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Franz-Josef Mundt aus Ste1n und Glauben Ein bergischer Ritterroman

Sutton Verlag Leseprobe: "Macht aus Stein und Glauben"

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Das Bergische Land im 12. Jahrhundert. Der erste Sonntag im August ist für die Menschen in der Burg Berge ein denkwürdiger Tag. Auf seinem Sterbebett vermacht Graf Gottfried von Aue dem Burgkaplan Domeniko eine Schatulle voller Silbermünzen. Doch als Domeniko die Schatulle nach dem Tod des Grafen an sich nehmen will, ist sie verschwunden. Graf Gottfrieds Erbe ist sein Sohn Rudolf. Mit dem Bau einer neuen Burg über der Wupper will er seine Macht für jeden sichtbar demonstrieren. Doch damit schafft sich der junge Graf mächtige Feinde. Geldgierige Mönche, brutale Räuber und kriegerische Nachbarn bedrohen seine Herrschaft über das Bergische Land. Könnte ein feindlicher Normanne die Rettung aus der gefährlichen Lage bringen?

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Franz-Josef Mundt

aus Ste1n undGlauben

Ein bergischer Ritterroman

Franz-Josef Mundt

aus Ste1n und Glauben

Ein bergischer Ritterroman

Sutton Verlag GmbHHochheimer Straße 59

99094 Erfurthttp//:www.suttonverlag.de

Copyright © Sutton Verlag, 2009

Der Abdruck des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Schlossbauvereins Burg an der Wupper e. V.

Buch: 978-3-86680-478-4E-Book: 978-3-86680-775-4

Gestaltung: Markus Drapatz

1nhaltsverze1chn1s

Prolog 7

I. DieSchatulle 9

II. DieGrablege 39

III. Krähengezänk 69

IV. DieFehde 111

V. TodimKloster 161

VI. DieSachsenburg 185

VII. Reliquien 213

VIII.Amalrich,derReine 227

IX. DieneueBurg 243

Epilog 285

Quidquid agis, prundenter agas, et respice finem. Herodot

(Was immer du tust, handle klug und beachte das Ende.)

PrologEinBussardzogohneFlügelschlagSchleifenüberdemweitenTal.Sein Brustgefieder leuchtete hell vor dem blauen Himmel. MitscharfenSchreien tat erkund,dass erderHerrdiesesRevierswar.SeinHorstbefandsichfestverankertimGeästeineraltenEiche,dieamRandeinersteilaufragendenFelsplatteihreWurzelninsGesteinkrallte.

Der Greif hatte gewartet, bis die Luft über dem Fels, von derMorgensonneerwärmt,genügendAufwindgebotenhatte.DannwarermitausgebreitetenSchwingenvomRandseinesHorstesgestartet,hatte sich empor tragen lassen, um in engen Schleifen zu einemJagdflugaufzusteigen.

SeinescharfenAugenbeobachtetendieunterihmliegendeLand­schaft, die Wiesen und Äcker im Tal, das Dorf der Menschen mitdenkleinen,strohbedecktenHütten,dieWälderandenBerghängenunddasNetzwerkderBäche,derenWasserausdunklenSeitentälerninglitzerndenBänderndemFlusszustrebte.DerFlussdurchzoginscheinbarziellosenWindungendasbreiteTal.ErflosseineWeileamFußderFelswandentlang,boghinüberaufdieandereSeite,flossamDorfvorbeiunddannhinausineineweiteEbene,biserseinWassereinem viel größeren Strom übergab. Doch das gehörte nicht mehrzumRevierdesBussards.

Oben am Rand der Felswand stand nicht nur der Horstbaumdes Bussards, sondern auch die Burg, die Graf Gottfried von AuezusammenmitseinemBruderLotharinbeherrschenderLageweit­hin sichtbar zum Schutz seines Territoriums hatte erbauen lassen.DarunterweitetesichderoffeneTalgrund.DieumliegendenHügelund Berge gaben den Bauern Windschutz und Geborgenheit undließendennochgenügendSonne fürAckerbauundViehzucht ein­fallen.DieWälderimBerglandbotengutesHolz,dazuEichelnundBucheckernfürdieSchweinederBauernundreichlichWildfürdieHerrschaft.ImklarenWasserdesFlussestummeltensichFischeundim Spätsommer zogen vom großen Strom her Lachse herauf undweiterindieumliegendenBächezuihrenLaichgebieten.

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Der Bussard verließ seine luftige Höhe. Geräuschlos segelte eramWaldrandentlang.AlsersichabereinerKrähenkolonienäherte,derenNesterinsGeästhoherBuchengeflochtenwaren,löstensicheinigederschwarzenVögelmitaufgeregtemGeflatterausdenBäu­menundstobenihminwildemAbwehrflugentgegen.DerBussardwichdenAngreifernaus,ließsichzurSeitekippenundversuchtemithastigenFlügelschlägenzuentkommen.AberdieKrähenverfolgtenihn,stießenaufihnnieder,hacktenmitihrenSchnäbelnnachseinemKopf.ErstalsderGreifsichimFlugaufdenRückenwarfundseineKrallenemporreckte,ließendieKrähenvonihmab.

VondenZinnendesWehrturmsderväterlichenBurghattederjungeGraf Rudolf den Streit der Vögel beobachtet. Ein Greif wollte erschonsein,aberkeinBussard,dervorKrähenflüchtenmusste.Danndochbesser einFalke,der seineBeute imFlug schlägtoderbessernoch,eingroßerMilan,denniemandanzugreifenwagt.SostellteersichseinLebenalszukünftigerGrafRudolfvonAuevor.

DerBussard,dersichaufeinemkahlenAstniedergelassenhatte,spürte, dass dieser Tag, der mit einem wunderschönen Morgenbegonnen hatte, in schwerem Wetter enden würde. Weit entfernt,noch jenseitsdesgroßenFlusses, zeigten sichbereitsersteWolken.Die Menschen unten im Tal spürten bei ihrer Arbeit die zuneh­mende Schwüle. Der Vogel registrierte mit all seinen Sinnen, wiedieLuftFeuchtigkeitausdemTalzusammenzogundsieaufsteigenließ,sodasssichbereitskurznachMittagüberdemTalersteWolkenbildeten.

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1. D1e Schatulle AlsimJahre1099christlicheRitterdieMauernJerusalemserstürmtunddieHeiligeStadtdenHändenderUngläubigenentrissenhatten,breiteten sich unter den Adeligen und Hochgeborenen der Chris­tenheitStolzundZufriedenheitaus.ManwusstesichinderGnadeGottes und fühlte sich als Teil einer Ordnung, die vom Himmelkam.

ImJahre1100regierteKaiserHeinrichIV.dasReichzusammenmit seinem Sohn, der zu Beginn des Jahres 1099 zum Mitköniggekröntwordenwar.ErwardamitderfünftediesesNamensaufdemThrondesHeiligenrömischenReiches.Unermüdlichwarermitsei­nemGefolgeunterwegs,zogvoneinerPfalzzuranderen,saßmehrimSattelalsaufeinemderThronsessel,dieinjederKaiserpfalzaufihnwarteten.SeinVaterhattejusterstFriedrichvonSchwarzenbergzumErzbischofvonKölnerhoben.AlsReichsfürstundKanzlervonItalienwarauchFriedrichmehraufReisenalsinseinerBischofsstadt.Sowie sichderKaiser aufdieTreueundGefolgschaftderFürstenund Herzöge verlassen können musste, mussten die Fürsten undHerzöge aufdieTreuederMinisterialen,derGrafenundAdeligenbauen, und damit auf alle, denen sie ein Lehen, Amt und Würdenverliehenhatten.

DerersteSamstagundderersteSonntagimAugust1100solltenfürdiekleineGrafschaft,fürdieMenschenimTalundinderBurgaufdemFelsspornoberhalbderDhünndenkwürdigeTagewerden.DieNacht war furchtbar gewesen. Am Nachmittag zuvor hatten sichschwereGewitterwolkenüberdemTalzusammengebraut.Siewarenvon Westen heraufgezogen, hatten sich zu dunklen WolkentürmenaufgebautundderSonneihrLichtgenommen,nochbevoresAbendgeworden war. Später entluden sich daraus Blitz und Donner undeinRegen,wie ihndasTalunddieBergedarumseit langemnichterlebthatten.

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GrafGottfriedvonAuelagmitschmerzverzerrtemGesichtinsei­nemSchlafgemach.JederAtemzugverursachteihmPein,alsbohrtensich Lanzenspitzen in seine Brust. Bisweilen blähte ein Windstoßdie schweren Vorhänge vor den offenen Fenstern und ein SchwallschwülwarmerLuftzogdurchdenRaum.KalterSchweißstandihmaufderStirn.DieHaareklebtenandenSchläfen.DieAugenirrtenhilfesuchend umher. Mit schwacher Hand winkte er den Knappenherbei,deranderTürWachehielt.MühsamformteerdieWorte:

„Hunold,wannkommteinArzt?“Der Knappe nickte eifrig, als wolle er seinen Herrn beruhigen.

DennochklangseineStimmehilflos:„Unsere schnellstenReiter sindnachKölnunterwegs.Morgen,

vielleichtmorgen,soGottwill,morgen.“Der Graf versuchte, sich etwas aufzurichten. Sein Atem ging

kurzundflach.DieimSchmerzzusammengezogenenAugenbrauenverliehen ihmeingrimmigesAussehen.DerBartumdieschmalenLippenzitterte.Kaumhörbarhauchteer:

„PaterDomeniko,holPaterDomeniko.“DerKnappeschauteaufseinenHerrnhinunter:„UnddieGräfinundeuerSohn,GrafRudolf“,fragteermitsor­

genvollerStimme,„sollendienichtauchkommen?“DerGrafschütteltekraftlosdenKopf:„HolPaterDomeniko,nurPaterDomeniko.“Der Knappe ging leise aber mit schnellen Schritten durch den

Raum,öffnetedieschwereEichentür,trathinausaufdenüberdachtenGangund liefzumWehrganghinüber.DemBewaffneten,derdortWachehielt,warfereinenbedeutungsvollenBlickzu.Erbemerktenicht,dassihnderSohndesGrafenvondenZinnendesBergfriedsausscharfbeobachtete.RudolfverfolgtedenWegdesKnappenvomWehrgangdieTreppehinunterüberdenInnenhofundaufdiePfortezu,hinterderderBurgkaplanseineKlausehatte.

Als der Knappe außer Sicht war, wandte der junge Graf seinenBlick wieder dem Tal zu. Er blieb an der kleinen Kirche am RanddesDorfeshängen.AlseinzigesSteingebäudehobsiesichvondenärmlichenHüttenderBauernab.

„Dafür hat er Geld“, murmelte Rudolf und presste die Lippenaufeinander,„einGrabmalfürseinenBruder,meinenOnkelLothar,den ich nie kennengelernt habe. Wie viele Schwerter und Ketten­hemdenhättemandafürkaufenkönnen–undnunsollauchnoch

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eineMauerumdieseKirchegebautwerden.“ErschütteltedenKopf,blicktenachuntenindenkleinenInnenhofderBurg,aufdasDachdes Pferdestalls, der gerade einmal zwölf Pferden Platz bot, undhinüberaufdasGebäude,dasihmundseinerFamiliealsWohnungdiente.

„Allesvielzuklein“,zischteer,„wennicheinmaldieGrafschaftübernehme,werdeichsiegroßundmächtigmachen,undichwerdemireinvielgrößeresGrabmalbauen.“

UntenimHofpochtederKnappeenergischgegendiePforte.EsdauerteeineWeile,bisPaterDomenikoöffnete.

„Wasgibtes?“,gingerdenKnappenharschan.„DerGraf,derHerrGrafschicktnachihnen!“Domenikoschautenachoben indiesichauftürmendenGewit­

terwolken.ErwareinschmächtigerMann,wasauchdiebodenlange,weiteBenediktinerkuttenichtverbergenkonnte.Ausseinemschma­len Gesicht schauten unstete Augen. Eine lange, spitze Nase unddünneLippengabenihmdasAusseheneinesVogels.AlsdritterSohninniederemAdelsstandgeboren,warihmdasKlerikerdaseinvorher­bestimmt.WiderwilligschüttelteerdenKopf.

„Muss das jetzt sein – ich habe doch dem Grafen am MorgenschondieMessegelesen.“

Seine Stimme klang scharf und drohend. Der Knappe mochtedieseStimmenicht,dieihmbeidenPredigtenimmereinenSchauerüberdenRücken jagte.TapferzogerdieAugenbrauenzusammen,nicktemehrmalsmitdemKopfundstammelte:

„Doch,doch,derHerrGrafwünschtesausdrücklich.“„Sag, ich komme gleich.“ Mit diesen Worten drehte sich der

MönchumundginginseineKlausezurück.AuseinerTruheholteerohneEiledieStolaundlegtesieum.SicherwürdederGrafwie­derbeichtenwollen, ihmnocheinmalalldasgestehenwollen,vondemerglaubte,dassesSündenseien.ErnahmdasGefäßmitdemgeweihtenÖl,dennsicherlichwürdeerauchwiedernachderhei­ligenSalbungverlangen.Vielleichtwürde ernunendlich erfahren,dachte der Mönch, wie Gottfried von Aue zu seinem Lehen undzu seiner Grafenwürde gekommen war? Mit Groll entsann er sichdesTages,andemPriorHeribertihnausdemehrwürdigenKlosterHeiligGeistzuKölnmitgenommenhattezurWeihedieseselendenKirchleinsuntenimTal,dieGrafGottfriedalsGrabkirchefürseinenBruderhatteerbauen lassen.NachderKirchweihehattenderGraf

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und Prior Heribert ausgehandelt, dass er, Domeniko von Lusberg,KaplanaufdieserkümmerlichenBurgwerdensollteunddazunochSeelsorgerfürdieBauernimTal.AlsPrivilegiensollteerdafüreineeigeneKlauseaufderBurgsowiezweiMahlzeitenamTagerhalten.„BedenkedieSicherheiteinerBurg,meinSohn“,hattePriorHeri­bertgesagt,„undseideneinfachenLeuteneinguterSeelsorger.“

WannwürdeerendlichwiedernachKölninseinKlosterzurück­kehrenkönnen,woesMitbrüdergab,BücherundChorgesang?

WozuhatteerLateingelernt,LesenundSchreibenunddieKunst,einengeistlichenDisputzuführen?

Als er über den Innenhof schritt, bauschte ein Windstoß seineKutteunddieStolawickelte sichumseinenKopf.Er stolperte aufdemgrobenPflasterundwärebeinahegestürzt.DerBewaffneteaufdemWehrgangdrehtesichweg,umeinLachenzuverbergen.DemjungenGrafenRudolfspielteeinspöttischesLächelnumdieMund­winkel.ErhobdieSchultern,seinKettenhemdklirrteleise.

AusderKüchenebendemGesindehausdrangenaufgeregteStimmenherüber. Einzelne Wortfetzen wechselten mit lauten Ausrufen, wie„Ohweh“und„BarmherzigerGott“.DannklatschtediealteAnne,diedenGrafenschonvonKindesbeinenankannte,indieHändeundriefmitenergischerStimme:

„Jetzt wird aber gearbeitet, ihr dummen Hühner. Jeder ReiterfälltschonmalvomPferd,daranstirbteinkräftigerMannnicht,undderHerrGrafisteinkräftigerMann.“

Mechthild,einearbeitsameMagd,warfdenKopfhoch:„AberderHerrGrafistsehrschwerverletzt,erwirdsterben,er

sollschonBlutgespuckthaben.“„Ja,undseinSturzsollganzschlimmgewesensein“,mischtesich

diejungeSiglinddazwischen,„ichweißesvomPferdeknechtGun­therundderweißesvoneinemKnappen,derdabeiwar.“

„DuMiststück,warstalsowiederbeidiesemPferdeknecht?“,fuhrMechthildherum.

„SelberMiststück“,fauchteSiglindzurück.„Ichweißgenau,wieeswar.DerGrafsolllockerimSattelgesessenhabenundsichdabeiumgedrehthaben,dasolleinRebhuhn,vomGaulaufgeschreckt,lautgackernddavongeflogensein.“

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SiglindsWangenglühtenalssiefortfuhr:„DerGaulhatgescheut,ersollsichaufgebäumtunddabeieinen

SatzzurSeitegemachthaben.DadurchsollderGrafimhohenBogenausdemSattelgeflogenundmitderBrustaufdiespitzeEckeeinesFelsblocksaufgeschlagensein.–Ja,sowares,sohatesmirGunthererzählt.“

SiglindstrichsichdieHaareausdemGesichtundschauteMecht­hildherausforderndan.Dieschnaubte,ihrBusenhobsichunterdemgrobenArbeitskittel:

„Du gehst mir nicht mehr in den Pferdestall, dafür werde ichsorgen!“ZornesrötestandinihremGesicht.

„Schluss, ihr beiden“, ging Anna dazwischen, „der Graf ist einstarker Mann, er wird sich wieder erholen. Und nun wird Teiggeknetet, die Brote machen sich nicht von alleine. Was soll unsereHerrinsagen,wennsienichtfertigwerden!“

IndiesemAugenblickwarfeinBlitzseinenhellenScheinindieKüche.AnnabekreuzigtesichundMechthildundSiglindmachtenes ihr nach. Der darauf folgende Donnerschlag ließ alles Geredeverstummen.

Bereits am frühen Morgen dieses Tages war Baumeister RugbertvonHöhensteinhinausgeritten.ZweiLanzenträgerbegleiteten ihn.Rugbert war ein Neffe des Grafen Gottfried, ein tüchtiger jungerMannvonhohemWuchs,derbeimBauderneuenTorbefestigungendergroßenStadtKölndabeigewesenwar,umdortseineKenntnissezuerweitern.IhmhattederGrafdieVerstärkungdesBurgtorsanver­traut.DieswardemGrafennotwendigerschienen,nachdemeinJahrzuvoreineHordeNormannenmitihremSchiffdenRheinhinauf­gekommenundanderMündungderDhünnanLandgegangenwar.DieRäuberhattendienächstliegendeBauernschaftüberfallen,einigeMänner, die sich ihnen entgegengestellt hatten, mit Pfeilen durch­bohrt, zwei Frauen, die nicht schnell genug in den Wald flüchtenkonnten, geschändet, Vorräte geplündert, Schweine und Gänse aufihre Schiffe getrieben. Dann waren sie wieder davongefahren. AlsderGrafmitseinenMännerneingetroffenwar,hatteernocheinenderUnholdegefangennehmenkönnen,dieübrigenhattensichaufihr Schiff retten können. Trotzdem hatte er seinem Lehnsherrn,

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ErzbischofFriedrich,dieVertreibungderEindringlingealsVerdienstgemeldetunddafüreinPrivilegerhalten.ErdurfteeineFähreüberdenRheineinrichten,da,wodieDhünnGeröllbänke indenFlusshineinschob und sich so ein leichter Übergang über den breitenStrombildete.DieEinnahmengingenzu seinenGunsten, erhatteaber zur Sicherung der Fähre eine bewaffnete Truppe von sechsMännernbereitzuhalten.

DemgefangenenNormannenwarendieSehneninseinerrech­tenKniekehledurchtrenntworden,danachhattemanihndemDorf­ältestenimTalzumFrondienstübergeben.

DerGrafwarmitderArbeitseinesNeffenzufriedengewesen.DasBurgtorwarnichtnurausgebessert,sondernauchverstärktwordenund angreifende Feinde konnten besser abgewehrt werden. NunsolltederjungeBaumeistereineUmfassungsmauerfürdieneueKir­cheimTalbauen.EinumfriedeterRaumsollteentstehenmiteinemfesten Tor und vier kleinen Türmen an den Ecken. Diese MauersolltedenBauernSchutzbietenvorplötzlichenÜberfällenbewaff­neterRäuberbanden,dieallerortendasLebenunsichermachten.

Der Bau der Mauer und des Tores war keine große Aufgabefür Rugbert. Aber er wollte sie zur Zufriedenheit seines Onkelsausführen.UnddeshalbhatteersichaufdenWegzumSteinbruchgemacht,woseitzweiTageneineHandvollBauerndabeiwar,Steinezubrechen.ErwolltedieQualitätderSteineprüfen.Fürdieeigent­licheMauerwürdeneinfacheBruchsteinegenügen,aberdiePfeiler,aufdiederTorbogenaufgesetztwerden sollte,mussten ausgutem,festemMaterialbestehen.

Der schmale Reitweg führte am Fischbach entlang, ein schnellfließendesGewässer,dasauseinemSeitentalherausderDhünnent­gegenstrebte.DiePferdegingenimruhigenSchritt.DiedreiMännersaßenschweigendimSattel.DiebeidenLanzenträgerimKettenhemdundmitEisenhaubebeobachtetenaufmerksamdenWald,derjungeBaumeisterhingseinenGedankennach.

EswareinwunderschönerMorgen;dieLuftwarlau;inderHöheschrieeinBussard,abereswarschonzuspüren,dassdieserTagsehrheißwerdenwürde.DannhörtensieHammerschläge;wenigspätererreichtendieMännerdenSteinbruch.

Der Baumeister bemerkte, dass die Karren schon reichlichbeladenwarenundbegannsofort,dieSteinezuprüfen.Wasersah,

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konnte ihn nicht zufrieden stellen. Viele der Steine zeigten RisseundSpalten;eswarenBruchsteine,diekeinegrößerenLastentragenkonnten. Er rief die Männer herbei, deutete auf einige Steine undsagtemitbestimmtemTon:

„Wiederabladen,dieseSteinesindnichtzugebrauchen.“Er ließ sich vom Murren der Bauern nicht beirren, schaute in

demSteinbruchnachobenunddeutetehoch:„Da,diesePlattescheintfestzusein;diesollgebrochenwerden;

darauslassensicheinigeguteSteineschlagen.“ErzeigteaufdennächststehendenMann:„Wieheißtdu?“„Wutrich.“„Wutrich, klettere mit der Brechstange nach oben und löse die

Platte.“WutrichbrummteetwasUnverständlichesinseinenmächtigen

Bart;gegeneinenAdeligendurfteeralsBauernichts sagen; seineschwielige Hand griff eine der langen Eisenstangen; er stapfte andenSeitenranddesSteinbruches,gabeinemderOchsen,diedortGrünzeugvomBodenrupften,einenStoßindieFlankeundstieghoch.

ObenangekommenwarfereinenBlicknachunten,tratandenRanddesSteinbruchsundsuchteeinegeeigneteStelle,einenkleinenSpaltoderdergleichen,woerseineStangeansetzenkonnte.

„Wutrich,passauf!“,wurdeihmvonuntenzugerufen.Erstocher­temitderabgeflachtenSeitederStangeimGestein,fandeineLücke,stießdieStangemitSchwungindenSpalt,setzteseineganzeKrafteinundspürte,wiediePlattenachgab.

Erhielt inne, trat andenRand, schautenachunten,obernie­manden gefährden würde, wenn er die Steinplatte vollends lösenwürde.Erlehntesicheinwenigvor,wobeiersichandersenkrechtimSpaltsteckendenStangefesthielt.PlötzlichbotdieStangekeinenHaltmehr;derStein,aufdemer stand,gabunter seinemGewichtnach; er verlor das Gleichgewicht und stürzte in die Tiefe. DieSteinplatte,dieerobengelösthatte,poltertehinterihmher.WutrichversuchtedenSturzabzufangen;mitdenFüßenvorweglandeteerimGeröll, verspürte einen stechenden Schmerz, wollte sich aufraffen,aberimnächstenAugenblickwurdeervonderherabfallendenStein­platteamHinterkopfgetroffen.DieMännerschrienauf;diePferdederBewaffnetenscheuten.

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„Herausholen!“,brülltederBaumeister.EinigeMännersprangenvor;abereswarschonzuspät;WutrichlagmitaufgerissenemMundundgebrochenemSchädelinseinemBlut.

„Ich habe es gewusst“, stieß einer der Männer hervor, „dieserSteinbruchistnichtgut;hierhausteinBerggeist,dernichtwill,dasswirseineWohnungzerstören.“

„Seistill“,knuffteBertrichihmindieSeite,„lasssoeinenAber­glaubennichtdenBaumeisterhören.“

„DagulfhatRecht“,brummteeshinterBertrich,„immerwennesindiesenSteinbruchgeht,hängtmirmeineHildeihreAmulettkapselum,damitmirnichtsgeschieht.Dashilft!“

DieMännerstandenbetretenherum;keinerwusste,waszutunwar,bisderBaumeisterdieStimmeerhob:

„Der Tod eures Freundes ist furchtbar; aber der Stein, der vonihmgebrochenwurde,isteinguterStein.LadetihnaufeinenKarren;er sollalsEckstein fürdenTorbogendienen;und immerwenn ihrinZukunftdenFriedensraumeurerKirchebetretet,gedenketeuresFreundes,deralsersteraufdemFriedhofbeerdigtwerdensoll!“

DieMännertratenunschlüssigaufderStelle;einigeschütteltendenKopf, anderenickten,bis sichzweidaranmachten,denLeich­namausdemGeröllaufzunehmen.SoforttratenanderehinzuundgemeinsamtrugensiedenTotenhinüberzueinemKarren,aufdennochkeineSteinegeladenwaren.

Der Baumeister nickte; die Tatsache, dass die Bauern wiederbegonnen hatten, etwas zu tun, war für ihn ein gutes Zeichen. ErbestiegseinPferdundschauteumher.ErspürtedieSchwüle,diesichbisindenWaldhineinausgebreitethatteundersahdiesichauftür­mendenWolkenzwischendemBlätterdach.Erüberlegte,waserdenBauernnochsagensollteundschauteindenBach,derungerührtvonallemdahinfloss.

„EswirdeinGewittergeben;bleibtmitdenOchsensolangehier,bisdasGewittervorbeiist;spanntsienichtan;ihrwisst,beieinemGewittergehensie leichtdurchundsinddannnichtmehrzubän­digen.“

AberdaswusstendieBauernbesseralserundsiewusstenauch,warumeseinGewittergebenwürde:DerBerggeisthatteseineVer­wandtenherbeigerufenunddieGötterderLuftstandendenGötternderErdebei.Wotanwürdemit seinemDonnerwagenamHimmelentlangfahrenundallesüberwachen.

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DerBaumeisterschautenachWortensuchendumher:„Ja,undichgestatteeuch,sovieleFischewieihrkönntausdem

Bach zu fangen; und kommt ins Dorf zurück, wenn das Gewittervorbeiist;morgen,esreicht,wennihrmorgenzurückkommt.“

Er winkte den Lanzenträgern, die während der ganzen Zeit imSattelgebliebenwarenundsierittendavon.

Die Bauern opferten den ersten Fisch, den sie gefangen hat­ten,bedankten sichundgaben ihndenFlussgeisternzurück.DenzweitenlegtensieinsFeuer,ließenihnverbrennenalsDankandieLuftgeister, den dritten vergruben sie in der Erde. Die RestlichenspießtensieaufdünneStöcke,hieltensieüberdieGlutundaßensiemitBehagen.Dannzucktendie erstenBlitze,DonnergrollteundbaldprasseltederRegenherab.DieBauernberuhigtendieOchsenund banden ihnen die Vorderläufe fest. Sie selbst verkrochen sichunterdieKarren.

GenauzuderZeit,alsimSteinbruchdasUnglückgeschah,betrataufderBurgPaterDomenikodasZimmerdesaltenGrafen.

„DerHerrGrafhatmichgerufen“,sagteermitweicherStimme.GrafGottfrieddrehtemühsamdenKopfundstöhnte.DerMönch

ginglangsamaufdieBettstattzuundsahindasbleicheGesichtseinesHerrn.Er sahdenSchweißaufderStirnunddenSchmerz indenAugen.DerZustanddesGrafenhattesichseitdenMorgenstundenverschlimmert.

Der Graf nickte, hob einen Arm und zeigte auf eine großeEichentruhe,dieamFußseinesBettesstand.Domenikobeugtesichhinunter,umdieWortedesGrafenverstehenzukönnen:

„DortdieTruhe,öffnesie,amBodenrechtsunterdenPergamen­tenbefindetsicheinStift.“

Der Graf hustete und einige Spritzer Blut folgten; Domenikohob den Kopf, wendete sich ab und trat einen Schritt zurück. DerGraf winkte ihn wieder heran. Seine Worte kamen langsam undstimmlos:

„ZiehdenStift,öffnedenBodenundbringemirdieSchatulle.“SeinGesichtzeigte,dassjedesWortinseinerBrustwehtat.

BeimWort„Schatulle“weitetensichdiePupillendesMönches.ErwarfnocheinenkurzenBlick indasGesichtdesGrafen, erhob

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sichundwarmitzweiSchrittenbeiderTruhe.ErließsichaufseinrechtesKnieniederundhobdenschwerenDeckelhoch.ErsaheinSchwert, zweiDolcheunddanebeneinKurzschwert.Rechts,hattederGrafgesagt.ErnahmdaslederneWams,dasdortlagundlegteesaufdieWaffen.EinegroßeLedermappekamzumVorschein.Behut­samöffneteerdenDeckelunddergeübteBlickdesKlerikersfielaufbeschriebenesPergament,DokumenteundUrkundenundihmwarbewusst,dasserdiePrivilegien,PfründenundLehnsverträgeseinesHerrnvorsichsah.

Er legte die Ledermappe beiseite und darunter an der Außen­wand der Truhe kam der Stift zum Vorschein. Vorsichtig zog erdaran und hörte ein Geräusch, wie wenn zwei Holzstäbe anein­ander schlagen. Der Teil des Bodens, auf dem die Ledermappegelegen hatte, ließ sich anheben und darunter kam eine SchatullezumVorschein.

SofortgriffderPaterzu;dieSchatullewarschwer;erbenötigtebeideHände;erhobsieanundstandauf.Erahnte,wassichindieserSchatullebefandundtrugsiewieeinenReliquienschreinzumLagerdesGrafen.

Angesichts der Schatulle huschte ein Lächeln über das Gesichtdes Grafen. Er hob den linken Arm, um dessen Handgelenk einbreitesLederbandgeschlungenwar.DiesesLederbandhatteanseinerOberseiteeindünnes,röhrenartigesFutteralundausdiesemFutteralzog der Graf mit den Fingernägeln von Daumen und ZeigefingerseinerrechtenHandeinenStiftausElfenbein.

DomenikoverfolgtealleBewegungendesGrafengenauundalsdieserihmdenStiftentgegenhielt,grifferhastigzu.DerGrafzeigteauf eine kleine Öffnung an der Seite der Schatulle. Der Mönchwusstesofort,wasdasbedeutete.ErführtedenStiftbehutsamindieÖffnungundalseretwasDruckausübte,hörteereinleises„Klick“.Der Deckel der Schatulle sprang einen Spalt weit auf. Er öffnetediesenvollendsundsah,dasssieprallgefülltwarmitschimmerndenSilbermünzen.

Domeniko schaute in das Gesicht seines Herrn. Es sah aus,wie das Gesicht eines zufriedenen Kindes. Dann betrachtete er dieMünzen,ließeinigedurchseineFingergleitenundwogsieinseinerHand.SovieleMünzenhatteernochniegesehen.Erwusstenicht,welchen Wert der Inhalt dieser Schatulle hatte; er wusste nur, dassdiesersehrhochseinmusste.

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Der Graf streckte einen Arm aus; er fingerte nach dem weitenÄrmel der Kutte des Mönchs, krallte seine Hand in den Stoff ausgrobemLeinenundzogseinenBurgkaplanzusichhin.SeineLippenzitterten als er mit feierlichem, nun deutlichem Ton zu sprechenbegann:

„SiehdiesesGeld!EssindwertvolleDinareundreichlichKölnerPfennige,alleausgutemSilber.DieGnadeGotteshatesmirzuflie­ßenlassen.“

Ermachte einePause.Domenikowartete gespanntdarauf, dassderGrafweitersprach.

„Benutze dieses Geld; ich werde bald sterben und vor meinenRichtertreten;benutzediesesGeld!“

DomenikoschütteltedenKopf:„DerHerrGrafwirderststerben,wennesdemHerrnimHim­

melgefällt.“ErversuchteseinerStimmeWürdezugeben.DerGrafwinktemitseinerrechtenHandab,währenddieandere

auf seinem verletzten Brustkorb lag. Er deutete irgendwo hin undschriebmitdemZeigefingerunbeholfen indieLuft.DannschauteerseinenKaplanvollanundstießhervor:

„BereitemireinewürdigeGrablegeimChorraummeinerKirchenebenmeinemBruderLotharundachtedarauf,dassbeijedemGot­tesdienstfürmichundfürmeinenBrudereifriggebetetwird.“

Er machte eine Pause; das Sprechen strengte ihn furchtbar an.DomenikonickteundderGraffuhrfort:

„GehenachKöln,gehezuBaumeisterWilliboldvonTreuenfels,eristmeinFreund.BestellebeiihmeineGrabplatte;erweiß,waserzutunhat.BestellebeiihmeinenMeister,dermeineKircheausmalt,erweiß,welcherMeisterdaskann,undkaufefürmeineKircheeineReliquie,aufdassichundmeinBruderinderNäheeinesHeiligenunsereletzteRuhefindenundvieleguteChristenkommenundfürunserSeelenheilbeten.“

ErneutzogerdenMönchzusichhinalserweitersprach:„Du weißt, wie man das in Köln einrichtet und der Rest des

Geldes,alles,wasdannnochübrigbleibt,sollfüreinKlostersein.“In den Zügen des Grafen machte sich Erschöpfung breit. Im

KopfdesMönchestatensichWeltenauf.VoneinemAugenblickaufdennächsten saher sichalswichtigePersönlichkeit, saher sichalsVollstreckerdesNachlassesdesGrafenGottfriedvonAue.ErsahsichmiteinerSchatullevollGeld,Geld,mitdemmaneinganzesLeben

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bestreiten konnte, Geld, das ihm bei seinen Mitbrüdern Achtungverschaffenwürde,Geld,mitdemereinehoheStellung inseinemOrdenanstrebenkonnte.MöglichkeitenüberMöglichkeitenrastendurchseinenKopf.

IndiesemAugenblickdurchzuckteeingrellerBlitzdasZimmer;sein Licht flackerte noch an den Wänden, als ein fürchterlicherDonnerschlagfolgte.Esklang,alswürdendieSäulendesHimmelsbrechen.DieAugendesGrafenweitetensich:

„Erbarmen.DerHerrruftmich!“DomenikoschauteaufihnhinunterundschütteltedenKopf:„EinGewitter,esistnureinSommergewitter!“DerGrafgriffwiederdenArmdesMönches:„MorgenistSonntag“,stießerhervor,„morgensollderehrwür­

digeVatermeinemBauernvolkeinenGottesdiensthaltenunten imTal in der Kirche, auf das alle gute Christen werden und sie demewigenFeuerderVerdammnisentrinnen!“

WiederzuckteeinBlitzundseinblauesLichtflackerteimZim­mer;dernächstegrässlicheDonnerfolgte.DerGrafbekreuzigtesich.Aus seinen Augen sprach Angst. Domeniko hielt noch immer dieSchatulleindenArmen;ertrataneinFenster,schautenachdraußenundsah,dassuntenimTal,wodieHüttenderBauernstanden,derBlitzeingeschlagenhatte.ErsaheinloderndesFeuer,setztedieScha­tulleabundschlugeinKreuzinRichtungdesFeuers:

„Herr sei ihren Seelen gnädig“, murmelte er und wusste indiesem Augenblick, welche Predigt er am morgigen Tag dem Bau­ernvolkhaltenwürde.ErnahmdieSchatullewiederaufunddrehtesichum.

DerGrafhattesichetwasaufgerichtet.ErwinkteundzeigteaufdieTruhe:

„Stelle die Schatulle wieder an ihren Platz“, seine Stimme warruhigunddeutlich,„duweißtjetzt,wosiesichbefindet.Benutzesie,sobaldderHerrmichzusichgerufenhatundsorgedafür,dassjeder­mann,wannimmerermeineKirchebetritt,fürmichbetenwird.“

DomenikopresstedieSchatulleansichundwarfBlickeumher,alssucheereinneuesVersteckfürseinenSchatz.AberderGrafdeu­tete noch einmal unmissverständlich auf die Truhe. Er folgte demBefehl seines Herrn und schloss den Deckel. Beim Einrasten desSchlossessprangderStift,derzumEntriegelnnötigwar,heraus,undwährenderdieSchatullewiederaufdenBodenderTruhestellteund

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dasBrettdarüberinseineHalterunglegte,wollteerdenElfenbein­stift in den Ärmel seiner Kutte gleiten lassen. Da hörte er, wie derGrafmitfesterStimmebefahl,dassderStiftwiederindasFutteralanseinemHandgelenkgestecktwerdensolle.

VondraußenkameinlanggezogenesDonnergrollen.Domenikogehorchte. Er nahm die Hand des Grafen und schob den Stift indie Öffnung des Lederbandes. Behutsam legte er die Hand wiederab.Sofort fühltederGraf,obderStift auchweit genugunddamitunsichtbareingestecktwar.ErnicktedemMönchzuundsagtemitleiserStimme,ersolleihnnunalleinelassen,erwolledieNachtmitseinemHerrnJesusChristusverbringen.

„Und sage dem Knappen, er soll draußen vor der Tür Wachehalten.“

DamitschlossderGrafdieAugenundtrotzderSchmerzenzeigtesichZufriedenheitinseinemGesicht.„WelchfrommerMann“,dach­teDomenikoundschütteltedenKopf.„WoherbloßdieseplötzlicheFrömmigkeit?“,schossesDomenikodurchdenKopf.„Gut–derGrafhatteeineKirchebauenlassenuntenimTal.AberdastatenvieleAde­lige;damitwolltensie ihrenRangundihreBedeutungnachaußenzeigen.Siewolltendeutlichmachen,wassiefürihreUntertanenzutungewilltwaren,undsiewolltenihresGleichendieMachtunddenReichtumkundtun,aufdaskeineraufdenGedankenkommensollte,ihnenetwasstreitigzumachen.AberdieseFrömmigkeit…“

Pater Domeniko verließ das Gemach; er schaute in die WolkenundsprachkurzmitdemKnappen.Eswarfastdunkel.DerAbendwarfrühhereingebrochenandiesemTag.GenauindemAugenblick,als er auf den Innenhof trat, fielen die ersten dicken Tropfen vomHimmel.Unddannwares,alsseiendieWolkengeplatzt.Wietau­sendSturzbächeschüttetederRegenhernieder.SchnellenSchritteseiltederMönchzuderPforte seinerKlause,öffnetesiehastigundverschwand. Er sah nicht mehr, wie Baumeister Rugbert und zweiLanzenträgerdurchdasBurgtorhineinsprengten.

WährendderBurgkaplanimZimmerdesGrafenweilte,standGräfinSigelunde nachdenklich in der Fensternische ihres Gemachs. TiefeSorgenfaltenlagenaufihrerStirn.Sieschauteindiesichzusammen­brauenden Gewitterwolken und dachte an ihren Ehemann, der im

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Nachbarzimmer mit dem Tode rang. Sie wusste, wie es um ihrenMannstand,dennsiewareinekluge,gebildeteFrau.

DieGräfinlehntesichetwasausdemoffenenFensterundschau­teanderwehrhaftenMauerhinunter.SiefühltesichsicherundwohlindieserBurg,wennihrauchbisweilenallesetwasengvorkamundsie es bedauerte, keine großen Empfänge geben zu können. DochnundiesesUnglück.

DerGrafwürdesterbenundjemehrsiesichmitdiesemGedan­kenbeschäftigte,destomehrgrübeltesieüberihrenSohnRudolf.Esbekümmerte sie, dass sie ihrenSohn sowenigkannte.Seit seinemsiebtenLebensjahrwarerzurErziehunginHerrenhäusernundaufBurgengewesen,hattenureinigeMalefürkurzeZeitseineHeimat­burg besucht und war dabei vom Kind zum Mann gewachsen. Erhattelesenundschreibengelernt,etwasLateinunddenUmgangmitZahlen;vorallenDingenaberwarerimUmgangmitdemSchwertundderLanzegeschultworden,wareinguterBogenschützegewor­denundeinverwegenerReiter.InwieweiterauchSitteundAnstandgelernthatte,daskonnteSigelundenochnichtrichtigeinschätzen.

Erst seit dem Frühjahr war Rudolf endgültig zurück auf derBurgdesVaters.BeiseinemOheimaufBurgRingwaldhatteerdieSchwertleite erhalten. Und nun trat er als junger Draufgänger auf,prahlte mit seinen Erlebnissen am Hof des Herzogs von Brabant,verspottetedieBurgseinesVatersalselendesKrähennest,zeigtesichnurvondemWildreichtumimUmlandderBurgundvonderTat­sache, dass man an einem Tag nach Köln reiten konnte, begeistert.ImmerwiedermaßersichimSchwertkampfmitdenMännernderBurgbesatzung,oftzumVerdrussdesWaffenmeistersHadubrant,dersah,dassdieKräfteunddieFähigkeitendesjungenGrafennochnichtandieseinerbestenMännerheranreichten.

ObihrSohnfähigseinwürde,dieBurgunddasdazugehörendeLehenzuführen,daswussteGräfinSigelundenicht;undvorallenDingenwusste sienicht,obderErzbischof ihremSohndasLehenüberhauptüberschreibenwürde,denneslagalleineinderMachtdesErzbischofs,diePrivilegienaufeinenNachkommendurchUrkundezuübertragenodersievölligneuzuvergeben.

UnddannwardanochArnevonTomberg,welchenGrafGottfriedeinst beim gemeinsamen Knappendienst kennen gelernt hatte. DaArne als Zweitgeborener seinem Vater gegenüber keinen Anspruch

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auf Erbe und Lehen geltend machen konnte, hatte Gottfried demJugendfreunddasAmtdesBurgvogtesangeboten.GräfinSigelundemochtediesenJugendfreundihresMannesnichtwirklich.Erwarihrzuglatt,zudiensteifrig,dazuwarerjemand,dernieetwasübersichselbstsagte.BisweilenhattesiedenEindruck,alsstrebedieserArnevonTomberg selbst einTerritoriumalsLehenbeimErzbischof an.IhrMann jedochvertraute seinemVogtdieVerwaltungaller seinerBesitztümeran;waskonntesiealsFraudaausrichtenundwasver­standsievonMännerfreundschaften.Auchmusstesiezugeben,dassArneseinAmtvollausfüllte–bisherjedenfalls.

DieGedankenderGräfinschweiftenumher.Siedachtean ihreFreundin Richenza, die sie während ihrer Mädchenjahre im Klos­terstiftzuWerdenkennengelernthatte.RichenzahattedenGrafenWilhelmvonRüdensteingeheiratet,dessenGrafschaftimNordenandasGebietdesGrafenvonAuegrenzteundebenfallseinLehendesErzbischofsvonKölnwar.

VorzweiSommernwarihrMann,GrafWilhelm,einerinnerenStimme folgend, zu einem Pilgerzug nach Jerusalem aufgebrochenund was für Richenza besonders bedrückend war: Er hatte ihrenSohnFriedhelm,dergerade18JahrealtgewordenwarundkurzvorseinerSchwertleitestand,mitaufdieseReisegenommen,dazusechsseinerbestenMänner.VoreinemJahrwardieMeldunggekommen,dassderZugdesGrafeninderSchluchteineshohenGebirgesvonWegelagerern überfallen worden sei, wobei mehrere Männer denTodgefundenhätten;vondemGrafenRüdensteinundseinemSohnFriedhelmfehltejedeSpur.GräfinRichenzawarausderKanzleidesErzbischofs nur mitgeteilt worden, dass die Verwaltung der Graf­schaftvonRüdensteininihrenHändenbleibensollte,bisdieSacheendgültigaufgeklärtsei.

Und während Gräfin Sigelunde besorgt in die dunkel aufquel­lenden Wolken schaute, kam ihr der Gedanke, wie großartig eswäre,wenndurcheineHeiratihresSohnesRudolfmitderTochterRichenzas,demBurgfräuleinBrunhilde,beideGrafschaftenzusam­mengefügtwerdenkönnten.SieschüttelteheftigdenKopf,wandtesichab,welcheGedankensiedaspann,woihrMannimNebenrauminseinenSchmerzenlagundRichenzasMannverschollenwar.

AusdenWolkenzuckteeingrellerBlitz.„HeiligeMaria,erretteuns“,riefdieKammerzofeausderEcke,in

dersiesaßundaneinerKopfhaubestickte.

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„Bleib ruhig“, sagte die Gräfin, „es ist nur ein gewöhnlichesGewitter!Schaunach,obderKaplannochbeimGrafenist.“

DieZofegingnachdraußenaufdenüberdecktenUmgang,kamsofortwiederzurückinsZimmerundsagte:

„DerKnappestehtvorderTür,dannwirdderMönchsichernochbeimGrafensein.“

„Ich werde mich etwas ausruhen“, dachte die Gräfin, „damitichinderNachtamBettmeinesGemahlsWachehaltenkann.“SieschicktedieZofeindiekleineKammer,dieanihrZimmergrenzte.Unruhig ging sie eine Weile hin und her. Draußen begann es zuregnen.SieöffnetedieTürundsah,wieuntenderKaplanüberdenInnenhof lief und in seiner Klause verschwand. „Ich werde nochetwaswarten“–mitdiesemGedankengingdieGräfininihrZimmerzurückundlegtesichaufihrBett.

AlsdergroßeRegenbegann,hatteHelmut,derSoldataufdemWehr­gang,sichindaskleineüberdachteTürmchenanderWesteckezurück­gezogen,vonwoerdurchdieSchießschartendieLandschaftbeobach­tenkonnte.ErhattediedreiReiter,diesichdemTornäherten,bemerktund erkannt, dass es der Baumeister Rugbert mit seinen Begleiternwar.DochindenWaldzuseinerLinkenkonnteerkaumnochschauenundvondenGehöftenimTalwarnichtsmehrzusehen.ErmachtesichGedankendarüber,warumdieKameraden,dieamfrühenMorgenalsKundschafterausgerittenwaren,nochnichtzurückgekehrtwaren.SicherwürdensiehinterdemaltenRingwallderverfallenenSachsen­burg jenseits des Tales Schutz gesucht haben. Hoffentlich hatte sichdortnichtwiedervogelfreiesGesindeleingenistetundÄrgergemacht.AnsonstenwarteteeraufseineAblösung.VorderTürzumGemachdesGrafensaherdieUmrissederGestaltdesjungenKnappen.WarumderwohlvorderTürWachehieltundnichtimZimmer?

Zugernehätteergewusst,wieesumdenGrafenstand.Erkonntesichnochgutdaranerinnern,wieihndieRippetagelanggeschmerzthatte, als ihm unten im Dorf ein Raufbold vom Nachbarhof miteinem Knüppel seitlich gegen den Brustkorb geschlagen hatte. SiehattensichwegeneinesentlaufenenSchafesgestritten.ErschlugdenAngreifer daraufhin mit einem einzigen Fausthieb bewusstlos; einFausthieb,derseinLebenverändernsollte.DerVogt,derzufälligauf

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demHofwar,umAnordnungendesGrafenzuverkünden,hattedieAuseinandersetzungbeobachtetunddemWaffenmeistervondiesemFausthieb berichtet. „Solche Leute kann ich auf der Burg gebrau­chen“,warenHadubrantsWortegewesen.ErhattedenjungenMannaufdieBurgbestellt,denhünenhaftgroßenKerlkurzangeschaut,sichzurSeite gedrehtundzu einemSchlag ausgeholt.DerSchlaghättegenaudieschmerzendeRippegetroffen.AberderjungeBauernsohnhatteihndurchdasHochreißenseinesArmesabwehrenkönnen.

„Wieheißtdu?“,hattederWaffenmeisterdaraufhingefragt.„Hel­mut“,wardiekurzeAntwortgewesen.„BistdueinfreiGeborener?“„Ja“,hattedieAntwortgelautet.„AbheutebistduHelmutderWaf­fenknecht, wenn du einschlägst.“ Helmut hatte eingeschlagen undseitdiesemTaggehörteerzurMannschaftderBurg.Besondersstolzwar er darauf, dass er als nicht adelig Geborener den Umgang mitdemSchwert,derWaffederRitter,erlernenundbeiderWachedieseWaffeauchtragendurfte.NuraufeinemPferdreiten,dasdurfteervorerstnochnicht.UndwennerhinunterinsDorfging,mussteerHelmundKettenhemd,Schwert,LanzeundSchild inderWaffen­kammerabgeben.NureinKurzschwertdurfteeranderSeitetragen,alsZeichen,dasserzurBurgmannschaftgehörte.

„Psst“,hörteerhintersich.Helmutfuhrherum.ErsahdenKnap­penvorsich,dersichüberdenWehrgangherübergeschlichenhatte.

„Hunold“,zischteer,„mach,dassduaufdeinenPostenzurück­kommst.“

HunoldwartriefendnassunddrängteindasWachhäuschen.„WenndichHadubranthiersieht,wirstduzudeinemVaterzurück­

geschickt“,flüsterteHelmut.„Daswerdeichnicht,meinVateristeinVerbündeterdesGrafen

vonAue“,gabHunoldzurück.„Was ist mit dem Grafen?“, flüsterte Helmut, indem er sich zu

demKnappenhinunterbeugte.„ErspucktBlutwennerhustetunderhustetviel“,stießHunold

hintervorgehaltenerHandhervor.HelmutkratzteinseinemStoppelbart.„Dasistnichtgut,Blutspuckenistniemalsgut.“„WirdderGrafsterben?“,kamesbesorgtüberHunoldsLippen.

HelmutzogdieSchulternhoch,seinKettenhemdklirrte.„DasPferddesGrafen sollnoch jungundunerfahrengewesen

sein.“

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Helmutsprachlangsamundsehrleise,alswürdeermitsichsel­berreden.„MitseinemSchlachtrosswäredassichernichtgeschehen.EinSchlachtrossscheutnichtvoreinemRebhuhn.“

DannaberpackteerdenKnappenanbeidenSchultern,schüttelteihnkurzundsagteeindringlich:

„ZurückaufdeinenPosten!“DerKnappeschlichanderBrüstungentlangundbezogwieder

Stellung vor der Tür des Grafen. Inzwischen war es vollkommendunkelgeworden.DerRegen rauschtevomHimmel.Wenig spätererschienfürdenKnappenundauchfürdenWachsoldatendieAblö­sungundbeidekonntensichinihreQuartierezurückziehen.

DomenikolagunruhigaufseinemBett.LangehatteerkeinenSchlaffindenkönnen,dasBilddesbrennendenBaumesimTal,dasernachdem Blitzeinschlag vom Fenster im Zimmer des Grafen gesehenhatte,tauchteimmerwiedervorihmauf.AlserendlichindenSchlafhinüberglitt, stiegen abstoßende Teufelsgrimassen aus dem RauchdesFeuersauf;dannsaherEngelsgestaltenindenFlammenundermurmeltePredigerwortevombrennendenDornbusch,indemGottsichMosesoffenbarthatte.ErfühltesichemporgehobenvoneinemEngel,alser ihnabernäherbetrachtenwollte,verwandeltesichdasGesichtdesEngelsineineFratze,ausderenAugenglühendeFlam­menzüngelten,ausdemMundquollEiter.DerKörperdesEngelsüberzogsichmitgiftgrünenSchuppenundseineHändeformtensichzuriesigenKrallen.DieseKrallenpacktenihnundschleudertenihnineindunklesNichts.

Schweißnass schreckte Domeniko auf. In seiner Klause war esstockdunkel.DraußenrauschtederRegen.LangsamentschwandderTraum aus seinem Gedächtnis. Dafür tauchte in seinen GedankennundieSchatulleaufmitihremInhalt,demGeld,demvielenGeld.Dann war wieder der brennende Baum da und die Predigt, die erdemBauernvolkhaltenwollte.ErstalserdasRauschendesRegensinseineGedankenmithineinnahmunderdenRegenalsGnadeGotteserkannte,fanderwiederSchlaf.AbereswarkeinerholsamerSchlaf.

Am nächsten Morgen wurde der Burgkaplan durch Hufschlaggeweckt,dervomTorbogenherüberschallte.Schläfrigrichteteersichauf; fahles Licht schimmerte durch das mit Ziegenhaut bespannte

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Fenster.ErstiegausdemBett,gingzumFenster,löstedieZiegenhautaneinerEckeundlugtenachdraußen.Eswartaghell.EineMagdtrugvomZiehbrunneneinenBottichvollWasserüberdenHof,ausdemPferdestallklangdielauteBefehlsstimmedesWaffenmeisters,hellesGebellkamausderEcke,indersichdieHundezwingerbefanden.

Domenikoerkannte,dasservielzulangegeschlafenhatte.„Teufels­werk“,murmelte er.Augenblicke späterwar er angezogen, schlüpftein die Sandalen, griff seine Umhängetasche und trat nach draußen.UnverzüglichstrebteerdemTorentgegen,murmeltederWacheein„Dominusvobiscum“zuundmachtesichaufdenWeghinunterinsTal,umdenvomGrafenbefohlenenGottesdienstabzuhalten.„Wiekonnteernurverschlafen?EinMönchverschläftniedenTagesanbruch,esseidenn,einTeufelhindertihndaranaufzuwachen“,dachteer.

DerWegführteineinerSchleifezunächstdurchWaldunddannzwischenWieseninsTal.Erwarsoweitbefestigt,dasservonOchsen­karrenbefahrenwerdenkonnte.EsgabmehrereschmaleReitwege,die direkt talwärts führten und kürzer waren als der Karrenweg.AbersiebehagtendemPaterandiesemTagnicht,dasiewegendesnächtlichenRegensrutschigundschlammigwaren.DerganzeWalddampfe vor Nässe. Dicke Wassertropfen fielen von den Bäumen.ImUnterholzhingNebelundimmerwiedermurmeltederMönch„Teufelswerk“.

Als er aus dem Wald trat, sah er im ganzen Tal aufsteigendeNebelschwaden. Einige Äcker waren abgeerntet, auf den Wiesenhatte die Heuernte begonnen und alles war nass. Die Kirche warnichtmehrweitentfernt.SiestandamRanddesDorfesunddahin­terlagenverstreutdieBauernhöfe,niedrigeausHolzundFachwerkerrichteteGebäude,derenDächerteilsmitStrohteilsmitSchindelnbedecktwaren.AuseinigenDachöffnungenquollRauch.

Domeniko erreichte die Kirche. Sie war nicht sehr groß, aberinderKreuzformeinerBasilikaerbautmitmächtigenMauernundFenstern, deren Öffnung außen nur wenig breiter als die Schieß­scharteneinerBurgmauerwaren,diesichabernachinnenweitöff­neten,sodassgenügendLichtindenInnenraumfallenkonnte.DazuhattesieanderWestseite,dawodiegroßeEingangspfortewar,einenTurmaufquadratischerGrundfläche,mitbesondersdickenMauern,derdreiStockwerkehochwar.DieswardieKirche,diederGrafalsGrabmal für seinen Bruder hatte bauen lassen, eine Kirche, in diealleMenschendieimTalwohntenundunterdemSchutzderBurg

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standen,Platzfindensollten,einefesteBurgGottes,wiederPriordesKlostersHeiligGeistinseinerPredigtbetonthatte,alserimAuftragdesErzbischofsdieKirchevoreinemJahrgeweihthatte.

DomenikoschlossdieschmaleSeitenpforteauf,betratdieKircheund durchschritt den Innenraum, um das große Eingangsportal zuöffnen.EigenartigerweisefühlteersichinderKirchewohl,verspürtedie Harmonie dieses Ortes, war zufrieden mit sich und mit Gott,dessenLehreerimKlostererfahrenhatte.AußerhalbdieserMauernaberwarendieWeltunddasLebenfürihnwieeinfeindlichesDaseinvollerTückeundUnsicherheit,worinerdasWirkendesTeufelszuerkennenglaubte.UndobwohlerdiesekleineKircheliebte,warermitseinerBerufungzumBurgkaplansounzufrieden,dasserbiswei­lenbereute,dasGelübtedesGehorsamsabgelegtzuhaben.

Er stieg die Treppe des Turmes hinauf bis auf den ersten Zwi­schenboden und griff das Seil, an dem er die kleine Glocke imGebälkdesTurmesinSchwingungversetzenkonnte.DerersteTonkamzaghaft,aberbaldschalltedasGeläuthellüberdasTalundriefdasChristenvolkzumGottesdienst.Erläutetedrei„Vaterunser“langundließdieGlockeausklingen.DannwarfereinenBlickdurcheinederMaueröffnungen,diehierwieSchießschartenangebrachtwaren,damitderTurmvonBogenschützenverteidigtwerdenkonnte,genauwie der Burgfried oben auf der Burg. Er sah, dass sich die erstenDorfbewohnerbereitsaufdenWegzurKirchemachten,soalshättensieaufdenRufderGlockegewartet.

Agneszweifelte,obsiezurKirchegehensollteoderbessernicht.Siewarhochschwanger.DengestrigenTagüberwarsiemitdenanderenFrauen auf den Heuwiesen gewesen. Als sich am Nachmittag dieerstenGewitterwolkenzeigten,hattediealteHildedieFrauenundMägdezurEileangetrieben.

Das Heu wurde zusammengeharkt, mit dünnen Bändern zuBallen gebunden und auf dem Rücken in die Scheunen getragen.AlszumAbendhinderRegeneinsetzte,wardasmeisteHeuuntertrockenenDächern,aberAgnesspürteheftigeSchmerzenimRückenundihrvorgewölbterBauchwarganzhart.

InderNachthatteAgnesimmerwiederanWutrich,ihrenManngedacht.Siebrauchteihnsosehr.WarumhattederVogtauchgerade

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zur Zeit der Heuernte alle kräftigen jungen Männer in den Stein­bruchbefehlenmüssen?SeitdreiTagenhattesieihrenWutrichnichtmehrgesehen.

SiehörtedieGlockeunddachtenach.IhrerstesKindhattesieaufdemFeldamEndeeineshartenArbeitstagesverloren;damalswarsiesechzehngewesen.Ein Jahr späterhatte siediekleineWaltraut zurWeltgebracht,einzartesKind,dassichschwachentwickelthatteundnachwenigenMonaten,nochvorBeginndesWinters,gestorbenwar.Undnun–wiewürdediedritteGeburtverlaufen?AgneshatteAngst.DieletztenTönederGlockeklangeninihrenOhren.„IchwillzurMutterMariabeten“,murmeltesie,zogdielangebrauneTunikaan,band ein sauberes Kopftuch um, steckte ihr Haar sorgfältig darun­terundschlüpfte indieSandalen. Ja, siewolltedieHeiligeMutterGottesumBeistandbittenundsiewünschtesicheinenSohn.

MitdiesenGedankentratsiedurchdieniedrigeTürnachdrau­ßen; eine Schmerzwelle lief ihren Rücken hinunter und konzen­triertesichtiefinihremBecken.TapfergingsielosundfolgteeinerGruppe anderer Frauen, die der Kirche entgegenstrebten. VorneliefendieKinder,dasEndebildeteneinigeMänner,diezualtoderzuschwachwarenfürdieArbeitimSteinbruch.

„WarumwohldieMännerausdemSteinbruchnichtnachHausegekommen waren?“, grübelte Agnes. Sicher war das Gewitter daranschuld.DieZugochsenwarenzwarwillige,gutzuführendeTiere,aberwiealleTierehattensieAngstvorGewittergrollenundneigtendazuimGeschirrauszubrechen.WohldeshalbwarendieMännermitdenTierenobengebliebenundwürdenheuteodermorgenmitdenbela­denenWagenzurückkommen.VonhintennähertensichSchritte.

„Agnes,wiegehtesdir?Gut,dassdumitkommstindieKirche.“EswarHedwig,dieliebeNachbarinundAgnes’besteFreundin.

Hedwig hatte vor vier Wochen eine gesunde kräftige Tochter zurWeltgebracht,dieaufdenschönenNamenElisabethgetauftwordenwar.DomenikohattedenNamenElisabethzuerstnichtannehmenwollen–derNameseizuedelfürdieTochtereinerBäuerin–aberderGrafhattezugestimmtundsoerhieltdasMädchendenNamen.HedwigkonntediesenMönchseitdemnichtmehrleiden;überhauptfand sie das, was er über den Glauben predigte, sonderbar. Umsofester glaubte sie an den allmächtigen Gott Vater, an seinen SohnJesusChristusundandieHeiligeMutterMaria.AberwasderMönchmitseinemVogelgesichtsonstnochalleserzählteüberdieunzähligen

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Sünden,dieeinMenschbegehenkann,überdasgrässlicheFegefeuerundüberdieewigeVerdammnisineinerFeuerhölle,nein,soglaubteHedwig,dasalleskonntedergütigeGottVaterseinenErdenkindernnichtantun.HeimlichverglichsieMaria,dieHeiligeMutterGottesmitFreia,dergroßenGöttinderVorfahren,vonderihreMuttersoofterzählthatteundsietrugunterihrerTunikazwischendenBrüs­teneinekleineausBeingeschnitzteFigur,eineFrauenfigur,diefürsiegleichzeitigFreiaundMariawar.

Agneswarfroh,alssieihreFreundinHedwignebensichsah.DiebeidenjungenFrauenhakteneinanderunterundgingengemeinsamin die Kirche. Vorne, am Verkündigungspult stand Domeniko undwartete, dass alle seine Schäfchen sich versammelten. Er trug eingrünes ärmelloses Gewand, das über den Kopf geworfen auf denSchulternlagundvorneundhintenbiszudenKnienreichte.AufdieBrustwareinweißesKreuzgestickt.DarüberhatteerdieStolagelegt,diemitBuchstabenverziertwar,dieniemandausdemBauernvolklesenkonnte–nurHedwigwusste,dassdieBuchstabenAnfangundEnde bedeuteten. Aber sie sagte niemandem, dass sie das wusste,dennFrauenstandsoetwasnichtzu.

Vor dem Pater standen in kleinen Gruppen die Kinder, auf derlinkenSeitedrängtensichdieFrauenzusammen,diealtenMännerhatten rechts genügend Platz. Domeniko wunderte sich, warumkeinejüngerenMännerzuihmindieKirchegekommenwaren,aberdannwurdeihmderGrundbewusst.DieMännerwarenjaobenindenSteinbrüchen,umSteinezuholenfürdieMauer,diederGrafalsFriedensmauerumdieKircheherumbauenwollte.UngeduldigwippteeraufdenFüßen.ErwolltemitseinerPredigtbeginnen.

Als Agnes mit ihrer Freundin Hedwig die Kirche betrat, haktesichauchnochdiealteRunghildein.Runghildwusste,inwelchemZustand sich Agnes befand, sie wurde von den Frauen des Dorfessehrgeschätzt,siewarweiseundsiewusstesehrviel,vorallenDin­genwennesumGeburtundTodging.

Immerwieder liefenschmerzhafteWellendurchAgnes’KörperhinunterbisinsBecken.SieschautezumKreuzempor,dasimChorvonderDeckehing,dannnachrechtshinüber,woineinerNischedieStatuederMutterGottes standmit ihremKind indenArmen.Sie murmelte ein Stoßgebet nach dem anderen und war dankbar,zweierfahreneFrauennebensichzuwissen.DannerhobderPaterseineStimme.

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„Dominusvobiscum“,schalteeslautdurchdiekleineKirche.DasGemurmelderLeuteverstummte.

„Innominepatrisetfiliietspirituisancti!“Niemand wusste so richtig, was dies bedeutete, aber allen war

bewusst,dass esheiligeWortewaren,diedortgesprochenwurden.Und als er mit ausgestreckter Hand ein großes Kreuz in die Luftzeichnete,bekreuzigtensichalleundsammeltensichinEhrfurcht.

„Gott,unserVaterimHimmel“,begannderPaterseinePredigt,„Herr über Leben und Tod, offenbart sich uns armen Sündern inZeichenundWundern;ersendetunsEngelsbotenundeuch,seinemeinfachenVolk,demVolkderfreienBauernaberauchderUnfreien,offenbartersichwannimmererwill,inNaturerscheinungen.Undgesternhatersichunsallenwiedereinmaloffenbart!“

DerlinkeArmdesPatersfuhrnachoben,erballtedieHandzurFaustund ließseinenZeigefingergroßemporgestrecktzurUnter­stützungseinerWorte.

„Der Finger Gottes fuhr vom Himmel und entzündete jenenBaumdortamUferunseresFlusses,aufdasserbrennevoneinemAugenblick zum nächsten und die Flammen hoch zum Himmelschlagen.“

EinigeMänner,dieganzhintennahederTürstanden,murmeltenetwasinsichhinein.ManchevonihnenhatteninihremLebenmehrals einmal erlebt, dass ein Blitzeinschlag einen Baum in FlammengesetzthatteundderalteUlfwandtesichseinemNachbarnzu:

„LiebereinBaumalseinGehöft!“DerPaterbemerktedieUnruhenicht.MitEiferinderStimme

spracherweiter.„Genauso war es damals, als Mose vom Berg Horeb hinunter­

stieg. Da erschien ihm der Herr in einer Flamme, die aus einemDornbuschschlug.DerBuschbrannte,abererverbranntenicht.SostehtesindenheiligenBüchern.“

Sein rechterZeigefingerdeutetemehrmalsaufdasgroßeBuch,daservorsichaufdemPultliegenhatte,währenderdenlinkenFin­gerweiterhochnachobenreckte.

„UndMoseerschrak,alserdieFlammensahundfragte:,werbistdu?‘DakamdieStimmedesHerrnausderFlamme:,ichbinder,derichbin‘undMosefielaufdieKnie.UndausdemDornbuschkamwiederdieStimme:,ichbinderSeiende,ichbinderEwige,ichbinderGottderLebendigen.‘“

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DomenikoließdenArmsinken.ErschauteindieRunde,umdieWirkungseinerWortezuprüfen.Eswar still inderKirche, indenGesichternsaher,dassernichtverstandenwordenwar.

AgneskämpftegegendieSchmerzwellenan,dierhythmischundinimmerkürzerenAbständenihrenKörperdurchliefen,siekonntesichnichtmehraufdenBeinenhalten.MitflehendenAugenschautesie zu den beiden Frauen, die sie gestützt hielten und ihre Augensagten, lasst mich hinunter, ich muss mich hinlegen, mein Kindwill geboren werden. Die Frauen verstanden. Runghild zog ihrenUmhang von den Schultern, breitete ihn auf dem Boden aus undsetztesichnieder.HedwigließihreFreundinbehutsamhinunter,bissievorRunghildsaß.DannlegteAgnesihrenKopfindenSchoßderalten Frau; sie zog die Beine an und öffnete ihre Schenkel und alsHedwigdenRockderGebärendenhob,bildeteneinigederFraueneinenKreisumdieGruppe.Runghild strichAgnesüberdenKopfund gab mit ihrem Atem der jungen Frau den Rhythmus vor, derzueinerGeburtgehört.HedwigsahinAgnes’Schoßundsiewusstenun,dasshierinderKircheeineGeburtstattfindensollte.

Domenikohattevonalldemnichtsbemerkt.ErwargefangeninseinerPredigtundsprachweitervondemGott,derkeinenNamenbenötige,dervonEwigkeitzuEwigkeitderHerrschersei.

„Aufihn,unserenGott,könntihreuchverlassen“,rieferindenRaumhinein,„er ist immerfüreuchdaunder istderEinzige,derimmerfüreuchdaist;ihmsindkeineSchrankengesetzt,nichtein­maldieSchrankedesTodesgilt für ihn.“Undso,alswolleerallesdenMenschen,dieihmdazuhörten,nocheinmalerklären,schwollseineStimmean:

„Eristimmerda,zujederZeitundanjedemOrtunderoffen­bartsichuns,wannimmererwill,sowiegestern,alserdenBauminunseremTalinFlammensetzte.GottwarhierundindiesemTalwirdGroßesgeschehen.“

Erhieltinne,mitgeweitetenAugenschauteerüberdieMenschenvorsichhinweg;eswartotenstillimKirchenraumundindieseStillehineinertönteausderGruppederFraueneinlanggezogenerSchrei.

DomenikosAugenverfinstertensich;erstandwieerstarrt.EinigeMännerwarennachvornegetreten,fasstendieKinderandenHän­den und zogen sie hinter sich her zum Ausgang hin. Wenig späterhatten alle Männer und Kinder die Kirche verlassen; die Frauenstandenumetwasherum,wasPaterDomenikonichtsehenkonnte.

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…mehrinIhrerBuchhandlung…

Er verließ seinen Platz und näherte sich langsam den Frauen.Einigedrehtensichzuihmum,gingeneinwenigbeiseite,machtenPlatz. Da erhob sich Hedwig, in ihren Händen hielt sie ein Kind,noch von blutigem Schleim überzogen, und streckte es dem Paterentgegen.

„Vater“,sagtesiemitBebeninderStimme„esistGroßesgesche­hen!“

Domenikobekreuzigtesich,dannschlugerhastigeinKreuzüberdasNeugeborene.ErsahdieMutteramBodenliegen,sahihrGesicht,ihre Erschöpfung, sah Lächeln um ihre Lippen und Glanz in ihrenAugen.Erhörte,wieeinigeFrauenleiseschluchzten;abereswarkeintraurigesSchluchzen,eswarenSeufzerderErleichterung.ErschautedieFrauenanundallehattensieeinenAusdruckinihrenGesichtern,den er kannte vondenStatuenderHeiligenMadonnen.Domenikoerkannte,dassdieKünstlergenaudiesenAusdruckwählten,wennsiedasGesichtderHeiligenMutterGottesinihrenWerkenabbildeten.

ErbesannsichseinesAmtesundderWürdediesesOrtes,drehtesich um, ging in die Sakristei, holte die kleine Kanne mit demgeweihtenWasserundkehrtezudenFrauenmitdemNeugeborenenzurück.Feierlichbeganner:„egotebaptisto“,dannfuhrerinderfürdie Frauen verständlichen Sprache fort, „ich taufe dich im NamendesVatersunddesSohnesunddesHeiligenGeistes.“

„Ludger, Ludger soll er heißen“, flüsterte Hedwig und Agnes,dieimmernochvonderaltenRunghildgehaltenwurde,nicktemiteinemglücklichenLächelnimGesicht.

„IchtaufedichaufdenNamenLudger“,sprachDomenikolautundvernehmlichfüralle.

PlötzlichzogAgnesdieAugenbrauenzusammen,Schmerzensfal­tenerschienenaufihrerStirn.RunghildtätschelteihreWangenundsprachberuhigendaufAgnesein.

„DieNachgeburt,gleichwirdallesvorbeisein.“Domenikosah,wiediejungeFrauamBodensichkurzaufbäum­

te und dann kam unter ihrem weiten Rock ein gelblicher Schleimvermischt mit Blut zum Vorschein. Die Augenbrauen des Paterszogensichwiederzusammen,erspürteeinWürgenimHals,drehtesichumundliefzuderkleinenSeitenpfortehinüber.Kaumwarerdraußen,mussteersichmiteinemgroßenSchwallübergeben.

MitdemHandrückenwischteerSchleimvondenLippen,schüt­telte sich und schluckte bittere Magensäure hinunter. Er spuckte

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DasBergischeLandim12.Jahrhundert.DerersteSonntagimAugustistfürdieMenscheninderBurg

BergeeindenkwürdigerTag.AufseinemSterbebettver­machtGrafGottfriedvonAuedemBurgkaplanDomenikoeineSchatullevollerSilbermünzen.DochalsDomenikodieSchatullenachdemToddesGrafenansichnehmenwill,istsieverschwunden.

GrafGottfriedsErbeistseinSohnRudolf.MitdemBaueinerneuenBurgüberderWupperwillerseineMachtfürjedensichtbardemonstrieren.DochdamitschafftsichderjungeGrafmächtigeFeinde.GeldgierigeMönche,brutaleRäuberundkriegerischeNachbarnbedrohenseineHerrschaftüberdasBergischeLand.KönnteeinfeindlicherNormannedieRettungausdergefährlichenLagebringen?

Franz-Josef Mundts akkurat recherchierter Roman führt weit zurück in die Geschichte des Bergischen Landes. Der profunde Kenner der bergischen Geschichte beschreibt spannend das Leben von Mönchen und Rittern, Grafen und Bauern und zeichnet ein Bild des Mittel-alters voll leidenschaftlicher Frömmigkeit und teuflischer Intrigen.

Lassen Sie sich in eine längst vergangene Zeit entführen, zu den An fän gen des Herzogtums Berg – fesselnd vom ersten bis zum letzten Satz.

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