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Archivnachrichten 40 / 2010 48 Als 1825 in England die erste Eisenbahn- linie von Stockton(-on-Tees) nach Dar- lington eröffnet wurde, war Gegnern wie Befürwortern des neuen Verkehrsmittels klar, dass eine neue Zeit begonnen hatte. Eigentlich lag die Erfindung des ersten Eisenbahnkonstrukteurs George Stephen- son recht nahe, sozusagen in der Luft, denn die Zeit war reif dafür. Geleise als künstlich in Stein gehauene Spurrillen gab es schon seit der Antike, damit Wagen auf schwierigem Terrain besser manövriert werden konnten. Holzschienen wurden bereits in mittel- alterlichen Bergwerken benutzt, um Loren leichter bewegen zu können. Die Dampfmaschine hatte James Watt 1781 als standortunabhängige Kraftmaschine perfektioniert. Nun befassten sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts Ingenieure in England und Frankreich mit der Idee, die Dampfmaschine auf Schienen zu setzen, um Zugtiere für die schon beste- henden Pferdeeisenbahnen überflüssig zu machen. Doch Stephenson gelang es schließlich als Erstem, dafür eine ein- satzfähige Lokomotive zu entwickeln. Stephenson fand für sein Projekt nicht nur Befürworter. In einer Parlaments- debatte im britischen Unterhaus fasste Sir Isaac Coffin zusammen, was er von dieser Sache hielt: Für jeden muss es höchst unangenehm sein, eine Eisenbahn unter seinem Fenster zu haben. Und was soll, so frage ich, aus allen Sattlern und Herstellern von Kutschen, aus Wagenbesit- zern und Kutschern, Gastwirten, Pferde- züchtern, Pferdehändlern werden? Weiß das Haus auch, welchen Rauch, welches Geräusch, Gezisch und Gerassel die rasch vorübereilenden Lokomotiven verursachen werden? Weder das auf dem Feld pflü- gende, noch das auf den Triften weidende Vieh wird diese Ungeheuer ohne Entsetzen wahrnehmen. Die Eisenpreise werden sich mindestens verdoppeln, wenn die Vor- räte an diesem Metall, was wahrscheinlich ist, nicht ganz und gar erschöpft werden. Die Eisenbahn wird der größte Unfug sein, sie wird die vollständige Störung der Ruhe und des körperlichen sowohl wie des geistigen Wohlbefindens der Menschen bringen, die jemals der Scharfsinn zu erfinden vermochte. Zukunftsorientierte Volkswirtschaftler wie der Tübinger Professor und spätere amerikanische Konsul Friedrich List er- kannten dagegen schon früh die Bedeu- tung dieser revolutionären Neuerung. Bereits 1824 machte sich List Gedanken über ein Eisenbahnnetz in Deutschland, die auch von König Wilhelm I. von Württemberg interessiert aufgenommen wurden. Erste Eisenbahnpläne im Königreich Württemberg König Wilhelm hielt zwar nichts von diesem aufmüpfigen Tübinger Professor, der ihm als Landtagsabgeordneter unan- genehm aufgefallen war, da er offen für mehr Demokratie eintrat und einen Konflikt mit seinem König nicht scheute. Die Idee einer württembergischen Eisen- bahn ließ ihn allerdings nicht mehr los. Mit Umsicht verfolgte er die Einsatz- möglichkeit des neuen Transportmittels. Anfangs schien die Eisenbahn vor allem als Verbindung zwischen schiffbaren Flüssen erwägenswert. Bisher hatte man versucht, dieses Problem durch Anlegen von Kanälen zu lösen, wie in Frankreich oder auch in Preußen. Doch die Topo- grafie des Landes setzte solchen Plänen unüberwindliche Grenzen. Wenn es nun gelänge, den bis Heilbronn schiffbaren Neckar durch eine Eisenbahn mit der Donau bei Ulm zu verbinden, wäre ein Handelsweg von der Nordsee über den Rhein zur Donau bis ins Schwarze Meer eröffnet, und das Königreich Württem- berg läge mit seiner Eisenbahn im kriti- schen Zentrum. Die Waren müssten hier umgeladen und auf der Eisenbahn weitertransportiert werden – eine große Chance für den Handel des Landes. So setzte Wilhelm schon wenige Jahre, nachdem in England die erste Eisenbahn gefahren war, eine Expertenkommission ein, die sich Gedanken über eine solche württembergische Eisenbahnlinie ma- chen sollte. Die Kommission kam 1830 zu dem Ergebnis, dass die Bahn nicht nur zur Donau bei Ulm geführt werden sollte, sondern südwärts weiter bis zum Bodensee bei Friedrichshafen. Als dann am 7. Dezember 1835 die erste Eisenbahn in Deutschland von Nürnberg nach Fürth gedampft war, brach auch in Württemberg ein regelrechtes Eisen- bahnfieber aus. In den großen Handels- städten des Landes wie in Ulm, Stuttgart und Heilbronn entstanden Eisenbahn- gesellschaften, die als Aktiengesellschaf- ten Kapital für den Bau privater Eisen- bahnlinien sammelten. Recht schnell hatten Kaufleute und Unternehmer er- kannt, welche Bedeutung es für die zukünftige Entwicklung hatte, ob ihre Stadt an eine Eisenbahnverbindung angeschlossen sein würde oder nicht. Stuttgart, Ulm und Biberach …“ Vor 150 Jahren entstand das württembergische Eisenbahnnetz Quellen für den Unterricht 39 Ulrich Maier

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Archivnachrichten 40 / 201048

Als 1825 in England die erste Eisenbahn-linie von Stockton(-on-Tees) nach Dar-lington eröffnet wurde, war Gegnern wieBefürwortern des neuen Verkehrsmittelsklar, dass eine neue Zeit begonnen hatte.Eigentlich lag die Erfindung des erstenEisenbahnkonstrukteurs George Stephen-son recht nahe, sozusagen in der Luft,denn die Zeit war reif dafür.Geleise als künstlich in Stein gehaueneSpurrillen gab es schon seit der Antike,damit Wagen auf schwierigem Terrainbesser manövriert werden konnten.Holzschienen wurden bereits in mittel-alterlichen Bergwerken benutzt, umLoren leichter bewegen zu können. DieDampfmaschine hatte James Watt 1781als standortunabhängige Kraftmaschineperfektioniert. Nun befassten sich seitBeginn des 19. Jahrhunderts Ingenieurein England und Frankreich mit der Idee,die Dampfmaschine auf Schienen zu setzen, um Zugtiere für die schon beste-henden Pferdeeisenbahnen überflüssigzu machen. Doch Stephenson gelang es schließlich als Erstem, dafür eine ein-satzfähige Lokomotive zu entwickeln.Stephenson fand für sein Projekt nichtnur Befürworter. In einer Parlaments-debatte im britischen Unterhaus fassteSir Isaac Coffin zusammen, was er vondieser Sache hielt: Für jeden muss eshöchst unangenehm sein, eine Eisenbahnunter seinem Fenster zu haben. Und wassoll, so frage ich, aus allen Sattlern undHerstellern von Kutschen, aus Wagenbesit-zern und Kutschern, Gastwirten, Pferde-züchtern, Pferdehändlern werden? Weißdas Haus auch, welchen Rauch, welchesGeräusch, Gezisch und Gerassel die raschvorübereilenden Lokomotiven verursachen

werden? Weder das auf dem Feld pflü-gende, noch das auf den Triften weidendeVieh wird diese Ungeheuer ohne Entsetzenwahrnehmen. Die Eisenpreise werden sich mindestens verdoppeln, wenn die Vor-räte an diesem Metall, was wahrscheinlich ist, nicht ganz und gar erschöpft werden.Die Eisenbahn wird der größte Unfug sein,sie wird die vollständige Störung der Ruheund des körperlichen sowohl wie des geistigen Wohlbefindens der Menschenbringen, die jemals der Scharfsinn zu erfinden vermochte.Zukunftsorientierte Volkswirtschaftlerwie der Tübinger Professor und spätereamerikanische Konsul Friedrich List er-kannten dagegen schon früh die Bedeu-tung dieser revolutionären Neuerung.Bereits 1824 machte sich List Gedankenüber ein Eisenbahnnetz in Deutschland,die auch von König Wilhelm I. vonWürttemberg interessiert aufgenommenwurden.

Erste Eisenbahnpläne im Königreich Württemberg

König Wilhelm hielt zwar nichts vondiesem aufmüpfigen Tübinger Professor,der ihm als Landtagsabgeordneter unan-genehm aufgefallen war, da er offen fürmehr Demokratie eintrat und einenKonflikt mit seinem König nicht scheute.Die Idee einer württembergischen Eisen-bahn ließ ihn allerdings nicht mehr los.Mit Umsicht verfolgte er die Einsatz-möglichkeit des neuen Transportmittels.Anfangs schien die Eisenbahn vor allemals Verbindung zwischen schiffbarenFlüssen erwägenswert. Bisher hatte man

versucht, dieses Problem durch Anlegenvon Kanälen zu lösen, wie in Frankreichoder auch in Preußen. Doch die Topo-grafie des Landes setzte solchen Plänenunüberwindliche Grenzen. Wenn es nungelänge, den bis Heilbronn schiffbarenNeckar durch eine Eisenbahn mit derDonau bei Ulm zu verbinden, wäre einHandelsweg von der Nordsee über denRhein zur Donau bis ins Schwarze Meereröffnet, und das Königreich Württem-berg läge mit seiner Eisenbahn im kriti-schen Zentrum. Die Waren müssten hierumgeladen und auf der Eisenbahn weitertransportiert werden – eine großeChance für den Handel des Landes. So setzte Wilhelm schon wenige Jahre,nachdem in England die erste Eisenbahngefahren war, eine Expertenkommissionein, die sich Gedanken über eine solchewürttembergische Eisenbahnlinie ma-chen sollte. Die Kommission kam 1830zu dem Ergebnis, dass die Bahn nichtnur zur Donau bei Ulm geführt werdensollte, sondern südwärts weiter bis zumBodensee bei Friedrichshafen.Als dann am 7. Dezember 1835 die ersteEisenbahn in Deutschland von Nürnbergnach Fürth gedampft war, brach auch in Württemberg ein regelrechtes Eisen-bahnfieber aus. In den großen Handels-städten des Landes wie in Ulm, Stuttgartund Heilbronn entstanden Eisenbahn-gesellschaften, die als Aktiengesellschaf-ten Kapital für den Bau privater Eisen-bahnlinien sammelten. Recht schnellhatten Kaufleute und Unternehmer er-kannt, welche Bedeutung es für die zukünftige Entwicklung hatte, ob ihre Stadt an eine Eisenbahnverbindung angeschlossen sein würde oder nicht.

Stuttgart, Ulm und Biberach …“Vor 150 Jahren entstand das württembergische Eisenbahnnetz

Quellen für den Unterricht 39 Ulrich Maier

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So warb ein Heilbronner Kaufmann mitfolgenden Argumenten für den Erwerbvon Eisenbahnaktien der HeilbronnerEisenbahngesellschaft: Stellen wir unsaber die Lage unseres Acker- und Wein-baus, unserer Gewerbe und unseres Handels vor, wenn diese schnellste und bil-ligste Beförderungsweise uns nicht, sondernnur benachbarten Gegenden zuteil würde!Wie würde sich aller Verkehr nach undnach von hier entfernen, wie würde derWert unserer Güter, unserer Häuser, unse-rer Mühlen etc. im Preis fallen! Erhält unsaber eine zahlreiche Aktien-Unterzeich-nung das uns zugesagte Recht einer Eisen-bahnverbindung und kommt letztereswirklich zu Stande, so dürfen wir gewisssein, dass gerade die umgekehrte Wirkungsich äußern und dass ohne großes Risikofür den Aktien-Unternehmer der Verkehrsich außerordentlich vermehren werde.Diesen privaten Initiativen setzte nunKönig Wilhelm seine Vorstellung einerwürttembergischen Staatseisenbahn entgegen. Den privaten Gesellschaftenwurden keine Genehmigungen für ei-gene Eisenbahnlinien erteilt, kurze Zeitspäter lösten sie sich auf. König Wilhelmschickte nun seine Experten nach Eng-land, um dort Erfahrungen zu sammeln.Nach jahrelangen Diskussionen und Vorbereitungen unterzeichnete er am 18. April 1843 ein Gesetz über den Baueiner württembergischen Staatseisen-bahn von Stuttgart über Ulm an den Bo-densee. Eine Nordbahn sollte von Stutt-gart nach Heilbronn und eine Westbahnbis an die badische Landesgrenze geführtwerden. Während man in Württembergnoch plante, hatten die badischen Nach-barn die Nase vorn. Bereits am 12. Sep-tember 1840 war die erste Strecke imGroßherzogtum eröffnet worden. Sieführte von Mannheim nach Heidelberg,allerdings mit einer Spurweite, die sichin Deutschland und den meisten euro-päischen Ländern nicht durchsetzte.Baden musste wenig später alle bishergebauten Strecken umrüsten.

Stuttgart, Ulm und Biberach … Die SchwäbischeEisenbahn wird gebautDer Eisenbahnbau in Württemberg ent-wickelte sich nach dem etwas verspätetenStart geradezu explosiv und prägte alsStaatsangelegenheit die kommendenJahrzehnte im Königreich. Atemberau-

im Jahr 1847 an den Linien von Ludwigs-burg bis Heilbronn, von Plochingen bis auf die Alb und von Friedrichshafen bisAulendorf, O.A.Waldsee, mit ungefähr 10 000 Mann gearbeitet wurde. Von denbedeutenderen Bauobjekten, welche indiesem Jahre vollendet wurden, ist derTunnel bei Kirchheim am Neckar zu nen-nen. […] Die etwa 1000 Fuß lange Gat-terbrücke bei Besigheim war am Schlussdes Jahres ihrer Vollendung nahe.1848: Am 7. Juni fand die erste Probe-

fahrt auf der Eisenbahnstrecke zwischenBietigheim und Besigheim statt, am 27.desselben Monats langte die erste Lokomo-tive in Heilbronn an, am 9. Juni sodannwurde die ganze Strecke zwischen Bietig-heim und Heilbronn zum ersten Male befahren. Der regelmäßigen Benützungkonnte dieselbe jedoch wegen der nochnicht vollendeten Einrichtungen in demBahnhof zu Heilbronn erst am 25. Juliübergeben werden.1849: Am 27. März wurde die Eisen-

bahnstrecke zwischen Ravensburg undAulendorf, Oberamts Waldsee, und am29. April die Linie von Aulendorf bis Biberach zum erstenmal befahren. Dieganze Strecke von Biberach bis Fried-richshafen ist am 28. Mai dem Gebrauchübergeben worden. Die erste Probefahrtauf der Bahnstrecke von Süßen nachGeislingen fand am 5. Juni, die Eröffnungderselben am 14. desselben Monats statt.Die sieben Wegstunden lange Bahn zwischen Biberach und Erbach wurde am15. November zum erstenmal probeweisebefahren. Am 1. November erstieg dieerste Lokomotive die 17791 Fuß langeschiefe Ebene zwischen Geislingen undAmstetten.1850: Die vollendete Eisenbahnstrecke

zwischen Ulm und Biberach wurde am 1. Juni eröffnet. Auf der übrigen Streck vonUlm abwärts fand die erste Probefahrtzwischen Ulm und Amstetten am 22. des-selben Monats statt; wonach die ganzeBahnlinie zwischen Heilbronn und Fried-richshafen am 1. Juli dem Gebrauch über-geben wurde.Die ersten sechs Lokomotiven wurdenaus Amerika über Rhein und Neckarnach (Stuttgart-Bad) Cannstatt gebrachtund von amerikanischen Spezialisten zusammengebaut, anschließend getauft:Die erste hieß Neckar, die anderen Rems,Enz, Fils, Jagst und Donau.Für die etwa 250 Kilometer langeStrecke benötigte die Eisenbahn neun biszehn Stunden.

bend erscheinen die nach heutigen Maß-stäben kurzen Bauzeiten. Bereits im Ok-tober 1845 – zwei Jahre nach Unterzeich-nung des ersten Eisenbahngesetzes –konnte der König das erste Teilstück derSchwäbischen Eisenbahn von (Stuttgart-Bad) Cannstatt nach (Stuttgart-)Unter-türkheim einweihen. Das StuttgarterNeue Tagblatt berichtete am 6. Oktober1845 über die erste Vergnügungsfahrtmitder Eisenbahn von Cannstatt nach Un-tertürkheim: Eine ungeheuere Menschen-menge war ab halb zwei Uhr in und umden Bahnhof Cannstatt bis Untertürkheimgelagert und wogte hin und her, um dieangekündigte Probefahrt abzuwarten undanzustaunen. Manches schwäbische Men-schenkind sah heute zum erstenmal dasrauchende, pfeifende und stöhnende Un-geheuer, das man Lokomotive nennt unddas mit Windeseile über eiserne Schienenwegbrauste. Ohne sichtbaren Anstoß setztesich die Maschine in Gang und durchliefdie ungefähr eine Poststunde lange Streckevom Bahnhof Cannstatt nach Untertürk-heim in fünf Minuten.Die Württembergischen Jahrbücher für

vaterländische Geschichte, Geographie, Sta-tistik und Topographie berichteten in die-sen Jahren regelmäßig über den Fortgangdes Eisenbahnbaus. Zwischen den Zeilenwird die Euphorie spürbar, welche denChronisten wie vermutlich alle Zeitgenos-sen ergriffen hatte. Als Beispiel die folgen-den Zitate aus den Jahren 1845–1850:1845: Die meisten Hände beschäftigte

wohl der Eisenbahnbau.1846: An der Eisenbahnstrecke zwischen

Ludwigsburg, Stuttgart und Cannstattwurde ebenfalls sehr energisch gearbeitet;schon am 8. Mai konnte der letzte Schluss-stein an dem 2900 Fuß langen Pragtunnel,welcher im Jahr 1844 in Angriff genom-men worden war, versetzt werden, am 4. Juli sodann wurde das Gewölbe des Ro-sensteintunnels […] geschlossen und zurselben Zeit der Viadukt über den Neckarbei Cannstatt vollendet. Hiedurch war es möglich gemacht, dass am 26. Septembermittags 12 ¼ Uhr die erste Lokomotive,von Cannstatt kommend, in den Bahnhofin Stuttgart einfahren und am 30. Sep-tember die erste Probefahrt von Stuttgartnach Ludwigsburg unternommen werdenkonnte. Die ganze Strecke wurde am 15. Oktober feierlich eröffnet und an dem-selben Tage der allgemeinen Benützungübergeben.1847: Was die Arbeiten an der Staats-

eisenbahn betrifft, so ist zu erwähnen, dass

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stehenden Linien zu einem württember-gischen Eisenbahnnetz ausbauen sollte.

Das Eisenbahngesetzvon 1858

Im Februar 1857 sandte die Stadt Crails-heim an König Wilhelm ein achtseitigesBittschreiben mit dem Titel Entwicklungder Gründe für einen von der Stadt Crails-heim bei Seiner Majestät dem König in Antrag gebrachten Eisenbahnbau vomNeckar über Crailsheim nach Ansbachund Nürnberg. Die neue Linie sollte von(Stuttgart-Bad) Cannstatt oder Bietig-heim(-Bissingen) über Backnang undSchwäbisch Hall nach Crailsheim ge-führt werden.Gleichzeitig forderten die Städte imRemstal eine Ostbahn von (Stuttgart-Bad) Cannstatt über Schwäbisch Gmündnach Aalen, die von dort weiter überNördlingen ebenfalls nach Nürnberg ge-führt werden könnte. Nun meldetenauch Heilbronn, Künzelsau und Schwä-bisch Hall ihre Interessen an. Heilbronnsah die Chance, Eisenbahnknotenpunktzu werden, und intervenierte in der Residenz mit dem Argument, dass Badenund Bayern eine Verbindung von Mann-heim über Würzburg nach Nürnbergplanten, was die gesamte Region Nord-württemberg benachteiligen würde. Einewesentlich kürzere Strecke nach Nürn-berg müsste von der badischen Oden-waldbahn über Heilbronn und Schwä-bisch Hall geführt werden. SchwäbischHall und Künzelsau setzten sich ebenfallsfür eine Streckenführung über Heil-bronn ein, welche das Kochertal berück-sichtigte. In einer Eingabe an die HoheStändeversammlung im März 1857 führ-ten sie aus: Wenn das Remstal die Eisen-bahn benützen will, seinen Wein zu verführen und dem Scheiterholzfloß einenAchstransport zu substituieren, so hatauch das Kochertal und dessen Seitentäler,namentlich in der Öhringer Gegend, aus-gedehnten Weinbau und der Kocher dientnicht nur zum Scheiter-, sondern auch bis Hall zum Stammholzfloß aus einemgegenüber dem Remstäler viel weiterenWaldrevier. Die Bedürfnisse der Industrieim Remstale noch so hoch angeschlagen,glauben wir nicht, dass dieselbe mehrFrachten braucht, als die Hütte in Erns-bach, die Gerbereien in Künzelsau und dieFabriken in Hall; den Eisenwerken stellenwir die Salinen entgegen. […] Hat das

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Die Eisenbahn als Schlüsselindustrie

Zu Recht gilt der Eisenbahnbau alsSchlüsselphänomen für die Industriali-sierung Deutschlands. Das trifft auch fürWürttemberg zu. Die Eisenbahn schuffür die wirtschaftliche Entwicklung desKönigreichs völlig neue Grundlagen.Rohstoffe wie Erz und Kohle, im Landselbst nur spärlich vorhanden, konntenherangeschafft und das Roheisen hierweiterverarbeitet werden. König Wil-helm verpflichtete Emil Keßler aus Karls-ruhe nach Esslingen am Neckar, der hier in der Esslinger Maschinenfabrik ab1846 Lokomotiven und Waggons baute.Bald waren Tausende im Eisenbahnbaubeschäftigt und mussten mit Lebens-mitteln versorgt werden. Viele Kleinun-ternehmen sahen als Zulieferer neue Ab-satzmöglichkeiten. Handel und Verkehrwurden revolutioniert. Die Eisenbahnermöglichte Güter- und Personentrans-port in bisher unvorstellbarer Zuver-lässigkeit und Pünktlichkeit und das zueinem guten Preis-Leistungs-Verhältnis.Seit dem ersten Eisenbahngesetz warennoch keine zehn Jahre vergangen, als das Projekt bereits fertiggestellt war. Diewürttembergische Eisenbahnlinie er-streckte sich nun auf etwa 290 Kilometer.Zu den 250 Kilometern der Strecke Heil-bronn–Friedrichshafen kam die rund 40 Kilometer lange Strecke der Linie Bie-tigheim–Bruchsal, deren 300 Meter lan-ger Enztalviadukt mit seinen 20 Stein-säulen, die an ein römisches Aquädukterinnern, dem württembergischen Eisen-bahnkonstrukteur Karl Etzel internatio-nale Anerkennung einbrachte. Es dauertenicht lange, bis sich die Eisenbahn ge-genüber dem Güterverkehr auf derStraße und zu Wasser durchgesetzt hatte.Auch bei den Reisenden erfreute sich dieSchwäbische Eisenbahn zunehmender Beliebtheit und schrieb deutlich schwarzeZahlen. Der Ertrag der württembergi-schen Staatseisenbahn machte 1854 vierProzent, 1862 sogar über sechs Prozentdes investierten Kapitals aus, ganz abge-sehen von den unschätzbaren Auswir-kungen auf die Infrastruktur des Landes.Regionen, die nicht an der neuen Eisen-bahnlinie lagen, forderten deshalbimmer massiver eine Fortsetzung des Eisenbahnbaus. Diese Gründe führten 15 Jahre nach dem ersten Eisenbahngesetzvon 1843 im Jahr 1858 zu einem zweiten,das neue Strecken vorsah und die be-

Remstal neben Gmünd ein paar volkreicheStädte, so haben wir dafür die dreifacheZahl und Hall.In anderen Regionen des Königreichsliefen die Diskussionen ähnlich ab. Sobeauftragte König Wilhelm seinen Ge-heimen Rat alle Eingaben zu prüfen unddas zweite Eisenbahngesetz vorzuberei-ten, das er am 17. November 1858 unter-zeichnete. Es sah Folgendes vor:

– Die Fortsetzung der Nordbahn vonHeilbronn über Öhringen, SchwäbischHall nach Crailsheim,

– von Crailsheim eine Strecke nachSüden über Heidenheim an der Brenzbis Ulm,

– eine Linie von Heilbronn über Neckar-sulm nach (Mosbach-)Neckarelz zumAnschluss an die badische Odenwald-bahn,

– eine Neckarbahn von Reutlingen nachRottenburg am Neckar, die über Rottweil zur badischen Grenze geführtwerden und einen Anschluss in dieSchweiz ermöglichen sollte,

– eine Linie von (Stuttgart-Bad) Cann-statt oder vom Filstal aus über Schwäbisch Gmünd und Aalen Rich-tung Nördlingen.

Bereits im Sommer 1862 konnte dieLinie Heilbronn–Schwäbisch Hall eröff-net werden. Weitere Bahnstrecken folg-ten. So wurde in einem Staatsvertragzwischen Baden und Württemberg 1873eine Verbindung von (Bad Friedrichs-hall-)Jagstfeld über (Mosbach-)Neckar-elz nach Eberbach zum Anschluss an das hessische Eisenbahnnetz vereinbart,außerdem eine Linie von Heilbronnnach Eppingen zum Anschluss an dieStrecke Karlsruhe–Eppingen sowie vonStuttgart über Horb am Neckar nachFreudenstadt zum Anschluss an die ba-disch Linie von Hausach nach Schiltach(Landesarchiv HStAS E 100 Nr. 363).Aus der ursprünglich angestrebten Ver-bindung der schiffbaren Flüsse Neckarund Donau war ein württembergischesEisenbahnnetz geworden, das die ver-schiedenen Regionen des Landes immerengmaschiger verknüpfte und über dieGrenzen des Königreichs hinaus den An-schluss an das deutsche und europäischeNetz gewährleisten sollte.

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Das Eisenbahn

gesetz vom

17. Novem

ber 1858 im

Regierungsblatt für das Königreich Württemberg No 19 vom

23. Novem

ber 1858, S. 249 und 250.

Vorlage: Landesarchiv HStAS Bibliothek FX 5, 1858 a

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Verwendung im Unterricht

In den Bildungsplänen des Landesnimmt das Thema Industrielle Revolutioneinen bevorzugten Platz ein. Es wird so-wohl in der Sekundarstufe I aller weiter-führenden Schulen als auch auf derKursstufe der Gymnasien und BeruflichenSchulen behandelt. Für die Kursstufe istaußerdem vorgesehen, Archivalien inden Unterricht einzubeziehen sowie –wo es möglich ist – landesgeschichtlicheBezüge herzustellen. Letzteres gilt auchfür die Sekundarstufe I.Der Eisenbahnbau stellt für Deutsch-land wie für Württemberg das Schlüssel-ereignis der industriellen Revolution dar.Die neue Mobilität schuf erst die Voraus-

setzungen für das Aufblühen von Handelund Gewerbe, für einen grenzüberschrei-tenden Güteraustausch, vielleicht sogarfür die nationale Einheit, sicher aber für die Entwicklung des Maschinenbausals einem der wichtigsten Sektoren derWirtschaft Württembergs.Das zweite württembergische Eisen-bahngesetz von 1858 zeigt, wie aus denersten Anfängen des Eisenbahnbaus her-aus durch massive Forderungen der re-gionalen Wirtschaft Ausbau und die Ver-netzung der Eisenbahnlinien erfolgten.Aufgrund seiner Informationsdichte beiüberschaubarem Umfang und unter Anleitung auch lesbarer Schrift eignet sichdie Quelle gut für den Einsatz im Unter-richt. Ausgehend von der ersten würt-

tembergischen Eisenbahn von Heilbronnnach Friedrichshafen mit der Abzwei-gung von Bietigheim(-Bissingen) zur ba-dischen Grenze können die Schülerinnenund Schüler den Ausbau des württem-bergischen Eisenbahnnetzes grafisch erfassen. So könnten in verschiedenenFarben die Eisenbahnlinien für die Jahre1850, 1860 und 1880 in eine Karte ein-getragen und mit dem heutigen Netzverglichen werden. Alternativ dazu kannauch eine Kartenreihe angelegt werden.Ferner kann zusätzlich die Zusammen-stellung herangezogen werden, welchedie Hauptstrecken des württembergi-schen Eisenbahnnetzes zeigt – ohne diespäter noch gebauten Nebenstrecken.Anschließend können Schülerinnen undSchüler anhand von Quellen diskutieren,was die Streckenführung für die wirt-schaftliche Entwicklung der jeweiligenRegionen des Landes bedeutete.Ein kritischer Blick auf die heutige Ent-wicklung – Streckenstilllegungen, Aus-bau von Stadtbahnnetzen, zunehmendeUmverteilung des Gütertransports vonder Schiene auf die Straße – können außerdem die ökologischen Aspekteeines öffentlichen Personen- und Güter-verkehrs zur Diskussion gestellt werden.Vielseitige Möglichkeiten ergeben sichauch für Projektarbeit, wenn die wirt-schaftlichen, sozialen aber auch die poli-tischen Folgen des Eisenbahnbaus vor150 Jahren für das Land anhand weitererQuellen untersucht werden. Reichhal-tiges Material dazu findet sich in Heimat-büchern, Presse-, Stadt- und Gemeinde-archiven.

Entwicklung des Eisenbahnnetzes im Königreich Württemberg (1845– 1886)

1845– 1854Heilbronn – Bietigheim – Ludwigsburg – Cannstatt – Esslingen – Göp-pingen – Geislingen – Ulm – Biberach – Ravensburg – Friedrichshafen,Bietigheim – Mühlacker – Bretten – Bruchsal;

1855– 1864Heilbronn – Weinsberg – Öhringen – Schwäbisch Hall,Cannstatt – Waiblingen – Schwäbisch Gmünd – Aalen,Aalen – Nördlingen,Aalen – Heidenheim,Mühlacker – Pforzheim,Plochingen – Nürtingen – Reutlingen – Tübingen – Horb;

1865– 1874Heilbronn – Jagstfeld – Osterburken – Königshofen – Lauda – Würzburg,Wertheim – Tauberbischofsheim – Lauda – Königshofen – Bad Mergent-heim – Weikersheim – Blaufelden – Crailsheim–Aalen,Pforzheim – Wildbad,Pforzheim – Calw – Nagold – Horb – Rottweil – Tuttlingen – Singen,Rottweil – Schwenningen – Villingen,Tübingen – Hechingen – Balingen,Ulm – Ehingen – Riedlingen – Herbertingen – Sigmaringen,Herbertingen – Aulendorf – Kißlegg – Leutkirch – Isny,Calw – Leonberg – Stuttgart,Metzingen – Urach;

1875– 1886Heilbronn – Eppingen – Bretten,Schwäbisch Hall – Crailsheim,Ludwigsburg – Marbach – Backnang,Horb – Böblingen – Stuttgart,Waiblingen – Backnang – Schwäbisch Hall(-Hessental),Heidenheim – Ulm,Balingen – Sigmaringen,Altshausen – Pfullendorf,Kißlegg – Wangen,Horb – Freudenstadt – Schiltach.

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Königliches Landhaus Rosenstein mit Neckarbrücke und Tunnelmündung in(Stuttgart-Bad) Cannstatt, Lithografie vonEberhard Emminger nach einem Gemäldevon Christian Friedrich Leins, um 1845.Vorlage: Stadtarchiv Stuttgart B 7961

1853 von Karl Etzel errichteter Eisenbahn-viadukt über das Enztal bei Bietigheim(-Bissingen), Lithografie von C. Obach nacheiner Zeichnung von O. Keller, 1857.Vorlage: Städtisches Museum LudwigsburgInv. Nr. 357 W 66

Das 1863–1867 von Georg von Morlok undAdolf Wolff erbaute neue Bahnhofsgebäudein Stuttgart, Zeichnung und Holzschnitt vonF. Obermann, koloriert, 1866.Vorlage: Landesarchiv HStAS J 301 a Nr. 22

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Literatur

Ute Feyer: Entwicklung des Eisenbahn-netzes. Historischer Atlas von Baden-Württemberg. Beiwort zur Karte X,4.Stuttgart 1972.

Oscar Fraas:Württembergs Eisenbah-nen mit Land und Leuten an der Bahn.Stuttgart 1880.

Artur Fürst: Die hundertjährige Eisen-bahn. Wie Meisterhände sie schufen.Berlin 1925.

Albert Mühl und Kurt Seidel: DieWürttembergischen Staatseisenbahnen.Stuttgart 1970.

Christhard Schrenk:Mit dem Dampf-ross vom Neckar zum Kocher. 125 JahreEisenbahnlinie Heilbronn–SchwäbischHall (Kleine Schriftenreihe des Archivsder Stadt Heilbronn 18). Heilbronn1987.

Dr. Jur. Supper: Die Entwicklung desEisenbahnwesens im Königreich Würt-temberg. Denkschrift zum 50. Jahrestagder Eröffnung der ersten Eisenbahn-strecke in Württemberg am 22.Oktober1845. Stuttgart 1895.

Fahplan der Strecke Heilbronn–Stuttgart–Geislingen an der Steige ab 1. Oktober 1849.Vorlage: Stadtarchiv Stuttgart

Lokomotive „Esslingen“ aus der MaschinenfabrikEsslingen, 1864.Vorlage: Mercedes-Benz Archives & Collection,Stuttgart, ME 1257