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Stuttgart 2021 - auf der Suche nach neuen Rezepten, außergewöhnlichen Lebensmitteln und Kochzubehör stoßen Sonja und ihre Freundin auf eine seltsame Pflanze. Als sich Sonja der Pflanze nähert, weiß sie noch nicht, dass sich dadurch ihr Leben von Grund auf ändern wird. Noch während ihre Freundin mit allen Mitteln diese Pflanze in das Restaurant der beiden bringen will, bricht in Stuttgart der Ausnahmezustand aus.
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»«© 2013 Michaela Harich
Kapitel 1
Das grelle Neonlicht und die vielen verschiedenen Gerüche der neuartigen
Lebensmittel, die vorgestellt wurden, vermischten sich zu einer eigenwilligen
Komposition, die ihr in der Nase stach. Sonja kniff die Augen zusammen und
versuchte, möglichst flach und durch den Mund zu atmen. Hätte sie Sarah nicht
versprochen, sie auf die Intergastra zu begleiten, wäre ihr das alles erspart geblieben
und sie hätte sich einen schönen Tag mit ihrem Freund machen können. Aber nein,
um den Pub attraktiver zu gestalten und mehr Gäste anzulocken, war sie mit Sarah
auf die Gastronomie-Messe gegangen, da neue, vegane Gerichte entdecken und die
steigende Nachfrage bedienen wollte. Sonja schüttelte den Kopf. Bisher hatten sie
nichts Interessantes oder ansatzweise Essbares gefunden. Zumindest nichts, was
sie den Gästen persönlich vorgesetzt hätte.
»Da! Schau mal!« Sarah griff nach ihrem Arm und deutete wild auf einen Stand,
an dem sich eine beachtliche Menschenmenge versammelt hatte. »Lass uns mal da
rüber gehen. Eine ganze Theke voll von veganem Fleisch. Das muss ich sehen!«
Sonja verdrehte die Augen. Es handelte sich wahrscheinlich sowieso nur um eine
Art Tofu mit Schweinefleischgeschmack, also nichts Weltbewegendes. Aber Sarah
zwängte sich bereits durch die Menschenmengen hindurch und schubste sie
erbarmungslos zur Seite, weswegen ihr nichts anderes übrigblieb, als sich mit einem
schwachen Lächeln bei ihnen zu entschuldigen und ihr zu folgen.
»Schau mal.« Sarah drückte Sonja eine Broschüre in die Hand. »Bacon-Pflanze.
Witziger Name.«
Sonja hob eine Augenbraue und betrachtete die leuchtend bunte Abbildung auf
dem Flyer. Die Pflanze hatte etwas Unwirkliches an sich: rote Blätter mit weiß-grüner
Faserung, ein einzelner, dicker Stamm, knotenartige Auswüchse. Die Ähnlichkeit
zum Bacon war vorhanden - mit viel Fantasie. Unter appetitlich verstand sie jedoch
etwas anderes. Kurz überflog sie die Informationen, die ihr reißerisch weißmachen
wollten, dass diese Pflanze der Durchbruch der Menschheit darstellen würde und alle
Probleme löste. Sonja schnaubte verächtlich - das klang einfach zu absurd, um wahr
zu sein.
»Das wäre doch der Hammer! Damit könnten wir unseren wahren Wert unter
Beweis stellen, wenn wir diese Pflanze in den Pub mitbringen. Chefchen würde uns
den Boden unter den Füßen vergolden!« Sarahs Stimme überschlug sich beinahe
vor Eifer. Sie hatte Blut geleckt, das konnte Sonja nicht nur hören, das konnte sie
sehen. Die Augen der Freundin waren geweitet, glänzten. Na klasse. Das konnte nur
eines bedeuten: Sarah würde jetzt alles daran setzen, eine dieser Pflanzen zu
bekommen. Ob ich mich schon mal vorsichtshalber bei den Ausstellern
entschuldigen soll? »Wir könnten damit Werbung machen. Wir könnten damit dieser
»«© 2013 Michaela Harich
komischen, veganen Eisdiele zeigen, dass es auch anders geht. Wir wären endlich
das angesagteste Restaurant der Stadt.«
Dann dürfte dein Kerl aber nicht mehr kochen, das kann er nämlich nicht, schoss
es Sonja durch den Kopf, doch sie verbot sich diesen Gedanken. Jannis war zwar
nicht die hellste Kerze auf dem Kuchen, dafür ertrug er Sarahs Launen - somit waren
sie quitt. Die Küchencrew bekam ihre verdiente Ruhe und Sarah behielt ihren
persönlichen Punchingball.
Jemand stieß sie an und sie taumelte. Sonja musste nicht erst fragen, sie wusste,
dass Sarah sich durch die Menschenmassen drängelte, um ihren Willen zu
bekommen.
»Ey, pass doch auf!«, fuhr sie ein verschwitzter, gehetzt aussehender Mann an.
Dicke Augenringe, so dunkel, dass sie schon schwarz wirkten, unterstrichen die
unfassbare Wut in seinem Blick. Sonja schluckte. Etwas an diesem Blick stimmte
nicht, und sie stammelte eine Entschuldigung. Doch er schien sie nicht zu hören oder
wollte sie nicht hören. Seine Aufmerksamkeit richtete sich jedoch sofort wieder auf
den Stand, er presste die Lippen zusammen und ballte die Hände zu Fäusten. In
Sonja wuchs die Neugier, etwas drängte sie dazu, herauszufinden, was dort vor sich
ging. Der Stand, der Forscher - irgendetwas hatte seinen Zorn geweckt. Aber was?
Sollten nicht alle in Begeisterungsstürme ausbrechen, jetzt, da es veganes Fleisch
gab, das nicht nur so aussah, sondern vermutlich auch nach Tier schmeckte, aber
keins war? Bevor sich Sonja allerdings den Kopf darüber zerbrechen und ihre
Neugier befriedigen konnte, schrillten Sarahs Worte in ihren Ohren. Die Aufregung
ließ die Stimme der Freundin mehrere Oktaven höher klingen. Der Forscher, auf den
ihre Freundin einredete, wirkte überfordert, er suchte herum, wirkte gehetzt und
wollte anscheinend die nächstbeste Lücke im Besucherstrom nutzen, um zu
verschwinden. Er hatte offenbar keine Ahnung, wie er mit dem Redefluss Sarahs
umgehen sollte.
Sonja musste kichern. »Sarah, jetzt lass den armen Mann doch auch mal mit den
anderen hier sprechen.« Sie hatte beschlossen, den Messeteilnehmer zu retten und
ihre Freundin zu stoppen. »Du bist ja nicht die Einzige, die sich für diese ominöse
Bacon-Pflanze interessiert.« Kaum hatte sie den Mund geschlossen, schien sich der
Forscher auf sie zu konzentrieren. Seine dunklen Augen starrten sie eindringlich an,
so eindringlich, dass Sonja den Drang verspürte, mehrere Schritte nach hinten zu
machen, um von ihm wegzukommen. Doch sie musste Zeit schinden. Sie musterte
den Laborkittelträger: Das blütenreine Weiß des Kittels leuchtete im Neonlicht, die
dunklen Augen verrieten nicht, was er wirklich dachte. Dazu verkniffene Mundwinkel,
ein Lächeln, das mehr als nur aufgesetzt wirkte, und etwas, das grundlegend
abstoßend war. Etwas störte Sonja gewaltig. Sie konnte nur nicht sagen, was es war.
Doch sie hatte das Gefühl, ihm nicht trauen zu können. Was vielleicht auch einfach
»«© 2013 Michaela Harich
nur daran liegen konnte, dass sie allen Forschern mit Misstrauen begegnete.
»Interessieren Sie sich auch für die Bacon-Pflanze?« Seine Stimme jagte ihr
einen kalten Schauer über den Rücken. Emotionslos, berechnend - zu glatt.
»Ominös! Köstlich!« Er lachte, zeigte dabei so viele Zähne, dass Sonja unwillkürlich
schauderte. Sein Lachen war zu aufgesetzt, um sie nicht zu gruseln. »Gestatten Sie
mir, Ihre Zweifel und Fragen zu klären?«
Offensichtlich versuchte er, Sarah zu entkommen und im gleiche Zug mit
Bauernfängerei beginnen.
»Stell dir die Möglichkeiten vor! Was das für uns bedeuten könnte!« Sarah rüttelte
an Sonjas Arm. »Wir wären der It-Laden, der Szeneladen schlechthin. Die werden
uns die Bude einrennen! Wir brauchen diese Pflanze!«
»Wir wissen noch nicht einmal, ob die überhaupt gesund ist oder wie sie
funktioniert«, murmelte Sonja. »Die kann auch der gefährlichste Dreck sein, den wir
jemals finden werden.«
»Aber, aber!« Wieder dieses falsche, künstliche Lachen. »Diese Pflanze ist
ungefährlich, was soll sie denn schon ausrichten? Sie bietet die perfekte Möglichkeit
für unsre veganen Freunde, Fleisch zu genießen, ohne dass ein Tier dafür sein
Leben lassen musste. Sie ist wirklich rein pflanzlich und völlig ungefährlich.« Er
schnipste - eine Geste, die Sonja in jeder Hinsicht hasste. Ein junges Mädchen,
höchstens achtzehn, huschte schnell hinter dem Stand hervor, die Hände um einen
großen, wuchtigen Topf gepresst. Die Pflanze, die darin wuchs, sah noch
abstoßender aus als in der Broschüre. Ein einzelner, daumendicker Stamm wuchs
leicht schräg in die Höhe, knotig und dunkelgrün. Äste, anders konnte Sonja es nicht
nennen, standen nahezu im rechten Winkel davon ab, erinnerten sie an Finger. Die
Blätter in ihrer seltsam weiß-grünlich-roten Beschaffenheit waren dick und fleischig
und ein seltsamer Geruch ging davon aus. Eine seltsame Faszination ging von der
Pflanze aus. Obwohl sie sich auch abgestoßen fühlte, konnte sie nicht widerstehen
und streckte eine Hand danach aus, was offensichtlich für den Forscher ein Zeichen
war, sie mit allen Mitteln überzeugen zu wollen. »Die Vorteile der Bacon-Pflanze sind
phänomenal und einzigartig. Allein dieses Exemplar reicht aus, um« - er hielt inne,
zählte die Blätter - »an die zwei Dutzend Mäuler zu stopfen und Veganer glücklich zu
machen. Und am nächsten Tag, dank unseres Spezialdüngers, ist der Strauch wieder
voll. Alles ungefährlich, das verspreche ich Ihnen.« Mit einem Nicken forderte er
Sonja auf, die Blätter zu berühren. Während ihre Finger über die wulstige Oberfläche
strichen, wurde Sonja mit Fakten überschüttet, was diese Pflanze alle könne und zu
welchen Ergebnissen man gekommen wäre. Dabei erwähnte der Laborkittelträger
immer wieder diesen Spezialdünger, was sie mehr als stutzig machte.
»Also, ich will ja jetzt nicht spießig klingen, aber dieser Spezialdünger - ich glaube
nicht, dass das so koscher ist.« Sonja zog ihre Hand zurück, verschränkte die Arme
»«© 2013 Michaela Harich
vor der Brust. Sie konnte den bohrenden Blick Sarahs spüren, ignorierte die Freundin
aber. »Das ist mir echt zu genbearbeitet. Das kann nicht gesund sein. Sorry, aber
damit möchte ich mir ungern die Finger schmutzig machen.«
»Ich kann Ihre Skepsis verstehen, aber glauben Sie mir, wir haben genügend
Tests durchgeführt, um sicherzustellen, dass der Dünger und auch die
Pflanzenbestandteile für den menschlichen Körper nicht schädlich sind. Es gibt
keinen Grund zur Sorge. Wirklich. Die Daten lügen nicht.«
»Das ist alles eine Lüge!« Sonja fuhr mit einem unterdrückten Kreischen
zusammen. Der Mann, der ihr zuvor bereits aufgefallen war, hatte wohl die
Beherrschung verloren.
»Das ist alles eine Lüge!», schrie er. »Genmanipulation ist alles, aber nicht
gesund!« Seine Stimme war laut, übertönte den Messelärm. »Wir haben immer
wieder versucht, Einsicht in die Forschungsunterlagen und Ergebnisse zu
bekommen, aber es wurde uns immer verweigert. Es gibt keine eindeutigen
Ergebnisse. Niemand kann sagen, ob die Wirkstoffe des Düngers die Pflanze nicht
doch so beeinflussen, dass sie schädlich für die DNS des Menschen sind.«
Sonja nickte langsam. Der Mann sprach aus, was sie befürchtet hatte. Der
Schriftzug auf dem Pullover des Mannes leuchtete, verriet, dass er Mitglied der
Gruppe »Natureen« war. Natureen, Natureen - Sonja kratzte sich am Ohr.
Irgendetwas sagte ihr der Name, doch sie kam nicht sofort drauf.
»Ich gehöre zu Natureen«, rief der Typ im Kittel. »Wir beschäftigen uns mit
nachhaltigem Anbau von Gemüse und Obst und wollen die Bevölkerung über die
Gefahren, genmanipulierter, überzüchteter Lebensmittel aufklären. Dazu gehört auch
die Bacon-Pflanze. Diese Pflanze ist nicht ausgereift genug, um jetzt schon als
Nahrungsquelle zu dienen!«
»Das täuscht. Der Verzehr ist völlig unbedenklich möglich«, behauptete die junge
Frau, die die Pflanze noch immer umklammert hielt. »Es ist alles getestet worden.
Weder der Dünger noch die Stoffe in den Blättern sind für die menschliche DNA
schädlich oder zerstören das Biosystem. Keine Nebenwirkungen, keine Schäden.
Wir würden niemals ein Menschenleben gefährden!«
»Und warum wurde uns keine Einsicht in die Unterlagen gewährt? Warum hat
man uns stets abgewiesen? Warum uns vom Gelände gejagt? Wenn diese
Forschungsergebnisse wirklich so ausgefallen sind, wie man der Öffentlichkeit
weismachen will, dann wäre es doch kein Problem gewesen, sie Natureen
zukommen zulassen!«
Wo er recht hat, hat er recht, schoss es Sonja durch den Kopf. Mit einem Mal war
ihr wieder eingefallen, wer oder was Natureen war. Natur und Green zu einem Wort
verschmolzen, ein etwas klingenderer Name als der ursprüngliche - Naturgut.
Natureen war so etwas wie die Stiftung Warentest - nur eben für Lebensmittel - und
»«© 2013 Michaela Harich
ihre Natürlichkeit oder Verträglichkeit in Bezug auf genmanipulierte Lebensmittel.
Was sie absegneten, war auch wirklich gut. Dass die Bacon-Pflanze vor ihnen
abgeschirmt worden war, verhieß nichts Gutes und verstärkte nur das sehr, sehr
miese Gefühl.
»Wir wollten eben nicht, dass unsere innovative Entdeckung zum falschen
Zeitpunkt publik gemacht wird«, erklärte die Assistentin, die noch immer den
Blumentopf umklammert hielt. »Wir haben nicht umsonst so viel Zeit und Geld in
diese Forschung gesteckt, um dann mit Plagiaten kämpfen zu müssen. Wir wollten
entscheiden, wann wir damit an die Öffentlichkeit gehen und nicht Natureen.
Immerhin stecken viele Jahre Arbeit und eine Menge Forschungsgelder hinter dieser
einzigartigen Pflanze. Das wollten wir uns einfach nicht kaputtmachen lassen.«
Selbst die junge Frau schien zu merken, dass ihre Erklärung mehr als nur dürftig
klang und vielmehr als halbherzige Entschuldigung durchging. Sonja tat das
Mädchen leid, aber sie hatte mit Sicherheit gewusst, auf was sie sich da einließ. Und
nun, nun musste sie eben dafür geradestehen.
»Ich versteh die ganze Aufregung nicht«, grummelte Sarah, den Blick noch immer
fest auf die Pflanze gerichtet. »Der sagt doch, das Zeug ist harmlos. Soll halt
Natureen schauen, dass sie ein Exemplar bekommen und ihre bescheuerten Tests
durchführen. Ich glaub dem das. Die kann doch nicht wirklich so gefährlich sein, wie
sie hier dargestellt wird. Dramaqueens. Wollt halt auch euer Stück Aufmerksamkeit.«
»Und du siehst natürlich nur den Nutzen und das Wohl unserer Gäste und nicht
etwa den dicken Bonus, wenn wir das Ding in den Pub geschleift bekommen«, sagte
Sonja. »Ich kenn dich doch. Menschenfreundlich wie eh und je, selbstlos bis zur
Aufgabe.« Sie schüttelte den Kopf. Sarah sah nur den Profit. Den Vorteil. Wenigstens
das würde sich nie ändern.
»Ach, du bist blöd.« Sarah stieß die Freundin mit dem Ellbogen in die Seite. »Wir
müssen …« Weiter kam sie nicht. Ein plötzlicher Aufruhr unterbrach sie. Neugierig
reckten die beiden Freundinnen den Hals. Vier Securitymänner liefen im Stechschritt
den Gang entlang, steuerten direkt auf den Stand zu. Ihre Gesichter waren grimmig
und kalt. Ein klein wenig aufgeblasen, wenn sie ehrlich war. Die Schlagstöcke
gezückt und mehr Muskeln, als dass sie gut ausgesehen hätten. Sonja konnte nicht
anders: Sie musste einfach kichern.
»Sie kommen mit uns«, erklangen ihre Stimmen unisono und griffen nach den
Armen des Natureen-Sprechers. Zwei von ihnen hielten ihn fest, die anderen beiden
wurden von den Standbetreibern über das Geschehen informiert. Ohne ein weiteres
Wort zu verlieren, führten sie ihn ab, ignorierten dabei seine Proteste. Als er sich
wehrte, schlug einer der Vier ihm mit dem Schlagstock auf den Kopf. Sonja runzelte
die Stirn. Die Reaktion der Sicherheitsleute schien ihr einfach zu überzogen, um
normal zu sein. Es musste etwas Großes im Gange sein. Etwas, das mit dieser
»«© 2013 Michaela Harich
Pflanze zu tun hatte. Natureen. Muss ich …
»Sonja!«
»«© 2013 Michaela Harich
Kapitel 2
Sonja schloss für einen Moment die Augen. Sarahs Stimme hatte sie aus dem
Konzept gebracht.
»Sonja, ich schwöre dir, wir gehen nicht eher hier weg, bis wir dieses Ding
haben!«
Ist es zu spät, um mich umzudrehen und so zu tun, als würde ich dich nicht
kennen? Sonja biss die Zähne zusammen, war bemüht, die bissige Bemerkung, die
ihr auf der Zunge lag, zu schlucken.
»Meine Damen und Herren, ich entschuldige mich vielmals für diese unnötige
Unterbrechung. Wir werden sogleich mit der Demonstration fortfahren, wenn sich
alles ein wenig beruhigt hat.« Das künstliche Lächeln des Forschers verursachte bei
Sonja Zahnschmerzen. »Bitte scheuen Sie sich nicht, Fragen zu stellen oder Zweifel
zu äußern. Wir werden all Ihre Einwände aufnehmen und unsere Erkenntnisse an
Sie weitergeben. Treten Sie näher! Beseitigen wir die Unklarheiten.«
Na, wie das Beseitigen aussieht, haben wir ja gerade gesehen. Sonja spielte mit
der großen Holzcreole in ihrem rechten Ohr, wie sie es immer tat, wenn sie einer
Sache nicht traute. Es war ein großer auffälliger Ohrring, schließlich besaß sie nur
einen davon. Und sie trug ihn beinahe schon trotzig als Gegensatz zu den vielen
Steckern im linken Ohr.
»Ich habe eine Frage«, meldete sich Sarah und Sonja verdrehte die Augen. Was
jetzt kommen würde, hatte nichts, rein gar nichts mit der Forschung zu tun. Sarahs
Plan stand fest und sie würde nun so lange auf den Laborkittelträger einreden, bis er
ihr die Pflanze überreichte, nur um sie zum Schweigen zu bringen. »Wie viele
Exemplare sind denn im Umlauf? Und wo? Und nach welchen Kriterien wird
entschieden?«
»Bloß keine Zeit verlieren, ne?«, stieß Sonja zwischen den Zähnen hervor. Ihr
Blick wanderte über die anderen Stände, an denen neuartige Herstellungsmethoden,
allerlei Pasta- und Nudelsorten angepriesen wurden, und mit einem Mal kam ihr die
verlockende Vorstellung in den Sinn, wie man daraus Maultaschen herstellen könnte
- auch wenn sie durchaus wusste, wie man sie machte. In diesem Moment hätte sie
auch mit einem Zeugen Jehovas gesprochen, nur um dieser äußerst unangenehmen
Situation entfliehen zu können. Warum konnte die Intergastra denn nicht gleichzeitig
zur Tuning World stattfinden? Dann hätte Sarah sie niemals versucht, zu überreden,
mitzukommen, sondern hätte sie tagelang mit ihrer Liebe zu schönen, schnellen und
teuren Autos aufgezogen. Zurecht, wenn sie ehrlich war. Sie liebte den Anblick
schöner Karosserien, auch wenn sie von den Besonderheiten spezieller Modelle
nicht viel Ahnung hatte. Doch den Rausch der Geschwindigkeit, weiches Leder auf
der Haut – sie könnte stundenlang über die Autobahn brettern, länger, als sich hier
»«© 2013 Michaela Harich
auf der Intergastra tot zu schwitzen und sich Sarahs Geschwätz anzutun. Wären sie
durch all die Jahre Küchendienst nicht zwangsläufig Freundinnen geworden – wenn
man es denn als Freundschaft bezeichnen wollte -, wäre sie wohl heute nicht
mitgekommen. Aber der Schaden, der entstanden wäre, wenn Jannis oder einer
dieser Ja-Sager mitgekommen wäre, wäre nicht auszudenken. Peter wäre
ausgeflippt. Sarah hätte großkotzig eingekauft, die andere hätten es nie gewagt, ihr
zu widersprechen, und die Katastrophe wäre perfekt gewesen. So hatte sie
wenigstens schlimmeres verhindern und Sarah davon abhalten können,
Küchengerätschaften zu kaufen, die zwar super aussahen, aber absolut unnötig
waren. Jetzt musste sie nur noch verhindern, dass Sarah diese Pflanze in die Finger
bekam. Sonja seufzte. Das Leben kann echt scheiße sein, aber immerhin ist es kurz
und wenn ich mir die Assistentin und diesen Forscher so anschau, könnte ich es
durchaus schlimmer erwischt haben und mich intensiver mit Sarah
auseinandersetzen.
»Ich wüsste nicht, warum Sie das interessieren sollte, junge Dame.« Der
Forscher lachte gekünstelt, wohl um seinen Worten die Schärfe zu nehmen, doch
Sonja hatte durchaus bemerkt, dass Sarah zu weit gegangen war. »Aber ich kann
Ihnen versichern, das hier« - er deutete auf die Pflanze - »ist das letzte Exemplar,
das wir einem Gastronomiebetrieb zur Verfügung stellen können.«
»Dann sollten Sie klug handeln und mir die letzte Pflanze mitgeben.« Sarah
lächelte den Laborkittelträger breit und strahlend an. »Und warum sollte ich das tun?
Welchen Nutzen hätte es, Sie in die Testgruppe aufzunehmen? Ihnen das letzte
Exemplar zu geben?« Der Forscher beugte sich vor. Sonja fiel auf, dass sie nicht
einmal seinen Namen wusste. Die ganze Vorstellung wurde ihr immer unheimlicher.
»Lass uns gehen! Sarah, komm schon. Hier stimmt was nicht. Ich trau dem
Ganzen nicht. Lass es einfach gut sein.« Worte der Vernunft erreichten Sarah schon
im Normalzustand selten, doch war sie auf Beutefang, so wie jetzt, war es schier
unmöglich, zu ihr durchzudringen.
»Wir beide«, Sarah deutete auf Sonja, »sind Küchenchefinnen im angesagtesten
Laden ganz Tübingens. Der Irish Pub. Wir sind für unsere außergewöhnliche Küche
bekannt und haben immer ein volles Haus. Es wäre also nur von Vorteil, uns diese
Pflanze mitzugeben, da sie so viele, richtig viele Veganer und Vegetarier erreichen.«
»Nur keine falsche Bescheidenheit.« Sonja rieb sich den Nacken.
»Wir sind beliebt. Jeden Abend und jeden Mittag rennen uns die Leute die Bude
ein. Wir sind DER Szene-Laden schlechthin.« Sarah lief zu Hochtouren auf. »Es hat
also nicht nur den Vorteil, so viele Menschen wie möglich zu erreichen, sondern auch
außerhalb Stuttgarts bekannt zu werden. Win-win-Situation für uns beide.« Bei jedem
Wort war sie einen Schritt näher an den Forscher getreten, bis sie ihm letzten Endes
ins Gesicht starrte, ihre Nasenspitzen nur wenige Zentimeter voneinander entfernt.
»«© 2013 Michaela Harich
Ihre Augen leuchteten und Sonja wusste, dass Sarah den Geldregen geradezu vor
sich sah. Ein kurzer Blick auf das Gesicht des Forschers zeigte ihr, dass es ihm
ähnlich ging.
Sonja seufzte. Super.
»Die Möglichkeiten, die Forschungsarbeiten auszuweiten, Tübinger Studenten
miteinzubeziehen - wir haben immerhin die berühmte Morgenstelle! - stellen Sie sich
doch nur mal all diese Möglichkeiten vor!« Sarah war Feuer und Flamme.
Ja, ja. Die Möglichkeiten. Weil unsere Lebensmittel-Genforschung ja auch so
ausgeprägt ist!
»Ich …«
»Was denken Sie denn da noch lange darüber nach! Es bleibt Ihnen eigentlich
nichts anderes übrig, als uns diese Pflanze mitzugeben. Wir sind die Zukunft Ihrer
Forschung! Mit unserer Hilfe werden Sie mehr Ergebnisse bekommen, als mit allen
Restaurants in Stuttgart zusammen!«
Sonja wandte den Kopf ab. Sarahs Überzeugungsargumente schlugen eine
Richtung ein, die sie nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren konnte. »Sarah, übertreib
es nicht! Bleib bei der Wahrheit – und in der Realität!«, zischte sie der Freundin ins
Ohr. »Langsam, aber sicher ist es genug!«
»Du hast einfach keine Ahnung, wie man sich verkauft. Und jetzt lass mich!«
»Ich will damit nichts zu tun haben! Ich bin raus! Das musst du alleine machen.«
»Das bin ich ja schon gewohnt. Wenn es hart auf hart kommt, taugt keiner von
euch was. Nur wenn ich das selbst in die Hand nehm, wird das was!«
Sonja verdrehte die Augen. »Meld dich, wenn du nach Hause willst. Ich geh noch
bisschen in die Stadt.«
»Jaja, schon recht.« Sarah schien ihr schon nicht mehr zuzuhören. Sonja warf
einen letzten Blick auf die Freundin, bevor sie dem Stand den Rücken zukehrte. Und
noch während sie aus der Messehalle ging, langsam, durch die Menschenströme
geblockt und behindert, konnte sie hören, wie Sarah immer noch auf den Forscher
einsprach und ihn zu überzeugen versuchte. Sonja schüttelte den Kopf. Sollte es
Sarah gelingen, diese Bacon-Pflanze zu bekommen, würde sie die nächsten Tage,
Wochen, Monate wie ein aufgeblasener Gockel herumstolzieren. Sie konnte schon
jetzt die Serviceleute hören, die sich lautstark beschwerten. Und Sarah, die mit allen
Mitteln versuchte, sich einen großen Vorteil an Macht und Privilegien zu sichern.
Konnte sie nicht einfach wieder schwanger werden?
»«© 2013 Michaela Harich
Kapitel 3
Stuttgart war schon schön. Nicht ganz so ruhig und grün wie Tübingen, aber
nichtsdestotrotz schön. Sonja hielt ihr Gesicht in die Sonne und genoss die Wärme
der Sonnenstrahlen. Die Königstraße mit ihrem Trubel, den Menschenmassen, dem
Lärm und den verschiedenen Gerüchen – das war einfach einmalig. Bunte Stände,
Verkäufer, die einen zu ihren Crèpes-Ständen locken wollten und glitzernd-bunte
Auslagen in den Schaufenstern - sie hätte stundenlang die Straße hoch und runter
schlendern können. Oder sich einfach auf den Rasen des Königsplatzes legen und in
den Himmel schauen. Sie mochte Stuttgart und konnte sich diesen Schandfleck, den
die Regierung aus dem Bahnhof veranstalten wollte, nicht erklären. Zum Glück aller
Schwaben war die Realisierung dieses monströsen Bauprojektes nie in Gang
gekommen und der Schlossgarten wiederhergestellt worden. Eine Schande, wie der
zwischenzeitlich ausgesehen hatte. Falscher Ehrgeiz ist halt nicht immer der Weg
zum Erfolg, dachte Sonja und ihre Gedanken wanderten für einen Moment zu Sarah,
die in ihrem Ehrgeiz gut und gerne über Leichen ging und ohne Rücksicht auf
Verluste ihren Kopf durchsetzte. Die Menschen um sie herum, teils in Eile, teils auf
der Suche nach dem nächsten Schnäppchen, beruhigten ihre Nerven. Sie atmete
noch einmal tief durch, bevor sie sich beim Starbucks einen Kaffee holen ging.
Genauer gesagt, einen Karamell-Frappé mit Sojamilch und einem Schuss Zimtsirup.
Einmal im Monat konnte sie sich diese Kalorienbombe gönnen, zumal ihr der Zucker
helfen würde, das Warten auf Sarah zu überstehen, ohne in der Sonne einzunicken,
und nach dem Trubel in der S-Bahn hatte sie sich das mehr als nur verdient.
Allerdings konnte sie sich beinahe schon zu gut vorstellen, wie Esther, die Kellnerin
und Freundin aus dem Pub, sie schimpfte. Wenn sie morgens, vor dem Arbeiten,
zusammen joggten oder am Wochenende kletterten, war es Esther, die immer wieder
mit ökologisch nachhaltigen Sachen ankam und über Läden wie Starbucks und Co
schimpfte. Sonja schmunzelte. Sie mochte Esther, auch wenn ihr Öko-Tick ihr oft auf
die Nerven ging. Aber Esther war ehrlich, zuverlässig und hatte immer ein offenes
Ohr. Sie war froh, sie als echte, wahre Freundin bezeichnen zu können.
Nichtsdestotrotz wollte sie sich heute einen Starbucks-Kaffee gönnen.
Widerwillig betrat sie den Laden, der zwar mit viel Glas und in modernem Design
gestaltet worden war, aber dennoch wenig Sonnenlicht einfing, und reihte sich ein.
Die Sonnenstrahlen fehlten ihr schon jetzt. In Deutschland gab es einfach zu wenig
davon, um auch nur auf einen sonnigen Tag verzichten zu können - zumindest waren
das die Worte ihrer Großmutter gewesen. Warme Luft, ein schwerer, süßer Geruch,
das laute Zischen der Kaffeemaschinen und das Geplapper der Gäste überlagerten
ihre Gedanken und sie fühlte sich mit einem Mal wie zu Hause.
»Hast du schon von diesem veganen Fleisch gehört?« Die Stimme eines jungen
»«© 2013 Michaela Harich
Mannes, die sich vor Begeisterung beinahe überschlug, drang zu ihr hinüber. »Das
soll die Neuheit auf dem Markt sein. Das Restaurant gegenüber, das >Green
Buddy<, hat das seit einer Woche im Angebot. Schnitzel und Gulasch aus der
Bacon-Pflanze.«
Sonja spitzte die Ohren. Versuchte, möglichst unauffällig bei dem Pärchen am
Nebentisch zu lauschen, während sie wartete, um bestellen zu können.
»Du nimmst mich auf den Arm, oder? Bacon-Pflanze? Das gibt’s doch nicht
wirklich!« Das Lachen der jungen Frau klang ungläubig und Sonja glaubte, eine Spur
Spott herauszuhören. »So etwas gibt es nicht.«
»Doch!« Etwas knisterte. Sonja reckte den Hals, beobachtete, wie der junge
Mann mit den leuchtenden Augen und dem trotzigem Ausdruck etwas aus der Tasche
zog und vor seiner Freundin auf den Tisch legte. »Schau! Ich hab sogar einen Flyer.
Die Pflanze wurde in Stuttgart entwickelt. Die wird den Lebensmittelmarkt
revolutionieren. Das wird super! Das Zeug ist echt lecker!«
Die Neugier brachte sie beinahe um. Sonja versuchte, einen besseren Blick auf
den Flyer zu erhaschen, doch in diesem Moment war sie an der Reihe. Halbherzig,
ihre Aufmerksamkeit auf den Flyer gerichtet, gab sie ihre Bestellung auf. Sie ließ das
Paar nicht aus den Augen.
»Hm, ich bin mir nicht sicher, was ich davon halten soll. Das kann doch nicht
schmecken. Vor allem nicht nach Fleisch. So ein Humbug«, antwortete ihm seine
Freundin.
»Dann lass uns nachher rübergehen, dann kannst du das mal probieren! Glaub
mir: das ist super. Ich ess da seit drei Tagen jeden Mittag. Voll geil. Jetzt kann man
Veganer sein und absolut pflanzliches Fleisch essen. Besser geht's nicht.«
»Du könntest auch einfach richtiges Fleisch essen und nicht so was extrem
Künstliches.«
Sonja unterdrückte mühsam ein Kichern. Die Worte der jungen Frau klangen
logisch, mehr als logisch, doch wie gewöhnlich war Logik nicht immer etwas, das
bereitwillig angenommen oder überhaupt empfangen wurde. Immer noch kichernd
nahm sie ihren Becher entgegen. Kurz überlegte sie, sich neben das Paar zu setzen,
um besser lauschen zu können, wollte dann aber nicht unbedingt wie die
aufdringliche Verrückte von nebenan wirken. Mit dem Becher in der Hand und dem
Entschluss, diese nach dieser ominösen Pflanze zu googeln, trat sie wieder ins
Freie. Mit großen Schritten ging sie zu einer Bank und setzte sich in die Sonne. Ihr
Blick wanderte hinüber zum »Green Buddy«, vor dem ein großer Aufsteller darauf
hinwies, dass es »hier und nur hier« in der Königstraße, veganes Fleisch gäbe.
Erstaunlich viele Menschen tummelten sich in dem kleinen Laden und kamen mit
Fingerfoodtüten wieder heraus. Das Lockangebot mit dieser Pflanze funktionierte
wohl. Sonja schüttelte den Kopf. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass die
»«© 2013 Michaela Harich
Blätter schmecken sollten - und am Ende sogar noch gesund waren.
»Vielleicht probier ich das doch mal, bevor ich heimfahre«, murmelte sie. Der
Frappé erwärmte sich langsam in der Sonne und schmeckte dadurch noch süßer.
Nach zwei kleinen Schlucken wusste sie, warum sie sich diesen sirupartigen Kaffee
recht selten gönnte. Er war einfach zu süß, doch sie trank ihn immer wieder.
Manchmal war Zucker eben die Lösung auf alles, auch wenn sie nach wenigen
Schlucken meist genug hatte. Den Frappé neben sich gestellt, suchte sie im Netz
nach Artikeln über diese Pflanze. Zumindest hoffte sie auf Artikel über die
Forschungsarbeiten daran. Vielleicht gäbe es auch Erfahrungsberichte von Veganern
oder Restaurants. Irgendetwas muss es doch geben, dachte sie, doch nicht einmal
Bing spuckte brauchbare Ergebnisse aus. Die einzigen, die die Pflanze anzweifelten,
waren Natureen. Alle anderen sangen wahre Loblieder auf diese Erfindung. Sonja
nahm sich vor, Esther zu fragen, was Natureen davon hielt. Soweit sie sich erinnern
konnte, hatte sich Esther dieser Gruppierung anschließen wollen – neben
Greenpeace und Peta.
»Aber warum hab ich dann erst auf der Messe davon gehört?«, murmelte sie.
Sonja musste den Gedanken aussprechen. Musste ihren Zweifeln eine Stimme
geben. Selbst auf der zehnten Seite der Google-Ergebnisse gab es nur Links zu den
Stimmen Natureens, die dagegensprachen. Von ihrem eigenen Misstrauen erschöpft,
lehnte sie sich zurück und nahm einen Schluck Frappé. Das alles kam ihr sehr
merkwürdig vor. Keine negativen Schlagzeilen, nur Berichte aus den Stuttgarter
Zeitungen. Erst das Vibrieren ihres Handys holte sie aus ihrer Starre. »Sarah« stand
im Display. Sie öffnete die WhatsApp. »Bin schon unterwegs nach Hause. Warte
nicht auf mich. Messe voller Erfolg.« Wieso überraschte Sonja das nicht? Sarah
hatte schon immer getan, was ihr in den Kopf gekommen war.
Ein grauenerregendes Gurgeln erklang hinter ihr. Jemand würgte. Sie hörte das
geräuschvolle Spucken und drehte sich angeekelt um. Der junge Mann, der kurz
zuvor noch im Starbucks in höchsten Tönen von dem veganen Fleisch geschwärmt
hatte, hielt sich am Türrahmen fest und beugte sich vornüber. Seine Begleiterin,
vermutlich seine Freundin, stand entsetzt neben ihm, während er röchelte. Blut floss
in einem dünnen Rinnsal aus seinem Mundwinkel, bildete einen langen, widerlichen
Faden, der auf dem Boden landete, während er weiterröchelte und ausspuckte.
Sonja sprang auf. Hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis zu helfen und dem
Drang zu fliehen.
»Was ist mit dir? Mark, sag doch was!«
Das Sprechen könnte schwierig werden, schoss es Sonja durch den Kopf. Der
junge Mann, Mark kippte blass vorüber und blieb zusammengebrochen liegen. Die
Finger zwischen die Pflastersteine gekrallt, das Gesicht vor Schmerz verzerrt. Er
röchelte Blut und Speichel hervor und hatte die Augen qualvoll aufgerissen. Die
»«© 2013 Michaela Harich
junge Frau neben ihm schrie. Sie schrie nach Hilfe, schrie vor Angst. An ihren
Fingerspitzen klebte das Blut-Speichel-Gemisch, in das sie versehentlich
hineingefasst hatte, als sie versucht hatte, ihn zu stützen. Sie fuhr sich mit den
Händen unter Schreien und Weinen durch die Haare und färbte sich einzelne
Strähnen rot.
Sonja rührte sich nicht, blieb in ihrer Starre sitzen, als Mark ein weiteres Mal Blut
spuckte, unfähig zu helfen. Gurgelnd machte er seinen letzten Atemzug.
»Nein! Mark! Mark, sag doch was!« Die junge Frau war neben ihm auf die Knie
gefallen. »Sag doch was!« Sie rüttelte an seinem Arm, aber nichts geschah. Wenn
Sonja die Lage richtig einschätzte, würde jetzt nur noch eine Reanimation durch
einen Notarzt helfen – wenn überhaupt. Die junge Frau drehte Mark um, schlug ihm
auf die Brust. Sie versuchte offensichtlich, ihn mit den üblichen Erste Hilfe-
Maßnahmen ins Leben zurückzuholen. »Ist hier ein Arzt? So helft mir doch!« Ihre
Stimme hatte sich in einen schrillen, unmenschlichen Klang verwandelt.
»Biiiiiiiiiiiiiitte!«
Doch niemand bewegte sich. Es war, als hätte jemand die Pausetaste gedrückt
und die Welt hätte aufgehört, sich zu drehen. Sonja sah sich nicht imstande, diesem
Mark zu helfen. Sie dachte an das Blut, dachte an die Spritzer der roten Flüssigkeit,
dachte an das Zusammenbrechen und an den Schleim, der sich auf den Gehweg
ergoss. Sie war nicht in der Lage, sich zu rühren. Und gewusst hätte sie auch nicht,
was zu tun wäre.
Ein weiteres Gurgeln. Ein Röcheln.
Sonja wirbelte herum.
Im Eingang des »Green Buddy« war ein junges Mädchen, kaum älter als
sechzehn, auf die Knie gefallen. Ihr Körper verkrampfte sich, krümmte sich. Mit
schmerzerfülltem Keuchen spuckte auch sie Blut aus. Ihre Augen traten hervor, die
Adern darin platzten und das Weiß wurde Rot. Vor ihr auf dem Boden lag die Tüte
mit dem Fingerfood. Nur wenige Meter weiter, vor dem NewYorker, brach ebenfalls
jemand zusammen. Er spuckte Blut, röchelte und gurgelte vor Schmerzen. Sonja
beobachtete entsetzt, wie erst das Mädchen, dann der Passant vor dem
Bekleidungsgeschäft ihre letzten Atemzüge taten. Leblos lagen sie auf den
Pflastersteinen. Angst ergriff sie. Hielt ihr Herz in kalten, düsteren Klauen.
Ich muss hier weg!, schoss es ihr durch den Kopf. Und in diesem Moment gab sie
dem Drang zu flüchten nach. Stur den Blick von der grauenerregenden Szene
abgewandt, hechtete sie die Königstraße entlang, fokussierte den Bahnhof und
ignorierte das Röcheln, das von irgendwoher zu kommen schien. Oder war das nur
der Nachklang in ihrem Kopf, von dem, was sie gerade gesehen hatte? Sie musste
hier weg - so schnell wie möglich.
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