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Lutz Seiler Die Zeitwaage Erzählungen Suhrkamp

Suhrkamp Verlag...Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2009 Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der bersetzung, des çffentlichen Vortrags sowie der bertragung durch Rundfunk und

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Lutz Seiler

Die Zeitwaage

Erzählungen

Suhrkamp

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SV

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Lutz SeilerDie Zeitwaage

Erz�hlungen

Suhrkamp Verlag

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� Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2009Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der �bersetzung,

des çffentlichen Vortrags sowie der �bertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielf�ltigt oder verbreitet werden.

Satz: H�mmer GmbH,Waldb�ttelbrunnDruck: Freiburger Graphische Betriebe, Freiburg

Printed in GermanyErste Auflage 2009

ISBN 978-3-518-42115-4

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Die Zeitwaage

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F�r Charlotta

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Frank

»Around, around, flew each sweet sound . . .«S.T. Coleridge

Ihr letzter Abend. Das M�dchen am Stehtisch vor demEingang trug die blau-gelbe Uniform des Restaurants,einen kurzen Faltenrock und eine Art Bluse mit Schul-terst�cken und goldenen Knçpfen.Wollte man warten,war es �blich, ihr einen Vornamen zu nennen, den sieaufrief, sobald ein Tisch frei wurde. F�rber hatte in denWochen zuvor die Erfahrung gemacht, daß sein Vor-name zu kompliziert war f�r die T�rsteher der Restau-rants; er hatte sich einen einfachen Namen zugelegt.Unangenehm war, daß er ihn jetzt wiederholen mußte,das M�dchen hatte Hank statt Frank verstanden. Ichh�tte es bei Hank belassen kçnnen, dachte er, aber erhatte sich an Frank gewçhnt, Frank.Ein Teil des frischen, von der Hitze aufgeweichten As-phalts war zwischen die Ufersteine gekrochen. Oderman hat ihn benutzt, um die Steine besser gegen denWellengang zu befestigen – er blieb an solchen sinnlosenFragen h�ngen.Eine Weile standen Teresa und er an dem beleuchtetenStrand unterhalb des Restaurants. Der Sand blendeteimHalogenlicht,und dieGischt war strahlendweiß oderphosphoreszierte. Ein paar �bergewichtige Mçwen tau-melten ihnen entgegen und drehten m�hsam wieder ab.F�rber h�tte gern etwas gesagt, aber er mußte vorsich-

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tig sein, er mußte sich konzentrieren, daß es,wie Teresasich ausdr�ckte, nicht schon wieder etwas Negativeswar, etwas, womit er, wie sie meinte, nur seine andau-ernde Unzufriedenheit abzustoßen versuchte.Er wollte hinunter ans Wasser, aber Teresa setzte sichauf einen der Steine. Ihre Arme und Beine waren ge-br�unt, ihr schwarzes Haar lag in einem lose gefloch-tenen Zopf zwischen den Schulterbl�ttern. Als Teresabemerkte, daß F�rber sie ansah, schob sie ihre F�ße inden Sand. An ihrem zweitkleinsten Zeh trug sie einenneuen, silbernen Ring.Der Parkplatz f�llte sich, und immermehr G�ste kamendie Einfahrt herauf. F�rber verstand ihre Bewegungennicht, die ausladenden Gesten, das Zeigen mit ausge-strecktenArmen,mal inRichtung derCanyons,mal aufsMeer, dazu ihre ausgesprochen gerade, fast nach hin-ten gebogene Art zu gehen, w�hrend auf ihren Gesich-tern ein Ausdruck unabl�ssiger Vorfreude lag. Daß ichnichts Besonderes f�hle, wenn ich den Pazifik sehe, istdas schlechteste Zeichen, dachte F�rber.Er wollte Teresa auf eine Mçwe aufmerksam machen,die sich bei ihrem Beutezug in einer der Adopt-a-beach-M�lltonnen (alle M�lltonnen am Meer trugen diesenSchriftzug) verhakt haben mußte – ein Fl�gel ragte her-aus und schlug auf den Tonnenrand, eine Art indiani-sches Getrommel, das gut zu hçren war,wenn derWindvom Wasser her st�rker wurde und die Musik aus demRestaurant �ber ihren Kçpfen davonschwappte; f�reinen Moment sah F�rber ein paar Obdachlose um dieTonne stampfen, rhythmisch stießen sie ihre F�uste indie Luft.

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Die ganze Zeit �ber hatte er Teresa nicht angefaßt. Inder Blockh�tte auf dem Tiogra-Paß war er ihr sehr nahgekommen; aber sie hatte tats�chlich geschlafen. Zuerstwar sie erschrocken undw�tend gewesen,doch siemuß-ten leise sein, Luzie schlief auf einem Beistellbett an derWand gegen�ber, ihr Kuschelkissen unter dem Arm.»Faß mich nicht an!«Sp�ter wurde ihm �bel. Ein Sonnenstich – obwohl ernur f�r ein paarMinuten außerhalb desWagens gewesenwar. Warum setzt du auch nie etwas auf deinen Kopf –manchmal hçrte er seine Mutter, und F�rber murmelteetwas zur Antwort, ihm war schwindlig, und plçtzlichhatte er Tr�nen in den Augen: Faß mich nicht! Laßmich . . . faß, faß! Irgendwann mußte Teresa wieder ein-geschlafen sein, die Bettdecke fest um ihre Schultern ge-zurrt und die F�ße in den Bettbezug gestemmt – so,wieer sie kannte.Sie hatten gemeinsam Ausfl�ge gemacht, normale Din-ge, das,was alle Touristen taten, dieW�ste, SierraNeva-da, San Francisco und zur�ck auf dem Highway Nr. 1,die K�ste entlang, Richtung S�den. Er wußte, daß dieLeute in ihrem Quartier �ber die Deutschen lachten,weil sie immer ins Death Valley wollten, alle Schweizerund alle Deutschen wollen in dieW�ste, dort,wo sie amheißesten ist,warum bloß, hatte ihn Randy gefragt undgelacht. Randy war ihr Vermieter. Bei Luzie hatte er eszu Uncle Randy gebracht, an diesem Abend war sie beiihm geblieben.

Anders als seine gefr�ßigen Artgenossen, die mit auf-gerissenen Schn�beln �ber dem Ufer kreisten und Kat-

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zen- oder Babyschreie ausstießen, blieb der Vogel in derTonne vollkommen stumm. Stumm h�mmerte er seinenFl�gel auf den Tonnenrand,wie eine Arbeit, die jetzt er-ledigt werden mußte.DieWestk�ste war immer Teresas Traum gewesen. Erstunerf�llbar, dann schwierig,wegen Luzie. Zwei von Te-resas Freundinnen f�hrten in Los Angeles ein Restau-rant mit th�ringischen Spezialit�ten. Dort, imHoly Eli-zabeth, hatten sie ihren besten Abend gehabt. F�rberhatte Kçstritzer getrunken und Krautrouladen geges-sen. Die beiden Freundinnen erz�hlten von ihren be-r�hmtenG�sten, vonClint undDavid undBetty, auf de-ren Party sie gewesen waren, der gesamte Garten mitTeppichen bedeckt, kostbar wahrscheinlich, und eineSammlung von vierhundert Lenin-B�sten, das halbeHaus voll – sie lachten, und auch F�rber hatte gelacht,erleichtert, und einen Arm um Teresas Schulter gelegt.In den Augen der anderen waren Teresa und er nochimmer ein beneidenswertes Paar, jedenfalls glaubte erdas.Unterwegs hatte Teresa ununterbrochen Fotos geschos-sen, vom Auto aus. Wenn sie nicht fotografierte, legtesie ein Bein auf das Armaturenbrett; sie stemmte denberingten Fuß gegen die Frontscheibe, und manchmalklickte der Ring ein wenig am Glas. F�rber hatte nichtnach dem Ring gefragt. Schmuck stammte in der Regelvon Teresas Vater, zu jedem Anlaß beschenkte er seineTochter, kostbare Ketten und immer wieder feinglied-rige, silberne Colliers – ein Schmuck, der f�r den be-sonderen Anlaß gemacht war, f�r Kleider mit großemDekollet�. Vor F�rber war ihr das meist etwas unange-

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nehm, zugleich freute sie sich und sagte »Ist das nichtschçn?« oder »Genau,was mir steht« und »Hat er nichtwirklich Geschmack in diesen Dingen?«.Sie hatte ihren Sitz bis zum Anschlag zur�ckgeschoben,ihr Profil war aus seinem Blickfeld verschwunden. Dergebr�unte Fuß, die leicht gespreizten Zehen, die hellen,fast quadratischen Fußn�gel,dahinter die Landschaft . . .Der große Zeh war nicht wirklich der große, verglichman ihn mit dem folgenden, und auch der mittlere warnoch ein St�ck l�nger. F�rber war fast dankbar f�r denFuß. Zugleich stellte der Fuß eine Art Verhçhnung dar:ein fremdes, beringtes Tier, von dem er nichts Sichereswußte.Dabei hatte er es immer genossen, mit Teresa unterwegszu sein. Ohne Teresas Begeisterung, ohne ihre Energieund Frçhlichkeit blieb das meiste blaß, wie im Nebel,es existierte kaum. Allein fehlte ihm oft der Bezug, eineArt Vermittlung, die er brauchte, um zu sehen und zuhçren. Als Teresa ihm einmal etwas in diese Richtungvorgehalten hatte, war er verstummt; es gab keine guteAntwort. Er hatte sich Teresa und Luzie anvertraut, ge-wissermaßen lebten sie f�r ihn mit, aber so h�tte er esnicht gesagt. Ihre Anwesenheit war wie ein Gewand, et-was, das ihm erlaubte, auf der Welt zu sein. Eine ArtTarnkappe, die ihn verbarg und besch�tzte.

Der Wind frischte auf, und das Klopfen von der Abfall-tonne wurde st�rker. Vielleicht ist es auch irgendein an-deres, grçßeres Tier, dachte F�rber, ein Seerabe oder einAlbatros. Er hatte beobachtet, daß die Wellen sich vordem Ufer wie in sich selbst zur�ckzogen, einrollten und

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kurz vor dem Aufschlag noch eine zweite, kleinere Wel-le ausspuckten, die dann wie eine Zunge �ber das Uferschlappte und einen feinen, farbig schillernden Schaum-rand zur�ckließ.F�rber lachte und wollte etwas sagen, was ihm als Ein-leitung f�r eine Bemerkung dienen sollte, er f�hlte sichwie nach einem langen Kampf. W�hrend er sein leises,falsches Lachen ausklingen ließ, wußte er noch nicht,in welche Richtung seine Bemerkung eigentlich gehenkonnte, und vorsichtshalber setzte er noch einmal mitdemLachen an,verhalten, ohne�berzeugung. In diesemMoment wurden sie gerufen. DasM�dchen benutzte einMegaphon: Mister Frank please! Misses Teresa please!Two places please! Seit zehn Jahren waren sie verheira-tet. F�r die Trauung hatten sie alle Elemente des Ritualsabgew�hlt: keine Musik, kein Einmarsch, keine Rede.»Und was ist mit dem Kuß?« hatte er gefragt, als esschon fast vorbei gewesen war. »Na, Sie wollen dochgar nichts«, hatte die Standesbeamtin gesagt.Das M�dchen dehnte das a in Frank so lange wie mçg-lich. Sie zelebrierte die Namen der G�ste, als k�ndigtesie ihr Erscheinen in einer Show oder f�r einen Box-kampf an. Dauerte es etwas l�nger, bis die Gerufenenvom Strand heraufgekommen waren, bekam ihr Ru-fen etwas Fragendes, dann etwas Flehendes, Stçhnen-des (sie wußte, daß ihre G�ste sich dar�ber am�sierenkonnten), am Ende aber etwas sehr Bestimmtes, fastBefehlendes, eine Art Urteil, wie es F�rber aus dem hoh-len, metallischen Ton des Megaphons herauszuhçrenglaubte.Fra-a-ank, please, Fra-a-a-ank! Frank!

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Obwohl es F�rber l�cherlich vorkam, mußte er jetztdaran denken, daß an ihremHochzeitsmorgen das Autonicht angesprungenwar. Sie hatten das sp�ter çfter zumBesten gegeben, es war einfach zu gut, als Geschichte;wie F�rber versucht hatte, ihren russischenZweit�rer an-zuschieben, die Straße hinunter, wie er, schon vollkom-men verschwitzt, losgezogen war, um einen der verhaß-ten Nachbarn um Hilfe zu bitten . . . Fra-a-a-ank! DieT�rsteherin stçhnte eine Weile auf seinem a herum. Siekaute es wie einen zu großen, klebrigen Kaugummi. Undjetzt blies sie ihn auf, langsam: Fra-a-a-a-nk, please . . .F�rber dachte an das Achtzig-Euro-M�dchen, das amEnde immer noch im Bett liegen blieb, sich streckte, auf-st�tzte und von ihm abwandte,w�hrend er bereits seineSchuhe zuband, mit pochenden Schl�fen, seinen Roll-koffer nahm, schon halb auf der Treppe, auf demHeim-weg, der f�r ihn noch jedesmal das Wichtigste undSchçnste war; er gab ihr hundert.»Danke, mein S�ßer.Was ist mit Dienstag?«»Ja, vielleicht, ich ruf dich an.« Er kam noch einmal zuihr zur�ck. Er ber�hrte sie zwischen den Beinen, wieabwesend. Er trug Jeans, dazu Schuhe mit knçchelho-hem Leder, die Teresa Stiefeletten nannte.»Ja, aber sp�testensMontag, S�ßer, damit ichmich frei-machen kann.« Sie f�hrte seine Hand. Er mochte ihrekindische Art, ihre Br�ste, das schmale Becken, nur ihreStimme war ein Handicap.Fra-a-a-a-ank!Inzwischen hatten sie den Vorplatz zum Restaurant er-reicht. Unter den Halogenscheinwerfern, dicht vor demPult mit der T�rsteherin in ihrer blau-gelben Uniform

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warteten die G�ste. Noch einmal der dumpfe, metal-lische Ton des Megaphons, und f�r einen Augenblickahnte F�rber, warum all diese Leute hier auftauchtenund sich einreihten mit ihren ausholenden Gesten undvorfreudigen Gesichtern, auf diesem frisch geteertenPlatz, dessen scharfen, bet�ubenden Geruch sie alle ge-meinsam bereitwillig einsogen. Damit wollen sie nurdas Urteil des Megaphons beeinflussen, schoß es F�r-ber durch den Kopf, aber es wird ihnen nichts n�tzen,und plçtzlich sp�rte er seinen Haß.Hinter der T�rsteherin mit dem Lautsprecher vor demGesicht stand ein Junge, der ihreH�fte locker umschlun-gen hielt, er trug ebenfalls die Uniform des Restaurants.F�rber konnte sehen, daß die Ruferin den Jungen be-r�hrte; sie hatte begonnen, Franks a in ein gedehntesAuf und Ab zu ziehen, sie legte alles in den Namen. Sieweiß es, dachte F�rber f�r einen wirren Moment, dieganze vertrackte Geschichte, und dannwieder: Sie weißnichts, nicht einmal meinen Namen. Ihre Hand ruhteauf demOberschenkel des Jungen, als wollte sie dort et-was verdecken. Sie standen schon unmittelbar vor ihr,als sie noch einmal dazu ansetzte, Frank zu rufen. F�r-ber konnte ihre Augen sehen. Aber es war nur in ihrerStimme, nicht imGesicht und nicht in der Stellung ihrerweich leuchtenden Lippen, die Frank in diesem Mo-ment noch einmal aufgenommen hatten, Fra-a-a-nk!Als die Ruferin ihn entdeckte, brach sie ohne weiteresab. Sie l�chelte, mechanisch, mit halb geschlossenemMund, please . . . Frank war noch dort, zwischen ihrenZ�hnen, F�rber konnte es sp�ren, plçtzlich, und er ver-krampfte. Vor einem Jahr hatte er begonnen, sich seine

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Honorare in bar auszahlen zu lassen, wegen der Steuer,hatte er zu Teresa gesagt.DasM�dchen schob dem Jungen neben ihr die Liste mitdenNamen hin und f�hrte sie an ihren Tisch. DasMega-phon behielt sie in der Hand, beim Gehen schwenktesie den Apparat, als w�re er auch jetzt noch von Bedeu-tung.F�rber war erschçpft. Er w�re dem wippenden Falten-rock gern noch eine Weile nachgegangen; er dachte andie kurzen Glockenrçcke aus Wildleder, die die M�d-chen in seiner Kindheit getragen hatten. Er beneideteden Jungen, er beneidete ihn sogar um seine blau-gelbeRestaurant-Uniform; er kam sich ausgehçhlt und ver-braucht vor, als h�tte das Leben gerade beschlossen,ihn langsam wieder abzustoßen.»Faß mich nicht an.« Es h�tte ihr Abend sein kçnnen;Teresa und er, sie h�tten getrunken, geredet und sicham Ziel gef�hlt. Sie h�tten Lobster bestellt und sich anihren ersten Lobster erinnert. Das Restaurant an derStraße, das nicht ausgesehen hatte wie ein Restaurant;die Tische, die viel zu eng beieinanderstanden; die mattgl�nzenden Zangen, mit denen sie nichts anzufangenwußten, ihre ganze Verlegenheit, verlegen vor Gl�ck.F�rber dachte an den dickenMann,Teresas erste Aff�re.Er hatte ihn nie zu Gesicht bekommen. Einmal hatte Te-resa erw�hnt, daß der Mann nicht gerade schlank sei,daß er einiges auf die Waage br�chte, wie sie sagte, seit-dem hatte F�rber ihn den dicken Mann genannt. Unddaß sie ihn manchmal anspringen w�rde, hatte sie auchirgendwann gesagt, und daß der Mann dabei ganz feststehen w�rde, wie ein Fels, daß er sie halten kçnne, hal-

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ten . . . Vielleicht erinnerte er sich falsch. Aber es waretwas, von dem er verstehen sollte, daß es darauf an-kam,und eine Zeitlang hatte er TeresabeimEinschlafenfest an sich gedr�ckt. Der dicke Mann fuhr Teresa aufdem Nachhauseweg hinterher, mit dem eigenen Auto,aus der Stadt bis zu ihnen hinaus. Sie verabschiedetensich um die Ecke, eine Straße vor ihremHaus, und dannfr�hst�ckte der Mann in einer Autobahnrastst�tte; dasalles hatte F�rber erfahren, nach und nach.Fr�herh�tten sie den Platz grandios gefunden.Manhattedie Fenster herausgenommen, sie saßen direkt �ber demStrand,denWind imGesicht. Unter ihnen, im Sand,wareine Tafel mit Gedecken und Windlichtern aufgebaut,die Tischdeckenwarenmit silbernen Spangen befestigt,einige St�hle schon halb im Wasser. Am Tresen gab esein paar Leute, die tanzten. Als die Musik eine Pausemachte, hçrte F�rber das Klopfen des Mçwenfl�gels,jedenfalls glaubte er das. Sie sprachen �ber Luzie – dieSchule, der Klavierunterricht, ihr Zimmer, nichts solltesich ver�ndern f�r sie. Sie waren sich einig, wie immer.Selbst jetzt tat es gut, mit Teresa zu reden.Am Ende des Abends war F�rber betrunken. Er hçrtedas Klopfen. Es kam aus ihm selbst. Oder von Teresa.Fast hatte er eine Hand auf ihre Brust gelegt. Alles gut.

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Im Ger�usch

Luzies Gesicht. Sie beobachtete ihn. Vielleicht ahntesie etwas.Vielleicht hatte Teresa etwas gesagt – unmçg-lich, dachte F�rber.Er hatte noch immer das Schaben des verdorrten Palm-wedels im Ohr, der abgeknickt und lose am Stamm her-unterhing, �ber ihrem Bungalow. Zuerst war das Ge-r�usch sehr nah gewesen, als fl�stere jemand aus einerEcke ihres Zimmers, jemand, der Angst hatte und unbe-dingt etwas loswerden wollte. Drehte F�rber ein we-nig den Kopf, kam es von viel weiter draußen, weiteroben, es verstummte plçtzlich (mitten imWort, obwohleinzelneWorte nicht zu unterscheidenwaren in demGe-wisper), setzte unvermittelt wieder ein und verstummteund so weiter – ein endloses Sprechen aus der ergrau-tenHitze �ber der Stadt, das ihn bet�ubt und zum Schla-fen �berredet hatte. Dann, seit dem Erwachen, gab eseinfach zu wenig Luft vor seinem Mund, schon das At-men war m�hsam, und die Worte erstickten auf derZunge, Liebe Teresa . . .Er hatte es mit anderen Zeichen versucht. Zuerst einelange Ber�hrung: Teresaswarmer, schlafenderArm.Um-st�ndlich hatte er f�r alle das Fr�hst�ck gemacht unddas Tablett hinausbalanciert in den Garten mit denHibiskusb�schen und den Kolibris, deren Anblick ihm

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noch immer Unbehagen bereitete. Wie es w�re, aufzu-stehen vom Tisch, nicht schnell, nicht langsam, nur so,als fehle die Milch oder das Salz, und sich den Abhangzum Nachbargrundst�ck hinunterzuwerfen – er hattediese abstrusen Dinge gedacht und Luzie geholfen, ih-ren Rucksack zu packen. Er fand ein passendes Gef�ßf�r die Muscheln mit dem Modergeruch, konzentriertstach er Luftlçcher in den Deckel der B�chse, eins nachdem anderen, das Klopfen in den Schl�fen: Ich bin, ichbin, ich bin . . . Es fiel ihm nicht ein. Er begriff nicht,wie er das Gespr�ch im Gladstones hatte zulassen kçn-nen.Ihr Flug ging am sp�teren Abend. Wie verabredet, hat-ten sie den Vormittag getrennt verbracht. F�rber ineiner Ausstellung – er konnte sich an keines der Bildergenauer erinnern; nur an die vollkommenen Ovale derAugen in den Frauen-Portr�ts, von denen es zahllosegab (die langen H�lse, die hochgesteckten Haare), undan die Totenmaske des K�nstlers, die in einer Vitrineam Ausgang des Museums lag, neben den Postkarten-st�ndern. »Der Blick eines Toten ist immer ein wenigtadelnd.« F�rber wußte nicht mehr, wo er diesen Satzgehçrt oder gelesen hatte, erstaunlich war, wie kleinund verloren das Gesicht eines Menschen erschien,wenn man es ablçste vom Kopf. Die puppenhafte Stirnwar wie glattgestrichen und gl�nzte stumpf, bis aufzwei feine, parallele Furchen �ber der Nasenwurzel,die F�rber an eine alte, festgefahrene Schlittenspur er-innerten. Es fehlen die Ohren, dachte F�rber, die Oh-ren sind wichtig, sie weiten ein Gesicht; ohne Ohrendagegen liegt es da wie gestutzt, als wollte es sagen:

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Ich war nie auf dieser Welt. F�rber verstand nicht, wie-so ihn das besch�ftigte, aber so war es oft. Und gedachthatte er eigentlich nichts, es war nur eine Stimme inseinem Kopf gewesen, die gesagt hatte: »Es fehlen dieOhren.«Die Maske schwebte auf d�nnen, fast unsichtbaren St�-ben aus Glas, und f�r einen Moment sp�rte F�rber dasBed�rfnis, in die Knie zu gehen, um einen Blick auf diehohle,verborgene Innenseite desGesichts zu erhaschen.Statt dessen las er das Schild am Sockel der Vitrine: einMann aus Litauen namens Lipchitz hatte die Maske ge-macht. F�r F�rber war das ebenso bedeutungslos wieder Name des Malers (Modigliani), aber der Klang, dendie Litauen-Lipchitz-Verbindung abgab, zog noch Stun-den sp�ter durch alles, was ihm begegnete; es war derKlang dieses Vormittags, etwas, das ihn umh�llte undeine Art Trost zusprach.Teresa und Luzie waren nach Palm Springs ins Heimf�r ber�hmte Tiere gefahren. Schon vor Tagen hatteLuzie den Prospekt entdeckt, auf dem ein Affe abge-bildet war, der einen spitzen Hut trug und Torte aß.»Cheeta – der Affe Tarzans« stand unter dem Bild. Un-vorstellbar, daß dieses Tier noch am Leben sein soll,dachte F�rber. Außerdem gab es Fotos mit einem Kn�u-el frisch geworfener Katzen, allesamt Nachkommenvon Snowball, der Lieblingskatze Hemingways, wie be-hauptet wurde, und �ber die R�ckseite des Prospektskroch eine einzelne Schildkrçte namens Fee, die in ih-rem fr�heren Leben bei einer ganzen Reihe ber�hmterSchauspieler zu Hause gewesen war; zum Beweis hatteman die Kçpfe der K�nstler auf ihren zerkratzten Pan-

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