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Suhrkamp Verlag Leseprobe Calasso, Roberto Der Himmlische Jäger Aus dem Italienischen von Reimar Klein und Marianne Schneider © Suhrkamp Verlag 978-3-518-42913-6

Suhrkamp Verlag · Für die von Cheiron erzogenen Heroen war die Jagd das ersteElementderpaideía.Dochdiese»Erziehung«,dieseers-te Probe der aretē´, jener »Vortrefflichkeit«,

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  • Suhrkamp VerlagLeseprobe

    Calasso, RobertoDer Himmlische Jäger

    Aus dem Italienischen von Reimar Klein und Marianne Schneider

    © Suhrkamp Verlag978-3-518-42913-6

  • SV

  • Roberto Calasso

    Der Himmlische Jäger

    Aus dem Italienischen vonReimar Klein und Marianne Schneider

    Suhrkamp

  • Titel der Originalausgabe: Il Cacciatore Celeste© Adelphi edizioni s.p. a. Milano

    Kapitel I-XII übersetzte Reimar Klein, Kapitel XIII und XIVMarianne Schneider.

    Erste Auflage © Suhrkamp Verlag Berlin

    Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vor-trags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen,

    auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie,Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmi-gung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektro-nischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

    Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH,WaldbüttelbrunnDruck: Friedrich Pustet, Regensburg

    Printed in GermanyISBN ----

  • Inhalt

    I Zur Zeit des Großen Raben II Die Herrin der Tiere III Der Speer mit der goldenen Spitze IV Die kurze Zeit der Heroen V Weise und Räuber VI Zeus’ letzte Nacht auf der Erde VII Schaum bin ich gewesen VIII Nächtliche Versammlung IX Die Nacht der Hermenverstümmler X Der Betrachtende XI Statuen XII O Ägypten, Ägypten … XIII Das Göttliche vor den Göttern XIV Die Rückkehr nach Eleusis

    Quellen Register

  • Was ist Gott oder nicht Gott oder das dazwischen?Euripides, Helena

  • IZur Zeit des Großen Raben

  • Zur Zeit des Großen Raben war auch das Unsichtbare sicht-bar. Und verwandelte sich unablässig. Die Tiere waren da-mals nicht unbedingt Tiere. Es konnte geschehen, dass sie Tie-re waren, aber auchMenschen,Götter,Herren einer Spezies,Dämonen,Vorfahren.Und sowaren auch dieMenschennichtunbedingt Menschen, sondern konnten auch die vorüberge-hende Form von etwas anderem sein. Es gab keine Mittel,um zu erkennen, wer erschien. Man musste ihn schon ken-nen, wie man einen Freund oder einen Gegner kennt. Allesgeschah, von den Spinnen bis zu den Toten, innerhalb eineseinzigen Flusses von Formen. Es war das Reich der Meta-morphose.

    Die Veränderung kannte keinen Stillstand –wie es späternur in der Höhle des Geistes der Fall war. Dinge,Tiere,Men-schen: niemals klare, stets provisorische Unterscheidungen.Als sich ein großer Teil des Existierenden ins Unsichtbare zu-rückzog, hörte er deshalb doch nicht auf zu geschehen. Aberman konnte leichter denken, er geschehe nicht.Wie konnte das Unsichtbare wieder sichtbar werden? In-

    dem es die Trommel belebte. Dieses gespannte Fell einestoten Tieres war das Reittier, war die Reise, der goldeneWir-bel. Es führte dorthin, wo die Gräser brüllen, wo die Binsenstöhnen, wo nicht einmal eine Nadel in die Dichte des Grauseindringen könnte.

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  • Als die Jagd aufkam, war da nicht ein Mensch, der ein Tierverfolgte. Da war ein Lebewesen, das ein anderes Lebewesenverfolgte. Niemand hätte mit Sicherheit sagen können, werder eine und wer der andere war. Das verfolgte Tier konnteein verwandelter Mensch oder ein Gott oder einfach einTier oder ein Geist oder ein Toter sein. Und eines Tages füg-ten die Menschen ihren vielen Erfindungen eine weitere hin-zu: Sie begannen sich mit Tieren zu umgeben, die sich denMenschen anpassten, während es unendlich lange die Men-schen gewesenwaren, die die Tiere nachahmten. Sie wurdensesshaft – und schon etwas weniger lebhaft.

    Warum zögertman so lange, eheman die Jagd auf den Bärenbeginnt?Weil der Bär auch einMensch sein könnte.Vorsichtwar geboten beim Sprechen, denn der Bär konnte alles hö-ren, was man über ihn sagte, so weit man auch entfernt war.Auch wenn er sich in seine Höhle zurückzog, auch wenn erschlief, verfolgte er weiter die Ereignisse der Welt. »Die Erdeist das Ohr des Bären«, hieß es.Wenn man zusammenkam,um sich zur Jagd zu verabreden, wurde der Bär nie genannt.Ja, er wurde überhaupt, wenn von ihm die Rede war, niebeim Namen genannt: Er war »der Alte«, »der Schwarze Al-te«, »der Großvater«, »der Cousin«, »der Ehrwürdige«, »dasSchwarze Tier«, »der Onkel«.Wer sich auf die Jagd vorberei-tete, tat den Mund nicht auf.Vorsichtig, konzentriert, wuss-ten sie, dass der geringste Laut genügen würde, das Unterneh-men scheitern zu lassen.Wenn der Bär unerwartet im Waldauftaucht, ist es ratsam, beiseitezutreten, den Kopf zu ent-blößen und zu sagen: »Geh deiner Wege, Ehrenwertester.«Oder aber man versucht ihn zu töten. Alles am Bären ist

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  • wertvoll. Sein Körper ist ein Heilmittel.Wenn es ihnen ge-lang, ihn zu erlegen, machten sie sich schnellstens aus demStaub. Dann erschienen sie wie zufällig wieder an derselbenStelle, als wären sie auf einem Spaziergang. Und entdecktenzu ihrer großenVerwunderung, dass Unbekannte den Bärengetötet hatten.

    Das erste göttliche Wesen, dessen Namenman nicht aus-sprechen durfte, war der Bär. Darin war der Monotheismuskeine Neuerung, sondern eine Wiederaufnahme, eine Ver-schärfung. Neu war das Bilderverbot.

    Sie sprachenmit demBären, ehe sie auf ihn losgingen – odergleich danach –, wohl wissend, dass der Bär jedes Wort ver-stand. »Wir sind es nicht gewesen«, sagten einige. Sie dank-ten demBären, weil er sich töten ließ. Oft entschuldigten siesich. Einige gingen so weit zu sagen: »Ich bin arm, darummache ich Jagd auf dich.« Einige sangen, während sie denBären töteten, sodass der Bär im Sterben sagen konnte:»Mir gefällt dieses Lied.«

    Sie hängten den Schädel des Bären zwischen die Ästeeines Baumes, manchmal mit Tabak zwischen den Zähnen.Manchmal mit roten Streifen verziert. Sie hängten Bänderan ihn, packten die Knochen in ein Bündel und hängten siean einen anderen Baum. Wenn ein Knochen verlorenging,gab der Geist des Bären dem Jäger die Schuld. Die Nase lan-dete an irgendeinem geheimen Ort in den Wäldern.

    Wenn sie ein Bärenjunges fingen, steckten sie es in einen Kä-fig. Oft gab die Frau des Jägers ihm von ihrer Muttermilch.So wuchs es heran, bis eines Tages, nach der Öffnung des

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  • Käfigs, »das liebe kleine göttlicheWesen« zu dem Fest einge-laden wurde, auf dem es geopfert werden sollte. Alle tanztenunter Händeklatschen um den Bären. Die Frau, die ihnmit ihrerMilch genährt hatte, weinte. Dann richtete ein Jä-ger ein paarWorte an denBären: »OduGöttlicher, du bist indieWelt geschickt worden, damit wir dich jagen. O du teurekleineGottheit, wir verehren dich; hör unser Gebet.Wir ha-ben dich genährt und wir haben dich aufgezogen mit vielerMühe, da wir dich lieben. Jetzt, wo du groß geworden bist,schicken wir dich zu deinemVater und deinerMutter.Wenndu zu ihnen kommst, sprich gut vonuns und sage ihnen, wiefreundlich wir gewesen sind; bitte, kommwieder zu uns, wirwerden dich dann opfern.« Dann töteten sie ihn.

    Das älteste Denken, dasjenige, das zum erstenMal nicht dasBedürfnis verspürte, als Erzählung aufzutreten, zeigte sichin der Form der Aphorismen über die Jagd.Wie ein Flüstern,zwischen Zelten und Feuern, wie Kinderreime sind sie wei-tergegeben worden:

    »Das Wild ist den Menschen ähnlich, nur ist es heiliger.«

    »Die Jagd ist etwas Reines. Das Wild liebt die reinen Men-schen.«

    »Wie könnte ich auf die Jagd gehen, wenn ich vorher nichtzeichnete?«

    »Die größte Gefahr im Leben ist, dass die Speise der Men-schen ganz aus Seelen besteht.«

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  • »Die Seele des Bären ist ein Bär in klein, der sich in seinemKopf befindet.«

    »Der Bär könnte sprechen, doch vermeidet er es lieber.«

    »Wer mit dem Bären spricht und ihn beim Namen nennt,macht, dass er freundlich und ungefährlich wird.«

    »Ein Stümper, der opfert, fängt mehr Wild als ein tüchtigerJäger, der nicht opfert.«

    »Die Tiere, die man jagt, sind wie Frauen, die kokettieren.«

    »Die Weibchen der Tiere verführen die Jäger.«

    »Jede Jagd ist Jagd auf Seelen.«

    AmAnfangwar nicht einmal klar, wozu die Jagd diente.Wieein Schauspieler auf der Bühne, der sich in eine Figur hin-einzuversetzen sucht, probierten sie, Raubtiere zu werden.Bestimmte Tiere aber konnten schneller laufen. Andere wa-ren imposant und vorsichtig. UndTöten, was war das eigent-lich? Kaum etwas anderes als sich töten.Wenn der MenschzumBärenwurde, erschlug er, wenn er ihn tötete, sich selbst.Und noch dunkler war die Beziehung zwischen Töten undEssen.Wer isst, lässt etwas verschwinden. Das war sogar nochgeheimnisvoller als das Töten.Wohin verschwindet das, wasverschwindet? Im Unsichtbaren. Das am Ende von Anwe-sendem wimmelt. Es gibt nichts Belebteres als die Abwesen-heit. Was war also zu tun im Hinblick auf all jene Wesen?

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  • Vielleicht sollte man ihnen den Übergang in die Abwesen-heit erleichtern und sie auf einem Abschnitt ihrer Reise be-gleiten. Die Tötung war wie ein Gruß. Und wie jede Begrü-ßung verlangte sie bestimmte Gesten, bestimmteWorte. Siebegannen, Opfer zu zelebrieren.

    Am Anfang ist die Jagd eine unumgängliche Handlung, amEnde ein willkürlicher Akt. Sie bildet eine Folge von rituel-len Praktiken aus, die dem Akt (der Tötung) vorausgehenund auf ihn folgen. Der Akt kann zeitlich eingekreist wer-den, mehr nicht, so wie die Beute imRaum. Aber der Verlaufder Jagd selber ist unnennbar und unbeherrschbar, wie derKoitus. Man weiß nicht, was zwischen dem Jäger und derBeute geschieht, wenn sie aneinandergeraten. Gewiss ist al-lerdings, dass der Jäger vor der Jagd Demutsgesten vollzieht.Und nach der Jagd fühlt er das Bedürfnis, sich von einerSchuld zu befreien. Er nimmt das getötete Tier wie einenvornehmenGast in seineHütte auf.Vor dem soeben erschla-genen Bärenmurmelt er ein zuckersüßes, schwindelerregen-des Gebet: »Erlaube mir auch in Zukunft, dass ich dichtöte.«

    Die Beute verlangt die Fokussierung: den Blick, der isoliertund das Gesichtsfeld auf einen Punkt zusammenzieht. Es isteine Erkenntnis, die durch aufeinanderfolgende Zäsuren – in-dem sie Gestalten aus einemHintergrund heraushebt – fort-schreitet. Sie umgrenzt sie und isoliert sie so als Ziel. Ja, dasHerauslösen selbst ist schon der Schlag, der sie trifft. An-dernfalls kommt es zu keiner Gestalt. Die Mythen sind je-weils ein Sichüberlagern von ausgeschnittenen Profilen.Wenn

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  • diese Art der Erkenntnis ins Extrem getrieben wird und dieProfile sich häufen, schließt sich das Gewebe des Hinter-grunds, dem sie entrissen wurden, wieder zusammen. Dasist die Erkenntnis des Jägers.

    Bei der Viehzucht und beimAckerbau war das Tier nur Tier,für immer vom Menschen getrennt. Für die Jäger dagegenwar das Tier noch ein anderes Wesen, weder Tier nochMensch, vonWesen gejagt, die weder Tiere nochMenschenwaren. Als es zu jenem Ereignis kam, welches das Ereignisaller Geschichte vor der Geschichte war, als die Trennungvon etwas, was Tier heißen würde, durch etwas, wasMenschheißen würde, vollzogen wurde, konnte niemand sich vor-stellen, dass die Weisheit – die alte und die neue Weisheit –sich bei jemandem finden ließe, der nicht an den beiden For-men des Lebens teilhatte. Inmitten der Höhlen undWälderdes Pelions wurde der Kentaur Cheiron zurQuelle derWeis-heit, derjenige, der besser als jeder andere die Gerechtigkeit,die Astronomie, die Heilkunst und die Jagd lehren konnte.Und das war fast alles, was es damals zu lehren gab.

    Für die von Cheiron erzogenen Heroen war die Jagd daserste Element der paideía. Doch diese »Erziehung«, diese ers-te Probe der aretḗ, jener »Vortrefflichkeit«, die dann so oftbeschworen werden sollte, fand von Anfang bis Ende außer-halb der Grenzen der Gesellschaft statt. Und sie war nichtnützlich. Die Jagd, die dieHeroen ausübten, diente nicht da-zu, die Gemeinschaft zu ernähren. Sie war eine blutige undeinsame Übung, die keinen anderen Zweck verfolgte. Bei derJagd wendet sich das Tier gegen sich und versucht, sich zutöten. Ehe sie zuHelden so vieler Verwandlungsgeschichten

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  • wurden, waren die großen Jäger selbst das Ergebnis einerVerwandlung. Ehe Apollo denWolf oder die Mäuse tötete,war er Wolf oder Maus. Ehe Artemis die Bärinnen tötete,war sie Bärin gewesen. Das Pathos der Jagd, die Komplizitätzwischen Jäger und Beute geht auf denUrsprung zurück, alsder Jäger selber das Tier war, als Apollo der General einesMäuseheeres und der Anführer eines Wolfsrudels war. DasFundament der Jagd war eine Entdeckung der Logik: dasWirken der Negation. Diese grundlegende und berauschen-de Entdeckungmusste immer wieder neu erprobt und bestä-tigt werden. Parallel zum pulsierenden Leben der Stadt warin den Bergen ein anderes Leben zu Hause. Unermüdlichsetzten Apollo und Artemis, und auch Dionysos, ihre einsa-me Jagd fort. Die Energie, die von ihren Taten ausging, wardas notwendige Ungenannte, der verborgene Rahmen hin-ter demTauschverkehr desMarktes, der Ruhe der Familien,derMühe auf den Feldern. Nichts von all dem, was das städ-tische Leben ausmachte, hätte bestehen können ohne dieseStreifzüge, dieseHinterhalte in den Bergen, ohne diese abge-schnellten Pfeile und dieses Blut. Man könnte meinen, dassdie Gesellschaft sich ohne dieses parallele und unnütze, um-herschweifende Leben der in denWäldern versprengten Jäger-Götter nie als genügend lebendig, vielleicht auch nicht alsgenügend real, empfunden hat.Wie das Gebet des Mönchs,so hielt der stille Lauf der Jäger-Götter die Mauern, die dieStadt umschlossen, aufrecht: Ja, es war dieser Lauf, dersie umschloss, als ob er ständig um sie kreiste.

    Die Menschen wurden auf der Jagd zu metaphysischen Tie-ren. Der Ackerbau hätte dem Denken nur ein wesentliches

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  • Element hinzugefügt: den Rhythmus, denWechsel von Blü-hen undWelken.Viel hätte er dagegen zu demGewicht bei-getragen,mit dem die Gesellschaft auf demMenschen lastet.Die großen Städte sind Erben jener Orte, wo zum erstenMal in hohen Krügen Lebensmittelvorräte aufbewahrt wur-den. Die Jäger konnten von den Vorräten nichts wissen. Siehatten weder Inventare noch Annalen.

    In Rocky Hill, im Zentrum Kaliforniens, stand der Paläo-anthropologe Jean Clottes vor einer Felsenwand, die mit Ma-lereien geschmückt war. Sein Führer war Hector, ein Yokut-Indianer, der Wächter des Ortes. Clottes konzentrierte sichauf eine Figur, die ihm wie ein Schamane mit seiner Trom-mel vorkam. »Es ist ein Bär«, sagte Hector. Überrascht erwi-derte der Paläoanthropologe: »Ich hätte geglaubt, dass essich um einen Menschen handelt.« »Das ist dasselbe«, sagteHector – und schwieg.

    Eines der Signale der Trennung vom Tier war die Verklei-dung einer Bande vonMenschen in einWolfsrudel: Endlichwar man austauschbar, gleich, wie die Speichen eines Rades.Es war ein doppelter und gleichzeitiger Rausch: der des ge-jagten Tieres, das sich in ein Raubtier verwandelt – einRausch der Stärke und der Verwandlung, die freilich imUmkreis der Tiere verblieb; und der Rausch des Lebewe-sens, das das Gleiche, die Ersetzung, die Äquivalenz ent-deckt – ein Rausch des Erkennens, der keinen sichtbarenAusdruck findet, sondern eine Zäsur setzt, hinter die mandann nicht mehr zurückkann. Die ersten Gleichen warendieWölfe und die Toten. Jenes Rudel von Lebewesen, deren

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  • jedes wie eine Verdopplung des anderen erschien, vollzogeinen entscheidenden Schritt hin zur Abstraktion: Von daan wurde der Welt der Stempel der Identität aufgedrückt.Als unsichtbares Banner schwebte sie über ihnen – Bannereines Imperiums, das sich in einer multiplen, umherschwei-fenden, allgegenwärtigen Gestalt offenbarte.

    Der erste Kunstgriff, um sich aus der tierischen Kontinui-tät zu lösen, ist die Maske, die Verkleidung. Jenes Wolfsru-del, das denWald durchstreifte, bestand aus den erstenMen-schen, den Ersten, die sich so unwiderruflich als Menschenfühlten, dass sie sich als Wölfe verkleiden wollten. Als derMensch ein bloßer Menschen geworden war, konnte ihn einletzter Vorhang vor der Welt verbergen: eine Maske aus Sei-de oder Samt, die den Mund freiließ. Auf Französisch heißtsie loup – denn bei bestimmten Wölfen trägt die Schnauzedie Zeichnung einer Maske, als wollten sie den Menschenauffordern, sie nachzuahmen, indem er sich als Wolf mas-kiert.

    Ohne Trommel gibt es keinen Schamanen. Doch nur derSchamane kann die Trommel beleben. Anfänglich ist dieTrommel nackt, ein in einen Holzring eingespanntes Tier-fell. Mit der Zeit kommenMetallteile hinzu, kleine Figuren,die angehängt werden und Resonanz erzeugen. Sie wird im-mer mehr mit Schmuck überladen. Der hölzerne Teil wirdaus einemBirken- oder Lärchenstammgeschnitten.DieMe-tallteile sollten, wenn möglich, alt sein. Noch besser ist es,wenn sie von anderen Schamanen stammen. Der erste Tonder Trommel ähnelt dem Summen einer Wolke von Insek-ten und einem fernen Donnergrollen.Wenn sie sich belebt,

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  • wird sie ein Pferd, dann ein Adler. Wenn zwei Schamanensich schlagen, tropft aus der Trommel des Besiegten Blut.Beim Tod eines Schamanen hängen sie seine Trommel andie Zweige des nächsten Baumes.

    Der Schamane war gezwungen, in einer Welt zu agieren,zu der die anderen keinen Zugang hatten.Wenn er sich dortmit einem anderen Schamanen schlug, rief er Scharen vonGeistern zu Hilfe. Er hatte einen glühenden Blick, den eroft hinter den Fransen seiner Mütze versteckte.Was der Bo-gen für den Jäger, das war die Trommel für den Schamanen.Der Bogen erlaubte es dem Jäger, sich in ein Tier zu verwan-deln, das blitzschnell aufspringt und tödlich zubeißt. DieTrommel war der See, in dem der Schamane versank, umin eine Welt einzutreten, die die anderen nicht sehen konn-ten. Als Erstes galt es, den Stamm wiederzufinden, aus demder Ring der Trommel herausgeschnitten worden war. Undder Schamane belebte die Trommel, indem er die Geschich-te dieses Baumes erzählte. Auch das Fell der Trommelsprach. Es erzählte, wie es gelebt hatte, bis ein Jäger es durch-bohrt hatte. Die Trommel ist der Baumund das Tier, die ge-tötet wurden. Der Schamane wurde dieser Baumund diesesTier. An diesem Punkt begann die Trommel den Schama-nen zu führen. Sie war eine Feder, ein Reittier. Der Schama-ne klammerte sich an die Trommel wie an die Mähne einesPferdes.

    DreiWelten gibt es, und dieMenschen leben normalerweisein der mittleren. Die Schamanen dagegen in allen dreien.Manchmal ragen sie mit dem Kopf in eine Welt hinein, ha-ben aber die Füße in einer anderen. In allen dreiWelten gibt

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  • es die gleiche Menge Leben, Gras, Wild und Blätter. DieGeister sindmanchmal kleiner alsMücken. AndereMale se-hen sie aus der Ferne wie Gebirge aus.

    Um zu jagen, musste man zuerst einmal nachahmen. DenRebhuhn-, Bären-, Leoparden-, Kranich- und Zobelschritttanzen. Um ein Raubtier zu werden, musste man sich in dieGesten des Raubtiers und der Beute hineinfinden. So wiesdie Nachahmung den Weg zur Tötung. Und in der Tötungversteckt fand sich die Nachahmung. Die Beute wurde an-gelockt und in Bann geschlagen, denn sie hörte, dass mansie in ihrer Sprache rief. In diesemMoment traf sie der Jäger.Jäger und Schamane sind die am engsten verwandten We-sen. Oft sprechen sie dieselbe geheime Sprache, eben die derTiere. Der Schamane beschwört sie, damit sie ihm Schutzund Hilfe gewähren, der Jäger, um sich ihnen zu nähernund sie zu töten. Beider Tun ist heilig – und erhellt sich ge-genseitig. Wo ihr Wirken aufeinanderstößt, findet einegründliche Vermischung statt. Éveline Lot-Falck blieb hierstehen: »In welchem Maß sich die Sprache des Jägers mitder des Schamanen vermischt, ist schwer zu sagen. EinenTeil des Vokabulars … haben Jäger und Schamane wahr-scheinlich gemeinsam – und jener mag ihn von diesem ge-lernt haben.Offenbleibt, bis zuwelchemPunkt der Schama-ne das Monopol dieser Wissenschaft für sich beansprucht.«Auch wenn er für den Erfolg des Unternehmens unentbehr-lich ist, nimmt der Schamane an der Jagd nicht teil, ja istnicht einmal bei ihr zugegen. So wie er auch keinerlei Vorteilvon ihr hat. Seine Rolle ist die Erkenntnis.

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