21
Suhrkamp Verlag Leseprobe Lewitscharoff, Sibylle Von oben Roman © Suhrkamp Verlag 978-3-518-42893-1

Suhrkamp Verlag · Sympathie entlockt als der Name der Dietrich, wiewohl ich ihn nicht persönlich gekannt habe. Kommen wir auf das Thema Rückkehr zu sprechen: Die Maßnahmen, die

  • Upload
    others

  • View
    2

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Suhrkamp Verlag · Sympathie entlockt als der Name der Dietrich, wiewohl ich ihn nicht persönlich gekannt habe. Kommen wir auf das Thema Rückkehr zu sprechen: Die Maßnahmen, die

Suhrkamp VerlagLeseprobe

Lewitscharoff, SibylleVon oben

Roman

© Suhrkamp Verlag978-3-518-42893-1

Page 2: Suhrkamp Verlag · Sympathie entlockt als der Name der Dietrich, wiewohl ich ihn nicht persönlich gekannt habe. Kommen wir auf das Thema Rückkehr zu sprechen: Die Maßnahmen, die

SV

Page 3: Suhrkamp Verlag · Sympathie entlockt als der Name der Dietrich, wiewohl ich ihn nicht persönlich gekannt habe. Kommen wir auf das Thema Rückkehr zu sprechen: Die Maßnahmen, die
Page 4: Suhrkamp Verlag · Sympathie entlockt als der Name der Dietrich, wiewohl ich ihn nicht persönlich gekannt habe. Kommen wir auf das Thema Rückkehr zu sprechen: Die Maßnahmen, die

Sibylle LewitscharoffVon oben

Roman

Suhrkamp

Page 5: Suhrkamp Verlag · Sympathie entlockt als der Name der Dietrich, wiewohl ich ihn nicht persönlich gekannt habe. Kommen wir auf das Thema Rückkehr zu sprechen: Die Maßnahmen, die

S. :Demon Days,Words &Music by Robert Forster & Grant McLennan,© Copyright Domino Songs Ltd.

S. -: Across the border, Musik & Text: Bruce Springsteen,© Springsteen Bruce Music/Subverlag:Universal Music Publishing GmbH.

S. -: Christian Lehnert,Mitternacht, in: Ders.,Cherubinischer Staub.Gedichte, Suhrkamp Verlag Berlin , S. .

Erste Auflage © Suhrkamp Verlag Berlin

Alle Rechte vorbehalten,insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH,WaldbüttelbrunnDruck: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Printed in GermanyISBN ----

Page 6: Suhrkamp Verlag · Sympathie entlockt als der Name der Dietrich, wiewohl ich ihn nicht persönlich gekannt habe. Kommen wir auf das Thema Rückkehr zu sprechen: Die Maßnahmen, die

Von oben

Page 7: Suhrkamp Verlag · Sympathie entlockt als der Name der Dietrich, wiewohl ich ihn nicht persönlich gekannt habe. Kommen wir auf das Thema Rückkehr zu sprechen: Die Maßnahmen, die

Aber was für ein Unterschied, wenn man tot ist!Was für ein Aufatmen!

Joaquim Maria Machado de Assis,Die nachträglichen Memoiren des Bras Cubas

Page 8: Suhrkamp Verlag · Sympathie entlockt als der Name der Dietrich, wiewohl ich ihn nicht persönlich gekannt habe. Kommen wir auf das Thema Rückkehr zu sprechen: Die Maßnahmen, die

Jürgen Trinkewitzherzlich zugeeignet

Page 9: Suhrkamp Verlag · Sympathie entlockt als der Name der Dietrich, wiewohl ich ihn nicht persönlich gekannt habe. Kommen wir auf das Thema Rückkehr zu sprechen: Die Maßnahmen, die
Page 10: Suhrkamp Verlag · Sympathie entlockt als der Name der Dietrich, wiewohl ich ihn nicht persönlich gekannt habe. Kommen wir auf das Thema Rückkehr zu sprechen: Die Maßnahmen, die

Im Gewölk

Vor dem Tod. Nach dem Tod. Das sind zwei grundverschie-dene Arten, die eigene Existenz zu erfahren und auf sie zublicken. Ich weiß, wovon ich spreche, denn ich bin oben. Seitkurzem. Marode Teile von mir sind unter der Erde, mein ver-sammlungsfähiges Ich, auf das es ankommt, befindet sichoben, wiewohl das Wort Ich hierfür kein korrekter Begriff ist.Man kann eine nicht greifbare und nicht sichtbare Wesen-heit schwerlich mit einem Wort bezeichnen, das ein körper-liches Triumphzeichen aufpflanzt. Das Ich bin, der ich bin istGott allein in Seiner geballten Seinsgewißheit vorbehalten.Fürmenschliche, tierische und pflanzliche Geschöpfe kommtes nicht in Frage – erst recht nicht, nachdem sie gestorbenoder verwelkt sind.

Mein derzeitiges Schwankgebild mag zwar der Definitionenthoben sein, dennoch kann es aus Gründen eingeschliffe-ner Konvention nicht darauf verzichten, von sich als einemIch zu sprechen. Es geht leider nicht anders. Ich bin immernoch irgendwas oder irgendwer, das oder der zumindest einklein wenig ist. Wie lange mein Aufenthalt in der Höhe nunschon währt, entzieht sich meiner Kenntnis. Allzu lang kannes nicht gewesen sein, denn was ich auf Erden erblicke, un-terscheidet sich zwar von dem, was ich einst erfahren habe,weil meine Umschau größer ist als ehedem, aber das Treibender Personen, die meine Freunde waren, kommt mir bekanntvor. Die Tatsache, daß sie so weitermachen wie bisher, zeigtmir, daß seit meinem Tod nicht viel Zeit verstrichen seinkann.

Es heißt, manmüsse die Toten daran hindern, zurückzukeh-ren. Deshalb werden schwere Grabsteine auf ihre Ruhestät-ten gewuchtet, oder man verfährt entschiedener, verbrennt

Page 11: Suhrkamp Verlag · Sympathie entlockt als der Name der Dietrich, wiewohl ich ihn nicht persönlich gekannt habe. Kommen wir auf das Thema Rückkehr zu sprechen: Die Maßnahmen, die

sie zu einem Häuflein Asche mit winzigen Knochenstücken,packt den Rest in eine Urne oder verstreut diesen irgend-wo, wobei die Japaner mit speziellen Stäbchen in den Restennoch ein bißchen herumstochern und größere Stücke bei-seitelegen, etwa nach dem Motto: die Guten ins Töpfchen,die Schlechten ins Kröpfchen. Exzentrisch ist natürlich dieTradition, den Leichnam auf einen Felsrücken zu legen, damitdie Geier sein Fleisch fressen und die Knochen in den Ab-grund fallen.Was von mir übrig ist, steckt nicht in einer Urne und wird

auch nicht von Spezialstäbchen sortiert, sondern rottet stillvor sich hin in einem schmalen Kerker, ganz allein in sei-ner Schweigsamkeit – auf dem Schöneberger Friedhof in ei-nem üblichen Grab mit Buchsbaum, etwas Efeu, einem sehrschlichten aufgerichteten Stein, davor zwei kleine rote Ker-zenbehälter, in denen keine Kerzen brennen. Kurioserweiseliegt da auch eine Trinkschale für Vögel. Zwei Spatzen ausTon scheinen sich am Wasser zu laben, das sich manchmaldarin sammelt.Wer sie dorthin gelegt haben mag? Keine Ah-nung. Gerhard bestimmt nicht. Margit und Rudi kommenfür so etwas auch nicht in Frage. Vielleicht meine liebe Nach-barin Edeltraut Schäfer, die sich so gern mit Nippes eindeckt?Was da unten liegt, gehört nicht mehr zu mir, es modert, zer-setzt sich, bildet kristalline Partikel aus und ist von allen fühl-baren Schikanen befreit. Darüber mag der Himmel in leuch-tender Bläue strahlen oder sich in ein sanftes Nachtdunkelhüllen, wer unten liegt, dem kann es gleichgültig sein.

Die Kränze, die es wohl gab, an die ich jedoch keine Erin-nerung aufrufen kann, sind schon seit einiger Zeit abgeräumt.Meine Reste liegen in der Nähe von Marlene Dietrich, diemir allerdings zu Lebzeiten nicht viel bedeutet hat, obwohlich ein passionierter Kinogeher gewesen bin. Die Diva warmir zu starr, zu hehr, zu kontrolliert und damit zu wenig sexy.

Page 12: Suhrkamp Verlag · Sympathie entlockt als der Name der Dietrich, wiewohl ich ihn nicht persönlich gekannt habe. Kommen wir auf das Thema Rückkehr zu sprechen: Die Maßnahmen, die

Ich liebte Marilyn Monroe und Lauren Bacall. Ihnen würdeich jetzt nur zu gern begegnen, mit Marilyn herumalbernund mit der Bacall eine Zigarette rauchen. Alles Unfug, ichweiß. Zurück zum Friedhof. Die Knochen und das marodeFleisch liegen nicht weit vom einst in Rumänien geborenenSchriftsteller Oskar Pastior entfernt, dessen Name mir eherSympathie entlockt als der Name der Dietrich, wiewohl ichihn nicht persönlich gekannt habe.

Kommen wir auf das Thema Rückkehr zu sprechen: DieMaßnahmen, die gegen unser Wiederauftauchen getroffenwerden, sind absoluter Blödsinn. Wir kehren nicht wieder.Weder in Fleisch und Blut noch in Form von Geistgewabere.Gedanklich jedoch schon, zumindest in meinem Fall. Obdas auch auf andere zutrifft, weiß ich nicht, aber es ist anzu-nehmen, denn ich bin gewiß kein herausragendes Sonderwe-sen unter den Abermillionen Toten, die sich werweißwo auf-halten.

Nur bis zu einem bestimmten Grad, den ich selbst nichtgenau ermesse, kann ich sehen. Vielleicht ist die Umschaubegrenzt, weil ich meine neuen Möglichkeiten noch nichtalle ausprobiert habe. Sicher ist nur – was mir vor die Augenkommt, nährt sich aus meiner eigenen Bewegung. Wobei esmir, und natürlich auch den anderen Toten, verwehrt ist,das Geschehen auf der Erde direkt zu beeinflussen. In hand-greiflicher Form ohnehin, das versteht sich von selbst. Dieblödsinnigen Splatterfilmchen mal beiseite gelassen, die sichgern mit fleischfetzenbehangenen Leichen befassen, denenals Gipfel der Idiotie auch noch eine große physische Machtzugetraut wird. Auf die heikle Frage, ob eine Einflußnahmeder Toten auf die Gedanken von Lebenden möglich ist, wer-de ich später zu sprechen kommen. Was von mir übrig ist,kehrt jedenfalls nicht in Fleisch und Blut wieder und wan-dert auch nicht in eine ekelhafte Schrumpfhaut gehüllt und

Page 13: Suhrkamp Verlag · Sympathie entlockt als der Name der Dietrich, wiewohl ich ihn nicht persönlich gekannt habe. Kommen wir auf das Thema Rückkehr zu sprechen: Die Maßnahmen, die

mit klappernden Knochen kitschblau beleuchtet umher. Ichröhre nicht, ich kreische nicht, ich hauche keinen todbrin-genden Atem aus und werfe keinen Schatten an die Wand.Waffen befinden sich nicht in meinen unsichtbaren Händen.

Das alles mag traurig klingen. Im Moment spüre ich je-doch nichts davon. Meine Gefühle sind reduziert. Noch da,aber reduziert. Ein bißchen Neugier ist geblieben. Hie undda treibt sie eine kleine Blüte. Eine umfassende Sättigungdurch das Nichts ist demnach nicht eingetreten.Was ich emp-finde, was ich denke, ist aus einem hohlen Sein herausgeholt,eine bessere Bezeichnung fällt mir dazu nicht ein. MeinerNeugier sind Grenzen gesetzt. Sie reicht für kurze Beobach-tungsintervalle, erschlafft dann allerdings, und ich sinke zu-rück in eine Art Bewußtlosigkeit, die mich willenlos durchsAll driften läßt.

Es ist nur eine alte Gewohnheit, von mir als einem Ich zusprechen, ein besseres Wort habe ich dafür leider nicht zurVerfügung. Um mich ein wenig zu wiederholen: In diesemSchlüsselwort der Selbstbehauptung liegt etwas, dem meinZustand nicht entspricht. Umständlich ausgedrückt müßtevon mir als einer flottierenden Wesenheit mit unklaren Kon-turen gesprochen werden, die keine Laute ausstoßen und nie-manden so berühren kann, daß er es merkt, als einer, die dasBewußtsein rasch verliert, es bisweilen erlangt und wiederverliert.

Page 14: Suhrkamp Verlag · Sympathie entlockt als der Name der Dietrich, wiewohl ich ihn nicht persönlich gekannt habe. Kommen wir auf das Thema Rückkehr zu sprechen: Die Maßnahmen, die

Gott?

Ein heikles Thema, das ich bisher nicht ergründen konnte.Vielleicht ja, vielleicht nein. Hölle? Himmlisches Paradies?Purgatorium? Keiner der drei klassischen Aufbewahrungsor-te für Seelen, die aus toten Leibern entwichen sind, habe ichbisher zu sehen bekommen. Schwer zu sagen, wo ich mich be-finde, ob meine einsame Drift nur eine vorläufige ist, bis ge-wisse, mir unbekannte Entscheidungen von hoher Warte ausgetroffen werden. Die Einsamkeit setzt mir allerdings zu, lie-bend gern würde ich mit anderen Toten sprechen, die sichschon länger im Universum befinden. Eine genaue und viel-leicht sogar peinigende Selbstbefragung ist mir leider nichtmöglich, weil mein vergangenes Leben seltsam wischig anmir vorübergeglitten zu sein scheint, als hätte nicht ich in die-ser Fleischhülle gesteckt, sondern ein naher Verwandter vonmir. Ein Haufen Lügen über mich selbst wird sich wohl an-gesammelt haben. Die Erbschaft wohltuender Lügen, die daseigene Leben in einem günstigen Licht aufscheinen lassen,schleppt jeder Mensch mit sich herum. Sobald ich versuche,mich gewisser Erinnerungen zu bemächtigen, sacke ich wegin einen porösen Zustand, und es beginnt ein alptraumhaftesGelöschtwerden der Bilder.

Mein Name? Warum kann ich mich nicht an meinen Na-men erinnern? Er scheint bedeutungslos zu sein, denn ich grü-ble ihm nicht hinterher. Obwohl ich immer an die Namens-haft geglaubt habe, in der so etwas wie der kondensierte Kernder Persönlichkeit enthalten ist. Jetzt hat sich der Name verlo-ren. Noch kurioser ist allerdings, daß mir die Zuschreibung,ein Mann oder eine Frau gewesen zu sein, momentan ebensogleichgültig ist.Wohl eher Mann als Frau, aber das bleibt, wieso vieles andere auch, im Ungefähren. Im vorherigen Leben

Page 15: Suhrkamp Verlag · Sympathie entlockt als der Name der Dietrich, wiewohl ich ihn nicht persönlich gekannt habe. Kommen wir auf das Thema Rückkehr zu sprechen: Die Maßnahmen, die

war es wichtig, da mag ich ein Mann gewesen sein, aber jetzt?Was bedeutet es schon?

Blicke ich auf die Erde hinab und erkenne meine Freunde,ist der Unterschied natürlich klar, aber diese leben ja noch inder ihnen einst zugewiesenen Geschlechtshülle (man verzeihebitte das umständliche und auch unschöne Wort). Was mei-nen Namen angeht, könnte ich natürlich den Blick scharfstel-len in Richtung der Buchstaben, die auf meinem Grabsteinstehen.Warum tue ich es nicht? Warum will ich es offenkun-dig nicht? Schwer zu sagen.Vielleicht erfreue ich mich derzeitan einer gewissen Unbestimmtheit meines Wesens und willdie Namenshaft möglichst lange hinauszögern, vielleicht äng-stige ich mich davor, mit vollem Namen gerufen zu werdenund damit meine Sünden in grellem Licht vorgeführt zu be-kommen. Das Ungefähr hat seine Vorteile, aber ich zweifle andessen Dauer. Das Einhausen in etwas Unbestimmtem kannkein immerwährender Zustand sein. Es wäre zu fade, zu be-langlos, vor allem aber zu hoffnungslos.Vielleicht spricht einzig und allein für mich, daß ich meist

redlich versucht habe, mir meine Sünden möglichst lebfrischvor Augen zu halten. So gut es eben ging. Manch kleinereSündemagmir dabei entgangen sein. Die, die zählen, hoffent-lich nicht. Gut möglich, daß ich der Selbsttäuschung erliege,ein besonders gründlicher Sündenbohrer gewesen zu sein.Wieauch immer, zu wissen, was man getan hat, heißt jedenfallsnoch lange nicht, daßman ähnliches nicht sogleich wieder tut.Diese bittere Erfahrung habe ich mehrmals gemacht.Woraus bestehen meine Sünden? Aus Geschwätz. Aus so

manch übler Nachrede, aus unbezwinglicher Klatschsucht,Selbsterhebung unter dem Deckmantel der Bescheidenheit,mangelnder Hilfeleistung (einzugreifen, wo ich hätte eingrei-fen können), aus Besserwisserei, ja, auch aus Diebstahl in derPubertät.Vergessen sei nicht die Mordlust, ausgemalt in boh-

Page 16: Suhrkamp Verlag · Sympathie entlockt als der Name der Dietrich, wiewohl ich ihn nicht persönlich gekannt habe. Kommen wir auf das Thema Rückkehr zu sprechen: Die Maßnahmen, die

render Schwärze in so gut wie allen Lebenslagen.Wie oft habeich daran gedacht, mir eine Kalaschnikow zu besorgen unddamit jemanden, wie es so kraß heißt, eiskalt, effektiv undohne Reue umzunieten. Natürlich nur Leute, die das verdienthatten, denn ich war ein moderner Robin Hood, ein Rächerder Armen und Geschundenen. Unter dem Phantasiemäntel-chen der Gerechtigkeit und unbesiegbaren Stärke tobten sichmeine wüsten Begierden aus. Doch womöglich ist mein Sün-densumpf viel größer, als ich zu erkennen vermag, gefüllt miteiner schwammigen Sättigung aus Selbstsucht, Überdruß undWeinerlichkeit.

Was von mir übrig ist, denkt ziemlich chaotisch vor sichhin, allerdings nicht mehr aggressiv. Keine Ahnung, weshalbmich jetzt schon wieder das Thema Grab am Wickel hat.Zwar wollte ich immer auf einem normalen Friedhof landen,möglichst ohne allzu viel Gewese, doch vor etlichen Jahrensah ich den Film Dead Man von Jim Jarmusch mit JohnnyDepp alias William Blake in der Hauptrolle. Kurios.Warumerinnere ich mich plötzlich an all diese Namen, obwohl derRest meines Gedächtnisses Mühe hat, die simpelsten Dingezu vergegenwärtigen, die mich früher tagtäglich umgebenhaben?

Haargenau kann ich mich an die Filmszene erinnern, inder Blakes Leichnam in ein Kanu gepackt und aufs Meer hin-ausgeschoben wird, um von sanftenWellen davongetragen zuwerden. Mir erschien’s als die beste aller möglichen Bestat-tungsformen, vermutlich aber nur, weil es im Film so schönpoetisch aussah. Eine exzellente Schwarzweißaufnahme hatdas Zeug zur Verklärung. Das Wellengemurmel konnte mansich gut dazu vorstellen, als dasMeer das Kanumit demTotenempfing und gehorsam seinem Auftrag nachkam, das Schiff-lein auf die hohe See zu geleiten. Ein Leichnam, der auf schierunendlichem Wasser, das sich über den gesamten Horizont

Page 17: Suhrkamp Verlag · Sympathie entlockt als der Name der Dietrich, wiewohl ich ihn nicht persönlich gekannt habe. Kommen wir auf das Thema Rückkehr zu sprechen: Die Maßnahmen, die

spannt, langsam außer Sicht gerät, zieht mit melancholischerIntensität dahin – sanft, sehr sanft, ohne Mastkorb, Segel,Steuerrad undWimpel, hinaus in die einsameWeite des Oze-ans.Wenn Erdklumpen auf den Sarg fallen oder der Tote in

einen höllischen Ofen gefahren wird, kann keine zarte Traueraufkommen. Aber ich wußte natürlich nur allzu gut: So schönwie in diesem Film, auf so wundersam poetische Weise sichdem Blick der Betrachter entziehend, würde meine eigeneBeerdigung niemals sein können.Weil ich kein Indianer binund auch kein Filmschauspieler. In einem Halbdunkel, überdas sich allmählich die Schwärze senkt, lösen sich die letztenunsichtbaren Verankerungen, die mich gerade noch in derSchwebe hielten, und ich tauche ab.

Page 18: Suhrkamp Verlag · Sympathie entlockt als der Name der Dietrich, wiewohl ich ihn nicht persönlich gekannt habe. Kommen wir auf das Thema Rückkehr zu sprechen: Die Maßnahmen, die

Flugmanöver

Imponiert hat mir früher der Tod der Vögel, die einfach vomHimmel, von einemDach, einemBaumherabfallen oder in derNische einer Klippe sterben, eingelassen in eine geschrunde-te Wand, die manchmal wie ein großes Menschengesicht aus-sieht. Solche Felsgesichter, gespickt mit Vogelnestern, habe ichauf Photographien gesehen. Vögel sind zugleich Todes- undHimmelsboten. Wenn sich Krähen auf dem Dach versam-meln, naht der Tod.Wenn Schwalben ihre außerordentlichenFlugkünste am hohen Himmel zeigen, legen sie Zeugnis da-von ab, daß eine andere Welt existiert als die, die wir kennen.Weniger schön ist allerdings, wenn ein Vogel verletzt am Bo-den liegt und von einerKatze erwischt wird, die noch einWeil-chenmit ihm spielt, bis sie ihn erledigt. Bekanntlich gibt es fürMenschen und Tiere die grausamsten Todesarten, in die ichmich jetzt nicht hineinversetzen will. Obwohl mein eigenerTod sich in einer undeutlichen Erinnerungsschwebe hält, diesich immer wieder zerlöst und nur bruchstückhaft wieder zu-sammensetzt, vermute ich, daß er gelinde war, ohne daßmeinLeib das Endtheater des Aufbäumens und des Widerstandesinszeniert hätte. Eine ruhigere Todesart paßt besser zu mir, weilmir mit zunehmendem Alter jede Form der Aufsässigkeit unddes Krakeels zuwider war. Aber vielleicht täusche ich mich,vielleicht sogar gründlich. In wesentlichen Dingen habe ichmich immer getäuscht. Es beschleicht mich sogar…

Ruhige Todesart hin oder her, das Gedicht vonDylan Tho-mas auf den Tod seines Vaters habe ich immer geliebt.VonDonot go gentle into that good night kann ich immer noch etlicheZeilen auswendig hersagen:

Page 19: Suhrkamp Verlag · Sympathie entlockt als der Name der Dietrich, wiewohl ich ihn nicht persönlich gekannt habe. Kommen wir auf das Thema Rückkehr zu sprechen: Die Maßnahmen, die

Do not go gentle into that good night,Old age should burn and rave at close of day;Rage, rage against the dying of the light.

Aber hier spricht nicht der Todgeweihte selbst, sondern seinSohn, der sich gegen das Schicksal des offenkundig geliebtenVaters auflehnt. Natürlich wäre es wunderbar, könnte sichmei-ne Seele unter die Schar der Vögel mischen und mit ihnenüber weit entlegene Landstriche hinwegziehen. Manche vonihnen haben witzige Namen, der Kakapo etwa, der allerdingsnur in Neuseeland während der Nächte zugange ist. Er kannnicht vom Boden abheben und behilft sich damit, auf Bäumezu klettern und herabzusegeln. Ein so schönes moosgrünes Ge-fieder wie ein Kakapo zu besitzen, wäre nicht schlecht, abermein Freund Gerhard Neugereuth, der ein leidenschaftlicherHobby-Ornithologe ist, hat mir erzählt, sein Schwanz sei vomSchleifen am Boden zerschlissen. Eine Seelendrift in den Lüf-ten wäre also in Kakapoform leider nicht möglich. Als Alba-tros vielleicht? Womöglich der aus dem berühmten Gedichtvon Samuel Taylor Coleridge,The Rime of the Ancient Mari-ner? Dieser sagenhafte Großvogel, der einem Segelschiff denWeg weist, vom Seemann jedoch getötet wird, worauf eineGeisterschiffahrt durch die Gefilde des Todes beginnt?

Ich sollte damit aufhören, mir vorzustellen, als Vogel unter-wegs zu sein. Das können nur die Engländer, sie sind ja welt-weit die größten Ornithologen, passionierte Beobachter ins-besondere von Seevögeln. Im übrigen wird ein Mensch, derdie Einkehr des Todes hinter sich hat, nicht zu einem Tier.Solche Verwandlungsgeschäfte betreibt die Mythologie, diedazu eigens Pavillons mit aufziehenden und wieder abflauen-den Brisen erfand, die durch Fensteröffnungen wehen. Zwei-fellos tut sie es auf zauberischen Dichterwegen, aber ich fühlemich der Wahrheit verpflichtet und kann da nicht mithalten.

Page 20: Suhrkamp Verlag · Sympathie entlockt als der Name der Dietrich, wiewohl ich ihn nicht persönlich gekannt habe. Kommen wir auf das Thema Rückkehr zu sprechen: Die Maßnahmen, die

Die Wahrheit ist spröde, meine ist simpel: Ich bin einsam innie gekanntem Ausmaß, aber kann nicht schreien oder michfluchend bemerklich machen. Tränen werden nicht produziert,es wäre auch ganz unsinnig, denn an einem nicht mehr vor-handenen Gesicht rinnt nichts herab. Allerdings kann ich flie-gen, aber nicht mit Hilfe von Schwingen und auch nicht auseigenem Antrieb, sondern eher im Sinne eines Hin- und Her-gewehtwerdens, das mich dahin und dorthin treibt, wobei derAnteil, den mein eigener Wille dabei spielen mag, vermutlichgering ist.Wenn man es leben nennen will, so lebe ich nur mehr in

Gemütszuständen und in einer schwer zu beschreibenden dif-fusen Form, die es mir ermöglicht, hin und wieder Blicke aufdie Erde zu werfen. Diese Sicht ist ganz anders beschaffen alsder Normalblick eines lebendigen Menschen. Meine Sehweisekann Mauern mühelos durchdringen, wenn ich unbedingtwollte, könnte ich sogar ins Innere eines menschlichen odertierischen Körpers schauen, könnte einHerz zucken sehen undden Weg beobachten, den die Nahrung durch Speiseröhre,Magen und Darm nimmt. Aber diesbezüglich ist meine Neu-gier begrenzt. Der medizinische Scharfblick hat mich nie in-teressiert.

Obwohl in meinem jetzigen Zustand bisweilen durchausvon einem Scharfblick gesprochen werden kann. In seltenenMomenten bin ich äußerst wach, fast schmerzhaft wach, danngeben sich meine nicht mehr vorhandenen Augen oder viel-mehr das, was von ihnen übriggeblieben ist, gefräßig der Viel-falt des Lebens hin, der ich gerade zufällig begegne. Doch so-fort stellt sich ein stechender Schmerz ein, weil mir klar wird,keinen Anteil mehr zu haben an den Handlungen eines Men-schen, der auf zwei Beinen herumspaziert, seine Arme und sei-nen Mund bewegen kann. Manchmal kommt es mir so vor,als würden Leute, die ich beobachte, ihr rühriges Zuhanden-

Page 21: Suhrkamp Verlag · Sympathie entlockt als der Name der Dietrich, wiewohl ich ihn nicht persönlich gekannt habe. Kommen wir auf das Thema Rückkehr zu sprechen: Die Maßnahmen, die

sein mit Absicht zur Schau stellen, um mir zu zeigen, wiemunter sie sind und ich es nicht mehr bin.

Es fragt sich, ob ich am wirklichen Dasein so sehr gehan-gen habe, wie es mir gerade vorkommt. Seit demTod vonMa-rie, die mir plötzlich wieder lebhaft vor Augen steht mit ihrernatürlichen Grazie, dem aufmerksamen Blick, wurde ich zu-nehmend ängstlich, weil mich die Nachrichten über die Kata-strophen, die keineswegs in allzu weit entfernter Zeit über dieMenschen hereinbrechen würden, mehr und mehr der Taten-losigkeit und Trübnis auslieferten. Die forsche Leninsche Fra-ge Was tun?, die der Revolutionär naturgemäß mit einer eis-kalt und bis ins Detail ausgearbeiteten Ideologie beantworteteund dabei kaum einen Stein auf dem anderen ließ, fand inmeinem Erwachsenenleben keinen Widerhall mehr. Die Stu-dentenzeiten rauschten so dahin mit aufgekratzten Theorien,von den französischen Philosophen zu uns nach West-Berlinüber die Grenzen geworfen, wo sich auf dem kommunistischenLeichnam eine tolldreiste Spielwiese eröffnete, auf der plap-pernder Unsinn sich mit subtilen freudianischen Theorienstritt, die alles mögliche in den Blick nahmen, allerdings nichtdie Gefahr der Auslöschung des Menschen durch den radika-len Raubbau an der Natur.Wieder einmal wird mir bewußt, wie sehr ich Marie ver-

misse, deren pragmatische Heiterkeit mich zuverlässig davorbewahrt hat, im Sumpf der tatenlosen Grübelei zu versinken.Bin ich einst tatsächlich Professor gewesen? Im FachbereichPhilosophie an der FU? Hatte ich Studenten, die bloß Witzeüber mich rissen, oder solche, die mir wirklich zuhörten?Warich Kantianer oder Hegelianer oder ein vermessener Wittgen-stein-Faselant, der das Dörrfleisch von dessen kargen Sätzenmit der eigenen Spucke wässerte? Womöglich war ich bloßein Schwätzer mit Imponiergehabe, der so tat, als wäre er …als könnte er Professor sein, wobei allein der Begriff Fachbe-