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Leseprobe Nooteboom, Cees Die folgende Geschichte Großdruck Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen © Suhrkamp Verlag suhrkamp taschenbuch 4065 978-3-518-46065-8 Suhrkamp Verlag

Suhrkamp · PDF filestern abend, gnädige Frau, las ich die Charaktere von Theophrast und danach noch ein wenig in den Dionysiaka von Nonnos.« Für einen Augen

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Leseprobe

Nooteboom, Cees

Die folgende Geschichte

Großdruck

Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen

© Suhrkamp Verlag

suhrkamp taschenbuch 4065

978-3-518-46065-8

Suhrkamp Verlag

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suhrkamp taschenbuch 4065

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Wieso wacht Herman Mussert in einem ihm vertrauten Zim-mer in Lissabon auf, obwohl er doch in Amsterdam wohntund sich dort am Abend zuvor zum Schlafen niedergelegt hat?Ein spontaner Entschluß zum Aufbrechen in eine andere Ge-gend kann es nicht gewesen sein, denn dieser Altphilologe, dernicht mehr unterrichtet, ist ein eher Lebensuntüchtiger, einganz seinen griechischen und lateinischen Autoren zugewand-ter Mensch; seine Schüler nannten ihn Sokrates. Träumt er nur,in Lissabon aufzuwachen? Oder ist sein Gang durch Lissaboneine Reise in die Erinnerung, also eine Reise in die Zeit? Dennimmerhin ist dies der Ort einer richtigen Affäre mit einer Kol-legin.

Cees Nooteboom verhindert durch seine meisterhaften er-zählerischen Fähigkeiten, daß wir diese Fragen eindeutig be-antworten können, und steigert so die Spannung. In einemzweiten Teil der Geschichte bricht Mussert – im Traum? in derWirklichkeit? – mit sechs anderen Personen zu einer Schiffs-reise nach Brasilien auf. Alle Reisenden erzählen von ihremLeben. Die Geschichte, die Herman Mussert als letzter erzählt,scheint alle Rätsel zu lösen: er gibt ihr den Titel Die folgende

Geschichte.Cees Nooteboom, geboren 1933 in Den Haag, lebt in Am-

sterdam und auf Menorca. Sein umfangreiches Werk ist inviele Sprachen übersetzt und liegt in den acht Bänden seinerGesammelten Werke im Suhrkamp Verlag vor.

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Cees NooteboomDie folgende Geschichte

Aus dem Niederländischen vonHelga van Beuningenn

Suhrkamp

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Titel der Originalausgabe:Het volgende verhaal

Umschlagillustration:Claude Verlinde. Angoisse d’auteur (Ausschnitt), 1978

© VG Bild-Kunst, Bonn 2009

suhrkamp taschenbuch 4065

Erste Auflage dieser Ausgabe 2009

© Cees Nooteboom 1991

© der deutschen AusgabeSuhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1991

Suhrkamp Taschenbuch VerlagAlle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Satz: TypoForum GmbH, SeelbachDruck: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Printed in GermanyUmschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski

ISBN 978-3-518-46065-8

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Die folgende Geschichte

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Scham sträubt sich dagegen,

metaphysische Intentionen unmittelbar

auszudrücken;

wagte man es, so wäre man

dem jubelnden

Mißverständnis preisgegeben.

Th. W. Adorno,Noten zur Literatur II,

Zur Schlußszene des Faust

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I

Meine eigene Person hat mich nie sonderlich inter-essiert, doch das hieß nicht, daß ich auf Wunscheinfach hätte aufhören können, über mich nach-zudenken – leider nicht. Und an jenem Morgenhatte ich etwas zum Nachdenken, soviel ist sicher.Ein anderer würde es vielleicht als eine Sache vonLeben und Tod bezeichnen, doch derlei großeWorte kommen mir nicht über die Lippen, nichteinmal, wenn niemand zugegen ist, wie damals.

Ich war mit dem lächerlichen Gefühl wach ge-worden, ich sei vielleicht tot, doch ob ich nun wirk-lich tot war oder tot gewesen war, oder nichts vonalledem, konnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht fest-stellen. Der Tod, so hatte ich gelernt, war nichts,und wenn man tot war, auch das hatte ich gelernt,dann hörte jegliches Nachdenken auf. Das alsotraf nicht zu, denn sie waren noch da, Überlegun-gen, Gedanken, Erinnerungen. Und ich war nochda, wenig später sollte sich sogar herausstellen, daßich gehen konnte, sehen, essen (den süßen Ge-schmack dieser aus Muttermilch und Honig zube-

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reiteten Teigklöße, die die Portugiesen zum Früh-stück essen, hatte ich noch Stunden danach imMund). Ich konnte sogar mit richtigem Geld be-zahlen. Und dieser Umstand war für mich derüberzeugendste. Man wacht in einem Zimmer auf,in dem man nicht eingeschlafen ist, die eigeneBrieftasche liegt, wie sich das gehört, auf einemStuhl neben dem Bett. Daß ich in Portugal war,wußte ich bereits, wenngleich ich am Abend zuvorwie üblich in Amsterdam zu Bett gegangen war,aber daß sich portugiesisches Geld in meinerBrieftasche befinden würde, das hätte ich nichterwartet. Das Zimmer selbst hatte ich auf Anhieberkannt. Hier hatte sich schließlich eine der be-deutsamsten Episoden meines Lebens abgespielt,sofern in meinem Leben von derlei überhaupt dieRede sein konnte.

Doch ich schweife ab. Aus meiner Zeit als Leh-rer weiß ich, daß man alles mindestens zweimalerzählen muß und damit die Möglichkeit eröff-nen, daß Ordnung sich einstellt, wo Chaos zu herr-schen scheint. Ich kehre also zur ersten Stundejenes Morgens zurück, dem Augenblick, in demich die Augen, die ich demnach noch besaß, auf-schlug. »Wir werden spüren, wie es durch die Rit-

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zen des Kausalgebäudes zieht«, hat jemand gesagt.Nun, an jenem Morgen zog es bei mir ganz ge-hörig, auch wenn mein Blick als erstes auf eineDecke mit mehreren äußerst stabilen, parallel zu-einander verlaufenden Balken fiel, eine Konstruk-tion, die durch ihre funktionale Klarheit den Ein-druck von Ruhe und Sicherheit erweckt, etwas,was jedes menschliche Wesen, und mag es nochso ausgeglichen sein, braucht, wenn es aus demdunklen Reich des Schlafes zurückkehrt. Funktio-nal waren diese Balken, weil sie mit ihrer Kraftdas darüber liegende Stockwerk stützten, und klarwar die Konstruktion wegen der völlig gleichblei-benden Abstände zwischen den Balken. Das hättemich folglich beruhigen müssen, doch davon warkeine Rede. Zum einen waren es nicht meine Bal-ken, und zum anderen war von oben jenes fürmich, in diesem Zimmer, so schmerzliche Ge-räusch menschlicher Lust zu hören. Es gab nurzwei Möglichkeiten: entweder war es nicht meinZimmer, oder es war nicht ich, und in diesem Fallwaren es auch nicht meine Augen und Ohren,denn diese Balken waren nicht nur schmaler alsdie meines Schlafzimmers an der Keizersgracht,sondern dort wohnte auch niemand über mir, der

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mich mit seiner – oder ihrer – unsichtbaren Lei-denschaft belästigen konnte. Ich blieb ganz stillliegen, und sei es nur, um mich an den Gedankenzu gewöhnen, meine Augen seien möglicherweisenicht meine Augen, was natürlich eine umständ-liche Art und Weise ist, zu sagen, daß ich toten-still dalag, weil ich tödliche Angst hatte, ich seijemand anders. Dies ist das erste Mal, daß ich es zuerzählen versuche, und es fällt mir nicht leicht. Ichwagte nicht, mich zu bewegen, denn wenn ichjemand anders war, dann wußte ich nicht, wie dasvor sich gehen sollte. So ungefähr. Meine Augen,so nannte ich sie fürs erste weiter, sahen die Bal-ken, die nicht meine Balken waren, und meineOhren oder die jenes möglichen anderen hörten,wie das erotische Crescendo über mir mit der Si-rene eines Krankenwagens draußen verschmolz,der auch nicht die richtigen Töne von sich gab.

Ich befühlte meine Augen und merkte, daß ichsie dabei schloß. Die eigenen Augen wirklich be-fühlen ist nicht möglich, man schiebt immer erstden Schutz davor, der dafür gedacht ist, nur: dannkann man natürlich nicht die Hand sehen, die die-se verschleierten Augen befühlt. Kugeln, das fühl-te ich. Wenn man sich traut, kann man sogar vor-

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sichtig hineinkneifen. Ich schäme mich, zugebenzu müssen, daß ich nach all den vielen Jahren, dieich auf der Welt bin, noch immer nicht weiß, wor-aus ein Auge eigentlich besteht. Hornhaut, Netz-haut sowie Iris und Linse, aus denen in jedemKryptogramm eine Blume und eine Hülsenfruchtwird, die kannte ich, aber das eigentliche Zeug,diese zähe Masse aus erstarrtem Gelee, die hat mirimmer Angst eingejagt. Ich wurde unweigerlichausgelacht, wenn ich von Gelee sprach, und dochsagt der Herzog von Cornwall, als er in King Lear

dem Grafen von Gloucester die Augen ausreißt:out ! vile jelly !, und genau daran mußte ich denken,als ich in diese nichtssehenden Kugeln kniff, diemeine Augen waren oder nicht waren.

Lange Zeit blieb ich so liegen und versuchte,mich an den vergangenen Abend zu erinnern. Esist nichts Aufregendes an den Abenden eines Jung-gesellen, wie ich einer bin, sofern ich zumindestderjenige war, um den es hier ging. Manchmal siehtman das, einen Hund, der sich in den eigenenSchwanz zu beißen versucht. Dann entsteht eineArt hündischer Wirbelwind, der erst aufhört, wennaus diesem Sturm der Hund als Hund hervortritt.Leere, das ist es, was man dann in diesen Hunde-

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augen sieht, und Leere war es, was ich in jenemfremden Bett empfand. Denn angenommen, daßich nicht ich war und folglich jemand anders (nie-mand zu sein, dachte ich, würde zu weit gehen),dann würde ich bei den Erinnerungen jenes ande-ren doch denken müssen, daß es meine Erinnerun-gen seien, schließlich sagt jeder »meine« Erinne-rungen, wenn er seine Erinnerungen meint.

Selbstbeherrschung habe ich leider immer be-sessen, sonst hätte ich vielleicht geschrien, und werdieser andere auch war, er verfügte über dieselbeEigenschaft und verhielt sich still. Kurz und gut,derjenige, der da lag, beschloß, sich nicht um seineoder meine Spekulationen zu kümmern, sondernsich an die Arbeit des Erinnerns zu machen, undda er, wer immer er auch war, ich zu sich selbstsagte in jenem Lissabonner Zimmer, das ich natür-lich verdammt gut wiedererkannte, erinnerte ichmich an folgendes, den Abend eines Junggesellenin Amsterdam, der sich etwas zu essen macht, wasin meinem Fall auf das Öffnen einer Dose weißerBohnen hinausläuft. »Am liebsten würdest du sieauch noch kalt aus der Dose essen«, hat eine alteFreundin einmal gesagt, und da ist etwas dran. DerGeschmack ist unvergleichlich. Nun muß ich na-

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türlich alles Mögliche erklären, was ich tue undwas ich bin, doch damit warten wir vielleicht nochetwas. Nur soviel – ich bin Altphilologe, ehemali-ger Studienrat für alte Sprachen, oder, wie meineSchüler es ausdrückten, alter Studienrat für Spra-chen. Dreißig oder so muß ich damals gewesensein. Meine Wohnung ist voll von Büchern, die mirerlauben, zwischen ihnen zu leben. Das ist also dieKulisse, und der Hauptdarsteller gestern abendwar: ein ziemlich kleiner Mann mit rötlichem Haar,das jetzt weiß zu werden droht, zumindest wennes die Chance dazu noch bekommt. Ich benehmemich anscheinend wie ein englischer Stubenge-lehrter aus dem vorigen Jahrhundert, ich wohne ineinem alten Chesterfield, auf dem ein uralter Per-ser liegt, damit man die hervorquellenden Ein-geweide nicht zu sehen braucht, und lese untereiner hohen Stehlampe direkt vorm Fenster. Ichlese immer. Meine Nachbarn auf der gegenüber-liegenden Seite der Gracht haben mal gesagt, sieseien immer froh, wenn ich wieder im Lande sei,weil sie mich als eine Art Leuchtturm betrachten.Die Frau hat mir sogar anvertraut, daß sie manch-mal mit einem Fernglas zu mir hinüberschaut.»Wenn ich dann nach einer Stunde wieder schaue,

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sitzen Sie noch genauso da, manchmal denke ich,Sie sind tot.«

»Was Sie als Tod bezeichnen, ist in Wirklich-keit Konzentration, gnädige Frau«, sagte ich, dennich bin ein Meister im abrupten Beenden uner-wünschter Unterhaltungen. Doch sie wollte wis-sen, was ich so alles läse. Das sind wunderbareMomente, denn dieses Gespräch fand in unsererEckkneipe De Klepel statt, und ich habe eine kräf-tige, manche sagen sogar aggressive Stimme. »Ge-stern abend, gnädige Frau, las ich die Charaktere

von Theophrast und danach noch ein wenig inden Dionysiaka von Nonnos.« Für einen Augen-blick wird es dann still in einer solchen Kneipe,und man läßt mich künftig in Frieden.

Doch jetzt geht es um ein anderes Gestern-abend. Ich war, von fünf Genevern beflügelt, nachHause geschwebt und hatte meine drei Dosengeöffnet: Campbell’s Mock Turtle, Heinz’ weißeBohnen in Tomatensoße und Heinz’ Frankfurter.Das Gefühl beim Dosenöffnen, das leise »Tok«,wenn man den Öffner ins Blech drückt und schonetwas vom Inhalt riechen kann, und dann dasSchneiden selbst entlang dem runden Rand unddas unbeschreibliche Geräusch, das dazugehört –

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es ist eine der sinnlichsten Erfahrungen, die ichkenne, wenngleich das in meinem Fall natürlichnicht viel besagen will. Ich esse auf einem Kü-chenstuhl am Küchentisch, gegenüber der Repro-duktion eines Bildes, das Prithinos im sechstenJahrhundert vor Christus (der so anmaßend war,auch die Jahrhunderte vor sich in Beschlag zu neh-men) auf den Boden einer Schale gemalt hat, Pe-leus im Kampf mit Thetis. Ich habe stets eineSchwäche für die Nereide Thetis gehabt, nichtnur, weil sie die Mutter von Achilles war, sondernvor allem, weil sie als Kind der Götter den sterb-lichen Peleus nicht heiraten wollte. Recht hatte sie.Wenn man selbst unsterblich ist, muß der Ge-stank, der sterbliche Wesen umgibt, unerträglichsein. Sie versuchte alles mögliche, um diesem künf-tig Toten zu entrinnen, verwandelte sich nach-einander in Feuer, Wasser, einen Löwen und eineSchlange. Das ist der Unterschied zwischen Göt-tern und Menschen. Götter können sich selbstverwandeln, Menschen können nur verwandeltwerden. Ich liebe meine Schale, die beiden Kämp-fenden sehen sich nicht an, man sieht von bei-den nur ein Auge, ein quergestelltes Loch, das nir-gendwohin gerichtet zu sein scheint. Der wütende

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Löwe steht neben ihrer aberwitzig langen Hand,die Schlange windet sich um Peleus’ Knöchel, undgleichzeitig scheint alles stillzustehen, es ist ein to-tenstiller Kampf. Ich betrachte ihn die ganze Zeit,während ich esse, denn ich erlaube mir nicht, beimEssen zu lesen. Und ich genieße, auch wenn nie-mand das glaubt. Katzen essen auch jeden Tag dasgleiche, ebenso die Löwen im Zoo, und ich habenoch nie eine Beschwerde von ihnen gehört. Pic-calilli auf die Bohnen, Mostert auf die Frankfur-ter – apropos, das erinnert mich daran, daß ichMussert* heiße. Herman Mussert. Nicht schön,Mostert wäre mir lieber gewesen, aber das läßtsich nicht ändern. Und meine Stimme ist lautgenug, jedes blöde Gelächter im Keim zu erstik-ken.

Nach meinem Mahl habe ich abgewaschen undmich dann mit einer Tasse Nescafe in den Sesselgesetzt. Lampe an, jetzt finden die Nachbarn ih-ren Heimathafen wieder. Erst habe ich ein wenigTacitus gelesen, um den Genever kleinzukriegen.Das klappt immer, darauf kann man Gift nehmen.Eine Sprache wie polierter Marmor, das vertreibtdie bösen Dünste. Danach habe ich etwas überJava gelesen, denn seit meiner Entlassung aus dem

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Schuldienst schreibe ich Reiseführer, eine schwach-sinnige Tätigkeit, mit der ich mein Brot verdiene,aber längst nicht so stupide wie all diese sogenann-ten literarischen Reiseschriftsteller, die ihre kost-bare Seele unbedingt über die Landschaften derganzen Welt ergießen müssen, um brave Bürger insprachloses Erstaunen zu versetzen. Als nächsteslas ich das Handelsblad, in dem genau eine Sachestand, die sich auszuschneiden und mit ins Bett zunehmen lohnte, und das war ein Foto. Der Restwar niederländische Politik, und man muß schonan Hirnerweichung leiden, um sich damit zubefassen. Dann noch einen Artikel über die Schul-denlast – die habe ich selbst – und über Korrup-tion in der Dritten Welt, doch das hatte ich geradeviel besser bei Tacitus gelesen, bitte sehr: Buch II,Kapitel LXXXVI, über Primus Antonius (tempore

Neronis falsi damnatus). Heutzutage kann niemandmehr schreiben, ich auch nicht, aber ich will esauch nicht, wenngleich jeder vierte Niederländereinen Reiseführer von Dr. Strabo (Mussert fandder Verleger unmöglich) im Haus hat. »Nachdemwir den schönen Garten des Saihoji-Tempels ver-lassen haben, kehren wir zu unserem Ausgangs-punkt zurück . . .« In dem Stil, und dann noch zum

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größten Teil abgeschrieben, wie alle Kochbücherund Reiseführer. Der Mensch muß leben, aberwenn ich nächstes Jahr meine Pension bekomme,ist Schluß damit, dann arbeite ich an meiner Ovid-Übersetzung weiter. »Und von Achill, einst sogroß, bleibt nur eine karge Handvoll«, so weitwar ich gestern abend gekommen. Metamorphosen,Buch XII, um genau zu sein, und dann wurdenmeine Augenlider schwer. Das Versmaß stimmtenicht, und nie, das war mir klar, nie würde ichdie geschliffene Einfachheit von »et de tam magno

restat Achille nescio quid parvum, quod non bene com-

pleat urnam« erreichen, gerade genug, um eine Ur-ne zu füllen . . . Nie wird es wieder eine Sprachewie Latein geben, nie mehr werden Präzision undSchönheit und Ausdruck eine solche Einheit bil-den. Unsere Sprachen haben allesamt zu viele Wör-ter, man sehe sich nur die zweisprachigen Ausga-ben an, links die wenigen, gemessenen Worte, diegemeißelten Zeilen, rechts die volle Seite, der Ver-kehrsstau, das Wortgedränge, das unübersichtlicheGebrabbel. Niemand wird meine Übersetzung jesehen, wenn ich ein Grab bekäme, nähme ich siemit. Ich will nicht zu den anderen Pfuscherngehören.

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