchte herum, wirkte gehetzt und

wollte anscheinend die nächstbeste Lücke im Besucherstrom nutzen, um zu

verschwinden. Er hatte offenbar keine Ahnung, wie er mit dem Redefluss Sarahs

umgehen sollte.

Sonja musste kichern. »Sarah, jetzt lass den armen Mann doch auch mal mit den

anderen hier sprechen.« Sie hatte beschlossen, den Messeteilnehmer zu retten und

ihre Freundin zu stoppen. »Du bist ja nicht die Einzige, die sich für diese ominöse

Bacon-Pflanze interessiert.« Kaum hatte sie den Mund geschlossen, schien sich der

Forscher auf sie zu konzentrieren. Seine dunklen Augen starrten sie eindringlich an,

so eindringlich, dass Sonja den Drang verspürte, mehrere Schritte nach hinten zu

machen, um von ihm wegzukommen. Doch sie musste Zeit schinden. Sie musterte

den Laborkittelträger: Das blütenreine Weiß des Kittels leuchtete im Neonlicht, die

dunklen Augen verrieten nicht, was er wirklich dachte. Dazu verkniffene Mundwinkel,

ein Lächeln, das mehr als nur aufgesetzt wirkte, und etwas, das grundlegend

abstoßend war. Etwas störte Sonja gewaltig. Sie konnte nur nicht sagen, was es war.

Doch sie hatte das Gefühl, ihm nicht trauen zu können. Was vielleicht auch einfach

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nur daran liegen konnte, dass sie allen Forschern mit Misstrauen begegnete.

»Interessieren Sie sich auch für die Bacon-Pflanze?« Seine Stimme jagte ihr

einen kalten Schauer über den Rücken. Emotionslos, berechnend - zu glatt.

»Ominös! Köstlich!« Er lachte, zeigte dabei so viele Zähne, dass Sonja unwillkürlich

schauderte. Sein Lachen war zu aufgesetzt, um sie nicht zu gruseln. »Gestatten Sie

mir, Ihre Zweifel und Fragen zu klären?«

Offensichtlich versuchte er, Sarah zu entkommen und im gleiche Zug mit

Bauernfängerei beginnen.

»Stell dir die Möglichkeiten vor! Was das für uns bedeuten könnte!« Sarah rüttelte

an Sonjas Arm. »Wir wären der It-Laden, der Szeneladen schlechthin. Die werden

uns die Bude einrennen! Wir brauchen diese Pflanze!«

»Wir wissen noch nicht einmal, ob die überhaupt gesund ist oder wie sie

funktioniert«, murmelte Sonja. »Die kann auch der gefährlichste Dreck sein, den wir

jemals finden werden.«

»Aber, aber!« Wieder dieses falsche, künstliche Lachen. »Diese Pflanze ist

ungefährlich, was soll sie denn schon ausrichten? Sie bietet die perfekte Möglichkeit

für unsre veganen Freunde, Fleisch zu genießen, ohne dass ein Tier dafür sein

Leben lassen musste. Sie ist wirklich rein pflanzlich und völlig ungefährlich.« Er

schnipste - eine Geste, die Sonja in jeder Hinsicht hasste. Ein junges Mädchen,

höchstens achtzehn, huschte schnell hinter dem Stand hervor, die Hände um einen

großen, wuchtigen Topf gepresst. Die Pflanze, die darin wuchs, sah noch

abstoßender aus als in der Broschüre. Ein einzelner, daumendicker Stamm wuchs

leicht schräg in die Höhe, knotig und dunkelgrün. Äste, anders konnte Sonja es nicht

nennen, standen nahezu im rechten Winkel davon ab, erinnerten sie an Finger. Die

Blätter in ihrer seltsam weiß-grünlich-roten Beschaffenheit waren dick und fleischig

und ein seltsamer Geruch ging davon aus. Eine seltsame Faszination ging von der

Pflanze aus. Obwohl sie sich auch abgestoßen fühlte, konnte sie nicht widerstehen

und streckte eine Hand danach aus, was offensichtlich für den Forscher ein Zeichen

war, sie mit allen Mitteln überzeugen zu wollen. »Die Vorteile der Bacon-Pflanze sind

phänomenal und einzigartig. Allein dieses Exemplar reicht aus, um« - er hielt inne,

zählte die Blätter - »an die zwei Dutzend Mäuler zu stopfen und Veganer glücklich zu

machen. Und am nächsten Tag, dank unseres Spezialdüngers, ist der Strauch wieder

voll. Alles ungefährlich, das verspreche ich Ihnen.« Mit einem Nicken forderte er

Sonja auf, die Blätter zu berühren. Während ihre Finger über die wulstige Oberfläche

strichen, wurde Sonja mit Fakten überschüttet, was diese Pflanze alle könne und zu

welchen Ergebnissen man gekommen wäre. Dabei erwähnte der Laborkittelträger

immer wieder diesen Spezialdünger, was sie mehr als stutzig machte.

»Also, ich will ja jetzt nicht spießig klingen, aber dieser Spezialdünger - ich glaube

nicht, dass das so koscher ist.« Sonja zog ihre Hand zurück, verschränkte die Arme

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vor der Brust. Sie konnte den bohrenden Blick Sarahs spüren, ignorierte die Freundin

aber. »Das ist mir echt zu genbearbeitet. Das kann nicht gesund sein. Sorry, aber

damit möchte ich mir ungern die Finger schmutzig machen.«

»Ich kann Ihre Skepsis verstehen, aber glauben Sie mir, wir haben genügend

Tests durchgeführt, um sicherzustellen, dass der Dünger und auch die

Pflanzenbestandteile für den menschlichen Körper nicht schädlich sind. Es gibt

keinen Grund zur Sorge. Wirklich. Die Daten lügen nicht.«

»Das ist alles eine Lüge!« Sonja fuhr mit einem unterdrückten Kreischen

zusammen. Der Mann, der ihr zuvor bereits aufgefallen war, hatte wohl die

Beherrschung verloren.

»Das ist alles eine Lüge!», schrie er. »Genmanipulation ist alles, aber nicht

gesund!« Seine Stimme war laut, übertönte den Messelärm. »Wir haben immer

wieder versucht, Einsicht in die Forschungsunterlagen und Ergebnisse zu

bekommen, aber es wurde uns immer verweigert. Es gibt keine eindeutigen

Ergebnisse. Niemand kann sagen, ob die Wirkstoffe des Düngers die Pflanze nicht

doch so beeinflussen, dass sie schädlich für die DNS des Menschen sind.«

Sonja nickte langsam. Der Mann sprach aus, was sie befürchtet hatte. Der

Schriftzug auf dem Pullover des Mannes leuchtete, verriet, dass er Mitglied der

Gruppe »Natureen« war. Natureen, Natureen - Sonja kratzte sich am Ohr.

Irgendetwas sagte ihr der Name, doch sie kam nicht sofort drauf.

»Ich gehöre zu Natureen«, rief der Typ im Kittel. »Wir beschäftigen uns mit

nachhaltigem Anbau von Gemüse und Obst und wollen die Bevölkerung über die

Gefahren, genmanipulierter, überzüchteter Lebensmittel aufklären. Dazu gehört auch

die Bacon-Pflanze. Diese Pflanze ist nicht ausgereift genug, um jetzt schon als

Nahrungsquelle zu dienen!«

»Das täuscht. Der Verzehr ist völlig unbedenklich möglich«, behauptete die junge

Frau, die die Pflanze noch immer umklammert hielt. »Es ist alles getestet worden.

Weder der Dünger noch die Stoffe in den Blättern sind für die menschliche DNA

schädlich oder zerstören das Biosystem. Keine Nebenwirkungen, keine Schäden.

Wir würden niemals ein Menschenleben gefährden!«

»Und warum wurde uns keine Einsicht in die Unterlagen gewährt? Warum hat

man uns stets abgewiesen? Warum uns vom Gelände gejagt? Wenn diese

Forschungsergebnisse wirklich so ausgefallen sind, wie man der Öffentlichkeit

weismachen will, dann wäre es doch kein Problem gewesen, sie Natureen

zukommen zulassen!«

Wo er recht hat, hat er recht, schoss es Sonja durch den Kopf. Mit einem Mal war

ihr wieder eingefallen, wer oder was Natureen war. Natur und Green zu einem Wort

verschmolzen, ein etwas klingenderer Name als der ursprüngliche - Naturgut.

Natureen war so etwas wie die Stiftung Warentest - nur eben für Lebensmittel - und

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ihre Natürlichkeit oder Verträglichkeit in Bezug auf genmanipulierte Lebensmittel.

Was sie absegneten, war auch wirklich gut. Dass die Bacon-Pflanze vor ihnen

abgeschirmt worden war, verhieß nichts Gutes und verstärkte nur das sehr, sehr

miese Gefühl.

»Wir wollten eben nicht, dass unsere innovative Entdeckung zum falschen

Zeitpunkt publik gemacht wird«, erklärte die Assistentin, die noch immer den

Blumentopf umklammert hielt. »Wir haben nicht umsonst so viel Zeit und Geld in

diese Forschung gesteckt, um dann mit Plagiaten kämpfen zu müssen. Wir wollten

entscheiden, wann wir damit an die Öffentlichkeit gehen und nicht Natureen.

Immerhin stecken viele Jahre Arbeit und eine Menge Forschungsgelder hinter dieser

einzigartigen Pflanze. Das wollten wir uns einfach nicht kaputtmachen lassen.«

Selbst die junge Frau schien zu merken, dass ihre Erklärung mehr als nur dürftig

klang und vielmehr als halbherzige Entschuldigung durchging. Sonja tat das

Mädchen leid, aber sie hatte mit Sicherheit gewusst, auf was sie sich da einließ. Und

nun, nun musste sie eben dafür geradestehen.

»Ich versteh die ganze Aufregung nicht«, grummelte Sarah, den Blick noch immer

fest auf die Pflanze gerichtet. »Der sagt doch, das Zeug ist harmlos. Soll halt

Natureen schauen, dass sie ein Exemplar bekommen und ihre bescheuerten Tests

durchführen. Ich glaub dem das. Die kann doch nicht wirklich so gefährlich sein, wie

sie hier dargestellt wird. Dramaqueens. Wollt halt auch euer Stück Aufmerksamkeit.«

»Und du siehst natürlich nur den Nutzen und das Wohl unserer Gäste und nicht

etwa den dicken Bonus, wenn wir das Ding in den Pub geschleift bekommen«, sagte

Sonja. »Ich kenn dich doch. Menschenfreundlich wie eh und je, selbstlos bis zur

Aufgabe.« Sie schüttelte den Kopf. Sarah sah nur den Profit. Den Vorteil. Wenigstens

das würde sich nie ändern.

»Ach, du bist blöd.« Sarah stieß die Freundin mit dem Ellbogen in die Seite. »Wir

müssen …« Weiter kam sie nicht. Ein plötzlicher Aufruhr unterbrach sie. Neugierig

reckten die beiden Freundinnen den Hals. Vier Securitymänner liefen im Stechschritt

den Gang entlang, steuerten direkt auf den Stand zu. Ihre Gesichter waren grimmig

und kalt. Ein klein wenig aufgeblasen, wenn sie ehrlich war. Die Schlagstöcke

gezückt und mehr Muskeln, als dass sie gut ausgesehen hätten. Sonja konnte nicht

anders: Sie musste einfach kichern.

»Sie kommen mit uns«, erklangen ihre Stimmen unisono und griffen nach den

Armen des Natureen-Sprechers. Zwei von ihnen hielten ihn fest, die anderen beiden

wurden von den Standbetreibern über das Geschehen informiert. Ohne ein weiteres

Wort zu verlieren, führten sie ihn ab, ignorierten dabei seine Proteste. Als er sich

wehrte, schlug einer der Vier ihm mit dem Schlagstock auf den Kopf. Sonja runzelte

die Stirn. Die Reaktion der Sicherheitsleute schien ihr einfach zu überzogen, um

normal zu sein. Es musste etwas Großes im Gange sein. Etwas, das mit dieser

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Pflanze zu tun hatte. Natureen. Muss ich …

»Sonja!«

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Kapitel 2

Sonja schloss für einen Moment die Augen. Sarahs Stimme hatte sie aus dem

Konzept gebracht.

»Sonja, ich schwöre dir, wir gehen nicht eher hier weg, bis wir dieses Ding

haben!«

Ist es zu spät, um mich umzudrehen und so zu tun, als würde ich dich nicht

kennen? Sonja biss die Zähne zusammen, war bemüht, die bissige Bemerkung, die

ihr auf der Zunge lag, zu schlucken.

»Meine Damen und Herren, ich entschuldige mich vielmals für diese unnötige

Unterbrechung. Wir werden sogleich mit der Demonstration fortfahren, wenn sich

alles ein wenig beruhigt hat.« Das künstliche Lächeln des Forschers verursachte bei

Sonja Zahnschmerzen. »Bitte scheuen Sie sich nicht, Fragen zu stellen oder Zweifel

zu äußern. Wir werden all Ihre Einwände aufnehmen und unsere Erkenntnisse an

Sie weitergeben. Treten Sie näher! Beseitigen wir die Unklarheiten.«

Na, wie das Beseitigen aussieht, haben wir ja gerade gesehen. Sonja spielte mit

der großen Holzcreole in ihrem rechten Ohr, wie sie es immer tat, wenn sie einer

Sache nicht traute. Es war ein großer auffälliger Ohrring, schließlich besaß sie nur

einen davon. Und sie trug ihn beinahe schon trotzig als Gegensatz zu den vielen

Steckern im linken Ohr.

»Ich habe eine Frage«, meldete sich Sarah und Sonja verdrehte die Augen. Was

jetzt kommen würde, hatte nichts, rein gar nichts mit der Forschung zu tun. Sarahs

Plan stand fest und sie würde nun so lange auf den Laborkittelträger einreden, bis er

ihr die Pflanze überreichte, nur um sie zum Schweigen zu bringen. »Wie viele

Exemplare sind denn im Umlauf? Und wo? Und nach welchen Kriterien wird

entschieden?«

»Bloß keine Zeit verlieren, ne?«, stieß Sonja zwischen den Zähnen hervor. Ihr

Blick wanderte über die anderen Stände, an denen neuartige Herstellungsmethoden,

allerlei Pasta- und Nudelsorten angepriesen wurden, und mit einem Mal kam ihr die

verlockende Vorstellung in den Sinn, wie man daraus Maultaschen herstellen könnte

- auch wenn sie durchaus wusste, wie man sie machte. In diesem Moment hätte sie

auch mit einem Zeugen Jehovas gesprochen, nur um dieser äußerst unangenehmen

Situation entfliehen zu können. Warum konnte die Intergastra denn nicht gleichzeitig

zur Tuning World stattfinden? Dann hätte Sarah sie niemals versucht, zu überreden,

mitzukommen, sondern hätte sie tagelang mit ihrer Liebe zu schönen, schnellen und

teuren Autos aufgezogen. Zurecht, wenn sie ehrlich war. Sie liebte den Anblick

schöner Karosserien, auch wenn sie von den Besonderheiten spezieller Modelle

nicht viel Ahnung hatte. Doch den Rausch der Geschwindigkeit, weiches Leder auf

der Haut – sie könnte stundenlang über die Autobahn brettern, länger, als sich hier

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auf der Intergastra tot zu schwitzen und sich Sarahs Geschwätz anzutun. Wären sie

durch all die Jahre Küchendienst nicht zwangsläufig Freundinnen geworden – wenn

man es denn als Freundschaft bezeichnen wollte -, wäre sie wohl heute nicht

mitgekommen. Aber der Schaden, der entstanden wäre, wenn Jannis oder einer

dieser Ja-Sager mitgekommen wäre, wäre nicht auszudenken. Peter wäre

ausgeflippt. Sarah hätte großkotzig eingekauft, die andere hätten es nie gewagt, ihr

zu widersprechen, und die Katastrophe wäre perfekt gewesen. So hatte sie

wenigstens schlimmeres verhindern und Sarah davon abhalten können,

Küchengerätschaften zu kaufen, die zwar super aussahen, aber absolut unnötig

waren. Jetzt musste sie nur noch verhindern, dass Sarah diese Pflanze in die Finger

bekam. Sonja seufzte. Das Leben kann echt scheiße sein, aber immerhin ist es kurz

und wenn ich mir die Assistentin und diesen Forscher so anschau, könnte ich es

durchaus schlimmer erwischt haben und mich intensiver mit Sarah

auseinandersetzen.

»Ich wüsste nicht, warum Sie das interessieren sollte, junge Dame.« Der

Forscher lachte gekünstelt, wohl um seinen Worten die Schärfe zu nehmen, doch

Sonja hatte durchaus bemerkt, dass Sarah zu weit gegangen war. »Aber ich kann

Ihnen versichern, das hier« - er deutete auf die Pflanze - »ist das letzte Exemplar,

das wir einem Gastronomiebetrieb zur Verfügung stellen können.«

»Dann sollten Sie klug handeln und mir die letzte Pflanze mitgeben.« Sarah

lächelte den Laborkittelträger breit und strahlend an. »Und warum sollte ich das tun?

Welchen Nutzen hätte es, Sie in die Testgruppe aufzunehmen? Ihnen das letzte

Exemplar zu geben?« Der Forscher beugte sich vor. Sonja fiel auf, dass sie nicht

einmal seinen Namen wusste. Die ganze Vorstellung wurde ihr immer unheimlicher.

»Lass uns gehen! Sarah, komm schon. Hier stimmt was nicht. Ich trau dem

Ganzen nicht. Lass es einfach gut sein.« Worte der Vernunft erreichten Sarah schon

im Normalzustand selten, doch war sie auf Beutefang, so wie jetzt, war es schier

unmöglich, zu ihr durchzudringen.

»Wir beide«, Sarah deutete auf Sonja, »sind Küchenchefinnen im angesagtesten

Laden ganz Tübingens. Der Irish Pub. Wir sind für unsere außergewöhnliche Küche

bekannt und haben immer ein volles Haus. Es wäre also nur von Vorteil, uns diese

Pflanze mitzugeben, da sie so viele, richtig viele Veganer und Vegetarier erreichen.«

»Nur keine falsche Bescheidenheit.« Sonja rieb sich den Nacken.

»Wir sind beliebt. Jeden Abend und jeden Mittag rennen uns die Leute die Bude

ein. Wir sind DER Szene-Laden schlechthin.« Sarah lief zu Hochtouren auf. »Es hat

also nicht nur den Vorteil, so viele Menschen wie möglich zu erreichen, sondern auch

außerhalb Stuttgarts bekannt zu werden. Win-win-Situation für uns beide.« Bei jedem

Wort war sie einen Schritt näher an den Forscher getreten, bis sie ihm letzten Endes

ins Gesicht starrte, ihre Nasenspitzen nur wenige Zentimeter voneinander entfernt.

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Ihre Augen leuchteten und Sonja wusste, dass Sarah den Geldregen geradezu vor

sich sah. Ein kurzer Blick auf das Gesicht des Forschers zeigte ihr, dass es ihm

ähnlich ging.

Sonja seufzte. Super.

»Die Möglichkeiten, die Forschungsarbeiten auszuweiten, Tübinger Studenten

miteinzubeziehen - wir haben immerhin die berühmte Morgenstelle! - stellen Sie sich

doch nur mal all diese Möglichkeiten vor!« Sarah war Feuer und Flamme.

Ja, ja. Die Möglichkeiten. Weil unsere Lebensmittel-Genforschung ja auch so

ausgeprägt ist!

»Ich …«

»Was denken Sie denn da noch lange darüber nach! Es bleibt Ihnen eigentlich

nichts anderes übrig, als uns diese Pflanze mitzugeben. Wir sind die Zukunft Ihrer

Forschung! Mit unserer Hilfe werden Sie mehr Ergebnisse bekommen, als mit allen

Restaurants in Stuttgart zusammen!«

Sonja wandte den Kopf ab. Sarahs Überzeugungsargumente schlugen eine

Richtung ein, die sie nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren konnte. »Sarah, übertreib

es nicht! Bleib bei der Wahrheit – und in der Realität!«, zischte sie der Freundin ins

Ohr. »Langsam, aber sicher ist es genug!«

»Du hast einfach keine Ahnung, wie man sich verkauft. Und jetzt lass mich!«

»Ich will damit nichts zu tun haben! Ich bin raus! Das musst du alleine machen.«

»Das bin ich ja schon gewohnt. Wenn es hart auf hart kommt, taugt keiner von

euch was. Nur wenn ich das selbst in die Hand nehm, wird das was!«

Sonja verdrehte die Augen. »Meld dich, wenn du nach Hause willst. Ich geh noch

bisschen in die Stadt.«

»Jaja, schon recht.« Sarah schien ihr schon nicht mehr zuzuhören. Sonja warf

einen letzten Blick auf die Freundin, bevor sie dem Stand den Rücken zukehrte. Und

noch während sie aus der Messehalle ging, langsam, durch die Menschenströme

geblockt und behindert, konnte sie hören, wie Sarah immer noch auf den Forscher

einsprach und ihn zu überzeugen versuchte. Sonja schüttelte den Kopf. Sollte es

Sarah gelingen, diese Bacon-Pflanze zu bekommen, würde sie die nächsten Tage,

Wochen, Monate wie ein aufgeblasener Gockel herumstolzieren. Sie konnte schon

jetzt die Serviceleute hören, die sich lautstark beschwerten. Und Sarah, die mit allen

Mitteln versuchte, sich einen großen Vorteil an Macht und Privilegien zu sichern.

Konnte sie nicht einfach wieder schwanger werden?

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Kapitel 3

Stuttgart war schon schön. Nicht ganz so ruhig und grün wie Tübingen, aber

nichtsdestotrotz schön. Sonja hielt ihr Gesicht in die Sonne und genoss die Wärme

der Sonnenstrahlen. Die Königstraße mit ihrem Trubel, den Menschenmassen, dem

Lärm und den verschiedenen Gerüchen – das war einfach einmalig. Bunte Stände,

Verkäufer, die einen zu ihren Crèpes-Ständen locken wollten und glitzernd-bunte

Auslagen in den Schaufenstern - sie hätte stundenlang die Straße hoch und runter

schlendern können. Oder sich einfach auf den Rasen des Königsplatzes legen und in

den Himmel schauen. Sie mochte Stuttgart und konnte sich diesen Schandfleck, den

die Regierung aus dem Bahnhof veranstalten wollte, nicht erklären. Zum Glück aller

Schwaben war die Realisierung dieses monströsen Bauprojektes nie in Gang

gekommen und der Schlossgarten wiederhergestellt worden. Eine Schande, wie der

zwischenzeitlich ausgesehen hatte. Falscher Ehrgeiz ist halt nicht immer der Weg

zum Erfolg, dachte Sonja und ihre Gedanken wanderten für einen Moment zu Sarah,

die in ihrem Ehrgeiz gut und gerne über Leichen ging und ohne Rücksicht auf

Verluste ihren Kopf durchsetzte. Die Menschen um sie herum, teils in Eile, teils auf

der Suche nach dem nächsten Schnäppchen, beruhigten ihre Nerven. Sie atmete

noch einmal tief durch, bevor sie sich beim Starbucks einen Kaffee holen ging.

Genauer gesagt, einen Karamell-Frappé mit Sojamilch und einem Schuss Zimtsirup.

Einmal im Monat konnte sie sich diese Kalorienbombe gönnen, zumal ihr der Zucker

helfen würde, das Warten auf Sarah zu überstehen, ohne in der Sonne einzunicken,

und nach dem Trubel in der S-Bahn hatte sie sich das mehr als nur verdient.

Allerdings konnte sie sich beinahe schon zu gut vorstellen, wie Esther, die Kellnerin

und Freundin aus dem Pub, sie schimpfte. Wenn sie morgens, vor dem Arbeiten,

zusammen joggten oder am Wochenende kletterten, war es Esther, die immer wieder

mit ökologisch nachhaltigen Sachen ankam und über Läden wie Starbucks und Co

schimpfte. Sonja schmunzelte. Sie mochte Esther, auch wenn ihr Öko-Tick ihr oft auf

die Nerven ging. Aber Esther war ehrlich, zuverlässig und hatte immer ein offenes

Ohr. Sie war froh, sie als echte, wahre Freundin bezeichnen zu können.

Nichtsdestotrotz wollte sie sich heute einen Starbucks-Kaffee gönnen.

Widerwillig betrat sie den Laden, der zwar mit viel Glas und in modernem Design

gestaltet worden war, aber dennoch wenig Sonnenlicht einfing, und reihte sich ein.

Die Sonnenstrahlen fehlten ihr schon jetzt. In Deutschland gab es einfach zu wenig

davon, um auch nur auf einen sonnigen Tag verzichten zu können - zumindest waren

das die Worte ihrer Großmutter gewesen. Warme Luft, ein schwerer, süßer Geruch,

das laute Zischen der Kaffeemaschinen und das Geplapper der Gäste überlagerten

ihre Gedanken und sie fühlte sich mit einem Mal wie zu Hause.

»Hast du schon von diesem veganen Fleisch gehört?« Die Stimme eines jungen

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Mannes, die sich vor Begeisterung beinahe überschlug, drang zu ihr hinüber. »Das

soll die Neuheit auf dem Markt sein. Das Restaurant gegenüber, das >Green

Buddy<, hat das seit einer Woche im Angebot. Schnitzel und Gulasch aus der

Bacon-Pflanze.«

Sonja spitzte die Ohren. Versuchte, möglichst unauffällig bei dem Pärchen am

Nebentisch zu lauschen, während sie wartete, um bestellen zu können.

»Du nimmst mich auf den Arm, oder? Bacon-Pflanze? Das gibt’s doch nicht

wirklich!« Das Lachen der jungen Frau klang ungläubig und Sonja glaubte, eine Spur

Spott herauszuhören. »So etwas gibt es nicht.«

»Doch!« Etwas knisterte. Sonja reckte den Hals, beobachtete, wie der junge

Mann mit den leuchtenden Augen und dem trotzigem Ausdruck etwas aus der Tasche

zog und vor seiner Freundin auf den Tisch legte. »Schau! Ich hab sogar einen Flyer.

Die Pflanze wurde in Stuttgart entwickelt. Die wird den Lebensmittelmarkt

revolutionieren. Das wird super! Das Zeug ist echt lecker!«

Die Neugier brachte sie beinahe um. Sonja versuchte, einen besseren Blick auf

den Flyer zu erhaschen, doch in diesem Moment war sie an der Reihe. Halbherzig,

ihre Aufmerksamkeit auf den Flyer gerichtet, gab sie ihre Bestellung auf. Sie ließ das

Paar nicht aus den Augen.

»Hm, ich bin mir nicht sicher, was ich davon halten soll. Das kann doch nicht

schmecken. Vor allem nicht nach Fleisch. So ein Humbug«, antwortete ihm seine

Freundin.

»Dann lass uns nachher rübergehen, dann kannst du das mal probieren! Glaub

mir: das ist super. Ich ess da seit drei Tagen jeden Mittag. Voll geil. Jetzt kann man

Veganer sein und absolut pflanzliches Fleisch essen. Besser geht's nicht.«

»Du könntest auch einfach richtiges Fleisch essen und nicht so was extrem

Künstliches.«

Sonja unterdrückte mühsam ein Kichern. Die Worte der jungen Frau klangen

logisch, mehr als logisch, doch wie gewöhnlich war Logik nicht immer etwas, das

bereitwillig angenommen oder überhaupt empfangen wurde. Immer noch kichernd

nahm sie ihren Becher entgegen. Kurz überlegte sie, sich neben das Paar zu setzen,

um besser lauschen zu können, wollte dann aber nicht unbedingt wie die

aufdringliche Verrückte von nebenan wirken. Mit dem Becher in der Hand und dem

Entschluss, diese nach dieser ominösen Pflanze zu googeln, trat sie wieder ins

Freie. Mit großen Schritten ging sie zu einer Bank und setzte sich in die Sonne. Ihr

Blick wanderte hinüber zum »Green Buddy«, vor dem ein großer Aufsteller darauf

hinwies, dass es »hier und nur hier« in der Königstraße, veganes Fleisch gäbe.

Erstaunlich viele Menschen tummelten sich in dem kleinen Laden und kamen mit

Fingerfoodtüten wieder heraus. Das Lockangebot mit dieser Pflanze funktionierte

wohl. Sonja schüttelte den Kopf. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass die

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Blätter schmecken sollten - und am Ende sogar noch gesund waren.

»Vielleicht probier ich das doch mal, bevor ich heimfahre«, murmelte sie. Der

Frappé erwärmte sich langsam in der Sonne und schmeckte dadurch noch süßer.

Nach zwei kleinen Schlucken wusste sie, warum sie sich diesen sirupartigen Kaffee

recht selten gönnte. Er war einfach zu süß, doch sie trank ihn immer wieder.

Manchmal war Zucker eben die Lösung auf alles, auch wenn sie nach wenigen

Schlucken meist genug hatte. Den Frappé neben sich gestellt, suchte sie im Netz

nach Artikeln über diese Pflanze. Zumindest hoffte sie auf Artikel über die

Forschungsarbeiten daran. Vielleicht gäbe es auch Erfahrungsberichte von Veganern

oder Restaurants. Irgendetwas muss es doch geben, dachte sie, doch nicht einmal

Bing spuckte brauchbare Ergebnisse aus. Die einzigen, die die Pflanze anzweifelten,

waren Natureen. Alle anderen sangen wahre Loblieder auf diese Erfindung. Sonja

nahm sich vor, Esther zu fragen, was Natureen davon hielt. Soweit sie sich erinnern

konnte, hatte sich Esther dieser Gruppierung anschließen wollen – neben

Greenpeace und Peta.

»Aber warum hab ich dann erst auf der Messe davon gehört?«, murmelte sie.

Sonja musste den Gedanken aussprechen. Musste ihren Zweifeln eine Stimme

geben. Selbst auf der zehnten Seite der Google-Ergebnisse gab es nur Links zu den

Stimmen Natureens, die dagegensprachen. Von ihrem eigenen Misstrauen erschöpft,

lehnte sie sich zurück und nahm einen Schluck Frappé. Das alles kam ihr sehr

merkwürdig vor. Keine negativen Schlagzeilen, nur Berichte aus den Stuttgarter

Zeitungen. Erst das Vibrieren ihres Handys holte sie aus ihrer Starre. »Sarah« stand

im Display. Sie öffnete die WhatsApp. »Bin schon unterwegs nach Hause. Warte

nicht auf mich. Messe voller Erfolg.« Wieso überraschte Sonja das nicht? Sarah

hatte schon immer getan, was ihr in den Kopf gekommen war.

Ein grauenerregendes Gurgeln erklang hinter ihr. Jemand würgte. Sie hörte das

geräuschvolle Spucken und drehte sich angeekelt um. Der junge Mann, der kurz

zuvor noch im Starbucks in höchsten Tönen von dem veganen Fleisch geschwärmt

hatte, hielt sich am Türrahmen fest und beugte sich vornüber. Seine Begleiterin,

vermutlich seine Freundin, stand entsetzt neben ihm, während er röchelte. Blut floss

in einem dünnen Rinnsal aus seinem Mundwinkel, bildete einen langen, widerlichen

Faden, der auf dem Boden landete, während er weiterröchelte und ausspuckte.

Sonja sprang auf. Hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis zu helfen und dem

Drang zu fliehen.

»Was ist mit dir? Mark, sag doch was!«

Das Sprechen könnte schwierig werden, schoss es Sonja durch den Kopf. Der

junge Mann, Mark kippte blass vorüber und blieb zusammengebrochen liegen. Die

Finger zwischen die Pflastersteine gekrallt, das Gesicht vor Schmerz verzerrt. Er

röchelte Blut und Speichel hervor und hatte die Augen qualvoll aufgerissen. Die

»«© 2013 Michaela Harich

Page 14: Stuttgart 21-Sonja

junge Frau neben ihm schrie. Sie schrie nach Hilfe, schrie vor Angst. An ihren

Fingerspitzen klebte das Blut-Speichel-Gemisch, in das sie versehentlich

hineingefasst hatte, als sie versucht hatte, ihn zu stützen. Sie fuhr sich mit den

Händen unter Schreien und Weinen durch die Haare und färbte sich einzelne

Strähnen rot.

Sonja rührte sich nicht, blieb in ihrer Starre sitzen, als Mark ein weiteres Mal Blut

spuckte, unfähig zu helfen. Gurgelnd machte er seinen letzten Atemzug.

»Nein! Mark! Mark, sag doch was!« Die junge Frau war neben ihm auf die Knie

gefallen. »Sag doch was!« Sie rüttelte an seinem Arm, aber nichts geschah. Wenn

Sonja die Lage richtig einschätzte, würde jetzt nur noch eine Reanimation durch

einen Notarzt helfen – wenn überhaupt. Die junge Frau drehte Mark um, schlug ihm

auf die Brust. Sie versuchte offensichtlich, ihn mit den üblichen Erste Hilfe-

Maßnahmen ins Leben zurückzuholen. »Ist hier ein Arzt? So helft mir doch!« Ihre

Stimme hatte sich in einen schrillen, unmenschlichen Klang verwandelt.

»Biiiiiiiiiiiiiitte!«

Doch niemand bewegte sich. Es war, als hätte jemand die Pausetaste gedrückt

und die Welt hätte aufgehört, sich zu drehen. Sonja sah sich nicht imstande, diesem

Mark zu helfen. Sie dachte an das Blut, dachte an die Spritzer der roten Flüssigkeit,

dachte an das Zusammenbrechen und an den Schleim, der sich auf den Gehweg

ergoss. Sie war nicht in der Lage, sich zu rühren. Und gewusst hätte sie auch nicht,

was zu tun wäre.

Ein weiteres Gurgeln. Ein Röcheln.

Sonja wirbelte herum.

Im Eingang des »Green Buddy« war ein junges Mädchen, kaum älter als

sechzehn, auf die Knie gefallen. Ihr Körper verkrampfte sich, krümmte sich. Mit

schmerzerfülltem Keuchen spuckte auch sie Blut aus. Ihre Augen traten hervor, die

Adern darin platzten und das Weiß wurde Rot. Vor ihr auf dem Boden lag die Tüte

mit dem Fingerfood. Nur wenige Meter weiter, vor dem NewYorker, brach ebenfalls

jemand zusammen. Er spuckte Blut, röchelte und gurgelte vor Schmerzen. Sonja

beobachtete entsetzt, wie erst das Mädchen, dann der Passant vor dem

Bekleidungsgeschäft ihre letzten Atemzüge taten. Leblos lagen sie auf den

Pflastersteinen. Angst ergriff sie. Hielt ihr Herz in kalten, düsteren Klauen.

Ich muss hier weg!, schoss es ihr durch den Kopf. Und in diesem Moment gab sie

dem Drang zu flüchten nach. Stur den Blick von der grauenerregenden Szene

abgewandt, hechtete sie die Königstraße entlang, fokussierte den Bahnhof und

ignorierte das Röcheln, das von irgendwoher zu kommen schien. Oder war das nur

der Nachklang in ihrem Kopf, von dem, was sie gerade gesehen hatte? Sie musste

hier weg - so schnell wie möglich.

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